ADB:Schöll, Adolph
Ferdinand Hochstetter, den ersten Unterricht genossen, bezog er vierzehnjährig das von seinem mütterlichen Großvater Brastberger geleitete Gymnasium in Stuttgart. Der reine ideale Sinn des Jünglings, seine reiche wissenschaftliche und poetische Begabung gewannen ihm die Anerkennung der Lehrer und namentlich die mit den Jahren zu warmer Freundschaft sich steigernde Zuneigung Gustav Schwab’s. Dann folgten glückliche Universitätsjahre in Tübingen (1823–1826), in dem erlesenen Kreise geistesverwandter Genossen, die damals das dortige Stift vereinigte, L. Bauer, E. Mörike, M. Rapp u. A., zu denen später auch D. F. Strauß und F. Th. Vischer traten. Wie diese Alle, hatte S. das Fach der Theologie erwählt, aber er gab dasselbe bald auf und widmete sich einem eifrigen Studium der Philosophie und der griechischen Literatur, besonders aber der antiken Mythologie. Die Anregung zu diesen Studien empfing er nicht von den Tübinger [219] Philologen, deren Vorlesungen nicht über eine dürre formale Interpretation der Schriftsteller hinausgingen, sondern durch die Werke der großen Forscher, welche eben damals der wissenschaftlichen Behandlung des Mythos in Volkssage und Dichtung die Bahn brachen. Mit Otfried Müller, dem bewunderten Führer der neuen Bewegung, trat S. seit 1825 in brieflichen Verkehr, der einen fruchtbaren Ideenaustausch über die Probleme der griechischen Sagengeschichte vermittelte. Nicht minder fruchtbar erwies sich der persönliche Verkehr mit Uhland. Dem damals in Stuttgart lebenden Dichter trat S. näher, während er nach dem Abgang von der Universität mit der Vorbereitung auf die Promotion beschäftigt ein Jahr in verwandtem Hause zu Hohenheim zubrachte. Er lernte in Abendvorträgen Uhland’s Ansichten über die Hauptstämme und Verzweigungen der germanischen Heldensage kennen; auch in seiner dichterischen Production sah er sich durch Uhland ermuntert und gefördert. Zwei poetische Erstlinge erschienen 1827, ein Trauerspiel „Dido“ und (in Hauff’s Märchenalmanach) eine Erzählung Der arme Stephan. Nachdem S. 1828 in Tübingen auf Grund einer Abhandlung De origine graeci dramatis pars prior continens quaestiones praevias de ludorum mimicorum apud Siculos ac Dorienses primordiis promovirt hatte, führte ihn ein letztes Studienjahr nach Göttingen zu O. Müller. Die brieflich geknüpfte Verbindung befestigte sich jetzt zur genußreichen Ideen- und Lebensgemeinschaft.
Schöll: Gustav Adolf S., geboren am 2. September 1805 in Brünn, war der Sohn eines angesehenen Fabrikanten, der seine württembergische Heimath mit der mährischen Hauptstadt vertauscht hatte und dort als Leiter blühender gewerblicher Institute und gemeinnütziger Anstalten, sowie als Gründer und Förderer der evangelischen Gemeinde eine weitgreifende Thätigkeit übte. Nachdem S. bei dem Prediger dieser Gemeinde, dem auch als Naturforscher bekanntenNach Abschluß seiner Lehrjahre weilte S. drei Jahre lang im elterlichen Hause zu Brünn, vollendete die (für die Osiander-Schwab’sche Sammlung übernommene) Herodot-Uebersetzung und bereitete sich zur akademischen Laufbahn vor. Die Wahl des Ortes für die Habilitation fiel auf Berlin. Die preußische Hauptstadt, der Hochsitz der deutschen Philosophie und der historisch-philologischen Wissenschaften und der Herd einer von hellenischem Geist getragenen Kunst der Plastik und Architektur, übte auf den jungen Süddeutschen einen ungemeinen Zauber. Bald war er völlig heimisch in der Berliner Gelehrten- und Künstlerwelt, ein beliebter Theilnehmer an den litterarischen Gesellschaften und Vereinen von Kunstgenossen, der durch die Gediegenheit seines Charakters und seines Wissens, durch Geist und Humor, durch Feuer der Rede und poetische Gaben das gesellige Leben zu erhöhen verstand. Auch seine Muse erhielt neue Triebkräfte durch den Verkehr mit Chamisso und Eichendorff. Er unterstützte Jenen bei der Herausgabe des Musenalmanachs, diesen bei der Redaction seiner Gedichtsammlung; eine liebevolle Charakteristik der Dichternatur Eichendorff’s im Zusammenhang mit der großen litterarischen Bewegung der Romantik überhaupt (Wiener Jahrbücher der Literatur LXXV. LXXVI. 1836) enthielt zugleich sein eigenes ästhetisches Glaubensbekenntniß. Eine Sammlung seiner Gedichte gedieh noch in Berlin im wesentlichen zum Abschluß, erschien aber erst nach Jahren („Gedichte aus den Jahren 1823–1839.“ Leipzig 1879). Kunstgeschichtliche Beiträge lieferte S. in Schorn’s Kunstblatt und Kugler’s Museum, hier auch Referate über die Berliner Kunstausstellungen. Daneben verlor er seine wissenschaftlichen Ziele nicht aus den Augen.
