ADB:Vischer, Friedrich Theodor

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Artikel „Vischer, Friedrich“ von Richard Weltrich in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 31–64, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vischer,_Friedrich_Theodor&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 05:46 Uhr UTC)
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Vischer: Friedrich Theodor V., geboren am 30. Juni 1807 zu Ludwigsburg, † am 14. September 1887[1] zu Gmunden. V. entstammte einer schwäbischen Familie, deren Glieder, als Inhaber von Amtmannsstellen, als Vögte, Räthe und Pfarrer in württembergischen Diensten, sich in sicherer Reihenfolge bis in den Anfang des 16. Jahrhunderts verfolgen lassen; als ihre ersten Wohnsitze erscheinen Kirchheim und Weilheim u. der Teck. Ein genealogischer Zusammenhang mit dem Nürnberger Erzgießer Peter Vischer ist alte, jedoch nicht geschichtlich erweisliche Familientradition. Friedrich Vischer’s Vater, Christian Benjamin, gebürtig aus Stuttgart, bekleidete, nachdem er zuvor Diakonus (Pfarrer) in Weinsberg gewesen, die Stelle eines Archidiakonus („Oberhelfers“) in Ludwigsburg; die Mutter, Christiane, eine Tochter des Regierungsrathes Stäudlin zu Stuttgart, war die Schwester des wegen seiner litterarischen Fehde mit dem Regimentsmedicus Schiller noch heute vielgenannten Dichters Gotthold Stäudlin und des Göttinger Theologieprofessors Karl Frdr. Stäudlin (s. A. D. B. XXXV, 514 ff.). Ludwig Uhland, dessen Großvater eine Gottliebin Stäudlin geheirathet hatte, und der Epigrammatist Friedrich Haug zählten als Vettern zur Verwandtschaft. Oberhelfer V. war ein freigesinnter Theologe, ein klarer, gesellig heiterer, wohlwollender und charakterfester Mann, der seine Kinder mit soviel Liebe als Strenge erzog und sie namentlich zur Pünktlichkeit anhielt. An den Zeitereignissen nahm er lebhaften Antheil; er haßte Napoleon, empfand als Patriot die Schmach des Rheinbunds und sprach seinen Unwillen über den Imperator in leidenschaftlichen Gedichten aus. Der Brand von Moskau, die Völkerschlacht bei Leipzig, die Durchzüge russischer, auf dem Wege nach Frankreich begriffener Reiterei durch Ludwigsburg fielen in den Ausgang seines Lebens; denn schon im Januar 1814 raffte der Flecktyphus, den er sich bei Ausübung seines Seelsorgedienstes im Militärhospital zugezogen hatte, den noch nicht 46 Jahre Zählenden hinweg. Die Stadt ehrte ihren Mitbürger, der ein Opfer der Pflichttreue geworden war, durch Errichtung des Grabdenkmals. Unter den 3 Kindern, die er hinterließ, war Friedrich das jüngste. Die Wittwe siedelte nach Stuttgart über, wo sie in der Hospitalstraße ein paar Dachstübchen bezog und das Gymnasium den Unterricht des Knaben übernahm. Der Philologe Karl Ludwig Roth wurde einer seiner Lehrer; er brachte ihm im Lateinischen [32] tüchtige Elementarkenntnisse bei, wie denn die Anstalt unter Vernachlässigung der Realfächer auf das Lateinschreiben das Hauptgewicht legte. Friedrich’s Wunsch war eigentlich, Maler zu werden; „alles Bild“ entzückte ihn, und da die Mutter, eine weiche, grundgute, für Poesie und Kunst empfängliche Frau, mit württembergischen Künstlerfamilien, mit Eberhard Wächter, Hetsch und Dannecker in Beziehungen stand, so durfte er in Künstlerwerkstätten sich frühe umsehen. Auch von den Brettern, welche die Welt bedeuten, empfing er Eindrücke; dem damals von Matthison geleiteten Hoftheater gehörte Eßlair an, und der junge V. bewunderte ihn in mehreren Heldenrollen. Aber dem Gedanken, ein Jünger der Kunst, der geliebten Malkunst zu werden, mußte er Valet geben; Eberhard Wächter’s derbes Abrathen und die Armuth, unter deren Druck die verwaiste Familie lebte, drängten zu dem Entschluß, ihn gleich seinem Bruder die geistliche Laufbahn ergreifen zu lassen und ihn einem der „niederen Seminare“ oder „Klöster“, deren alte und reiche Stiftungen den zur protestantischen Theologie sich bestimmenden Württembergern freien Unterhalt gewähren, zu übergeben. So wurde V., nachdem er das übliche „Landexamen“ bestanden hatte, im October 1821 in das Kloster zu Blaubeuren nahe bei Ulm „eingeliefert“, gleichzeitig mit dem jungen D. Friedrich Strauß, der einst in Ludwigsburg sein Spielgenosse gewesen war, und mit Christian Märklin. Noch Andere, deren Namen später in Württemberg und über dessen Grenzen hinaus bekannt wurden, gehörten zu dieser aus 42 Köpfen bestehenden, an Talenten merkwürdig reichen „Promotion“: Gustav Pfizer, Gustav Binder, Wilhelm Zimmermann und Julius Krais. Der Betrieb der Studien war auch in Blaubeuren ein einseitig humanistischer; doch machte die Klosterschule ihren Zöglingen, denen sie das Obergymnasium vertrat, eine gediegene classische Bildung zu eigen, und zwei vorzügliche Lehrer, Friedrich Heinrich Kern und insbesondere Ferdinand Christian Baur, der nachmalige große Theologe, erweckten und nährten in ihnen die Richtung auf das Ideale, Schwung des Geistes und philosophischen Sinn. Baur trug die griechischen und römischen Prosaiker vor, Herodot, Livius, Tacitus, unterrichtete in Geschichte und alter Mythologie, las mit seinen Schülern auch einige Dialoge von Platon; Kern docirte die Dichter, Homer, Vergil, Sophokles, die Psalmen und Propheten, lehrte auch Hebräisch, Logik und Psychologie. Die Erziehung war nach Herkommen und Vorschrift von klösterlicher Strenge; aber Jugendfrische und Jugendlust brachen gleichwol sich Bahn, und der an der Spitze der Anstalt stehende Ephorus Reuß übte als geschickter Pädagoge verständige Nachsicht. Der junge V. war „die Seele jeder heitern Gesellschaft“; eine Fülle von Witz und Humor sprudelte in ihm, und sein Talent zum Zeichnen, zumal von Caricaturen, ergötzte die Kameradenschar. Aber mit dieser Freude am Element des Scherzhaften und Komischen paarten sich bei ihm Willensenergie und ein warmes, argloses, im schönsten Sinne lauteres Gemüth, und der nämliche Jüngling, der noch von Blaubeuren aus (1825) unter dem Namen Philipp Ulrich Schartenmayer das im Bänkelsängertone gehaltene Gedicht „Datpheus“ veröffentlichte, folgte, von „Platon’s Silberfittigen“ berührt, mit Enthusiasmus dem Hochflug des philosophischen Denkens. Im September 1825 gab ihm die Klosterschule das Reifezeugniß, und V. bezog nunmehr, aufgenommen in das „obere Seminar“ oder evangelisch-theologische Stift zu Tübingen, die Universität. Der bestehenden Einrichtung gemäß widmete er die zwei ersten Jahre der Philologie und Philosophie, die drei folgenden seinem Fachstudium, der Theologie. Er hörte bei G. L. Fr. Tafel, dessen die Grammatik in den Vordergrund stellende Behandlung der griechischen Dichter ihn abstieß, und besuchte aus Zwang Bohnenberger’s collegium physicum, las aber, während der Professor die Luftpumpe demonstrirte, die Iphigenie Goethe’s. Auch von der [33] Philosophie, wie sie der Universitätsinvalide Schott, der einem gefühlsmäßigen und unklaren Mysticismus ergebene Eschenmayer und H. Chr. Wilh. Sigwart’s nüchterne Vorträge über Anthropologie boten, fand er sich nicht gefesselt. Erst Sigwart’s Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, die eine klare Darlegung des Kant’schen Systems brachten, erregten sein Interesse, und bei der Ausarbeitung der philosophischen Aufsätze, welche die Seminaristen halbjährlich den Repetenten zum Ausweis über ihre Studien einzureichen hatten, erwachte in ihm der Trieb selbständigen Denkens. Fichte, Schelling, Jakob Böhme und Franz v. Baader wurden gelesen, die rationalistische Aufklärung erschien als Seichtigkeit, und V., gleich den mit ihm ins Tübinger Stift übergesiedelten Freunden Märklin und Strauß, bekannte sich zur Identitätsphilosophie, zum Monismus und Pantheismus. Auch die phantastische Mystik, mit welcher Schelling seine Naturphilosophie versetzte, fand die Freunde empfänglich; es war die Zeit der Romantik, und, wenn auch zögernd, kritischer gestimmt als der damalige Strauß, ging V. „mit im Zuge“. Indessen forderte nunmehr die Fortsetzung des akademischen Studiums den Uebergang zur Theologie. V. hörte zunächst bei Joh. Chr. Friedr. Steudel, der einen gequälten Supranaturalismus docirte, mit Gewissenhaftigkeit und Selbstüberwindung Dogmatik. Zum Glück waren Baur und Kern im Herbst 1826 von Blaubeuren nach Tübingen berufen worden; und wenn auch Kern sich seiner neuen Aufgabe nicht recht gewachsen zeigte und Baur damals von der freien und befreienden Evangelienkritik, die ihn später zum Haupte der Tübinger Schule machte, noch weit entfernt war, so vertraten sie doch beide den Standpunkt Schleiermacher’s, der die Theologie aus der Verlegenheit und geistigen Dürftigkeit, in welche sie auf den Bahnen des Rationalismus und Supranaturalismus gerathen war, zu erlösen versprach. Baur las Dogmen- und Kirchengeschichte, Kern Synopse und Dogmatik. Von ihnen angeregt, begann V. ein fleißiges Studium Schleiermacher’s, das wiederum auf Spinoza zurückzugreifen Veranlassung gab. War das Verhüllende und dialektisch Künstelnde der Denkweise des Berliner Theologen so wenig nach Vischer’s Geschmack wie sein Selbstgenuß des genialen Subjects und sein gräcisirender Stil, so mußte gleichwol ein Autor, der mittelst des Begriffes der Urbildlichkeit dem Glauben an die gottmenschliche Natur Christi aufhalf, dem im Gedränge zwischen philosophischen und kirchlichen Ueberzeugungen befindlichen Predigtamtscandidaten willkommen sein. Erst am Schlusse der Studienzeit wurde V. mit Hegel bekannt, nachdem einer der Repetenten im Stift, Schneckenburger, der in Berlin Hegel’s Zuhörer gewesen war, die Aufmerksamkeit der Tübinger Seminaristen auf ihn gelenkt hatte. Das Examen stand zu nahe vor der Thüre, als daß V. mit einem einläßlichen Studium Hegel’s noch beginnen zu dürfen glaubte; aber das neue Gestirn überstrahlte ihm bald den mit jugendlicher Begeisterung ergriffenen Schelling. Auch die Hegel’sche Philosophie, insofern sie lehrte, daß die Religion in der Form der Vorstellung oder des Bildes enthalte, was die Philosophie in der Form des Begriffes darstelle, schien V. und seinen Freunden damals eine Abhülfe für die inneren Schwierigkeiten zu bieten, in die sie ihre Berufswahl verwickelte. Inmitten der wissenschaftlichen Studien regte sich bei dem Stiftler hin und wieder die poetische Ader: aus skeptischen und melancholischen Anwandlungen gingen lyrische Erzeugnisse hervor, wie das „graue Lied“, „Scheinleben“, „Faust’sche Stimmen“, und 1829 entstand das beste der älteren Schartenmayergedichte, der Gesang vom „Leben und Tod des Joseph Brehm, gewesten Helfers zu Reutlingen“, der den Namen, unter dem sich der Autor versteckte, in allen dem Humor und Volkston zugänglichen Kreisen populär machte. Mit einer Anleitung zum Studium der deutschen Sprache und Dichtung [34] war es zur Zeit, als V. die Universität bezog, in Tübingen übel bestellt. Conz, der damals diesen Lehrstuhl inne hatte, war zu alt, zu altmodisch und phlegmatisch, war auch als Redner kaum verständlich. Erst ale im J. 1829 Ludwig Uhland zum Professor der deutschen Sprache und Litteratur ernannt wurde, übernahm ein Interpret von Gottes Gnaden die Führung der Jugend; zu spät für V., der nur noch in einzelnen Vorlesungen hospitiren konnte, aber an dem unvergleichlichen Quelltrunk, den der edle Dichter reichte, die „dürstende Seele“ doch labte. Inzwischen hatte es das Glück gefügt, daß er zu einem andern schwäbischen Poeten in herzliche Beziehungen trat: die Weinlesefeste führten ihn während der Herbstferien (zuerst um 1826) nach Weinsberg, dem alten Amtssitz seines Vaters, und in Justinus Kerner’s gastliches Haus. Es ist merkwürdig, wie zahlreiche Fäden die Musen zwischen ihren Lieblingen und dem jungen V. zu spinnen wußten; schon an der Schwelle des elterlichen Hauses waren sie ihm nahe, und mit allen Häuptern des schwäbischen Parnasses machten sie den zum Manne werdenden bekannt. An eine Schwester der Mutter Vischer’s, an Rosine Stäudlin, hatte einst Hölderlin zarte Gedichte gerichtet; sie war als die Braut Ludwig Neuffer’s, des Dichters gestorben. Jetzt lebte Hölderlin, freilich schon lange geistig umnachtet, in Tübingen, und V. besuchte ihn wiederholt. Von nichtschwäbischen modernen Poeten, deren Schriften dieser damals las, hebt die autobiographische Skizze Tieck und Heine hervor. – Im ganzen genommen, war die Tübinger Universitätszeit für V. keine Quelle nachhaltig froher Erinnerung. Das war bei Blaubeuren anders: wie eine durchlebte Idylle stand in der Folge der dortige Aufenthalt vor seiner Seele. Aber im Tübinger Stift drückte ihn die strenge, mönchisch geartete Clausur und Hausdisciplin, deren kleinliche Vorschriften der Jugend den Genuß der studentischen Freiheit verkümmerten, und Vischer’s Armuth verschärfte noch diesen Entsagungszwang. Auch das kasernenhafte Zusammenleben mit mehr als 150 Stipendiaten, unter denen rohe und widerwärtige Naturen nicht fehlten, war ihm mißbehaglich; es verletzte leicht sein frühe reges Feingefühl und that dem brüderlichen Humor und der jugendlich-sentimentalen Herzlichkeit, deren sich der engere Freundeszirkel in Blaubeuren erfreut hatte, Abbruch. Das Unbefriedigende vieler aus Pflicht besuchter Vorlesungen kam hinzu, und wenn es auch V. damals noch nicht deutlich war, daß die theologische Laufbahn seine Bestimmung nicht sein könne, so empfand er doch bei dem Studienbetrieb, auf den er sich an der Tübinger Hochschule verwiesen sah, den Mangel alles dessen, was seine auf die künstlerische Formenwelt, auf Anschauung veranlagte Natur verlangte. Indessen arbeitete er sich in sein Berufsfach mit solchem Eifer ein, daß er sich einen Predigtpreis errang und im September 1830 das Universitätsexamen mit dem allerbesten Erfolg machte. Hat ihn die Theologie, bei der er in die Schule gegangen war, später bekämpfen zu müssen geglaubt, so hätte sie ihm doch einräumen dürfen, daß er ihr hinter die Coulissen gesehen habe.

Aus dem Stift entlassen, kam V. als Vicarius in das bei Vaihingen gelegene Dorf Horrheim, dessen Pfarrer ein Vetter des Dichters Mörike und mit diesem gleichen Namens war. Er predigte, reichte das Abendmahl, taufte und traute; in den Morgenstunden bildete Hegel sein regelmäßiges und ausschließliches Studium, der Schluß des Tages gehörte geheimem Musendienst. Ein Jahr nachher, im November 1831, wurde V. zum Repetenten im Kloster Maulbronn ernannt. Die Beschäftigung mit der frischen seminaristischen Jugend machte ihm Freude; er trieb mit ihr Latein und Griechisch, führte sie in Schiller’s Macbeth ein und übte sie fleißig im Turnen. An der Architektur der Klostergebäude ging ihm der Sinn für die Baukunst auf, über deren Stilunterschiede durchreisende Kunstfreunde dem Lerneifrigen die erste Auskunft gaben. Zwei in [35] Horrheim begonnene Novellen, „Freuden und Leiden des Skribenten Felix Wagner“ und „Cordelia“, Erzählungsversuche, in der dichterischen Technik noch unreif, aber nicht ohne anziehenden Gehalt und als Spiegelungen des Seelen- und Phantasielebens des Autors nicht ohne biographische Bedeutsamkeit, wurden in Maulbronn vollendet. Der Beginn der Verbindung Vischer’s mit Eduard Mörike fällt in die nämliche Zeit. Beide hatten sich schon als Knaben in Ludwigsburg, der gemeinsamen Vaterstadt, gesehen; aber jetzt erst führten ihre Wege sie wieder zusammen, und V. knüpfte mit Mörike, wie zuvor nur mit Fritz Strauß und mit Christian Märklin, einen Freundschaftsbund für das Leben.

Im September 1832 erwarb sich V. mit einem Aufsatz über die Gliederung der Dogmatik den Doctorgrad; im gleichen Jahre bestand er in Stuttgart das Dienstexamen. Im Herbst trat er zum Abschluß seiner Studien und um einen Blick in die Welt zu thun eine größere Reise an, die bei den Stiftlern damals übliche „Magisterreise“. Ihr nächstes Ziel war Göttingen, wohin Vischer’s Mutter schon im J. 1826 gezogen war; auch seine Schwester Nanny, einst von dem Theologen Karl Friedrich Stäudlin als Pflegekind aufgenommen und nunmehr Wittwe des Theologieprofessors Johannes Hemsen, lebte dort. V. lernte in Göttingen Otfried Müller und die Gebrüder Grimm[WS 1] kennen; aber zufolge des Bildungsganges seiner Jugend noch ganz in den „Hexenkreis“ des philosophischen Speculirens gebannt, hörte er nicht ihre Vorlesungen, sondern die des Philosophen Wendt. Es war ein Glück, daß ihm die Werke Shakespeare’s in Stäudlin’s Bibliothek in die Hände fielen: der große Dichter ließ ihn nicht mehr los und riß ihn aus dem starren Eigensinn eines metaphysischen Dranges, der nur in der Erforschung des Welträthsels eine würdige Zeitverwendung gesucht und die rings umherliegende grüne Weide verschmäht hatte. Im Januar 1833 ging V. nach Berlin. Dort war die Philosophie durch Hegel’s Tod zur Wittwe geworden; aber seine an Jüngern überreiche Schule hütete und vervielfältigte den überkommenen Besitz. So hörte denn V. bei Henning Logik, bei Gans Philosophie der Geschichte, bei Hotho über Goethe als Dichter, hospitirte auch bei Michelet. Die Vorträge Hotho’s erweckten in ihm einen für die Gestaltung seiner Zukunft fruchtbaren Gedanken: V. hatte Aussicht, nach seiner Rückkehr am Tübinger Seminar Repetent zu werden, und nahm sich vor, die ihm damit eingeräumte venia legendi zu einer Vorlesung über Goethe’s Faust zu benutzen. Eine Annäherung an Schleiermacher erfolgte nicht; weder die Vorlesungen über Aesthetik, die dieser damals hielt, noch ein Besuch, den V. im Hause machte, lockten zu einer Fortsetzung der Bekanntschaft. Die Theologie blieb liegen; war sie auch noch immer das Fach, das ihm den künftigen Lebensunterhalt gewähren sollte, so bemerkten seine Berliner Freunde doch schon jetzt an ihm eine beginnende Entkirchlichung, und er selbst gab sich Mühe, die Weltunläufigkeit und das „Stiftlergeschmäckchen“, das ihm vom Seminar her noch etwa anhaftete, von sich abzuthun. Vorkenntnisse wie Unterweisung zu Kunststudien gebrachen ihm; um so eifriger besuchte er, um durch Anschauung zu lernen, das Berliner Museum. Die Freunde, mit denen er Umgang pflegte, waren zum Theil die von der Heimath her ihm vertrauten: Märklin war im October 1832 in der preußischen Hauptstadt angekommen und kurz nach ihm auch Gustav Binder. Andere Landsleute gesellten sich zu ihnen, wie Reinhold Köstlin und Adolf Schöll, der auf dem Stuttgarter Gymnasium einer der Kameraden Vischer’s gewesen war. Strauß hatte seinen Berliner Aufenthalt damals schon hinter sich. Lebhaft nahm sich des jungen Schwaben der Criminalist Jul. Eduard Hitzig an, den die juridische[2] Facultät zu Tübingen im J. 1832 zum Doctor ernannt hatte; in seinem gastlichen, einen Mittelpunkt geistig anregender Geselligkeit bietenden Hause lernte V. Chamisso und Franz Kugler kennen. Auch [36] Professor Robert Froriep’s Haus, in welchem Felix Mendelssohn verkehrte, öffnete den schwäbischen Freunden seinen Familienkreis, und ebenso gewährten ihnen Gans, Marheineke, Hotho und Vatke freundlichen Empfang. Im März 1833 trat V. die Rückreise an, bis Dresden mit Märklin und Binder gemeinsam; sie sahen die Dresdener Gemäldegalerie, die Mengs’sche Gypssammlung und hörten, zu Tieck’s Leseabenden zugezogen, von diesem Macbeth und Faust. Die Fortsetzung der Reise führte V. nach Prag und in die österreichische Kaiserstadt. Sinn und Geist erlabten sich ihm an der Volksart des alten Wiens, am Humor und der naiven Lachlust des Leopoldstädter Theaters, an welchem Raimund, Scholz und Nestroy, dessen Schaffen noch in seiner erquicklichen Periode stand, wirkten; er hatte aber auch das Glück, im Burgtheater Sophie Schröder als Medea zu sehen, und weidete sein Auge an den Kunstschätzen des Belvedere. Auf dem Heimweg unternahm er von Linz aus eine Fußwanderung durch das Salzkammergut nach Salzburg, durch das Ziller- und Innthal nach Innsbruck; mit Entzücken und zu unvergänglichem Eindruck sah er zum ersten Mal Hochgebirg, große Natur und die malerischen Trachten des Bergvolks. Die letzte Station der Reise war München, wo V. bei Schelling, mit dem er (durch die Familie Vellnagel) weitläufig verwandt war, einen von nicht sonderlicher Aufmerksamkeit erwiderten Besuch machte. Mit neuaufflammender Kunstfreude verweilte er bei den Fresken Rottmann’s, in der Gemäldegalerie, bei den antiken Skulpturen der Glyptothek, den Fresken von Cornelius, den Nibelungenbildern von Schnorr: die Wendung seines Sinnes zum Reiche der Schönheit, der ästhetischen Formenwelt hatte sich in Wien, in München entschieden.

Im Juni 1833 nach Tübingen heimgekehrt, trat V. das Amt eines Repetenten im Stift an. In gleicher Stellung wirkten neben ihm Friedrich Strauß, Märklin und Binder, auch Gustav Pfizer; ein Zusammenleben von regstem geistigen Austausch begann, und gemeinsam streuten die Freunde unter der studirenden Jugend den Samen der Hegel’schen Philosophie aus. Strauß, der eben damals mit der Ausarbeitung des Lebens Jesu beschäftigt war, erschütterte durch die Anwendung des Mythusbegriffes auf die neutestamentlichen Wundererzählungen auch bei den ihm Nahestehenden den Glauben an die geschichtliche Wahrheit der religiösen Dogmen; die Krücken, die man von Schleiermacher und von Hegel sich entlehnt hatte, wankten, wenn auch die Sophistik des Hegel’schen Ausgleiches zwischen Religion und Philosophie noch nicht völlig durchschaut wurde und die Illusion, daß der Geistliche dem die volle Wahrheit nicht fassenden Volke als Thatsache lehren könne, was für ihn selbst nur den Werth eines Symboles habe, noch eine Zeit lang erhalten blieb. Vischer’s amtliche Aufgaben bestanden im Abhalten von Repetitorien in der Dogmatik und in der praktischen Philosophie, in der Prüfung von Aufsätzen der Seminaristen, in Betheiligung am Examiniren. Einige lyrische Gedichte, die der von Chamisso und Schwab auf das Jahr 1834 herausgegebene Deutsche Musenalmanach brachte (wie „das Kätzlein“), verriethen seine Beschäftigung mit den Musen; andere, wie das aus Eindrücken der Salzburger Reise entstandene Poem „Der Wasserfall“ veröffentlichte er nebst den schon genannten Novellen unter dem Pseudonym A. Treuburg erst 1836 in dem von Ed. Mörike und W. Zimmermann herausgegebenen „Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten“. Die im J. 1834 publicirte Schrift „Berengarii Turonensis quae supersunt tam edita quam inedita“ trägt zwar den Namen Vischer’s und seines damals im Vicariatsdienste stehenden Bruders August; doch beschränkt sich der Antheil beider lediglich darauf, daß sie ein im Nachlaß ihres Göttinger Oheims, des 1826 gestorbenen Theologen Karl Friedrich Stäudlin, vorgefundenes Manuscript zum Druck brachten. Im Sommer 1834 führte V. den in Berlin gefaßten Vorsatz aus: [37] er las zum ersten Mal über Goethe’s Faust. Aber dieser Beginn einer ihm völlig angemessenen akademischen Lehrthätigkeit schien ein jähes Ende nehmen zu sollen: denn wider Erwarten wurde der Repetent im October 1834 zum Pfarrer in Herrenberg ernannt. V. stand jetzt am Scheidewege; aber gerade die Thatsache der Berufung zu einem geistlichen Amte brachte dem innerlich von der Theologie und Kirche schon Losgerissenen die Unmöglichkeit, im geistlichen Stande zu leben und zu wirken, vollends zum Bewußtsein; er reichte ein Gesuch um Enthebung ein, und die Ernennung wurde, nicht ohne Schwierigkeiten, rückgängig gemacht. V. blieb in Tübingen, kündigte für den Sommer 1835 ein Colleg über Aesthetik an und meldete sich, gleichzeitig mit Adalbert Keller, zum Privatdocenten für deutsche Litteratur. Unter dem 25. November 1835 wurde er auf Grund des Senatsberichtes zum Privatdocenten an der Universität im Fache der Aesthetik und deutschen Litteratur ernannt, mit Wirksamkeit von der Zeit ab, wo er von dem Amt eines Repetenten im evangelisch-theologischen Seminar zurücktreten werde. So erfolgte zu Ostern 1836 Vischer’s Habilitation, bei der er gegen den nachmaligen Prälaten Gerok als Respondenten disputirte. Die Habilitationsthesen gehörten dem Thema einer Schrift an, welche V. im October 1836 vollendete und unter dem Titel „Ueber das Erhabene und Komische“ im J. 1837 herausgab. Mit ihr legte V., an Bestimmungen Solger’s anknüpfend, die Grundsteine für den Bau seiner eigenen Aesthetik, indem er nach der Hegel’schen Methode der immanenten Dialektik des Begriffes aus dem Einfach-Schönen das Erhabene und das Komische als die Contraste im Schönen entwickelte.

Schon im folgenden Jahre, am 13. Februar 1837, wurde V., der sich nach Eschenmayer’s Tod auch zu Vorlesungen im Fache der engeren Philosophie erboten und an Christian Baur, dem damaligen Rector der Universität, einen warmen Befürworter seines Gesuches gefunden hatte, zum außerordentlichen Professor ernannt. Hiermit in Zusammenhang stand es, daß er im Winter 1836/37 über das Hegel’sche System und im Winter 1837/38 Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften las. Die Klarheit der Darlegung fesselte die Studirenden insbesondere bei den Vorträgen über das Hegel’sche System; V. selbst aber wurde sich in jenen Jahren bewußt, daß die Veranlagung seiner Natur ihn nicht auf das Gebiet der eigentlichen Philosophie führe, daß er als wissenschaftlicher Denker vielmehr nur da wahrhaft productiv sein könne, wo Phantasie und Anschauung dem Drang nach begrifflicher Erkenntniß, nach philosophischer Untersuchung den Stoff gebe. So lenkten die Vorlesungen der folgenden Semester wieder mehr und mehr in das Gebiet der Aesthetik und ästhetisch-kritischen Betrachtung der Litteratur und Kunst ein, indem sie zur Wissenschaft vom Schönen und dem Goethe’schen Faust zurückkehrten und den für den Sommer 1837 zum ersten Mal angekündigten „deutschen Stilübungen“ (Uebungen im deutschen Stil und Vortrag) Geschichte der mittelalterlichen wie der neueren deutschen Poesie und Erläuterungen des Nibelungenliedes und der Epiker Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg an die Seite stellten. Doch nahm V. an den Kämpfen, in die sich der Tübinger Hegelianismus durch das Hervortreten von Strauß’ „Leben Jesu“ alsbald verwickelt sah, den lebendigsten und leidenschaftlichsten Antheil. Im October 1837 war Arnold Ruge nach Württemberg gekommen, um Mitarbeiter für die von ihm und Echtermeyer eben gegründeten „Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst“ zu werben. V., der damals mit Uhland den norddeutschen Gast zu Gustav Schwab nach Gomaringen führte, zögerte nicht, einer Zeitschrift, die unter dem Gesichtspunkt der Hegel’schen Weltanschauung die geistige Bewegung der Zeit zu verfolgen bestimmt war und die Freiheit und Unabhängigkeit der philosophischen [38] Kritik proclamirte, seine Feder zu leihen; er gab ihr 1838 den Artikel „Dr. Strauß und die Wirtemberger“, einen so umfangreichen als gehaltvollen und glänzend geschriebenen Essay, der dem von der Kirche und dem schwäbischen Pietismus verfolgten Freunde mit furchtlosen Waffen beisprang und sich in scharfgezeichneten, wenn auch mitunter schroff formulirten Schilderungen über süddeutsches und norddeutsches Wesen, über schwäbische Volksart und schwäbische Bildungszustände verbreitete. Mit zwei andern Beiträgen bereicherte er den Jahrgang 1839 der gleichen Zeitschrift, zunächst mit dem nicht minder umfangreichen Artikel „Die Literatur über Göthe’s Faust. Eine Uebersicht“, der, über den ersten wie den zweiten Theil der Dichtung sich auslassend, die Faust-Schriften von Schubarth, Johannes Falk, M. Enk, Deyks, Carus, W. E. Weber, H. Düntzer, Schönborn, Leutbecher, Göschel, Hinrichs, Karl Rosenkranz, Chr. H. Weiße und anderen einer souveränen kritischen Musterung unterzog. Der zweite Artikel hatte Mörike’s Roman „Maler Nolten“ zum Gegenstand, während Mörikes Gedichte von V. fast gleichzeitig, im Juli 1839, in den Berliner „Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik“ besprochen wurden.

Um die Länder der classischen Schönheit mit Augen zu schauen, nahm V. im Spätsommer 1839 einen längeren Urlaub. Am Gardasee betrat er den Boden Italiens. Ueber Verona und Venedig (wo er mit den Malern Bofinger und Aurèle Robert verkehrte) wendete er sich nach Bologna, Parma, Mailand, Genua, Pisa und Florenz, wo er (im Oct. 1839) mit Otfried Müller, dem Kunsthistoriker Gaye, mit Adolf Schöll und dem Archäologen Anselm Feuerbach zusammentraf. In Rom, das er über Siena und Perugia erreichte, verweilte er während des Decembers 1839 und des Januar 1840, auch hier im Verkehr mit Otfried Müller und Anselm Feuerbach und heimisch in einem Künstlerkreis, zu welchem die Landschaftsmaler Karl Reinhardt und Schirmer, der Historienmaler Karl Rahl, der Maler und Dichter Robert Reinick, der Maler Leibniz, der Architekt Römer u. A. gehörten. Albano, Tivoli, Neapel, Sorrent nahmen die nächsten Monate in Anspruch. Nach stürmischer Ueberfahrt in Palermo gelandet, besuchte V. in Gesellschaft des Russen Peter v. Hludoff die Städte Segest, Selinunt, Girgenti, Syrakus, auf beschwerdevollen Wegen die sicilische Insel durchziehend. Eine 12tägige Meerfahrt führte ihn von Syrakus nach Malta, Syra und, am Ostermontag, am 27. April 1840 nach Athen, wo er mit dem Architekten Hansen, dem Landschaftsmaler Karl Roß, mit Ernst Curtius und dem Philologen Urlichs zusammentraf, an dem Festmahl, das die Universität dem schon zuvor angelangten Otfried Müller auf „Platon’s Akademie“ im attischen Oelwalde gab, theilnahm und zu mehreren deutschen, in griechischen Diensten stehenden Officieren, zu dem Leibarzt des Königs, Dr. Röser, und dem griechischen Professor Philippos in freundschaftlichen Verkehr trat. Die Reise durch das griechische Festland (Hellas) machte er im Juni in Begleitung des Philologen C. W. Göttling; sie führte zum Besuch des Schlachtfeldes von Platää, in die Felsthäler des Parnassos, nach Delphi, in das Oetagebirge, nach Lamia und bei einem Ritt auf den Othrys in die Nähe des Olymp, zum Engpaß der Thermopylen, nach Euböa und auf das Schlachtfeld von Marathon. Nach einem zweiten Aufenthalt in Athen bereiste V. den Peloponnes, sah Epidaurus, Nauplia, Argos, Mykene, Korinth und fuhr auf dem korinthischen Meerbusen nach Patras. An Zante und der Insel des Odysseus vorüber ging der Heimweg zu Schiff nach Triest, worauf der Rest des Urlaubs für Wien und Gräfenberg verwendet wurde; im Herbst 1840 war V. wieder zu Hause, bereichert mit einer Ueberfülle von Eindrücken, wie sie aus dem Studium der italienischen Malerei, Architektur und Sculptur, aus dem Studium der Antike, aus dem Genusse der landschaftlichen Natur, den Bildern des Volkslebens und dem Verkehr [39] mit interessanten Menschen ihm zusammengeströmt waren. Eine Reihe lyrischer Gedichte, viele Jahre später veröffentlicht, war die poetische Ausbeute. Aber auch eine für das Gemüthsleben bedeutsame Begegnung brachte dem aus Griechenland Heimkehrenden die Reise: auf der Fahrt über das adriatische Meer sah V. zuerst seine nachmalige Frau, Thekla Heinzel aus Raab bei Riedau im Innviertel, die Tochter eines Schullehrers und Organisten, die, bei ihrem Bruder in Capo d’Istria erzogen, eben auf der Reise in die österreichische Heimath begriffen war.

In den nächstfolgenden Semestern erweiterte V. den Kreis seiner akademischen Vorträge nach zwei Seiten hin: im Winter 1840/41 las er, eine Frucht der Reise pflückend, Geschichte der Malerei, im Winter 1842/43 zum ersten Mal über Shakespeare. Eine gesteigerte litterarische Thätigkeit kam hinzu: in rascher Folge veröffentlichte V. eine Anzahl meist größerer Journalaufsätze, zunächst, 1841, in den Hallischen Jahrbüchern den Artikel „über allerhand Verlegenheiten bei Besetzung einer dogmatischen Lehrstelle in der gegenwärtigen Zeit“, ein Sendschreiben, das zu Gunsten der an Hegel’scher Philosophie gebildeten Tübinger Theologen und ihres Anspruches auf akademische und geistliche Aemter das Wort ergriff, und – in den Deutschen Jahrbüchern für Wissenschaft und Kunst, in welche sich die aus dem censursüchtig gewordenen Preußen „nach Deutschland“ übergesiedelte Zeitschrift verwandelt hatte – einen Artikel über Overbeck’s Gemälde „Der Triumph der Religion in den bildenden Künsten“, der die Anforderungen des hegelisch-modernen Geistes auf das Gebiet der Kunst übertrug und über die allegorisirende Weise und das Nazarenerthum des Malers den Stab brach. Sodann den Aufsatz: „Die Aquarell-Copien von Ramboux in der Gallerie zu Düsseldorf“ (in der gleichen Zeitschrift, 1842); und 1843 in den von Schwegler in Tübingen gegründeten „Jahrbüchern der Gegenwart“ drei Artikel: eine Auseinandersetzung mit Hallmann’s Buch „Kunstbestrebungen der Gegenwart“, eine Abhandlung über den ersten Band der „Gedichte eines Lebendigen“ von Herwegh und den „Plan zu einer neuen Gliederung der Aesthetik“, wie deren Aufbau sich nunmehr ihm selbst, theilweise im Unterschied von Hegel, gestaltet hatte. Von „Shakespeare in seinem Verhältniß zur deutschen Poesie, insbesondere zur politischen“ handelte ein Aufsatz Vischer’s in Prutz’ „Literarhistorischem Taschenbuch“ des Jahres 1844; fünf andere Artikel aus seiner Feder brachten die „Jahrbücher der Gegenwart“ von 1844: Gedanken bei Betrachtung zweier historischer Bilder der belgischen Maler Gallait und Bièfve; „Noch ein Wort wider die jetzige Poesie“ (wider ihre Reflektirtheit und gerichtet gegen eine Aeußerung Adolf Stahr’s); „Populäre Archäologie“ (Erinnerungen an die griechische Reise, an Malta, Syra, Athen); „Nachtrag zur Kritik der Mystères de Paris von Eugène Sue“; und „Deutsche Kunstgeschichte“ (in Anknüpfung an Hotho’s Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei). Als „Kritische Gänge“ gesammelt, erschien ein Theil der bis dahin veröffentlichten Aufsätze Vischer’s 1844 in zwei Bänden bei Fues in Tübingen, unter Hinzugabe einer Besprechung des zweiten Bandes der „Gedichte eines Lebendigen“ von Herwegh sowie des Aufsatzes „Vorschlag zu einer Oper“, der den Unternehmungen Richard Wagner’s vorauseilend die Nibelungensage als Text einer großen heroischen, nationalen Oper empfahl und hiefür den Stoff dramatisch skizzirte. Ein höchst anregender geselliger Verkehr begleitete diese Periode fruchtbarer, der productivsten Kritik gewidmeter Thätigkeit: Albert Schwegler und Eduard Zeller, die Repetenten Reuschle, Ed. Feuerlein und Dörtenbach, der Chirurg Roser, der Irrenarzt Griesinger, der Physiologe Vierordt, der Arzt Dr. Kreuser, der Philologe Reichardt, der Philosoph Karl Planck gehörten zu Vischer’s Freundes- und Bekanntenkreis. Und schon schien des Glückes volle [40] Schale dem unermüdlich Thätigen sich zuzuneigen: am 7. Mai 1844 gründete sich V. durch Verheirathung mit Thekla Heinzel den eigenen Herd, und am 5. Septbr. erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Professor der Universität.