Im J. 1833 hatte er sich an der Universität habilitirt, 1835 ward er zum Lector der Mythologie und Kunstgeschichte an der Akademie der Künste ernannt. Seine Vorlesungen und Studien behandelten außer diesen Gegenständen mit Vorliebe die griechischen Tragiker, und diesen, vornehmlich der Sagengestaltung und dramatischen Kunst des Sophokles, waren auch seine ersten umfangreicheren Werke gewidmet.
Eine Unterbrechung dieser Arbeiten ward durch die Reise nach Italien und Griechenland veranlaßt, welche, in Ausführung eines lange gehegten Plans, S. mit O. Müller von Herbst 1839 bis Sommer 1840 unternahm. Diese Reise, [220] reich an Schätzen der Anschauung und Forschung, fand einen tragischen Abschluß durch Müller’s Tod in Athen am 1. Aug. 1840. Dem allein heimkehrenden Gefährten erwuchs die schmerzliche und schwere Aufgabe, das Vermächtniß des Freundes, die hinterlassenen Reisenotizen, soweit es möglich war, nutzbar zu machen, indem er sie geordnet und durch seine eigenen Sammlungen ergänzt zu einem Bericht über die antiken Denkmäler Athens verarbeitete.
Im Herbst 1842 ward S. als außerordentlicher Professor der Archäologie an der Universität Halle angestellt: kurz vor dem Antritt dieser Professur vermählte er sich in Coblenz mit der Schwester seines Freundes J. Henle, des bekannten Anatomen. Schon im Frühjahr 1843 verließ er Halle wieder, um einem Ruf nach Weimar als Director der Großherzoglichen Kunstsammlungen und der freien Zeichenschule an L. Schorn’s Stelle zu folgen. Dieser Stadt ist S. für die Dauer seines Lebens, fast vierzig Jahre treu geblieben. Hier begründete er einen glücklichen Familien- und Hausstand – vier Söhne und eine Tochter wurden ihm von der Gattin geschenkt –, und gestaltete er sein gastfreies Haus zum Mittelpunkt einer einfachen, aber geistig vornehmen und künstlerisch belebten Geselligkeit; hier gewann er in einer vielartigen seiner Individualität zusagenden Wirksamkeit einen nicht so sehr auf seiner amtlichen Stellung als auf dem Gewicht seiner Persönlichkeit beruhenden Einfluß, der ihm ermöglichte in seinem Sinne Gutes und Dauerndes zu schaffen, und sicherte er sich die Muße für seine wissenschaftlichen Interessen und Arbeiten. Das edle, kunstsinnige Fürstenhaus fand für die Pflege und zeitgemäße Fortsetzung der classischen Tradition Weimar’s an S. ein verständnißvolles, unabhängig denkendes und consequent handelndes Organ. Mit allen den Schöpfungen, welche die Aufgabe hatten den alten Musensitz mit der zeitgenössischen Kunst und Litteratur in fruchtbarer Berührung zu erhalten, ist Schöll’s Namen eng verknüpft: so mit der Errichtung der Dichterdenkmäler und der Karl August-Statue, der Ausschmückung der Dichterzimmer in der Residenz und der Restauration der Wartburg, der Vermehrung und Vervielfältigung von Schätzen des Museums; so mit der Goethe- und Shakespeare-Stiftung u. a. m. Auch vor der Oeffentlichkeit galt es solche Bestrebungen zu vertreten, sie durch öffentliche Vorträge und mit der Feder zu fördern. An der neugegründeten Kunstschule übernahm er mehrere Jahre lang die Vorlesungen über Kunstgeschichte, gab dieselben aber auf, da der Geist der neuen Anstalt von der hohen Auffassung der Kunst ablenkte, die er in Gemeinschaft mit den ihm nahestehenden Meistern F. Preller und B. Genelli vertrat. Seine litterarische Beschäftigung wandte sich, ohne den gewohnten Arbeitsgebieten untreu zu werden, daneben der großen Vergangenheit Weimars zu und concentrirte sich mehr und mehr auf Goethe. Zu solchen Forschungen flossen ihm aus seiner Umgebung unmittelbare Quellen theils in mündlicher Ueberlieferung, theils in handschriftlichen Schätzen und Correspondenzen reichlich zu.