Aber die Göttin des Glückes liebt die Täuschungen, und noch der Ablauf des Jahres 1844 entfesselte gegen Vischer’s amtliche Wirksamkeit einen Sturm. Dem rechtgläubigen Kirchenthum war seine Propaganda für den Hegelianismus, für den Pantheismus seit langem ein Dorn im Auge; der Artikel „Dr. Strauß und die Wirtemberger“ und die Vorrede zu den „Kritischen Gängen“ hatten die protestantische Orthodoxie und den in Württemberg eingebürgerten Pietismus schonungslos angegriffen, und es schien an der Zeit, den Docenten, dessen Vorträge die Jugend entflammten und fesselten, den Schriftsteller, dessen höchst lebendige, frische, stahlscharfe, in der Polemik mit Lust sich ergehende Diction eine gefährliche Ueberzeugungskraft entfaltete, die Macht des Bestehenden empfinden zu lassen. Den Anlaß aber, zum Kreuzzug gegen V. aufzurufen, bot die akademische Rede, welche dieser am 21. November 1844 zum Antritt seines Ordinariats hielt. Ihr Thema war das Verhältniß der Aesthetik zu den Facultätswissenschaften; ein Gegenstand, der V. dazu führte, seine philosophische Ueberzeugung auszusprechen und die der Hegel’schen Weltanschauung und der freien Wissenschaft feindliche Partei seines nicht den Personen, aber der Sache, dem „Princip“ geltenden „offenen und herzlichen Hasses“ zu versichern. Will man billig sein, so muß man einräumen, daß diese Rede an einzelnen Stellen eine Kampfrede war, daß sie herausfordernd schloß und ein größeres Maß von temperamentvoller Färbung hatte, als es bei ähnlichen Gelegenheiten üblich war; aber die Hervorkehrung einer bestimmten philosophischen Ueberzeugung war durch die wissenschaftliche Ansicht des Redners bedingt, der wie der Hegelianismus überhaupt die Aesthetik auf keiner andern Grundlage als auf der der Metaphysik aufbauen zu müssen glaubte, und V., gegen dessen Beförderung zum Ordinarius die Mehrheit des akademischen Senates ein gehässiges Gutachten abgegeben hatte, war persönlich schwer verletzt worden. Als Universitätsact ging die Inauguralrede nur die akademischen Kreise, den Senat und die Collegen an, und die Wellen, die sie aufwarf, wären binnen kurzem zur Ruhe gelangt, wenn nicht anonyme Zeitungscorrespondenzen in Stuttgart und außerhalb Württembergs auf sie hingezeigt und sie als religions- und staatsgefährlich verschrieen hätten. Es ist begreiflich, daß sich die kirchlichen und pietistischen Kreise ihres Besitzstandes zu wehren suchten; glaubten sie ihn doch um so mehr bedroht, als die akademische Jugend dem auf den Kampfplatz getretenen Lehrer einen Fackelzug brachte. Es ist aber auch unwidersprechbar, daß eben diese Kreise den Gebrauch unlauterer Kampfmittel nicht verschmähten. Als V. zur Feststellung des Wortlautes seine Rede im Januar 1845 durch den Druck veröffentlichte und sich ergab, daß ihr Inhalt mißdeutet und entstellt worden war, richtete sich die Agitation mehr und mehr gegen Vischer’s allgemeines Verhalten und seine ganze Persönlichkeit; man hoffte durch künstlich fortgesponnene Verdächtigungen, durch Aufhetzung urtheilsloser Volksschichten, durch warnende Appellationen an die Staatsgewalt Vischer’s Absetzung zu erreichen. Und nicht nur auf V. allein, auch auf seine Freunde, auf den Tübinger Hegelianismus überhaupt, auf die „Jahrbücher der Gegenwart“, welche die württembergischen Freidenker zu so gediegenem als glänzendem Wirken vereinigten, wurde losgeschlagen. Eine alte und eine neue Weltanschauung stießen in den streitenden Parteien zusammen; auf der einen Seite standen die Verfechter des „positiven“ Christenthums, zu einem Kampfe mit den Waffen der Wissenschaft wenig geneigt, aber stark durch den Besitz der Autorität, durch ihre Verwachsung mit den staatlichen Einrichtungen und ihren Zusammenhang mit breiten Volksschichten; auf der andern [41] eine Schar meist jüngerer Männer, deren Bestreben darauf gerichtet war, die überlieferte Religion in philosophische Ideen und humane Sittlichkeit aufzulösen, eine Verbindung von Denkern und Gelehrten, denen der Wahrheitssinn als das höchste galt, voll regen geistigen Lebens, arbeitsfroh und im stolzen Vertrauen auf den Besitz moderner Philosophie, als des Schlüssels zu jedem Welträthsel, siegesgewiß, nur allzu siegesgewiß und von jugendlichem Muthe mitunter überschäumend. Den Verlauf der Fehde im einzelnen zu verfolgen, ist hier nicht der Ort; es mag nur erinnert sein, daß den ersten Allarmruf in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die damals ihre Spalten den Verächtern der freien Forschung öffnete, ein Stuttgarter Buchhändler erhob und V. im Schwäb. Merkur und im Inseratentheil der Allg. Ztg. sich vertheidigte; daß auf den Kanzeln gegen die Hegel’sche Philosophie gepredigt wurde und die Stuttgarter Pfarrer Knapp, Dettinger und Hofacker, denen Gustav Schwab an die Seite zu treten sich nicht scheute, dieses Beginnens sich öffentlich rühmten; daß Bittschriften um Vischer’s Absetzung in Umlauf gebracht wurden und der Pietist Christoph Hoffmann 21 Thesen gegen den „neuen Gottesleugner“ schleuderte, in deren Mitte der Satz prangt: „Wer die christliche Kirche öffentlich angreift oder herabsetzt, den muß sie aus ihrer Gemeinschaft feierlich hinausstoßen zu den Hunden“. Die „Jahrbücher der Gegenwart“ ließen ihren Mitkämpfer nicht im Stich: Albert Schwegler legte in ausführlicher Schilderung die Motive und die Taktik der gegnerischen Angriffe bloß, und Eduard Zeller vollzog in dem Artikel „Zur Charakteristik der modernen Bekehrungen“ an dem Predigtamtscandidaten Dr. Heinrich Merz, der sich in der „Zeitung für die elegante Welt“ in den empörendsten Schmähungen gegen V., seinen früheren Lehrer, gefallen hatte, ein angemessenes Gericht, betheiligte sich auch neben Schwegler und V. selbst an dem „Wanderbuch“, das die „Jahrbücher der Gegenwart“ im Mai 1845 dem geschäftigen Ueberläufer ausstellten. Die württembergische Regierung hatte, von dem Anschwellen der Agitation in Verlegenheit gesetzt, schon im December 1844 vom Tübinger akademischen Senat ein Gutachten über Vischer’s Rede gefordert. Der Senat bestellte Fichte, den Sohn des Philosophen, zum Berichterstatter und verlangte von V., daß er über mehrere Stellen der Rede sich des Näheren erkläre, worauf dieser in einer unter dem 2. Januar 1845 eingereichten Denkschrift Rechenschaft ablegte. Ein neuer Erlaß des Ministeriums, der über Vischer’s gesammte akademische und schriftstellerische Wirksamkeit Bericht und Urtheil verlangte, fand die Ansichten des Senates getheilt: eine Minderheit unter dem Kanzler Wächter stimmte in der Sitzung vom 23. Januar für Vischer’s Entsetzung, der größere Theil der Senatsmitglieder, und unter ihnen der Professor der katholischen Theologie, Dr. Hefele, für völlige Indemnität. Der Beschluß ging nach Verwerfung beider Anträge dahin, daß die Angelegenheit der Regierung zu überlassen sei. Da jedoch diese darauf bestand, daß die akademische Behörde einen bestimmten Urtheilsspruch fälle, so sprach sich der Senat in der Sitzung vom 6. Februar für eine Rüge und Verwarnung aus. Mit einer in den Augen der Eiferer so gelinden Strafsentenz wollte sich der Cultusminister v. Schlayer, obgleich ein Freund der akademischen Lehrfreiheit, nicht begnügen; er suchte nach einem „Mittelweg“ und entschied durch Erlaß vom 14. Februar 1845, daß dem Professor V. eine Warnung auszusprechen und auf die Dauer von zwei Jahren die Erlaubniß, Vorlesungen an der Universität zu halten, zu entziehen sei. Diese Maßregel beschwichtigte den Sturm. Aber sie verschärfte und befestigte in V. das Gefühl des erlittenen Unrechts und sie führte dazu, daß auch in der württembergischen Abgeordnetenkammer eine für ihn vielfach verletzende Besprechung der Angelegenheit erfolgte; denn die liberale Opposition griff das Verfahren des Ministers an, nicht etwa im Interesse der Wissenschaft [42] oder der Philosophie, sondern, kleinlich genug, aus Rücksicht auf die Staatscasse, da dem Suspendirten der Bezug seiner Besoldung belassen worden war. Es waren die Stimmen der auf der Seite der Regierung stehenden Conservativen, welche den Antrag Römer’s, den Gehalt zu streichen, zu Fall brachten. Eine zwei Jahre später von V. eingereichte Rechtfertigungsschrift an den König legte der Minister nicht vor.

Während der Suspensionsjahre schrieb V. die zwei ersten Bände desjenigen Werkes, das seinen Namen für immer mit der Geschichte der Wissenschaften in Deutschland verknüpfen wird: den ersten und den zweiten Theil seiner „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen“. Der erste Band (die Metaphysik des Schönen) erschien (in Karl Mäcken’s Verlag) im Frühjahr 1846, die erste Abtheilung des zweiten Theiles (die Lehre vom Naturschönen) 1847, die zweite Abtheilung (die Lehre von der Phantasie) 1848. Daneben veröffentlichte er, wiederum in den „Jahrbüchern der Gegenwart“, eine Reihe einläßlicher kritischer Aufsätze und freimüthiger Zeitbetrachtungen, und zwar 1845: den (schon im December 1844 geschriebenen) Artikel „Politische Poesie“, der, von einer kritischen Prüfung der Komödie von Prutz „Die politische Wochenstube“ ausgehend, die Möglichkeit und Aufgabe eines modernen politischen Lustspiels erörtert; den Artikel „Dramaturgie. Verdienste Rötscher’s“, der die auf Hebung der Schauspielkunst und der Bühne, als einer nationalen und sittlichen Anstalt, dringenden Schriften des trefflichen Dramaturgen wie auch Rötscher’s Shakespeare-Kritik mit reichlicher Zustimmung begleitet; den Artikel „Das akademische Leben und die Gymnastik. Ein frommer Wunsch“, der von dem ästhetischen Verlangen nach veredelter Körperbildung und dem pädagogischen Bemühen um Hebung des Studentenlebens eingegeben ist; und den Artikel „Gervinus und die Deutschkatholiken“, der die von Ronge geleitete religiöse Bewegung als Ideologie und Halbheit charakterisirte. Im nächsten Jahr folgten die Aufsätze „Münchener Kunst“ und „Satyrische Zeichnung. Gavarni und Töpffer“, jener eine ihr Für und Wider sorglich abwägende Beurtheilung der unter dem König Ludwig I. in München sich entfaltenden Kunstblüthe, dieser ein überaus glänzendes Zeugniß für Vischer’s Befähigung, das Komische und alle Bildlichkeit zu sehen und im Worte das Gesehene congenial wiederzugeben, eine Meisterarbeit, durchtränkt von so viel Geist und gesundem Humor als gesundem sittlichen Ernste.

Mit dem Sommersemester 1847 nahm V. seine Vorlesungen an der Universität wieder auf. Abermals bereicherte seine nicht rastende Feder die Jahrbücher Schwegler’s: 1847 mit einer kritischen Studie über Hebbel und dessen Trauerspiel „Maria Magdalena“, sowie mit dem Artikel „Ein malerischer Stoff“ (einer Empfehlung der in Fischart’s „Glückhafftem Schiff“ besungenen Fahrt der Züricher für einen Bildercyklus); 1848 mit dem gegen Jos. v. Eichendorff’s Verherrlichung der katholisirenden romantischen Poesie gerichteten Aufsatz „Ein literarischer Sonderbündler“, mit dem auf Kugler’s und Guhl’s kunsthistorische Publicationen hinweisenden Artikel „Handhaben zur Kunstgeschichte“ und mit einer eingehenden Studie über Kaulbach’s Reineke Voß. Inzwischen hatten die hochgehenden politischen Wogen der Zeit auch Vischer’s sich bemächtigt; schon 1847 in Tübingen zum Major einer aus Studenten gebildeten Sicherheitswache gewählt, wurde er im Frühjahr 1848 im Wahlkreis Reutlingen-Urach für die Frankfurter Nationalversammlung als Candidat der Liberalen aufgestellt; Theilnahme an Volksversammlungen und Wahlreden unterbrachen die Stille der gelehrten Arbeit, und im Mai 1848 siedelte V., der seinen conservativen Mitbewerber aus dem Felde geschlagen hatte, mit seiner Frau und seinem einjährigen Sohn Robert nach der Mainstadt über, den Traum von der Aufrichtung eines einigen und freien Deutschlands im Herzen hegend und nährend. Als Mitglied [43] des Parlaments schloß er sich in Frankfurt gleich Uhland der gemäßigten Linken oder dem linken Centrum an, trat mit Robert Mohl, Römer, Fallati, Fallmerayer, Eisenmann u. A. in den Club des Württemberger Hofes und ging nach der Spaltung dieser Partei mit der von Heinrich Simon geleiteten Gruppe Westendhall. Er theilte die Ansicht derer, die durch gesetzlichen Ausbau der bürgerlichen Freiheit eine künftige Republik vorzubereiten gedachten; die ihn am lebhaftesten bewegende Frage aber war die der nationalen Einheit und Macht. Nach Sympathien und Ueberzeugungen Großdeutscher, war er ein Gegner der preußischen Partei. In den Sitzungen der Paulskirche sprach er am 15. Juli 1848 für die Umbildung des stehenden Heeres in eine Volkswehr, am 18. September für die Trennung der Schule von der Kirche, am 9. Januar 1849 gegen die Spielbanken. Nach Annahme eines vom 1. Mai ab alle Spielbanken in Deutschland verbietenden Gesetzes stellte V. am 14. April den Zusatzantrag, daß Spielbankhalter wegen groben Vergehens gegen die öffentliche Sittlichkeit mit Zuchthausstrafen zu belegen seien, und interpellirte, da sich die Bank von Homburg an den Parlamentsbeschluß nicht kehrte, am 4. Mai das Reichsministerium, worauf die landgräfliche Regierung am 9. Mai durch Reichsexecution zur Einstellung des Spieles gezwungen wurde. Auch in Zeitungsartikeln brachte V. die politischen Bestrebungen, die ihn damals erfüllten, zum Ausdruck; er gab in die „Didaskalia“ einen Aufsatz über „die Adelsfrage“ und schrieb im „Schwäbischen Merkur“ über die großdeutsche Idee wie über „deutsche Wehrverfassung“. Aber seine Hoffnungen, daß aus den Berathungen der Abgeordneten eine glückliche Neugestaltung der Verhältnisse hervorgehen werde, sanken bald. Er empfand mit Mißmuth die überhandnehmende Zerklüftung der Meinungen, die Verworrenheit der Wünsche, das Uebermaß des parlamentarischen Debattirens, die Unmöglichkeit, eine die deutschen Staaten einigende Form zu finden; in die Erkenntniß des vergeblichen Ringens der Parteien mischte sich das Gefühl der eigenen Rathlosigkeit, und der Aufenthalt in Frankfurt wurde ihm zu einem „Marterjahr“. Als im Mai 1849 der Widerstand der deutschen Großmächte den Zusammenbruch des nationalen Unternehmens entschieden hatte, ging V. mit dem Rumpfparlament nach Stuttgart, überzeugt, daß um eine schon verlorene Sache der Kampf fortgesetzt werde, aber entschlossen, in der Erfüllung seiner Mandatspflicht nur der Gewalt zu weichen. Er trat in Stuttgart der äußersten Linken, die das württembergische Volk in den badischen Aufstand zu verwickeln hoffte, entgegen, stimmte mit Uhland und wenigen Andern gegen die Reichsregentenwahl und sprach in der letzten Sitzung gegen Karl Vogt und die von diesem geplante Wehrbarmachung des Volkes. Nur allmählich überwand er die tiefe Erregung, welche die politische Campagne und deren herber, einen guten Theil der besten Männer Deutschlands schmerzlich enttäuschender Ausgang in ihm zurückgelassen hatte. Zwei Broschüren vom Jahre 1849, „Entwurf zu einem Gesetze über die deutsche Wehrverfassung“ und „Das Bürgerwehr-Institut oder: Ist der Jammer noch länger zum Ansehen?“, kamen auf einen aus politischen und aus ästhetischen Erwägungen stammenden Lieblingsgedanken Vischer’s, auf die Errichtung einer württembergischen Landwehr, die an Stelle des stehenden Heeres wie der Bürgerwehr zu treten hätte, zurück; ein Artikel der „Deutschen Zeitung“ vom Dec. 1849 befaßte sich mit der Volkspartei in Württemberg, und gewissermaßen den Ausklang dieser auf politische Reformen gerichteten Bethätigung Vischer’s bildete ein Aufsatz in Kolatschek’s „Deutscher Monatsschrift“ vom Jan. 1851, betitelt „Die Religion und die Revolution“ und bestimmt, zur Abwehr der nunmehr das Haupt erhebenden Reaction auf das Verhältniß von Staat und Kirche, von Kirche und Schule die Aufmerksamkeit der Vaterlandsfreunde zu lenken.

[44] Der Förderung fachwissenschaftlicher Arbeit, der Fortsetzung der „Aesthetik“ kamen die nächstfolgenden Zeiten zu gute. Noch im J. 1851 erschien der 1. Abschnitt des 3. Bandes („Theiles“), dessen Gegenstand „Die Kunst überhaupt und ihre Theilung in Künste“ ist; 1852 folgte das von der Baukunst, 1853 das von der Bildnerkunst, 1854 das von der Malerei handelnde Heft. Ein die von Ternite herausgegebenen Nachbildungen der pompejanischen Wandgemälde warm empfehlender Aufsatz im „Deutschen Museum“ vom Mai 1855 „Zur Kenntniß der Malerei bei den Alten“ wie auch ein „Vorwort“ zu Springer’s Handbuch der Kunstgeschichte (v. J. 1855) bezeugte nebenher Vischer’s Beschäftigung mit den bildenden Künsten. Dabei umspannte der Kreis seiner akademischen Vorträge wiederum die in fünf Wochenstunden gelesene Aesthetik, Geschichte der neueren deutschen Poesie, Goethe’s Faust, Erläuterung des Nibelungenliedes, Shakespeare’s Dramen, Geschichte der Malerei und deutsche Redeübungen, und in immer größeren Scharen ihm zuströmend hing die Jugend an seinen Lippen. Aber nicht lange mehr sollte V. der Tübinger Hochschule erhalten bleiben. Unter dem 15. Mai und 16. Juni 1855 zum ordentlichen Professor der Aesthetik und deutschen Litteratur am eidgenössischen Polytechnikum und an der Universität zu Zürich ernannt, siedelte V. im Herbst dieses Jahres nach Zürich über. Der Entschluß, die Heimath zu verlassen, war ihm nicht leicht geworden. Aber die Unduldsamkeit der Frommen hatte ihm auch nach der Rehabilitation den Frieden der Arbeit nicht gegönnt. In der Agentur des Rauhen Hauses zu Hamburg war aus der Feder eines pietistischen Fräuleins Namens Wilhelmine Canz im J. 1854 der Pasquillroman „Eritis sicut Deus“ erschienen, der, von Fanatismus und Unverstand eingegeben, von V., Baur und Strauß Zerrbilder entwarf und alle hegelisch Gesinnten mit Gift bespritzte; Angebereien bei der Regierung hatten sich wiederholt, und auf eine derselben hatte diese durch den Universitätskanzler v. Gerber im J. 1854 V. einen „Wink“ zukommen lassen. Um sich nun zu vergewissern, ob die Regierung ferneren Denunciationen das Ohr leihen werde, nahm V., als der Ruf nach Zürich an ihn ergangen war, eine Audienz bei dem Cultusminister v. Spittler-Wächter. Eine tactlose Aeußerung, welche der Minister hiebei fallen ließ, gab den Ausschlag: V. mußte die Berufung nach Zürich als eine Befreiung, eine „Ehrenrettung“ empfinden, und Württemberg beraubte sich einer Lehrkraft, der es keine zweite an die Seite zu stellen vermochte.

In die ersten Jahre der Züricher Zeit fällt die Vollendung der „Aesthetik“; das 4. Heft des 3. „Theiles“ oder die erste Hälfte des 4. Bandes, wie auch das 5. Heft und mit ihm der Schluß des ganzen Werkes erschien 1857, fast 11 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes. An der Abfassung des 4. Heftes, dessen Gegenstand die Musik bildet, hatte sich, da V. für die Tonkunst weniger veranlagt war – er sei, äußerte er selbst, „mehr auf das Auge als auf das Ohr angelegt“ – Karl Köstlin als Mitarbeiter betheiligt. Den Gegenstand des letzten Heftes bildet die Dichtkunst. Kleinere Arbeiten folgten wiederum in gedrängter Fülle: 1857 „Kritische Bemerkungen über den 1. Theil von Göthe’s Faust, namentlich den Prolog im Himmel“, veröffentlicht in der Monatsschrift des wissenschaftlichen Vereines in Zürich; 1858 der treffliche Essay „Friedrich Strauß als Biograph“, veröffentlicht in Paul Heyse’s Litteraturblatt des deutschen Kunstblattes, sowie die der Opposition gegen die formalistische Aesthetik geltenden Aufsätze „Ueber das Verhältniß von Inhalt und Form in der Kunst“ und „Antwort auf Entgegnungen ästhetischer Formalisten“, jener in der genannten Züricher Monatsschrift, dieser in Kolatschek’s „Stimmen der Zeit“ erschienen; 1859 der dem Kampf gegen die Geschmacksverirrungen moderner Bekleidung geltende Aufsatz „Vernünftige Gedanken über die jetzige Mode“, veröffentlicht im Stuttgarter „Morgenblatt“. Als am 10. November 1859 in [45] allen Ländern deutscher Zunge der 100-jährige Geburtstag Schiller’s gefeiert wurde, sprach V. in der St. Peterskirche zu Zürich die Festrede, in Worten voll Schwung die Kräfte, die in dem großen Dichter gemischt waren und zum Segen der Menschheit, zum Segen seiner Nation wirkten, zeichnend. Daß er in der Fremde, in der Schweiz öffentlich preisen durfte, was dem deutschen Namen zum unvergänglichen Ruhm gereicht, war ihm selbst eine Genugthuung, ein patriotischer Trost; denn nur noch empfindlicher war Vischer’s Vaterlandsgefühl geworden, seit er, von der Heimath getrennt, in dem über deutsche Verhältnisse nicht immer mit Einsicht und Billigkeit urtheilenden Ausland lebte und lehrte. Hatte doch auch der italienisch-österreichische Krieg die Achtsamkeit auf das, was deutsche Ehre fordere, in ihm geschärft und ihn aufs neue veranlaßt, in politischen Fragen die Feder zu ergreifen: in den Artikeln „Zur Verständigung“, „Die politische Lage vom deutschen Standpunkt“ und „Die Gefahr Deutschlands“ hatte er während des Frühjahrs und Sommers 1859 im „Schwäbischen Merkur“, in der hannöverschen „Zeitung für Norddeutschland“ und in der Beilage zur Augsburger Allgemeinen Zeitung der Ansicht Ausdruck gegeben, daß Frankreichs anmaßende und eigennützige Einmischung in die Angelegenheiten Oesterreichs Preußen und Deutschland aus Gründen der nationalen Ehre und Sicherung hätte zwingen sollen, für den Länderbesitz des bedrängten Kaiserstaates mit den Waffen einzutreten, und daß, nachdem Preußen durch Zögern diese Pflicht versäumt habe, eine engere Verbindung der deutschen Mittelstaaten den nationalen Gedanken fördern und einen künftigen Ausgleich zwischen den Interessen der deutschen Großmächte herbeiführen solle. Die Bewegung von 1848, bemerkt der zuletzt genannte Artikel, sei in erster Linie eine Freiheitsbewegung, in zweiter eine Einheitsbewegung gewesen, beide Principien hätten sich durchkreuzt, und diese Durchkreuzung sei nicht die kleinste Ursache gewesen, weshalb damals alles gescheitert sei; jetzt müsse der Kampf um die von außen her gehemmte Einigung Deutschlands den unbedingten Vortritt vor der Freiheitsidee haben. Ein politischer Schmerzens- und Zornruf steht auch in Vischer’s litterarischer Thätigkeit während des Jahres 1860 an der Spitze: im Januar brachte die Beilage zur A. Allg. Ztg. aus seiner Feder den Artikel „Betrachtungen über das deutsche Ehrgefühl und die Spielhöllen“, der nicht nur den in deutschen Bädern wieder geduldeten öffentlichen Schandfleck der Spielbanken vom moralischen Gesichtspunkt aus rügte, sondern auch mit dem an unserm Volke nur allzuhäufig bemerkbaren Mangel an nationalem Sinn und Tact ins Gericht ging. Aber auch bei der Reise, welche V. im Frühjahr 1860 nach Italien unternahm, waren es nicht zum wenigsten politische Sorgen und Eindrücke, die ihn bewegten. Schon wiederholt war er ein Gast der transalpinischen Gefilde geworden, seit er im J. 1839 zuerst den Boden Italiens betreten hatte: im Herbst 1843 hatte er, noch von Tübingen aus, den Gardasee, Verona, Venedig, Udine besucht, im Herbst 1857 war er von Zürich aus über Andermatt und den Gotthard an die oberitalienischen Seen gezogen, hatte Mailand, Brescia, Verona, Mantua, Vicenza, Padua und abermals Venedig besucht; jetzt, 1860, beeinflußte seine innere Antheilnahme an der durch den Frieden von Villafranca eingeleiteten Neugestaltung der Verhältnisse Oesterreichs und Italiens den Reiseplan. Ueber München, wo ihn fürs erste die neuen Schöpfungen Kaulbach’s, des Thiermalers Foltz, Böcklin’s und anderer Meister fesselten und eine Begegnung mit Paul Heyse den Aufenthalt beschloß, wendete sich V., von Regensburg ab die Wasserstraße der Donau benützend, nach Wien und in ungarisches Land, nach Pesth, um sodann über den Sömmering das adriatische Meer zu erreichen. Er verweilte in Venedig, in Verona, besuchte vom Gardasee aus in Gesellschaft des Obersten Krziz das Schlachtfeld von Solferino, fuhr nach Mailand, [46] wo ihm die Kunstschätze und der Verkehr mit dem Maler Molteni kaum über den Anblick der die Stadt noch füllenden Soldaten Napoleon’s III. hinweghalfen, und kehrte über den Splügenpaß in die Schweiz zurück. Eine überaus lebensvolle und anziehende Schilderung dieser von den mannigfaltigsten Wahrnehmungen und Betrachtungen gesättigten Reise brachte das erste Heft der „Neuen Folge“ der „Kritischen Gänge“, die, von 1860 ab in Cotta’s Verlag gedruckt, wiederum ausgewählte ältere, zuerst in Zeitschriften veröffentlichte Kritiken und Abhandlungen mit neuen vereinigten. Im J. 1861 folgten das zweite und das dritte Heft der gleichen Sammlung; jenes wiederholte den Aufsatz „Shakspeare in seinem Verhältniß zur deutschen Poesie, insbesondere zur politischen“ (wobei jedoch die Vorrede auf gewisse Mängel der Arbeit aufmerksam macht) und gab als neues Stück eine kritische Studie über Shakespeare’s Hamlet, einen geistvollen Essay, der auf den Nachweis zielt, daß ein Uebermaß von Reflexion, ein Ueberschuß von phantasievollem, den Augenblick des Handelns verpassendem Denken Hamlet zum Zauderer und hiemit zum tragischen Helden mache (V. hat späterhin in „Altes und Neues“ III, 372 f. diese Auffassung dahin ergänzt, daß Hamlet am Genie, an der geistigen Constitution des „Phantasiegenies“ leide); wogegen das dritte, den 1. Band schließende, Heft unter Wiederholung des Aufsatzes über Friedrich Strauß als Biograph und der „Vernünftigen Gedanken über die jetzige Mode“ als neues Stück den Plan zu einem zweiten Theile der Goethe’schen Faustdichtung brachte, bei welchem der Held in die geschichtlichen Kämpfe des 16. Jahrhunderts, in die Reformationsbewegung und in den Bauernkrieg verwickelt wird. Inzwischen hatte V. auch in Zeitschriften sich wiederum mehrmals vernehmen lassen: ein im Illustr. Familienbuch des Oesterreichischen Lloyd vom Jahre 1860 veröffentlichter Aufsatz zeichnete in liebevoller Weise das Bild Alfred Rethel’s, dessen Größe schon der Tübinger Aesthetiker erkannt hatte, und die Artikel „Zu der Erklärung von Rodbertus, Bucher und v. Berg“, „Zur deutschen Frage“ und der (ironische) „Vorschlag zur Güte an Victor Emanuel von Piemont und an H. v. Vincke v. Hagen“, von denen der zweite im „Schwäb. Merkur“, der erste und dritte aber in der Augsb. Allgem. Ztg. bezw. deren Beilage anonym erschienen, gaben in den ersten Monaten des Jahres 1861 den Besorgnissen und Hoffnungen des Patrioten neuen Ausdruck: V., der gegenüber Napoleon III. alle deutschen Stämme brüderlich geeinigt wünschte, empfand es mit Befriedigung, daß sich nunmehr auch einzelne preußische Politiker für eine Unterstützung Oesterreichs durch den deutschen Bund aussprachen, und hielt denen, die wie v. Vincke mit Berufung auf das Nationalitätsprincip Oesterreich einen Verzicht auf Venedig zumutheten, entgegen, daß Frankreich an eine Zurückgabe Elsaß-Lothringens nicht denke. Wieder den Musen zugewendet, begrüßte er in einem längeren, unter dem Titel „Zur Vermittlung zwischen der classischen Philologie und der allgemeinen Bildung“ im Juli 1861 in der Beil. z. A. Allg. Ztg. veröffentlichten Aufsatz Adolf Schöll als einen mit dem Rüstzeug seiner Fachwissenschaft ausgestatteten Alterthumskenner, der sich über den bei den Philologen in ästhetischen Dingen üblichen Dilettantismus erhebe, und verflocht mit einer Besprechung der Schöll’schen Schrift über die Tetralogie des attischen Theaters einsichtsvolle Bemerkungen über die griechischen Tragiker, insbesondere die Dramen des Sophokles; noch im gleichen Monat zeigte er in der Beil. zur A. Allg. Ztg. Mörikofer’s Buch über die schweizerische Litteratur des 18. Jahrhunderts an und im December 1861 ebendaselbst die Cotta’sche Jubiläumsprachtausgabe der Gedichte Schiller’s, zu der die beiden Piloty, Ramberg, Jul. Schnorr u. A. Illustrationen, Randzeichnungen und Vignetten geliefert hatten. Das Jahr 1862 brachte eine satirische Burleske, die aus Vischer’s schroff ablehnender [47] Stellung zum zweiten Theile des Goethe’schen Faust erwachsen war, eine parodistische Posse, die dem „unerquicklichen allegorischen“ Alterswerk des Dichterfürsten einen Spiegel vorhalten sollte: „Faust. Der Tragödie dritter Theil. Treu im Geiste des zweiten Theils des Göthe’schen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky“. Ein Artikel der Beil. zur A. Allg. Ztg. begleitete die Züricher Kunstausstellung des Sommers 1862 mit einem insbesondere die Bilder von Bleibtreu, Bernhard Fries und Ulrich hervorhebenden Bericht; wenige Wochen nachher eilte V., aus dem Kunstkritiker sich wiederum in den Politiker verwandelnd, nach Deutschland, um an einem jener Nationalfeste theilzunehmen, die damals in unsern Stämmen das Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit wachhalten und die Flamme patriotischer Begeisterung und Opferwilligkeit entzünden mußten, am Frankfurter deutschen Schützenfest. Sorglichen Sinnes hatte er die Mißhelligkeiten verfolgt, die das nationale Unternehmen anfänglich zu schädigen drohten, hatte schon im März in einem mit dem Titelzusatz „Eine kleine Friedenspredigt“ versehenen Artikel der A. Allg. Ztg. die Süddeutschen gemahnt, nicht aus Abneigung gegen den Nationalverein und die zu erwartenden „kleindeutsch“ gesinnten Gäste im Schmollwinkel sitzen zu bleiben; nun mischte er sich selbst unter die Schützen, die zu Tausenden aus Süd und Nord, aus Oesterreich und aus der Schweiz zusammengeströmt waren, ging im Festzug mit und erprobte, von jeher ein Freund des Waffenspiels und jeder in anziehende Erscheinung tretenden Uebung männlicher Wehrhaftigkeit und Kraft die Treffsicherheit seines Stutzens im Schießstand. Die Bilder, die sich ihm in diesen Tagen vor das Auge drängten, die Erinnerungen, welche der Wiederbesuch Frankfurts in ihm erweckte, die Ausblicke in die politische Zukunft Deutschlands, die sich ihm bei der Erwägung der Zustände unseres nach Einheit sich sehnenden und in der Frage der Form der Einigung gespaltenen Vaterlandes ergaben, schilderte im vierten, 1863 veröffentlichten Heft der Neuen „Kritischen Gänge“ „Ein Schützengang“. Das gleiche Heft brachte unter der Aufschrift „Pro domo“ eine zumeist gegen Robert Prutz sich kehrende Vertheidigung der Vischer’schen Faustparodie sowie die Studie „Ludwig Uhland“, eine von der Wärme des Herzens durchströmte und in das Innerste der menschlichen und dichterischen Individualität dringende Analyse des großen Lyrikers, Forschers und Politikers, zu dessen Ehrung V. bei der Züricher Uhlandfeier im Mai 1863 auch die Festrede hielt. Aber der Bericht über das Frankfurter Schützenfest forderte noch einen Nachklang. V. war nicht der Mann, um zu übersehen, daß in den patriotischen Jubel der Festtage sich auch „Ausbrüche eines oberflächlichen politischen Idealismus und kosmopolitischer Sentimentalität“ gemischt hatten, und es war ihm als ein Verstoß gegen den nationalen Tact erschienen, daß man in den Frankfurter Reden die Schweiz auf Kosten Deutschlands maßlos gepriesen hatte. Als nun bei dem schweizerischen Schützenfest in La Chaux de Fonds deutsche Redner wiederholt, der Würde des eigenen Vaterlandes vergessend, den Schweizern Weihrauch streuten, schrieb V. unter dem 3. Aug. 1863 in die Beil. zur A. Allg. Ztg. eine gegen diese „Schmeichelreden“ und den Ueberschwall radicaler Phrasen sich richtende scharfe Sittenpredigt, die vom politischen Anstand handelte und in goldenen Worten auch das Ausland erinnerte, daß wir Deutsche „uns in der Politik verspätet haben, weil wir an unserer und der Menschheit innerer Bildung“ arbeiteten. Ein Censor, der seines Volkes Bestes wollte, war er der Meinung, es sei den Deutschen nur heilsam, wenn sie unter sich über die Zerfahrenheit und Ohnmacht ihres Vaterlandes klagten und spotteten, es sei aber Selbstwegwerfung, wenn dergleichen vor Fremden und im Ausland geschehe, und so empfindlich war in diesem Punkte sein politisches Ehrgefühl, daß sich auch Richard Wagner in einer [48] Züricher Gesellschaft wegen eines Ausfalls auf die deutschen Zustände von V. eine Zurechtweisung hatte gefallen lassen müssen. Der Ablauf des Jahres 1863 rollte die schleswig-holsteinische Frage auf. In der Erkenntniß, daß sie „die deutsche Frage in ihrem Schooße berge“, verfolgte V. ihre Entwicklung mit dem Eifer seiner Seele und forderte in den Artikeln „Wie weiter?“, „Politische Briefe aus der Schweiz“, „Nicht nachlassen!“, „Die Pause“ und „Die Wahrheit unserer Lage“, von denen der zweite in der Wiener „Konstitutionellen Vorstadtzeitung“, der vierte in der Frankfurter „Süddeutschen Zeitung“, die übrigen im „Schwäb. Merkur“ veröffentlicht wurden, das energische Eintreten der Großmächte Oesterreich und Preußen für deutsches Recht, das Aufgeben alles Parteihaders, das Standhalten des Bürgerthums und ein engeres Bündniß der süd- und mitteldeutschen Staaten. Inmitten aller dieser aus der leidenschaftlichen Erregung des Tages hervorgegangenen Schriften hatte Vischer’s wissenschaftliche und kritische Thätigkeit nicht geruht: im Jan. 1864 zeigte er in der Beil. zur A. Allg. Georg Scherer’s, mit Holzschnitten von L. Richter und andern geschmückte Sammlung „Deutscher Volkslieder“ nebst dem „Illustrirten Kinderbuch“ und den „Gedichten“ des nämlichen Autors an, und seit dem Sommer 1863 beschäftigten ihn Vorstudien für die nunmehr in Frage gekommene neue Auflage seiner Aesthetik. Ende Mai 1864 folgte in der Beil. zur A. Allg. Ztg. die Anzeige dreier Dramen von Karl Kösting, im März 1865 im gleichen Blatt ein Artikel über das Tübinger Uhlanddenkmal, im Dec. 1865 ebendaselbst eine (ihren Verfasser allerdings späterhin nicht mehr befriedigende) Anzeige von Berthold Auerbach’s Roman „Auf der Höhe“; 1866 in der „Zeitschrift für bildende Kunst“ eine Besprechung von Julius Meyer’s „gediegener“ Geschichte der französischen Malerei und im „Schwäb. Merkur“ eine Anzeige des von M. P. Planck verfaßten und mit Zeichnungen Joh. Bapt. Pflug’s ausgestatteten Buches „Oberschwäbische Zeitbilder“. Zwei Mal während des Jahres 1865 hatte V. eine größere Reise unternommen: in der Ostervacanz besuchte er Ulm, Innsbruck, Verona, Venedig (wo er mit den Malern Karl Reichardt und Nerly und dem Bildhauer Borro verkehrte), Bologna. Florenz und Pisa, um von Livorno zu Schiff nach Genua zu fahren und über Turin heimzukehren; im Herbst aber verweilte er im Norden, in hannöverischem Land, in Bremen, Schleswig und im Seebad Sylt. Die Bismarck’sche Politik, in ihren Zielen noch undurchsichtig, hatte sich eben damals der Herzogthümer Schleswig-Holstein für Preußen bemächtigt, und so erfüllen zeitgeschichtliche, wenn auch von Natur- und Kunstschilderungen eingeleitete, Betrachtungen den Bericht über diese Reise, welchen V. unter dem Titel „Ein Gang am Strande“ im Frühjahr 1866 im 5. Heft der Neuen „Kritischen Gänge“ veröffentlichte. Das nämliche Heft enthält noch einen offenen Brief an den Staatsrath Victor Hehn, die Abwehr eines publicistischen Angriffs, welcher V. Gelegenheit bot, sowol über italienische Volksart als über das politisch verjüngte Italien sich auszusprechen; an vorderster Stelle aber eine im schwersten Panzer wissenschaftlicher Rüstung einhergehende Arbeit: den ersten Theil der Kritik, welche V. an seiner eigenen Aesthetik zu üben für geboten hielt. Denn wenn ihn auch innere Schwierigkeiten über die Aufgabe einer systematischen Neubearbeitung des großen Werkes nicht ins Reine gelangen ließen, so fühlte er sich doch gedrängt, die Punkte zu bezeichnen, an denen er selbst infolge der fortschreitenden Entwicklung seiner Ansichten den von ihm unternommenen Bau für verbesserungsbedürftig erkannt hatte; er wollte aber auch mit der Gegnerschaft, die ihm seit der Veröffentlichung seiner Aesthetik erwachsen war, vorab mit dem Formalismus der Herbart’schen Schule, sich principiell auseinandersetzen, wollte nebenher mit Carriere, als dem Vertreter einer den Theismus betonenden Aesthetik, mit Cherbuliez und Andern einen [49] kritischen Gang thun. Seine Autorität zu schädigen hatten die gegnerischen Angriffe nicht vermocht; auf die Höhe wissenschaftlichen Ruhmes gelangt, galt V. jetzt als der erste Meister seines Faches, als die erste Instanz im Gebiete der Kritik, und mit Stolz nannte ihn die Schweiz unter ihren akademischen Lehrern. Aber auch das Vaterland, das ihn in die Fremde hatte ziehen lassen, war sich seines Verlustes bewußt geworden, und die Zeichen öffentlicher Ehrung, welche zwischen der Heimath und ihm neue Bande schlingen sollten, begannen sich zu häufen. Schon gegen 1860 war eine Berufung Vischer’s nach München in Frage gekommen; 1864 hatte ihn die k. bair. Akademie der Wissenschaften zum Mitglied ernannt, und zu dem Schiedsgericht, das 1866 für die Errichtung des Maximilians-Monumentes bestellt wurde, erbat sich München sein Gutachten. In Württemberg war vom Jahre 1864 ab der Cultusminister Ludwig v. Golther bedacht, V. für eine der schwäbischen Hochschulen zurückzugewinnen. Zunächst handelte es sich um eine Berufung auf den kunstgeschichtlichen Lehrstuhl des Stuttgarter Polytechnikums; daneben wurde das Directorium der Stuttgarter Kunstschule für V. ins Auge gefaßt. Aber gegen ein im wesentlichen praktisches Amt hegte dieser Bedenken, und auch ein kunstgeschichtlicher Lehrstuhl war nicht gerade nach seinem Sinn; die Kunstgeschichte hatte sich allmählich zu einer besonderen und reichen Disciplin entwickelt, die einen ganzen Mann forderte, und V. selbst hatte im Cyclus seiner Vorlesungen die Geschichte der Malerei mehr und mehr zurücktreten lassen. So nahm er es nicht schwer, daß schließlich Lübke an das Polytechnikum berufen wurde. Minister v. Golther bot nun einen Ruf nach Tübingen an; aber mit dem Gedanken, in einer kleinen Universitätsstadt zu leben und zu wirken, konnte sich V. nicht mehr befreunden. Die Verhandlungen, während welcher auch eine Anfrage vom Karlsruher Polytechnikum an V. erging, zogen sich in die Länge, und erst in der Ostervacanz 1866 gelang eine Vereinbarung: V. wurde zum ordentlichen Professor der Aesthetik und deutschen Litteratur an der Universität Tübingen und am Stuttgarter Polytechnikum ernannt, mit der Bedingung, daß er je in der 2. Woche Vorträge in Stuttgart zu halten habe. Es war der sehnliche Wunsch, dem Vaterland mit allen Kräften dienen zu können, war auch das Gefühl der Genugthuung über die ihm von seinen Landsleuten ermöglichte ehrenvolle Rückkehr, was V. bestimmte, aus der schönen Stadt an der Limmat zu scheiden, wo er, gleichzeitig wirkend mit Gottfried Semper, Lübke, Köchly, Bursian, Johannes Scherr, den Ruhm des schweizerischen Bildungswesens erhöht und in freundschaftlichem und gesellig-anregendem Verkehr mit dem Orientalisten Ferd. Hitzig, mit Gottfried Keller, mit dem Theologen Biedermann, dem Juristen Temme, dem Musikdirector Heim, mit Dr. Bach, Huschke, Kaufmann Wesendonck und Andern manche Unbequemlichkeit und Unlust des Tages und auch manchen Kummer vergessen hatte. Im Herbst 1866 siedelte der 59-jährige nach Tübingen über.