Die Ernennung zum Leiter der großh. Bibliothek an des 1861 verstorbenen Freundes L. Preller Stelle eröffnete ihm eine neue Wirkungsstätte mit einfacheren amtlichen Anforderungen, die er nach der bisherigen vielfach zersplitterten Berufsarbeit doch als Wohlthat empfand. In dieser Stellung blieb er bis kurz vor seinem Ende, fast zwei Jahrzehnte thätig. Bis in sein höheres Alter rüstig und geistig regsam, und immer gewohnt seinen Kräften das Aeußerste zuzumuthen, ward S. 1880 von einem schweren Nervenleiden ergriffen. Ein längerer Aufenthalt in Freienwalde auf dem Landsitz seines Freundes Aegidi brachte wohl Erholung, aber keine Heilung. Im Frühjahr 1881 mußte der Kranke in einer Heilanstalt zu Jena untergebracht werden; dort erlöste ihn ein sanfter Tod am 26. Mai 1882.
[221] Schöll’s Productivität umfaßte weite und sehr verschiedene Gebiete. Als Dichter und Uebersetzer, Mytholog und Archäolog, Kunstkritiker und Litteraturforscher war er thätig und auf jedem dieser Arbeitsfelder zu Hause, überall tiefdringend und selbständig. Gleichmäßig bewegt von vergangener wie von gegenwärtiger Kunst, verfolgte er die verwandten Geistesrichtungen durch verschiedene Nationen und Zeiten: seine Feder wanderte von Sophokles zu Goethe, von Herder zu Pindar, von Shakespeare zu Hebbel, von Phidias zu Carstens. Dieses Arbeiten hatte nichts Unstetes oder Zusammenhangloses: die verschiedenartigen Aufgaben fanden ihren Einigungspunkt in dem ihm eigenen Sinne für Totalität, in einer stets aufs Große gerichteten Anschauung, einer speculativen Einsicht in die Grundgesetze des Processes künstlerischen Schaffens. Alle seine Leistungen sind aus dem Ganzen seiner Persönlichkeit erwachsen und tragen das Gepräge dieser Persönlichkeit. Mit dem Weitblick, Gedankenreichthum und Scharfsinn des Forschers verband sich in ihm die Phantasie und Gestaltungskraft des Künstlers. In dieser Vereinigung wurzelte seine litterarische Eigenart mit ihren Stärken wie mit ihren Schwächen, wie beide besonders in den Arbeiten über die griechische Tragödie erkennbar werden. Wenn S. gegenüber der verständnißlosen Willkür, mit welcher gelehrte Philologen die Idee oder gar die Moral der Dramen erörterten, auf das Wesen der tragischen Kunst der Antike drang und die Forderung des Kunstwerks in Fabelmotiven und Charakteristik zur Geltung brachte: so führte ihn der Flug der Phantasie nicht selten dazu, der Ueberlieferung zu viel abzufragen. Auch seine stilistische Eigenart entsprang denselben Wurzeln. Durch die Fülle und Tiefe der Ideen, die Plastik der Bilder, die Kunst lichtvoller Gruppirung und dialektischer Entwicklung, die Abwesenheit alles Rhetorischen und äußerlich Schmückenden war seine Sprache voller Leben und Wärme, oft von hinreißender Gewalt und Schönheit, aber oft auch allzu belastet und gedrängt, undurchsichtig und das Verständniß erschwerend. Ein Meister des lebendigen Worts, geistreicher und glücklicher Improvisator in Vers und Prosa, als Redner bei festlichen Gelegenheiten von sicherer und imponirender Wirkung, that er sich im schriftstellerischen Ausdruck nicht leicht Genüge und hielt meist lange mit dem Abschluß seiner Arbeiten zurück. Diese Eigenschaft hat es verschuldet, daß nicht wenige seiner schriftstellerischen Entwürfe nicht zur Ausführung gekommen sind.