Die Anfänge der neuen Existenz erwiesen sich nicht als behaglich. Zwar gewann V. durch einen öffentlichen Vortrag über Goethe’s Iphigenie, den er im December 1866 im Königsbau zu Stuttgart hielt, alsbald die Bewunderung und Liebe des hauptstädtischen Publicums, und bei den Vorlesungen am Polytechnikum erfreute ihn nicht nur die Empfänglichkeit der Studirenden, sondern auch die Theilnahme einer großen Anzahl von gereiften Zuhörern, von Männern und Frauen aus den besten und geistig strebsamsten Schichten der Stuttgarter Gesellschaft. Aber das mit seinem neuen Doppelamt verbundene häufige Hin- und Herreisen zwischen zwei Städten wurde dem Vielbeschäftigten, nach Stille und Sammlung Ringenden bald lästig, und ganz unleidlich erschien ihm der [50] Tübinger Aufenthalt. Eine Aenderung in seinem Anstellungsmodus, dahin gehend, daß er vom Herbst 1867 ab während des ganzen Winters in Stuttgart lesen und nur den Sommer in Tübingen zubringen solle, überhob ihn doch nicht der Mühseligkeit eines sich halbjährlich erneuernden Umzugs. Schon zu Ostern 1867 hatte er sich gesehnt, wieder ein Stück große Welt, wieder „Marmorpaläste“ zu sehen, hatte eine Reise nach Verona, Venedig, Vicenza, Brescia, Mailand und Pavia unternommen. Die innere Erfrischung, die ihm ältere und neuere italienische Kunst und italienisches Theater damals gewährten, spiegelt sich in dem von Geist und Leben sprudelnden Artikel „Durcheinander aus Oberitalien“, den die Wochenausgabe der A. Allg. Ztg. vom Juli 1867 veröffentlichte. Im Herbst 1867 verweilte V. zum Curgebrauch in Baden-Baden, von wo er im September in Gesellschaft des Architekten Leins auf 13 Tage nach Paris ging. „Ueberschwemmte“ ihm die Riesenstadt an der Seine „Sinn und Hirn mit großen und kleinen, schönen und schmutzigen Bildern“, so daß es zu einer nachhaltigen Wirkung des Einzelnen kaum kommen konnte, so senkte der Aufenthalt in Baden-Baden einen Stachel in seine Seele: der hundertfältige Anblick des frivolen, verlotterten und undeutschen Treibens im Spielbad entflammte aufs neue Vischer’s Unmuth, und diese Stimmung verlangte einen satirisch-dichterischen Ausdruck. Die „Epigramme aus Baden-Baden“, im November 1867 in Stuttgart anonym veröffentlicht, gingen aus ihr hervor, mächtig tönende Verse von hohem Pathos, durchströmt von Liebe zum Vaterland, von Zorn über entartete Sitte, von Schmerz um die Entzweiung patriotischen Empfindens, das in den Ereignissen der Jahre 1864–1866 das Recht von der Gewalt gebeugt sehen mußte und in der eisernen Hand, die jetzt von Berlin her in die Geschicke Deutschlands eingriff, die Kraft doch achtete. Mit widersprechenden Gefühlen hatte V. auch die Neugestaltung der politischen Verhältnisse jenseits der Alpen verfolgt; aber, ein warmer Freund Italiens, söhnte er sich mit der Thatsache seiner Einigung gerne aus, und der in der Zeitschrift „Ueber Land und Meer“ im April 1868 veröffentlichte Artikel „Ein internationaler Gruß“ rühmte Benelli’s Uebersetzung deutscher Gedichte ins Italienische nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Kritikers und Aesthetikers, sondern freute sich ihres Erscheinens auch als einer den[3] Bildungsaustausch zweier höchstbegabter Nationen dienenden Brücke. Begleitete V. so die großen Angelegenheiten des Völkerlebens mit seinem Sinnen und Sehnen, so verschmähte er es dabei keinswegs, auch an den Sorgen und Nöthen des städtischen Gemeinwesens, dem er zugehörte, theilzunehmen und z. B. bei der Wahl eines Platzes für die Stuttgarter Gewerbehalle seine Mitbürger im „Schwäb. Merkur“ zu berathen; verschaffte ihm diese Frage doch die willkommene Gelegenheit, den leitenden Behörden, wie schon früher, zu Gehör zu reden, daß Württemberg aus seiner Hauptstadt ein süddeutsches Culturcentrum machen und zu dem Ende die Landesuniversität nach Stuttgart verlegen solle. Ihm selbst wäre, wenn sich hiezu eine Aussicht geboten hätte, die Wahl, vor die er sich während des Jahres 1868 gestellt sah, minder drückend gewesen. Ein Ruf nach München, auf den Lehrstuhl für deutsche Litteratur am dortigen Polytechnikum, war an ihn ergangen, und der breite und reiche Wirkungskreis in einer Stadt, die sich zur deutschen Kunstmetropole emporgeschwungen hatte, und an einer Hochschule, deren Vorträge zugleich von den Studirenden der Universität besucht werden konnten, das mußte für V. ungemein viel Verlockendes haben. Die Verhandlungen, die von München aus durch Bauernfeind, Prantl, Pözl und den Minister v. Schlör geführt wurden, erstreckten sich über eine Reihe von Monaten; im August erfolgte eine förmliche Berufung, aber auch sie fand V. unschlüssig und in schwerem [51] Ringen mit sich selbst. Erst gegen Ende 1868 entschied er sich: er verzichtete, nachdem der Minister v. Golther hiezu die erwünschte Einleitung getroffen hatte, auf seinen Tübinger Lehrstuhl ganz und blieb in Stuttgart, blieb in der schwäbischen Heimath. Die Pietätspflicht gegen das Land, das seine Zurückberufung aus der Schweiz zur öffentlichen Angelegenheit gemacht hatte, war ihm der ausschlaggebende Factor geworden; eine „Pietätspflicht in großem Stil“, deren Erfüllung ihn, wie er an den Verfasser dieser Skizze nachmals schrieb, „niemals reuen konnte“. Auch das Gefühl, daß er in „bekanntem, befreundeten Element“ bleibe, hatte mitgesprochen. Und mit lauter Freude begrüßte Württemberg seinen Entschluß. Der Dank des Königs kam später: im März 1870 wurde dem Heimathtreuen der mit dem Personaladel verbundene Kronenorden verliehen. V. hat von seinem „von“ keinen Gebrauch gemacht, und auch in diesem Falle galt, was der Buchhändler Cotta im J. 1802 an Schiller nach dessen Nobilitirung geschrieben hatte: daß das Diplom durch den geadelt werde, dem es ertheilt wurde.

Oeffentliche Vorträge im Stuttgarter Königsbau hatte V. inzwischen wiederholt gehalten: Ende 1867 sprach er über Shakespeare, im December 1868 „über das Classische und den Stil“. Auch mehrere litterarische Arbeiten fallen noch in den Ausgang der 60er Jahre: in den September 1868 eine in den „Blättern für literarische Unterhaltung“ veröffentlichte Anzeige von Karl Planck’s Buch über Jean Paul, die, über ihre nächste Aufgabe hinausgreifend, die deutsche Nation wieder erinnerte, welchen nicht erschöpften Schatz sie an den Schriften des großen Humoristen besitze, der „ein Kauz“, „ein Querkopf“ „und doch ein Fürst an Geistesmacht war, unendlich reich an Kräften“; in den December 1869 aber der in der Beil. z. A. Allg. Ztg. veröffentlichte Artikel „Die Rottmann-Fresken in München“, der für die Erhaltung oder Rettung der von V. längst hochgeschätzten und geliebten Gemälde ein dringliches „Fürwort“ einlegte. Nebenher schrieb V., dem es lebenslang Herzenssache war, die vielgestaltige Rohheit und Gefühllosigkeit der Menschen gegen die Thiere zu bekämpfen, im „Schwäb. Merkur“ einen Artikel über Hunde- und Pferdequälereien, die er in Stuttgart beobachtet hatte. Im Frühjahr 1870 verbrachte er mehrere Wochen in Bologna, Florenz, Ferrara, Venedig und Meran; nach Stuttgart zurückgekehrt, schrieb er für die Cotta’sche Deutsche Vierteljahrschrift eine Anzeige des aus 6 Vorträgen bestehenden Buches von D. Friedr. Strauß über Voltaire, eine bewunderungswürdig feine und einsichtsvolle Analyse des großen französischen Publicisten. Aber diese Arbeit zu vollenden, war ihm schwierig geworden; denn schon bestürmten die politischen Ereignisse des Sommers 1870 seine Seele. Die Artikel „Elsaß und Lothringen“, „Der erste bittere Tropfen“ und „Der zweite Akt unseres Krieges“, in der Beil. zur A. Allg. Ztg. 1870 und 1871 veröffentlicht, gaben die gehobene, hoffnungsreiche und doch wieder sorgenvolle Stimmung kund, die ihn während dieser Monate erfüllte. Die Beredsamkeit und die Leidenschaftlichkeit eines Demosthenes sprechen aus diesen Artikeln: V. fordert unter Formulirung des Satzes „Straßburg und Metz her, und die Mainlinie weg!“, daß Deutschland, von Scrupeln und falschen Erwägungen unbeirrt, das ihm von Frankreich einst geraubte und nun mit den Waffen wiedereroberte Land behalte; er schilt das Uebermaß von Ehre, das man dem gefangenen Kaiser der Franzosen, dem Urheber des Krieges, erweise, er bekämpft die damals vom „neutralen“ Ausland wie von demokratischer Seite verfochtene Meinung, daß Deutschland nach dem Siege von Sedan mit der französischen Republik einen mit Geldentschädigung sich begnügenden Frieden schließen solle, und zeichnet in scharfen Strichen die Sinnesart Napoleon’s III., der ihm von jeher als innerlich haltlos, als „croupier“ erschienen war, wie die dunklen Schatten im französischen Nationalcharakter. Bei [52] den Neuwahlen für den württemb. Landtag im November 1870 vom Bezirk Vaihingen als Candidat der deutschen oder nationalen Partei aufgestellt, um für den Anschluß Württembergs an den Nordbund auch in der Kammer zu wirken, hielt V. mehrere Wahlreden (von denen die eine bei Gebrüder Mäntler in Stuttgart, die andere, die Anrede auf dem Rathhaus in Horrheim, im Enzboten gedruckt wurde), unterlag jedoch gegen den Demokraten Hopf. Am Geburtstag des Königs hielt V. die Festrede im Polytechnikum; nun aber ließ es ihm, dessen eigener Sohn im Felde stand, zu Hause keine Ruhe mehr, es drängte ihn, die Stätten des großen Krieges zu sehen. Im April 1871 verweilte er in Straßburg und Vitry, fuhr von Epernay in Begleitung Dr. Leisinger’s nach Pantin, Nogent, Brie und Champigny bei Paris, während aus der belagerten Stadt die Kanonen und Mitrailleusen ihr Feuer spieen, und besuchte von Nancy aus die Schlachtfelder von Metz, Saarbrücken, Weißenburg und Wörth. Die durch den Willen des Volkes, durch die Staatskunst Bismarck’s und die militärischen Großthaten unseres Heeres herbeigeführte Wiederaufrichtung des deutschen Reiches war auf Vischer’s politische Ansichten nicht ohne Einfluß geblieben; er fand sich in die Abtrennung Oesterreichs und sagte sich von der großdeutschen Idee los. Ein „offener Brief“ an den Redacteur der Wiener „Deutschen Zeitung“, Dr. Ludwig Speidel, vom December 1871 datirt, gab von dieser Wandlung Vischer’s Rechenschaft und zog das Facit seines politischen Verhaltens und Denkens. Setzte er sich hier in Wahrung des eigenen Gewissens mit Parteidoctrinen, mit Preußens Schuld[4] auseinander, so schilderte der von hoheitsvoller und männlicher Gesinnung getragene Vortrag „Der Krieg und die Künste“, den V. zu Anfang März 1872 im Stuttgarter Königsbau hielt, den Krieg, insofern dieser als Erscheinung und als ethisch-bewegende Macht der Kunst, der Phantasie, der ästhetischen Anschauung Stoff gebe. Das Thema galt dem Krieg im allgemeinen; da jedoch der Kampf gegen den Erbfeind Frankreich noch in unmittelbarer Erinnerung war, so ergab es sich von selbst, daß der Redner freudig des Glückes gedachte, die nationale Erhebung und Einigung der Deutschen, die Verwirklichung „des Traumes und des Sehnens seiner Jugend, seiner Mannesjahre“ erlebt zu haben. Den schönsten, anmuthendsten Nachhall aus großer Zeit aber brachte eine schlichte, von den Geistern des Humors umspielte Dichtung Vischer’s, die in dem jetzt zum Epiker, zum Volksdichter veredelten Schartenmayer einen überaus liebenswürdigen Typus schuf: „Der deutsche Krieg 1870–71, ein Heldengedicht aus dem Nachlaß des seligen Philipp Ulrich Schartenmayer herausgegeben von einem Freunde des Verewigten“. Sie erschien in 1. Auflage 1872 bei C. H. Beck. Im December des gleichen Jahres sprach V. die Herzen aller Hörer bewegend, die Gedächtnißrede bei der Enthüllung der Ehrentafel der im französ. Kriege gefallenen Stuttgarter Polytechniker.

In das letzte Viertel des Jahres 1873 fällt noch ein Blaubeurens freundlich gedenkender Artikel Vischer’s im „Staatsanzeiger für Württemberg“ sowie die Herausgabe des 6. und letzten Heftes der Neuen Folge der „Kritischen Gänge“. Dasselbe brachte unter Wiederabdruck der Artikel über Planck’s Jean Paul und die Rottmannfresken und des Offenen Briefes an Speidel als neue Stücke den Schluß der Selbstkritik der Aesthetik und einen Artikel über D. Friedr. Strauß’ Buch „Der alte und der neue Glaube“. Die Kritik der Aesthetik, eine wiederum in die verwickeltsten und schwierigsten Denkprobleme führende Untersuchung, setzt zu Gunsten der „Gehaltsästhetik“ den Kampf gegen die formalistische Schule fort, wobei die Theorie Robert Zimmermann’s im einzelnen geprüft und zurückgewiesen wird, nimmt zu den Ansichten Lotze’s, Schasler’s, Köstlin’s Stellung und versucht neue Ansätze für die wissenschaftliche Grundlegung des Schönen. Der Artikel über Strauß’ „Alten und neuen Glauben“ legt einige Schwächen [53] dieses Buches bloß, ohne zu verhehlen, daß V. „jeden neuen Stoß“, der vom Verfasser gegen das Gebäude der christlichen Dogmen geführt werde, als einen weiteren Schritt zum Heile begrüße. Strauß starb im Januar 1874, zu Vischer’s Schmerz mit dem alten Freunde und Kampfgenossen entzweit, weil ihm dieser die volle Zustimmung zu dem Buche versagt hatte; erkrankt und verbittert, hatte Strauß es abgelehnt, eine ihm von V. handschriftlich vorgelegte Beurtheilung des „Alten und Neuen Glaubens“ zu würdigen. Die tiefe Gemüthserregung, in welche diese Vorgänge V. versetzten, mußte sich noch steigern, als im März 1874 aus den Kreisen, welche die Liebe auf den Lippen zu führen pflegen, gegen den Studiendirector Gustav Binder, der am Grabe des großen theologischen Kritikers gesprochen hatte, eine gehässige Glaubenshetze inscenirt wurde. In Erinnerung an seine eigenen Erlebnisse und zu neuer Wahrung der Rechte der geistigen Bildung schrieb V. jetzt „in Sachen des Angriffs gegen Director v. Binder“ einen geharnischten, mit der Kraft Lessing’s die Zuchtruthe schwingenden Artikel in die Beilage zur A. Allg. Ztg. Aber auch mit der von Strauß’ letzter Schrift verkündigten Weltanschauung sich in wissenschaftlicher Einläßlichkeit auseinanderzusetzen, fühlte er noch einmal das Bedürfniß, und die von Karl Gustav Reuschle zur Erinnerung an Strauß verfaßte Schrift „Philosophie und Naturwissenschaft“ bot ihm hiezu Gelegenheit. Die Besprechung, die er ihr in der Jenaer Literaturzeitung vom Jahre 1874 zu Theil werden ließ, führte zu einer bedeutsamen Darlegung von Vischer’s eigener philosophisch-religiöser Weltanschauung. Indem sie das geschichtliche Verdienst des abgeschiedenen Ludwigsburger Freundes strenge abwägt, erkennt sie als dessen größte, den Ruhm eines Entdeckers ihm verbürgende That die kühne Anwendung des Mythusbegriffes auf die Gesammtheit der Wundererzählungen des Neuen Testamentes, während sie (im Gegensatz zu Reuschle) die Art, wie Strauß die Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft einschließlich der Descendenztheorie Darwin’s in die Philosophie herübergenommen habe, nicht als eine vor der philosophischen Kritik stichhaltende Leistung gelten läßt. Zur Begründung dieses Urtheils prüft V. die von der modernen Naturwissenschaft für die Erklärung des Weltganzen in Anspruch genommenen Begriffe Atom, Materie, Kraft, mechanische Causalität; er zeigt mit der kritischen Schärfe des philosophischen Kopfes die Widersprüche auf, in welche sich die Naturwissenschaft und mit ihr Strauß bei der Anwendung derselben auf die Frage des Welträthsels verwickeln, und stellt dem materialistischen Monismus einen idealistischen Monismus, einen „Geistmonismus“ gegenüber. Zu ihm bekennt V. sich selbst; es ist die Ansicht, daß der Geist das ὕστερον πρότερον der Materie sei, daß der aus dem Schoße der Natur aufsteigende, in ihren höchsten Organisationen als Empfindung, Seele, Bewußtsein wirkende Geist in der Natur schon von unten auf, schon von Anfang an, obwol latent, vorhanden sein müsse, daß nicht der Geist die Maske des Stoffes, sondern der Stoff die ewig wechselnde Maske des Geistes sei, der somit als die eigentliche Potenz des Welträthsels erscheint. Daß das menschliche Erkennen auch hiebei vor einem letzten Dunkel, einem Geheimniß stehe, verhehlt V. sich nicht; aber jeder andere Versuch, die Einheit der Welt zu erfassen, führe zum Materialismus oder doch zu einem inconsequenten, den Geist nicht begreifenden Monismus, und der Mysticismus jenes Geheimnisses bleibe auch der reinen, ganz mythenfreien Religion. Die Religion, erklärt V., sei Abhängigkeitsgefühl gegenüber dem Universum, dem Unendlichen, und aus diesem Abhängigkeitsgefühl fließe der Schauer des Einzelnen, der sich bewußt sei, daß er nie alles umfassen oder begreifen könne; aber das Wesen der Religion sei hiemit nicht erschöpft, vielmehr gehöre zu ihm eine reale, sittliche Erschütterung des ganzen Menschen: „Religion ist das Thauwetter des Egoismus. Religös ist die Seele in jedem Momente, wo [54] sie von dem tragischen Gefühle der Endlichkeit alles Einzelnen durchschüttert, durchweicht, im Mittelpunkt des starren, stolzen Ich gebrochen wird und aus der Welt von Trauer, die in diesem Gefühle liegt, durch den einen Trost sich rettet: Sei gut! lebe nicht dir, sondern dem herrlichen Ganzen! diene ihm! fördere! wirke treu und wäre es im kleinsten Kreise!“ Der Schluß des Artikels verweist auf die Philosophie Karl Planck’s. Die Stellung, welche V. als gereifter Denker, auf der Höhe seiner philosophischen Einsicht dem Hegelianismus gegenüber einnimmt, ist nun gekennzeichnet: abgethan ist für ihn Hegel’s logische Weltconstruction, aber Pantheist ist V. geblieben, und als ewige Wahrheit des Hegel’schen Denkens gilt ihm die Lehre, daß „die Welt in ihrem Wesen lebendiger Proceß und nichts anderes ist“. (Vergl. den mit Zusätzen versehenen Wiederabdruck des Artikels in Heft 3 von „Altes und Neues“ und Neue „Kritische Gänge“, Heft 6, S. 209.) In eine Erörterung der letzten philosophischen Fragen läuft auch die in die Tiefen des Seelenlebens das Senkblei werfende Studie „Der Traum“ aus, mit der V. in der Beil. zur Allg. Ztg. Johannes Volkelt’s Schrift „Die Traumphantasie“ begleitete. Indem sie das unbewußte Schaffen des Traumes mit dem Schaffen der Natur vergleicht, eröffnet sich auch hier der Blick auf das „Grundproblem der Spaltung des ewig Einen in die Natur und den Geist und ihres ewigen sich Suchens und niemals völligen Wiederfindens“: „das ewige Räthsel bleibt so gewiß bestehen, als die Nothwendigkeit, ewig danach zu forschen“.

Mit einem in der Beil. zur A. Allg. Ztg. vom J. 1874 veröffentlichten Essay über Gottfried Keller, einer für die Erkenntniß der Größe des schweizerischen Dichters bahnbrechenden Arbeit, war V. inzwischen zu seiner eigentlichen Domäne, zum ästhetisch-kritischen Gebiete zurückgekehrt. Noch im gleichen Jahr gab er der „Gegenwart“ eine Schilderung seines Lebensganges, eine fesselnd geschriebene, die Marksteine seiner geistigen Entwicklung verzeichnende, zumal bei den Jugendjahren länger verweilende Skizze. Im Juni 1875 starb Ed. Mörike. Der „Nachruf“, den V. am Grabe des Freundes sprach, gehört gleich der Rede, die er fünf Jahre später bei der Enthüllung des Stuttgarter Mörikedenkmals sprach, zum Schönsten, was wir von ihm besitzen: wie mit leise nachrückendem Silberstift ist die dem herrlichen schwäbischen Lyriker eigenthümliche Geisteswelt gezeichnet, und der Hauch der Empfindung durchzittert jedes Wort. Der Herbst 1875 führte V. zum achten Mal nach Italien. Drei Jahre zuvor hatte er über Brannenburg und Innsbruck den Weg über die Alpen angetreten, um Mailand, Genua, Spezzia, Carrara, Florenz, Rom, Venedig zu besuchen; diesmal ging die Reise ins Pusterthal, nach Ampezzo, Cadore, nach dem italienischen Bad Recoaro, nach Venedig und Trient. Von den Reiseeindrücken, vom Aufenthalt in Recoaro und den Thierquälereien, die dem Besucher die Erholung dort vergällten, erzählte bald nachher Vischer’s in der Beil. zur A. Allg. Ztg. veröffentlichter Artikel „Ein italienisches Bad“. Dem gleichen Thema, dem Schmerz und der Entrüstung über menschliche Mitleidslosigkeit, gelten die Artikel „Ein Wort weiter für die Thiere“ und „Noch ein Wort über Thiermißhandlung in Italien“, welche V., der Thierfreund, gegen Ende 1875 in das Stuttgarter „Neue Tagblatt“ und in die A. Allg. Ztg. gab. Eine der am schwersten wiegenden Arbeiten Vischer’s hatte der Sommer 1875 gezeitigt: die bei Meyer und Zeller verlegte Schrift „Göthe’s Faust. Neue Beiträge zur Kritik des Gedichts.“ Es ist das geistvollste Buch, welches die gesammte Faustlitteratur hervorgebracht hat, eine Analyse der unsterblichen Dichtung und des Goethe’schen Genius, wie sie nur aus der innigen Verbindung von philosophischem Tiefblick, kritischem Scharfsinn, künstlerischem Empfinden und reifster Welt- und Lebenskenntniß hervorgehen konnte.

[55] In Vischer’s autobiographischer Skizze wird daran erinnert, daß, wer alt werde, die Klage um hinwegschwindende Lebensgefährten oft wiederholen müsse. Wohl umgab ihn in Stuttgart noch immer ein großer Bekanntenkreis: von Familienangehörigen lebte dort seit 1870 als Bibliothekar des Königs Vischer’s Neffe Wilhelm Hemsen, und in freundschaftlichem Verkehr stand er mit dem Oberstlieutenant Wilh. v. Wolff, mit Ludwig Notter und dessen Hause, mit dem Studiendirector Binder, mit Max Planck und manchem Andern. Aber mehr und mehr hatten sich die Reihen der Vertrauten doch gelichtet; schon lange war Christian Märklin todt, und nun starb, im J. 1876, August V., in dessen Pfarrhaus zu Gingen der Bruder oft gerastet hatte. Schloß sich V. zu näherer und dauernder Beziehung nur an Wenige an, so bedurfte seine lebendige, mittheilsame Natur der geselligen Ansprache doch um so mehr, als er häuslich vereinsamt war; denn seit seiner Uebersiedlung nach Zürich hatte er von der Gattin getrennt gelebt, und diese war 1871 in München gestorben. Sein Innerstes stählte ihm gegen die Bitterkeiten des Lebens unermüdliches Arbeiten; er richtete sich nach dem Satze ein: „nulla dies sine linea!“, und das beginnende Greisenalter fand ihn so thätig wie er in den Tagen der Jugend gewesen war. Ein Artikel in der Beil. zur A. Allg. Ztg. vom 1. Mai 1877, der mit dem bei uns eingerissenen Unfug der Nahrungsmittelfälschung, mit der Gewinn- und Genußsucht des gegenwärtigen Geschlechtes ins Gericht geht, eröffnet die Reihe seiner späteren Arbeiten. Im November 1877 schrieb V. das Vorwort zu der aus dem Nachlaß des Ministers v. Golther herausgegebenen Schrift „Der moderne Pessimismus“, wobei er, wie schon in seinem Faustbuch, der von Schopenhauer und Ed. v. Hartmann vertretenen Lebensanschauung entgegentrat; im März 1878 folgte in „Nord und Süd“ der Artikel „Wieder einmal über die Mode“, der, erweitert und vertieft, unter dem Titel „Mode und Cynismus“ im November 1878 als besondere Schrift bei K. Wittwer in Stuttgart wieder gedruckt wurde, eine stahlscharfe, witzreiche und Vischer’s schöpferische Sprachkraft glänzend bezeugende Philippika für guten Geschmack und gute Sitte wie gegen die Prüderie. Kurz zuvor hatte V. die Welt mit einem epischen Werke überrascht, mit dem im October 1878 bei Hallberger veröffentlichten (einer buchhändlerischen Unsitte gemäß auf das folgende Jahr vorausdatirten) Roman „Auch Einer“, einer höchst eigenartigen, den Namen des Autors und seines Helden Albert Einhart oder „A. E.“ mit dichterischer Unsterblichkeit krönenden Schöpfung. Denn wie der Grundgedanke dieses Romans – der leidvolle, aus dem Komischen ins Tragische umschlagende Kampf einer geistig hochgespannten, willensbewußten, sittlich vornehmen und mit feiner Empfindlichkeit ausgestatteten Menschennatur gegen die irrationale und störende Macht des Zufalls und der tausend kleinen Uebel des täglichen Lebens – eine geistreiche Idee von bleibender Wahrheit ist, so packt und fesselt den Leser auch die Ausführung: der halbbarock gezeichnete Träger der Idee ist eine wahre und warmen Antheil erweckende Individualität, und das dem Durchschnittspublicum freilich schwerverständliche Werk gießt einen mächtigen Strom von Gedanken, von Lebensweisheit und von Humor aus. Wieder zurückgekehrt zu wissenschaftlicher Thätigkeit, gab V. im Frühjahr 1879 in die Zeitschrift „Im neuen Reich“ eine Charakteristik des nicht lange zuvor verstorbenen Professors und Inspectors des Stuttgarter Kupferstichcabinets Ludwig Weisser, die, an Wintterlin’s Nekrolog anknüpfend, die sachkundige und aufopfernde Thätigkeit des trefflichen Mannes schilderte und über Richtungen und Methoden der modernen Kunstgeschichte zu urtheilen Veranlassung nahm. Ein anderer Artikel vom Jahre 1879, in Westermann’s Monatsheften veröffentlicht, befaßte sich mit dem italienischen Bildhauer Luigi Borro; den übrigen Theil dieses Jahres füllten Fauststudien aus. Nebenher schrieb V. in das Stuttgarter „Neue Tagblatt“ [56] über „Podoböotismus oder Fußflegelei auf der Eisenbahn“; gleich Justus Möser zu jeder Zeit „φιλόνομος“ und auch im Kleinen auf die Förderung der öffentlichen Wohlfahrt bedacht, bekämpfte er in diesem Artikel eine Reise-Unart, zahlte auch in einem zweiten, im Januar 1880 folgenden und „Podoböotismus, Punch und Reichskanzler“ betitelten den Spott, mit welchem das englische Witzblatt entgegnet hatte, in gebührend derber Münze heim. Im Juni 1880 erschien (bei Bonz) das erste Heft von „Altes und Neues“. In dieser Sammlung vereinigte V. von jetzt ab, wie früher in den „Kritischen Gängen“, eine Auswahl älterer, in Zeitschriften gedruckter Artikel und Abhandlungen mit noch unveröffentlichten Arbeiten unter Beifügung von mancherlei Vorbemerkungen, Zusätzen und Nachbemerkungen. So bringt die aus den „Jahrbüchern der Gegenwart“ wiederholte Schilderung eines Abschnittes der griechischen Reise als Zusatz Vischer’s „Ritt von Lamia auf den Othrys“; dem Artikel über Gavarni und Töpffer schließt sich eine Studie über neuere Caricatur („Fliegende Blätter“, Ille, Busch, Oberländer u. A.) an, wobei des öfteren principielle Fragen erörtert und neuere Kunstrichtungen überhaupt, Liebermann, Makart u. s. w. gestreift werden; der Artikel „Ein malerischer Stoff“ verweist in einem Zusatz auf Tobias Stimmer, die Traumstudie erinnert in einem Nachwort an Karl Planck. Beigedruckt ist der Nachruf an Mörike’s Grab nebst der Rede bei der Einweihung seines Denkmals. Das zweite Heft von „Altes und Neues“ erschien 1881; es wiederholt und erweitert die Studie über Gottfried Keller, wobei auch Konrad Ferdinand Meyer’s gedacht wird, wiederholt unter Beigabe einer Vorbemerkung, die zur Frage der Vivisection Stellung nimmt, die Artikel „Ein italienisches Bad“ und „Noch ein Wort über Thiermißhandlung in Italien“; die andere Hälfte dieses Heftes bringt eine umfangreiche und schwergerüstete Abhandlung, deren erster Theil schon in der „Deutschen Revue“ vom Jahre 1880 erschienen war. Sie ist betitelt „Zur Vertheidigung meiner Schrift: Göthe’s Faust“ und dient der Abwehr von Einwürfen und Mißverständnissen, welche dieses Buch erfahren hatte, und der kritischen Auseinandersetzung mit den neueren Faustschriften von Oswald Marbach, Schröer, G. v. Löper, Franz Dingelstedt, Kuno Fischer, Julian Schmidt, Karl Biedermann, W. Gwinner, auch W. Scherer. Für den deutschen Schulverein in Oesterreich setzte V. im Württembergischen Staatsanzeiger vom Juni 1881 die Feder ein; im October des gleichen Jahres veröffentlichte er unter Hinzugabe eines den Verderb der Moral geißelnden Vorwortes in der „Gegenwart“ eine Verdeutschung mehrerer Sonette des Italieners Giovanni Rizzi. Eine Reise nach dem südlichen Tirol und nach Italien, der zehnte und letzte Besuch, den V. dem gelobten Lande der Schönheit gemacht hat, fällt dazwischen: sie führte von Trient nach Toblino, Pinzolo, Tione, Brescia, Mailand, Venedig, Udine, Tarvis und Villach. Zu Weihnachten 1881 erschienen (bei Hallberger) Vischer’s „Lyrische Gänge“, eine seit 1879 geplante und vorbereitete Auswahl seiner im Laufe von mehr als 50 Jahren entstandenen Gedichte: Gedankenpoesie, Rhapsodien, Balladen, gnomische Gedichte, aber dazwischen auch rein lyrische Perlen. Merkwürdig genug, daß die Neigung zu dichterischem Schaffen, früher zurückgedrängt durch die wissenschaftliche Thätigkeit, nun bei dem Hochbetagten die Oberhand gewonnen hatte; selbst die immer und immer wieder auftauchende Frage einer Umarbeitung seiner Aesthetik rückte ihm aus dem Gesichtskreis, seit er in der Sammlung, Ordnung und Vermehrung seiner „Lyrica“ die größere Befriedigung empfand. Doch getheilt zwischen dem Musendienst und wissenschaftlichen Arbeiten blieb auch fernerhin sein Leben. Das Jahr 1882 erheischte zunächst die Erfüllung einer Pietätspflicht: im Februar starb Berthold Auerbach, und V., der ihm befreundet war, sprach an seinem Grabe in Nordstetten einen aus dem Geiste der Liebe wie der [57] Wahrheit stammenden Nachruf. Im Frühjahr 1882 erschien das dritte und letzte Heft von „Altes und Neues“. Es wiederholte, da und dort kleine Zusätze beifügend, die Artikel über Alfred Rethel, Ludwig Weisser und Benelli, wiederholte auch den Artikel über Strauß’ Voltaire; mit einem größeren, eine culturgeschichtliche Schrift des mit V. von Ulm her befreundeten Obersten Jul. Ernst Günthert berücksichtigenden Zusatz erschien der Artikel „Oberschwäbische Zeitbilder“ wieder, mit wesentlichen Erweiterungen die Studie über Reuschle’s Schrift, mit etwas umständlichen, aber wegen ihrer Bemerkungen über den „Culturkampf“ belangreichen Anhängseln der unter dem Titel „Die vorläufig letzte Handlung des deutschen Reichskanzlers“ veröffentlichte Aufsatz (in „Altes und Neues“ zusammen mit den Podoböotismus-Artikeln unter der Aufschrift „Publizistisches“ gedruckt); den Schluß des Heftes bildet die wiederabgedruckte und mit einem Zusatz über den „Auch Einer“ versehene Skizze „Mein Lebensgang“. Eine launig geschriebene und doch ernste, von Vischer’s so gesund als fein organisirtem Sprachsinn und Sprachgehör geforderte Klage und Vermahnung in Sachen der Rechtsprechung brachte die „Gegenwart“ vom Octbr. und Novbr. 1882: die Artikel „Leiden des armen Buchstaben R auf seiner Wanderung durch Deutschland“ und „Zum Schutz der Schutzrede für das R“. Für die Rottmann-Fresken, deren Restaurirung keine durchgreifende Hülfe gebracht hatte, trat V., jetzt in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ vom October, zum zweiten Mal ein. Der Rest des Jahres reifte eine um ihrer Gedankenfülle, ihrer Einsicht und Urtheilsmilde willen höchst anziehende Studie: Betrachtungen über Goethe’s Vers und Sprache und über sein Verhalten zum Ethischen, als „Kleine Beiträge zur Charakteristik Goethe’s“ veröffentlicht im Goethe-Jahrbuch auf 1883. Kaum hatte V. von dieser Arbeit „aufgeathmet“, so unterzog er sich, zu Anfang 1883, einer von Frankfurt aus an ihn ergangenen Bitte, zu einem Concert für die Ueberschwemmten des Rheinthals einen Prolog zu dichten. Im Januar 1884 sprach er, mit den Manen des Jugendfreundes sich aussöhnend, in Worten, die das Gefüge von Erz haben, die Rede bei der Enthüllung der Gedenktafel am Geburtshause von Strauß in Ludwigsburg. Wenige Monate nachher erschien Vischer’s Lustspiel „Nicht I a“, in schwäbischem Dialekt geschrieben, aus der Erinnerung an alte Zeiten geschöpft, in den Schilderungen schwäbischer Stammesart, schwäbischen Pfarrhauslebens voll ergötzlichen Humors; es wurde auf einem Stuttgarter Liebhabertheater aufgeführt und, mit Anmerkungen über den schwäbischen Dialekt versehen, bei Bonz gedruckt. Eine Recension der Schillerbiographie des Unterzeichneten, für die Beil. der Münchener „Allgem. Ztg.“ verfaßt, und die Neubearbeitung der Dichtung „Faust. Der Tragödie dritter Theil“ nahmen V. während des Jahres 1885 in Anspruch; daneben beschäftigten ihn die Fremdwörterfrage und eine neue Satire auf den Schluß des Goethe’schen Faust „Höchst merkwürdiger Fund aus Goethe’s Nachlaß: Einfacherer Schluß der Tragödie Faust. Mitgetheilt vom redlichen Finder“ (gedruckt in Stettenheim’s „humoristischem Deutschland“ vom Jahre 1886). Die neue Auflage des „Faust. Der Tragödie dritter Theil“, verlegt auf das Jahr 1886 bei Laupp, zeigt der ersten gegenüber zahlreiche Erweiterungen und Veränderungen: der Culturkampf ist mithereingezogen, die Derbheiten der älteren Fassung sind zum Theil gemildert, und ein Nachspiel geißelt in den drei ersten Auftritten die Auswüchse und Verirrungen der Goethephilologie, während der vierte Auftritt der von den Mängeln des zweiten Fausttheils unbeirrten enthusiastischen Bewunderung Vischer’s für Goethe das Wort leiht. In Zeitschriften hatte V. inzwischen ab und zu kleine Gedichte gegeben, denen sich 1886, als Manuscript gedruckt, ein Sonettenkranz anreihte, ein Product scherzender und liebreicher Laune: „Die erste Kunstschöpfung der Enkelin in Sonetten verherrlicht vom Großvater“. Wieder ins Weite blickend schrieb V. für die Zeitschrift „Vom Fels zum Meer“ [58] vom Jahre 1886 eine Anzeige von Eduard Engel’s Buch „Griechische Frühlingstage“; die Erinnerungen, die ihn selbst mit dem Lande des Sophokles und des Phidias verknüpften, traten ihm dabei wieder vor die Seele und ließen ihn zugleich bei den Geschicken der Neugriechen theilnehmend verweilen. Und nun rückte die Sonne seines Lebens abwärts. Aber auch ihr Niedergang war noch prächtig. Die beiden letzten Schriften, welche V. veröffentlichte, haben den Werth von Vermächtnissen. Der prosaischen Form, der Wissenschaft, gehört die eine, eine Dichtung ist die andere. Mit jener, der zu Eduard Zeller’s 50jähr. Doctorjubiläum 1887 verfaßten Festschrift „Das Symbol“, leistete V., geistesfrisch bis ins höchste Alter, noch einmal der Aesthetik einen Dienst. Eine Widmung von außerordentlicher Schönheit, von gehaltener und doch überquellender Wärme geht ihr voran: sie gilt dem alten Freunde und Kameraden, dessen Lebensarbeit in einer der Größe des Gegenstandes entsprechenden Weise gezeichnet wird. Die Dichtung aber, das im April 1887 vollendete und für eine Aufführung am Stuttgarter Hoftheater bestimmte „Festspiel zur Uhland-Feier“, offenbarte noch einmal die Hoheit der Gesinnung, die V. beseelte, seine Humanität, den Reichthum seines die Heimath, das Vaterland und die Menschheit mit gleicher Liebe umspannenden Herzens. Es war der Ausdruck des Dankes für tausendfältig gespendetes Brot des Geistes, als die schwäbische Hauptstadt und mit ihr Württembergs und Deutschlands wissenschaftlich gebildete Kreise sich rüsteten, den 80. Geburtstag Vischer’s festlich zu begehen, als Freunde und ferner Stehende den anfänglich Widerstrebenden bestimmten, in eine Jubiläumsfeier zu willigen. Das Fest fand am 28. und 30. Juni in Stuttgart statt; gelehrte und städtische Körperschaften, Amtsgenossen und Schüler, Studenten und Künstler vereinigten ihre Huldigungen, König Karl überschickte das Komturkreuz des Friedrichordens, beim Festbankett wurde eine von Donndorf gefertigte Büste Vischer’s dem Jubilar übergeben. Zwei Monate nachher, zu Beginn der Herbstferien, suchte V. Erholung in den Bergen. Ueber München, wo er immer gerne Aufenthalt genommen hatte, reiste er nach Miesbach und von dort, an einem Magenübel plötzlich schwer erkrankt, nach Gmunden am Traunsee. Er sollte in die Heimath nicht mehr zurückkehren: am 14. September 1887 starb V. in Gmunden, umgeben von den Seinigen, von seinem aus Italien herbeigeeilten Sohne, von seiner Schwiegertochter Helene, geb. Flattich, und deren Eltern. Ein an Kämpfen und an Siegen ungewöhnlich reiches Leben hatte in Euthanasie geendet. Das Begräbniß erfolgte mit allen geziemenden Ehren am 17. September auf dem evangelischen Friedhof in Gmunden.