Besonders ist das wohl hinsichtlich derjenigen Disciplin zu beklagen, zu welcher S. als zu seiner Jugendliebe immer wieder zurückkam, und für welche seine Natur hervorragend veranlagt war, der griechischen Mythologie. In Berlin trug er sich mit dem Plane einer „Urgeschichte der Griechen“, dann einer „Kritik der Mythologie“ im Anschluß an wiederholte Vorlesungen. Eine biographische Charakteristik O. Müller’s gedieh nicht über die ersten Anfänge hinaus. Seine mythologischen Anschauungen sind den Recensionen in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik, den Halle’schen Jahrbüchern und der Jenaer Litteratur-Zeitung, sowie den Einleitungen zur Uebersetzung der Sophokleischen Dramen zu entnehmen. Sie lehnten sich an Solger, Welcker und namentlich O. Müller an: indeß verwarf S. consequenter als sein Lehrer die (noch heute beliebte) Methode, die Symbolik der Götter und Helden nach dem ethischen Charakter und den mythischen Motiven der Sage selbst zu erklären. Als den wunden Punkt der gesammten mythologischen Forschung erkannte er den Mangel an organischer Verknüpfung der homerischen Anschauungswelt mit derjenigen, welche man als vorhomerisch und wieder als nachhomerisch gibt: und er hob diesen Mangel glücklich durch den Nachweis, daß die Völkerbrechung, deren geistige Frucht das Epos war, die Trümmer einer bereits geschlossenen Cultur altgriechischer Reiche auf dem idealen Boden poetischer Phantasie umbildete, während gleichzeitig die geschichtlichen [222] neuen Staatenbildungen viele Reste der alten Glaubens- und Cultusformen aus dem Geschlechtercult in den Staatsgottesdienst übernahmen. Daß auf diesen beiden Grundlagen, einer im Epos ausgestalteten Idealwelt und einer positiven Symbolik als Gemeindereligion, die Trennung der religiösen Anschauung der Griechen in eine mythische und mystische beruht, daß die geschichtliche Wahrheit der Religion in der Wechselbeziehung von Cultus und Mythus liegt, waren Sätze, deren fundamentale Bedeutung heute von Niemand verkannt wird.
Der Archäologie kamen vor allem die Früchte der griechischen Reise zu Gute: außer den Reiseberichten in Schorn’s Kunstblatt die Abhandlung „Ansichten der Akropolis und ihrer Gebäude“ in Förster’s Bauzeitung 1841, und die „Archäologischen Mittheilungen aus Griechenland nach C. O. Müller’s hinterlassenen Papieren herausgegeben“ 1. Heft 1843 (ein zweites im Manuscript bereits vollendetes Heft ging beim Umzug nach Weimar verloren): eine nach kunstgeschichtlichen Epochen geordnete Beschreibung der antiken Sculpturen Athens, trotz des bescheidenen Titels in Anlage und Ausführung ganz Schöll’s Werk. Zahlreiche Aufsätze zur antiken und modernen Kunst brachten das Kunstblatt, der Philologus und andere Zeitschriften. Eine Biographie des verehrten Meisters Rauch, in welcher S. zugleich seine eigenen Ansichten über das Princip der Plastik zu entwickeln gedachte, trat hinter andern Arbeitsplänen zurück.
Seine Uebersetzerkunst hatte S. zunächst an Herodot bewährt (1828 bis 1832, in neuer Bearbeitung 1855). Die Einleitung zu dieser Uebersetzung und eine Reihe kritischer Untersuchungen (im Philologus IX. X) beleuchteten treffend die künstlerische Oekonomie des Werks in Contrastirung und innerer Verknüpfung der Theile, und begründeten eine richtigere Auffassung von der Entwicklung und den poetischen Quellen Herodot’s und von der primitiven Geschichtschreibung der Griechen überhaupt.