Vischer’s Züge sind uns erhalten in einem Oelgemälde von Emilie Weisser, einer Zeichnung von Camilla Zach, einem Stich von W. Krauskopf, in Büsten von Donndorf und König; aus seiner Knabenzeit stammt ein von Ludovike v. Simanowiz gemaltes Bildniß. Ein bescheidenes Denkmal, die von Donndorf in Marmor wiederholte Büste, schmückt seit dem 30. Juni 1889 den Vorgarten des Polytechnikums zu Stuttgart. Mit der Herausgabe des Nachlasses ist Vischer’s Sohn, Prof. Robert V., beschäftigt. Bis jetzt sind erschienen: 1) In Westermann’s Ill. deutschen Monatsheften vom Juni 1889 ein Aufsatz „Zur Sprachreinigung“, Fragment, aber zu dem Einsichtvollsten zählend, was in der Fremdwörterfrage geschrieben wurde; 2) „Altes und Neues. Neue Folge“, 1889 bei Bonz. Diese Sammlung enthält die auf Hebbel, Mörikofer, Rizzi, Ed. Engel und die Schillerbiographie des Unterzeichneten bezüglichen Artikel, die Aufsätze über den Buchstaben R und „Durcheinander aus Oberitalien“, die Rede zum Schillerfeste, den Nachruf an Auerbach, die Gedenkrede für Strauß, die „kleinen Beiträge zur Charakteristik Goethe’s“, die Schrift über das Symbol und Aphorismen. 3) „Allotria“, 1892 bei Bonz, eine Sammlung von Dichtungen Vischer’s [59] aus seiner frühesten, mittleren und spätesten Zeit. 4) „Das hohe Epigrammlied[5] auf Herrn Schlock’s rote Nase“, in Band IX der „Deutschen Dichtung“, aus Vischer’s jüngeren Jahren stammend, später vermehrt. – Viele der kleineren Arbeiten Vischer’s sind noch ungesammelt. Was er selbst in „Altes und Neues“ und in der „Neuen Folge“ der „Kritischen Gänge“ vereinigte, ist gelegentlich bemerkt worden; in den älteren „Kritischen Gängen“ finden sich die Aufsätze über „Strauß und die Wirtemberger“, Zur Besetzung einer dogmatischen Lehrstelle, über Overbeck, Ramboux, Hallmann, Mörike, Herwegh, über die (ältere) Faustlitteratur, der Plan zu einer neuen Gliederung der Aesthetik und, wie erwähnt, der Vorschlag zu einer Nibelungen-Oper. Die Epigramme aus Baden-Baden, 1870 in 2. Aufl., und der „Deutsche Krieg“, 1878 in 5. Aufl. erschienen, sind in der Sammlung „Allotria“ mit abgedruckt, die „Lyrischen Gänge“ sind 1889 in 2., verm. Auflage, Faust III 1889 in 4. Aufl., der „Auch Einer“ 1893 in 6. Aufl. erschienen. Die 2. und 3. Aufl. des „Auch Einer“ weisen gegen die erste kleine Veränderungen auf.

Eine Gesammtcharakteristik hat von Vischer’s Stellung der[6] Aesthetik den Ausgang zu nehmen. Zwar erschöpft sich seine Bedeutung keineswegs innerhalb einer Fachwissenschaft oder des wissenschaftlichen Gebietes überhaupt, und eine gerechte Bemessung seines Verdienstes um die Aesthetik fällt um so schwieriger, als er selbst in der zweiten Hälfte seines Lebens den stolzen System-Bau, den er in der ersten aufgeführt hatte, abzutragen begann, ohne doch an dessen Stelle ein neues Gebäude zu errichten oder das alte völlig preiszugeben. Gleichwohl liegt nach dieser Seite hin ein gutes Theil der Größe Vischer’s, und für die geschichtliche Betrachtung tritt sein systematisch-wissenschaftliches Werk schon deshalb in den Vordergrund, weil es Epoche gemacht und den Ruhm Vischer’s begründet hat. Vischer’s „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen“ gehört zu den idealistischen Systemen und ruht auf metaphysisch-Hegel’scher Grundlage; sie übernimmt von Hegel, wenn auch mit einer Modification, die Definition des Schönen, bestimmt das Schöne als „die Idee in der Form begrenzter Erscheinung“ oder, wie V. an anderer Stelle sich ausdrückt, als „die Idee in sinnlicher Erscheinung“ und bedient sich für die fortschreitende Entwicklung der Begriffe der dialektischen Methode Hegel’s. Geschichtlich gehen ihr zunächst die Theorien Solger’s, Krause’s, Schleiermacher’s, des (unbeachtet gebliebenen) Trahndorff, sowie Weiße’s und Hegel’s voraus, während v. Kirchmann’s antimetaphysische[WS 2] und empiristische Gefühlsästhetik, der dem Idealismus entgegengesetzte Formalismus Robert Zimmermann’s und die von Köstlin, Siebeck, Fechner und Anderen eingeleiteten neueren Versuche ihr folgen; in der Mitte zwischen diesen beiden Reihen repräsentirt Vischer’s Werk neben den der Zeit nach jüngeren Arbeiten von Zeising, Carriere und Schasler und den Specialuntersuchungen von Ruge und Rosenkranz die Aesthetik des Hegelianismus. Hatten Solger, Krause und Schleiermacher, einem modernen Platonismus huldigend, Gott im Schönen oder das Schöne in einem Uebersinnlichen gesucht, hatte auch noch Christian Hermann Weiße die Aesthetik in Theosophie verwandelt und in ihrem abstracten Charakter belassen, so haben Hegel und Vischer die Selbständigkeit des Schönen erkannt und die concret-sinnliche Erscheinung des Schönen in ihre Rechte eingesetzt. Und zwar hat V., die breiten Lücken seines Meisters ergänzend und die Wissenschaft vom Schönen zum ersten Mal nach allen Seiten hin ausgestaltend, ein vollständigeres und umfassenderes System aufgestellt als irgend einer seiner Vorgänger, ein reichhaltigeres auch als irgend einer seiner Nachfolger. So liegt das geschichtliche Verdienst Vischer’s sowohl in der an Hegel’s Seite durchgeführten Ueberwindung der älteren, in abstracter Erfassung des Schönen stecken gebliebenen Aesthetik, als auch in der planmäßig strengen Systematik und dem außerordentlichen inhaltlichen [60] Reichthum seines Werkes, das in den großen Abschnitten des Naturschönen und der geschichtlichen Schönheit, der Phantasie und des künstlerischen Schaffens und der Theorie und Geschichte der Künste eine kaum zu erschöpfende Fülle tiefer und geistvoller Belehrung bot und hauptsächlich durch seine Kunstlehre auf die Anschauungen und auch das künstlerische Schaffen der Mitlebenden einen weithin reichenden und nachhaltigen Einfluß geübt hat. Dieses doppelseitige geschichtliche Verdienst hat, im Unterschied von Lotze und Schasler, der neueste Historiker der Aesthetik, Eduard v. Hartmann, unbillig verkleinert, wie denn seine Polemik, wenn sie sich auch gegen Einzelheiten des Vischer’schen Systembaues nicht ohne Grund wendet, ohne alles Maß ist. Geschädigt hat V. sein Werk, wie er selbst noch vor dessen Abschluß erkannte, durch eine technische Einrichtung, durch die Spaltung des Textes in knappe, lehrhafte Paragraphen und erläuternde, in concreten Belegen und Beispielen sich freier bewegende Ausführungen oder Anmerkungen; jene, in ihrer begrifflich-spröden Fassung und harten Schulsprache haben ihm den Ruf der Schwerverständlichkeit und Schwerlesbarkeit eingetragen. Den größeren Nachtheil aber brachte ihm die Anwendung der dialektischen Methode mit den dieser anhaftenden Scheinentwickelungen, ihren angeblich aus der Natur der Sache fließenden, in der That aber erzwungenen Begriffsübergängen. Doch nicht nur der Gebrauch einer uns heute entfremdeten Form der Gedankenentwicklung, sondern auch Vischer’s principieller Standpunkt trennt uns jetztlebende von seinem monumentalen Werke; Hegel’s „Idee“ oder Absolutes ist außer Kurs gekommen, wir versuchen die Aesthetik auf empirisch-psychologischer Grundlage zu erbauen und verlegen eine „Metaphysik“ des Schönen, eine Untersuchung seiner metaphysischen Bedeutung vom Anfang hinweg an das Ende. Wenn nun auch die Sonne der Zeitgunst über der Aesthetik Vischer’s heute nicht mehr leuchtet, so wäre dennoch die Meinung, daß sein Werk heute veraltet oder entbehrlich sei, sehr irrig. Denn die Doppelnatur Vischer’s, der zugleich ein Denker und ein Künstler war, sein künstlerischer Instinct, Blick und Takt, sein angeborener Sinn und „Nerv“ für die Welt des Aesthetischen und seine Vertrautheit mit dem Phantasieleben befreien ihn aus den Engen seines systematischen Gerüstes, und wo immer seine Ausführungen zum concreten Detail sich wenden, erhellt er mit bleibendem Licht das Gebiet der Kunst. Nach dieser stofflichen Seite hin ist V. noch immer der Meister der deutschen Aesthetiker; die Kraft und Ursprünglichkeit seines ästhetischen Empfindens geben ihm das Uebergewicht. Aber auch darin liegt eine unvergängliche Errungenschaft der Vischer’schen Aesthetik, daß sie im allgemeinen, vom Schönen überhaupt handelnden Theil den Begriff der Phantasie und in der Kunstlehre den Begriff des Stils (und des Gegensatzes der Stilrichtungen) zum ersten Mal in den Mittelpunkt stellte. Im übrigen erfordert es die Gerechtigkeit, daß bei der Schätzung des Aesthetikers V. diesem auch hinzugerechnet werde, was er nach der Veröffentlichung seines systematischen Werkes als Theoretiker geleistet hat. Obwohl „in den speculativen Gedankenkreisen des ersten Dritttheils unseres Jahrhunderts wurzelnd“, ist V. dem Hegel’schen Denkformalismus doch verhältnißmäßig frühe entwachsen, und seine Züricher akademischen Vorlesungen, die Selbstkritik seiner Aesthetik und seine Symbolschrift nähern sich schrittweise den modernen Anforderungen. Die Vorlesungen führen (unter Ausscheidung des Naturschönen) im Aufbau des Systems wesentliche Veränderungen durch und bemühen sich um Zurückdrängung der Schulsprache; die Selbstkritik setzt an die grundlegenden Entwicklungen des systematischen Werkes das Messer, bekennt, daß von der Anschauung auszugehen sei, gibt die ganze Methode Hegel’scher Begriffsbewegung ausdrücklich preis und postulirt als die Aufgabe der Aesthetik vereinte Mimik und Harmonik. An die Stelle der „Idee“ ist nun der Begriff der Vollkommenheit und „Harmonie des Weltalls“ getreten, und das Schöne [61] erscheint als das „sinnlich angeschaute Vollkommene“ oder als „das in sich selbst gespiegelte, im Spiegel verklärte Leben“. Läßt sich hiebei der ursprüngliche Hegel’sche Grundgedanke, wenn auch verblaßt, noch erkennen, so nimmt V., von Johannes Volkelt, Karl Köstlin und einer Arbeit seines eigenen Sohnes mitbeeinflußt, mit der Bearbeitung des Symbolbegriffes vollends eine psychologische, wenn auch des metaphysischen Hintergrundes nicht entbehrende, Wendung: Der ästhetische Akt wird als eine „Einfühlung“, eine symbolische Beseelung des Objects erfaßt. In diese Endergebnisse läuft Vischer’s Theorie aus; es sind Perspectiven, Fragmente, aber nicht „Flickarbeit“. Sie bieten uns einen, wenn auch nicht vollen Ersatz für die mangelnde Ausführung eines Neubaues der Aesthetik, welchen V. unterließ, weil er zu einem principiell fruchtbaren neuen Gedanken nur allmählich sich durchrang, weil er besorgte, daß ihm das schon vorgerückte Alter die volle Bewältigung der ungemein schwierigen und weitschichtigen Aufgabe nicht mehr gestatten werde, und weil ihn das richtige Gefühl überkam, daß er auch auf anderen Gebieten des Geistes sich auszusprechen und auszuleben habe.

Als eine Art angewandter oder praktischer Aesthetik kann man die ästhetisch-kritischen Studien, Abhandlungen und Aufsätze bezeichnen, deren gewaltige Anzahl uns in der Schilderung des Lebensganges begegnet ist. Vielleicht ist der kritische Essay diejenige Form, in der sich, von einzelnen dichterischen Werken abgesehen, Vischer’s Natur am glücklichsten, am ungehemmtesten entfaltet hat; alle Qualitäten, welche den großen Kritiker ausmachen, vereinigen sich hier mit seiner schriftstellerischen Begabung, um uns höchst gediegene und wohlabgerundete Arbeiten, Meisterstücke charakterisirender Kunst zu geben: eine aus der Naturanlage unmittelbar fließende starke und sichere Empfänglichkeit für das Künstlerische und das Schöne, insbesondere das dichterisch-Schöne, ein mit dem höchsten Grad von Schärfe ausgestattes und philosophisch geschultes, in das Innerste des Gegenstandes eindringendes Denkvermögen, Wahrheitssinn, psychologischer Tiefblick, lebhafte Phantasie und Geist, in sich reicher und von Lebenserfahrung und Weltkenntniß gesättigter Geist. Es wird nicht zuviel gethan sein, wenn man dem Kunstrichter, dem Kritiker V. den Rang neben Lessing anweist; hat jener in die geschichtliche Bewegung nicht so stark eingegriffen, wie der Verfasser der „Hamburgischen Dramaturgie“, so hat Vischer’s Analyse – und hier kommen die auf das einzelne Kunstwerk bezüglichen Erläuterungen seines Lehrbuchs zugleich mit den kritischen Monographieen in Betracht – doch insbesondere über das Wesen des Lyrischen, des Komischen und des Humoristischen Aufschlüsse von bleibendem Wahrheitsgehalt und mit ihnen Gesetze gegeben. Vischer’s Kritik ist überall productiver Art: sie sucht von den Einzelerscheinungen den Weg zu allgemeinen Erkenntnissen, und sie eröffnet, indem sie mit ihrer Interpretation auf die Individualität des Autors oder Künstlers vordringt, nachschaffend den Blick auf die organische Entstehung seines Werkes. Ganz uneingeschränkt darf man diese Lobsprüche freilich nicht lassen: manche der älteren kritischen Arbeiten Vischer’s, manche seiner Aufstellungen im Gebiete der bildenden Kunst werden durch die Starrheit der principiellen Gesichtspunkte oder durch subjectiv gefärbte, der kräftigen Vorliebe für bestimmte philosophische und politische Meinungen oder für bestimmte Stoffgebiete entstammende Maßstäbe beeinträchtigt. Aber die Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit Vischer’s, der zeitlebens ein Lernender war, corrigirt diese Unvollkommenheiten, und mit dem Vorrücken seiner Lebensjahre hält die zunehmende Willigkeit objectiven Aufnehmens Schritt. Unter den Dichtern waren es Shakespeare und Goethe, denen er die intensivste Theilnahme, das unermüdlichste Studium zuwandte. Des Titanen Shakespeare Genie, Art, und Kunst war ihm im tiefsten sympathisch, und die Beschäftigung mit Goethe’s [62] Faust erstreckte sich über sein ganzes Leben. Man kann sagen, daß V. dem deutschen Dichterfürsten, dem geistigen Beherrscher Deutschlands eine um so wärmere Liebe entgegenbrachte, je mehr in ihm selbst der das Leben von hohem Berggipfel aus überschauende Weise aufstieg, und im Grunde war es die leidenschaftliche Bewunderung für den ersten Theil des Goethe’schen Faust wie für das Beste und Herrlichste Goethe’scher Poesie überhaupt, was V. zur Ablehnung des dem Kunststile nach anders gearteten zweiten Fausttheiles drängte. Allzuherb sind, allzu abschätzig lauten seine in dieser Hinsicht, namentlich in früherer Zeit geäußerten Urtheile; auch der zweite Fausttheil, recht eigentlich geistreich wie kein anderes Dichterwerk und an poetischen Schönheiten nicht arm, hat seine respectgebietende Größe, und gelichtet sind allmählich die quälenden Dunkelheiten seines Inhalts. Dennoch behält V. Recht, insofern er das Ueberwuchern des Allegorischen, einzelne Sprachschnörkel und Sprachmanierirtheiten, das mehr als lockere dramatische Gefüge, die schwache Führung der eigentlichen Handlung und das Uebermaß der kirchlich-mittelalterlichen Motive des Schlusses tadelt, und gegenüber[WS 3] einer blinden, sklavischen Verehrung ist seine Freimüthigkeit gesund und heilsam.

Auch in satirischen Dichtungen hat V. die Waffen des Witzes und Spottes gegen den zweiten Fausttheil gekehrt; sie ergänzen seine Kritik, aber sie wollen auch als freie Spiele der Laune und einer an der komischen Vorstellung sich ergötzenden Phantasie betrachtet sein. Nicht überall gleich ansprechend, sind sie doch von geistigen Gewichten erfüllt und zeigen Vischer’s wortschöpferische, in den erstaunlichsten Bildungen sich muthwillig tummelnde, mit Fischart wetteifernde Sprachvirtuosität. Eine allgemeine Charakteristik seiner dichterischen Befähigung und Bethätigung hätte in erster Linie hervorzuheben, daß diese nicht etwa ein Nebenschößling am Baume seines Geistes war, sondern eine von seiner ursprünglichen Organisation geforderte und darum nothwendige Lebensäußerung. Die Phantasie, in Vischer’s prosaischen Schriften, soweit sie nicht dem reinen Denken Raum zu geben haben, gleich einer unter dem Boden sickernden Quelle thätig, mußte sich auch frei ergießen, und erst der Dichter mit dem Denker zusammen macht Vischer’s geistige Individualität aus. Erzeugt die Mischung der ihm verliehenen Gaben eine vielfach den Charakter der Reflexion, des Gedankenhaften und Contemplativen tragende Poesie, so glückt ihm doch auch das herzliche, rein lyrische Stimmungsgedicht. Im Gebiete des Komischen aber hat V. alle Gattungen durchmessen, vom närrischen Wortspiel, dem drolligen Einfall, dem Schalkhaften, dem Schwank, der Burleske bis zum gemüthswarmen, phantastisch-grotesken und tiefsinnigen Humor, und wie der „Deutsche Krieg“ eine Dichtung von unvergänglichem Reiz ist, so ist der „Auch Einer“, mag man nun die technischen Forderungen der Kunstgattung in ihm mehr oder weniger erfüllt finden, nicht nur neben der „Aesthetik“ das am schwersten wiegende Werk Vischer’s, sondern auch eines der gehaltvollsten und interessantesten Bücher, welche die neuere Zeit hervorgebracht hat.

Ist V. in der Philosophie kein hervorragend schöpferischer Denker gewesen, so hat er sich doch eine eigenartige, charaktervolle, in sich gefestete Weltanschauung geschaffen; die „vielseitige, weltoffene und gleichwohl strenge, kernhafte Menschlichkeit, die bei ihm in Gefühl, Phantasie und Gesinnung zum Ausdruck kommt“, ging, wie Johannes Volkelt treffend bemerkt, „in sein Philosophiren ein“ und gab diesem für die Entwicklung des gegenwärtigen Geisteslebens Bedeutung. Er war ein freier und doch tiefreligiöser Geist, tiefbohrender Denker genug, um nicht dem naturwissenschaftlichen Materialismus zu verfallen, gegen die im Streit zwischen kritischer Vernunft und Glauben ehrlich ringenden „Halben“ toleranter als Strauß, aber ein unerschrockener und unerbittlicher Bekämpfer hierarchischer Intoleranz und jeder Art von Jesuitismus, eine Hutten-Natur, [63] die in die Burgen der Unterdrücker des Gedankens zündende Blitze zu schleudern, niemals Bedenken trug. Das Bedürfniß, auf sich selbst sich zu stellen, die Unabhängigkeit der eigenen Meinung zu wahren, kennzeichnet auch Vischer’s politisches Verhalten und Wirken; „ich lasse mich nicht zum Parteisimpel machen“, schrieb er einst seinen Wählern, die ihm ihre Ansicht aufzudrängen versuchten. Glühender Patriotismus ist der herrschende Charakterzug in allen Phasen seiner politischen Entwicklung. Er war ein Freund des Liberalismus, war, nachdem er auf das republikanische Ideal seiner Jugend verzichtet hatte, Monarchist, zwar, wie sein „Auch Einer“ hinzusetzt, „ohne jegliche Sentimentalität, herzlich täuschungslos über jede Staatsform“, aber mit stetig wachsender Abneigung gegen die Demokratie. Ein Anhänger des Hegel’schen Staatsbegriffes, haßte er in der Politik jede Willkür, Gesetzlosigkeit und Tendenz zur Anarchie, und der Doktrinarismus der demokratischen Partei schien ihm über den Fragen der Freiheit die Rücksicht auf das Nationalgefühl und die Stärkung des Vaterlandes gröblich zu vergessen. – Die breiteste Lücke würde in der Zeichnung von Vischer’s Bild klaffen, wollte man nicht seiner akademischen Lehrthätigkeit gedenken; sie tritt seiner schriftstellerischen Wirksamkeit als etwas Gleichwerthiges an die Seite. V. war bis an sein Lebensende mit voller Seele, mit ganzer Hingabe im Amte; er diente dem Staate mit nie versiegendem Pflichtbewußtsein und zu eigener innerer Erfrischung. „Frage ich mich“, so schreibt er einmal aus Zürich, „welches sind die einzigen Stunden gewesen, wo ich Freude fühlte, so sind es die der Vorlesung über den Faust. Die 200 oder 300 Augen, die nach mir sehen, beleben mich; die theilweise sehr große Schwierigkeit des Gegenstandes fordert die ungetheilteste Anspannung, und jedesmal gehe ich vom Katheder, wie man neu belebt nach flottem Ritt vom Pferde steigt“. Er bereitete sich für jede Stunde sorgfältig vor, aber er sprach, ein Redner ersten Ranges, frei, und der Augenblick der Mittheilung formte und färbte den Ausdruck. So packte der Gedankenernst und die außerordentliche Lebendigkeit seines Vortrags die Jugend, und Tausenden ist er ein veredelnder und begeisternder Lehrer und Führer geworden. – Nur hindeuten läßt sich hier auf einzelne, im engeren Sinne persönliche Züge, die freilich seiner geistigen Physiognomie das besondere Gepräge erst geben: auf die ethische Straffheit seines Charakters, bei der sich wie bei seinem „Auch Einer“, das „Moralische immer von selbst“ verstand, auf seinen Haß gegen das Gemeine, Freche, Niedrige, gegen die Geldseelen, auf seinen Widerwillen gegen alles Gekünstelte, Affectirte, Ruhmredige, auf seine Freude am Naturwüchsigen, Vollsaftigen, Naiven und Schlichten. Er war ein höchst individueller Mensch, eigenwillig und hartkantig, mit Gegensätzen des inneren Wesens, die nicht leicht ihren Ausgleich fanden, zum Herrschen und Handeln gestimmt und doch der Gewohnheit des Reflectirens über sich selbst, der Dialektik des Denkens, die das Für und Wider lange abwägt und jeder Unbilligkeit feind ist, ergeben, strenge in den Ansprüchen an sich selbst wie an Andere und doch von weicher Güte des Herzens, von sokratischer Weisheit und Milde. Man hat gesagt, V. habe im „Auch Einer“ sich selbst geschildert, und dies ist zutreffend, sofern man nicht vergißt, daß die Geschicke Albert Einhart’s nicht die Geschicke Vischer’s sind, daß alles, was die Eigenart Albert Einhart’s ausmacht, vom Verfasser des Romans in dichterischer Absicht gesteigert ist, und daß der Roman eine Selbstschilderung nicht zum Zwecke hatte. Aber eine humoristisch freie Spiegelung des Autors ist es allerdings. Die Schwaben dürfen V. als einen ausgesprochenen Vertreter ihrer Stammesart betrachten. Aber sein Beruf reichte über provinziale Grenzen hinaus: er war einer der stärksten, muthigsten, vielseitigsten und productivsten Geister, welche das 19. Jahrhundert uns geschenkt hat, war eine geniale Natur, zu deren richtiger Erfassung weite Kreise unseres Volkes erst noch zu erziehen [64] sind, war, um mit Gottfried Keller’s Wort zu schließen, „der große Repetent deutscher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und Wahre“.

Biographische Materialien bieten außer Vischer’s Skizze „Mein Lebensgang“: D. Fr. Strauß, Christian Märklin, 1851; Wilhelm Lang (Nekrolog im Schwäb. Merkur v. 20. u. 21. Oct. 1887, Artikel in der Deutschen Rundschau 1889, 10 u. 11 und in „Von und aus Schwaben“, 6. Heft, 1890); Ilse Frapan, Vischer-Erinnerungen, 1889; Jul. Ernst v. Günthert, Fr. Th. V., (Briefe Vischer’s) 1889; Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Friedr. Th. V. („Deutsche Dichtung“, Band IX und X, mit Bemerkungen von K. E. Franzos). Eine Biographie bereitet der Unterzeichnete vor.

Von kritischen und erläuternden Schriften, Charakteristiken vgl. außer vielem Anderen: Johannes Volkelt, die Lebensanschauung Fr. Th. Vischer’s, Beil. z. Allg. Ztg. v. 6. u. 7. Mai 1892; derselbe, V. als Dichter, Basler Schweizerische Morgenztg. v. 27. Jan.–2. Febr. 1888; derselbe, Vischer’s Faust (III), Beil. z. Allg. Ztg. 1886, Nr. 142 u. 146; Eduard Zeller, zur Erinnerung an Fr. V., Goethe-Jahrb. 1888; Gottfried Keller, Zu Fr. Th. Vischer’s 80. Geburtstage, Beil. z. Allg. Ztg. v. 30. Juni 1887; derselbe, (über die Krit. G.) Nachgel. Schriften, 2. Aufl., S. 173 ff.; Hermann Fischer (Zum 80. Gebtg.), in „Ueber Land u. Meer“, 1887, Nr. 39 u. 40; Anton Bettelheim (zum 80. Gebtg.) in der „Nation“, 1887, Nr. 39; derselbe, (zur Auerbach-Rede) Wiener „Presse“ v. Febr. 1882; Hermann Lingg, Fr. Th. V. als Lyriker, in der „Deutschen Dichtung“, v. 1. Jan. 1890; Joseph Bayer, V. als Essayist, N. Fr. Presse 1889, Nr. 8963 u. 8964; Fritz Mauthner, Aufsatz über V. in „Von Keller zu Zola“, 1887; W. Lang, Jean Paul redivivus, in „Im Neuen Reich“, 1878, Nr. 48; Berthold Auerbach, Aphorismen über den Auch Einer, in der Deutschen Rundschau v. Mai 1879; Fried. Spielhagen, Zur Technik des Romans gelegentlich Vischer’s Auch Einer, Illustr. d. Monatshefte v. Mai 1879; Wolfgang Kirchbach, Artikel über den Auch Einer in „Ein Lebensbuch“, 1886; Sidonie Binder, Die Frauen im Auch Einer, bes. Beil. z. Staatsanzeiger für Württemb. v. 25. Febr. 1879; Theoph. Zolling in der „Gegenwart“, XXIX, 15 (über Faust III); Ed. Engel, Ein deutscher Aristophanes, New-Yorker Staatszeitung v. 14. März 1886; J. G. Fischer, (über die Lyr. Gänge), Schwäb. Merkur v. 12. März u. 18. Juni 1882; Ludwig Speidel, Fr. V., N. Fr. Presse v. 3. Juli 1877; Paul Nerrlich, (über den Auch Einer) Wissensch. Beil. d. Leipz. Ztg. v. 22. Dec. 1878; Karl Spitteler, „Eine neue posthume Sammlung von Fr. Th. V.“, Neue Züricher Ztg. v. 2. Nov. 1891; Richard Weltrich, Friedr. V. als Poet in „Nord und Süd“ v. Jan. 1883 und in der „deutschen Bücherei“; derselbe über Vischer’s Auch Einer in der Beil. z. Allgem. Ztg. vom 7.–10. Jan., nebst Hauptblatt v. 26. Mai 1879; derselbe über Vischer’s Allotria in der Beil. z. Allgem. Ztg. v. 23. November 1891. Vgl. auch die Festreden von Lemcke (1887, gedr. im Schwäb. Merkur v. 30. Juni), Jul. Klaiber (1889, gedruckt im Schwäb. Merkur v. 1. u. 2. Juli 1889) und die Festschrift der Stuttg. k. Realanstalt, Programm v. M. Diez, Fr. V. u. der ästhetische Formalismus. – Zur Aesthetik: Herm. Lotze, Geschichte der Aesthetik in Deutschland, S. 196–225; Max Schasler, Kritische Geschichte der Aesthetik I, 2, S. 1040 bis 1089; Ed. v. Hartmann, die deutsche Aesthetik seit Kant, S. 211–219. Gegenüber dem von mesquinen Bemerkungen verunzierten Hamburger Vortrag Theobald Ziegler’s (gedr. bei Göschen, 1893), vgl. Hugo Falkenheim, „Theob. Ziegler gegen Fr. V.“ im Stuttg. Neuen Tagebl. v. 28. Apr.–1. Mai 1894. Ein nicht allen Ansprüchen an Akribie genügendes, aber als erster bibliographischer Versuch schätzenswerthes Verzeichniß der Schriften Vischer’s findet sich in Ottomar Keindls „Erinnerungsblättern der Dankbarkeit“ (Prag 1888).

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 31 Z. 22 v. o. l. 1887 (st. 1889). [Bd. 40, S. 794]
  2. S. 35 Z. 3 v. u. l. juristische Facultät. [Bd. 40, S. 794]
  3. S. 50 Z. 32 v. o. l. dem Bildungsaustausch. [Bd. 40, S. 794]
  4. S. 52 Z. 22 v. o. l. Schuld und Verdienst. [Bd. 40, S. 794]
  5. S. 59 Z. 1 v. o. l. Epigrammenlied. [Bd. 40, S. 794]
  6. S. 59 Z. 16 v. o. l. zur Aesthetik. [Bd. 40, S. 794]


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jacob und Wilhelm Grimm.
  2. Vorlage: antimetaphsische
  3. Vorlage: gegegenüber