Größere Aufgaben lagen auf dem Gebiete der griechischen Poesie, namentlich der Tragödie. Schöll’s Studien knüpften hier an Welcker’s äschyleische Trilogie und O. Müller’s Eumeniden-Ausgabe an. Das Werk über „die Tetralogien der attischen Tragiker“ (Beiträge zur Kenntniß der tragischen Poesie der Griechen I 1839) führte die Forderung einer tetralogischen Composition, und einer kunstmäßigen Verbindung der vier Dramen, für Aeschylus’ Nachfolger, vor allem für Sophokles durch. Wiederaufgenommen ward diese vielbestrittene These in dem Buch „Sophokles, sein Leben und Wirken“ (1842) und gleichzeitig in dem Anhang zu „Sophokles’ Aias, deutsch u. s. w.“, und hier an der Telamonidentrilogie (Aias, Teukros, Eurysakes) so siegreich nachgewiesen, daß sich in diesem Fall auch die Gegner der Hauptansicht überzeugt bekannten. Die Uebersetzung der sämmtlichen Dramen des Sophokles (1856–1873, und öfter aufgelegt) gab S. Gelegenheit, in ausführlichen Anhängen wiederholt auf seinen Standpunkt zurückzukommen; zusammenfassend und abschließend setzte er sich noch einmal mit der herrschenden Meinung auseinander in dem Buch „Gründlicher Unterricht über die Tetralogie des attischen Theaters und die Compositionsweise des Sophokles, zur Widerlegung eines hartnäckigen Vorurtheils“ (1859). Die Bedeutung desselben liegt nicht so sehr in der vornehmen Polemik, die das angebliche antike Zeugniß für Einzeldichtung der sophokleischen Dramen endgiltig beseitigt, als in der eindringenden Analyse der erhaltenen Tragödien, der sinnreichen und kunstgemäßen Reconstruction der verlornen, der gehaltvollen Erörterung über das Verhältniß zwischen Epos und Drama. – Im Fortgang seiner Uebersetzung, bei wachsender Vertrautheit mit Sophokles’ Sprache und Kunst befestigte sich in S. die Ueberzeugung, daß die Dramen vielfach durch einen jüngeren Bühnendichter der euripideischen Schule überarbeitet und interpolirt seien: was er in den Anmerkungen zu der Uebersetzung und speciell für den Oedipus [223] auf Kolonos in einer eingehenden Untersuchung (Philologus XXVII) darlegte. Ob es berechtigt war, die ästhetische Kritik auf den historischen Boden zu übertragen, kann fraglich scheinen: aber ohne Frage hat hier das ästhetische und stilistische Feingefühl zuerst das Problem aufgezeigt, das Andere heute dadurch zu lösen glauben, daß sie den alten Sophokles selber zum Nachahmer seines jüngeren Collegen Euripides machen. Entschieden zu weit aber ging, namentlich in der Biographie des Sophokles, Schöll’s Bestreben, in den erhaltenen Tragödien Zeugnisse für die politische Gesinnung des Dichters und Anspielungen auf die Zeitgeschichte zu gewinnen. Wenn er dabei begründetem Widerspruch begegnete, so war er seinerseits bei Aristophanes in der Lage, die geläufige Auffassung des Dichters als eines ernsthaften Tendenzpolitikers schlagend zu widerlegen, und als das Wesen der classischen Komödie die Auflösung der Realität in der Phantastik, als ihre Tendenz nicht das Politische oder Sittliche, sondern einzig das Komische zu erweisen. („Ueber die altattische Komödie und die Frösche des Aristophanes“, Ges. Aufs. z. class. Literatur 22 ff.)
In der Verdeutschung von Sophokles’ Tragödien, Euripides’ Satyrspiel („Der Cyclop“, 1851), Aristophanes’ Fröschen wußte S. mit Glück den Gehalt, Schwung und rhythmischen Fluß des Originals wiederzugeben und der poetischen Individualität der verschiedenen Dichter gerecht zu werden, ohne der Muttersprache Gewalt anzuthun. In besonderem Maße ist diese Meisterschaft in der Uebertragung von Pindar’s Olympien und einem Theil der Pythien zu bewundern, die leider bis auf zwei Proben noch ungedruckt geblieben ist. Ein Vortrag „das Altfränkische in Pindar’s Stil“ (Ges. Aufs. 1 ff.) charakterisirt fein und treffend die spröde und oft verkannte Kunstform dieses Sängers, seine Gesetzmäßigkeit im Widerspiel von Strebung und Bindung in der Composition, durch den frappanten Vergleich mit dem archaischen Reliefstil.
Wenn der S. eigenthümlichen Behandlungsweise litterarischer Denkmäler, der durchgehenden Verschmelzung historischer und ästhetischer Betrachtung, auf dem Boden der griechischen Poesie durch die Beschaffenheit der Ueberlieferung bestimmte Schranken gezogen waren, so traten die Vorzüge dieser Behandlung bei den Arbeiten über die neuere deutsche Litteratur in ihr volles Licht. Für Goethe und die übrigen Größen Weimars lag ein zuverlässiges biographisches Material in Fülle vor, das S. bis ins kleinste beherrschte und selbst durch ungehobene Schätze zu bereichern vermochte. So durch die werthvollen „Briefe und Aufsätze Goethe’s aus den Jahren 1766–1786“ (1846), und vor allem durch „Goethe’s Briefe an Frau v. Stein aus den Jahren 1776–1826“ (3 Bände, 1848 bis 1851), die aufschlußreichste Herzensurkunde des Dichters. Nur der innigsten Vertrautheit mit Goethe’s Leben und Dichterpersönlichkeit konnte es gelingen die hunderte von großentheils undatirten Billets und Stimmungsergüssen zu einer Geschichte dieses Seelenbundes zu ordnen und ihren Zusammenhang mit Goethe’s dichterischem Schaffen klar zu legen. Die Goethe-Biographie, welche man von S. erwartete und welche die Freunde D. F. Strauß, S. Hirzel und Andere zu fordern nicht müde wurden, lehnte er mit der bescheidenen Antwort ab, für die hohe Aufgabe seien seine Vorbereitungen zu beschränkt, fuhr aber indessen fort, in besonderen tiefgeschöpften Untersuchungen des Dichters Leben und Werke theils durch längere Perioden, theils durch verschiedene Gebiete seines Wirkens zu verfolgen, so die Aufgangsepoche bis zur Anstellung in Weimar, den Zusammenhang der staatsmännischen mit der wissenschaftlichen und dichterischen Thätigkeit, das Verhältniß zum Theater, zu Schiller, zu den Romantikern, zu den politischen Bewegungen der Zeit. So stellten diese Abhandlungen, welche gesammelt und durch neue vermehrt unter dem Titel „Goethe in Hauptzügen seines Lebens und Wirkens“ 1882 kurz vor seinem Tode erschienen, ein nahezu lückenloses Lebens- [224] und Charakterbild dar, in welchem, von den Werken des hohen Greisenalters abgesehen, das gesammte poetische Schaffen Goethe’s seine Stelle gefunden hatte.
Den Goethestudien schlossen sich solche zu anderen Classikern an. Für das Herder-Album (1845) lieferte S. den Beitrag „Herder’s Verdienst um Würdigung der Antike und der bildenden Kunst“, welcher Herder’s Laufbahn begleitend seine Ansichten und bedeutenden Leistungen im Zusammenhalt mit der zeitgenössischen Kunstauffassung beurtheilte; für das neugegründete Weimarische Jahrbuch (1854) eine Abhandlung über Schiller’s Fiesko und dessen historische Grundlagen; für das Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft (I. 1865) die Parallele „Shakespeare und Sophokles“; auch ein früherer Aufsatz „Ueber Shakespeare’s Sommernachtstraum“ (1844) ward in diesem Jahrbuch (XVII. 1882) wiederaufgefrischt. Nach Uhland’s Tode schrieb er „Erinnerungen an Ludwig Uhland“ (1863). Von jüngeren Dichtern fesselten besonders die beiden Holsteiner Klaus Groth und Hebbel sein Interesse. Als Sammlung sind diese zerstreuten Aufsätze, vollständig mit Ausnahme der zahlreichen Recensionen und mit ungedruckten zur antiken Litteratur verbunden, von seinen Söhnen herausgegeben worden („Ges. Aufsätze zur klassischen Litteratur alter und neuerer Zeit“ 1884).
Zu populärer Belehrung bestimmt waren die Bücher „Weimars Merkwürdigkeiten einst und jetzt“ (1847) und „Karl August-Büchlein“ (1857, anläßlich der Grundsteinlegung des Karl August-Denkmals erschienen).
Der 1879 redigirten ersten Gedichtsammlung („Gedichte aus den Jahren 1823–1839“) hat S. die geplante Fortsetzung nicht mehr folgen lassen. Zerstreut ist eine größere Anzahl Gelegenheitsgedichte, Prologe, Lieder in Druck erschienen, auch zwei fein gezeichnete und gestimmte Erzählungen „Kriegslisten“ und „Die Mahnungen“. Der poetische Nachlaß wie die Pindar-Uebertragung und eine Auswahl der reichen Correspondenz mit befreundeten Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern harren noch der Veröffentlichung.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Fritz Schoell (1850–1919), Professor in Heidelberg. Jüngster Sohn Adolph Schölls.