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Artikel „Mörike, Eduard“ von Jakob Baechtold in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 243–258, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%B6rike,_Eduard&oldid=- (Version vom 11. Oktober 2024, 06:49 Uhr UTC)
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Mörike: Eduard M., schwäbischer Dichter, 1804–1875. – Ein einsamer, immer gleich freundlich blinkender Stern, dessen schlichte Schönheit nicht jedem Auge sofort sichtbar wird, zu dem aber eine kleine Schaar mit stets erneuter Freude und unvergänglicher Bewunderung hinaufschaut, steht die Muse dieses wundersamen Mannes fernab vom Weltgedränge. Die alten Fragen, warum M. noch immer so wenig gekannt sei, weshalb seine Gedichte nicht mehr [244] gelesen werden, wo die Verehrer des „Maler Nolten“ bleiben und wo das Publicum für die Märchen – diese Fragen heute zu wiederholen wäre nutzlos. Gewiß hat Paul Heyse hierauf am treffendsten geantwortet, wenn er die Erklärung dieser leider unumstößlichen Thatsache darin erblickt, „daß es der künstlerischen Physiognomie Mörike’s an einem leicht erkennbaren Profil gebricht, an gewissen einfachen Grundzügen, die unerläßlich sind, wenn ein Künstler auf die Massen wirken soll.“ Nur in seltenen Fällen begründe das eigentlich Aesthetische, die zarte sinnliche Kraft des Dichters einen populären Erfolg. Vollends in erregten Epochen, in denen politische oder sociale Umwälzungen geräuschvoll sich vorbereiten – wie wäre da die Zeit und die hingebende Stimmung zu erwarten, die feinsten Aufgaben litterarischen Genusses zu lösen? Eine Dichternatur wie M., aus so wunderbaren Elementen gemischt, vom Geist des Theokrit und des deutschen Volksliedes genährt, von der tändelnden Grazie des Rococo und dem tiefen Naturgefühl Goethe’s, von so kecker Phantastik und der schlichtesten Empfindung für den Reiz der Wirklichkeit beseelt: die Räthsel einer solchen Erscheinung fasse die Menge so leicht nicht. M. trägt zu sehr den Stempel des Besonderen, Eigenartigen, das den Geschmack der Menge beirrt. Bei ihm begegnen wir – wie ein verwandter Geist bemerkt – einem absoluten Mangel der Phrase, der Sentimentalität und der Leidenschaft, was von vorne herein die Jugend von dem Dichter zumeist fernhält; seine Vortragsweise hat etwas, das der antiken Dichtung abgelauscht ist und deren Verständniß demjenigen, der sogenannter classischer Bildung entbehrt, nicht geläufig sein mag. Man hat ihn nicht mit Unrecht den deutschen Catull genannt. Dann ergeht er sich mit Vorliebe im Reiche des Phantastischen, Wunderbaren, Geister- und Märchenhaften. Das Hinhorchen nach dem Geheimnißvollen und Ahnungsreichen, das Selbstbelauschen der eigenen Seele ist ihm vorzugsweise eigen. Nach dem, was man die obersten Gattungen der Poesie zu nennen pflegt, hat er nie gegriffen; still beschränkt auf das Gebiet des Liedes, des Märchens und der Idylle schwebte sein Genius, entrückt über Zeit und Wirklichkeit, durch diese Welt; ein halbes Jahrhundert Geschichte rauschte an ihm vorbei, ohne einen anklingenden Ton an seiner Harfe zu berühren. „Wir möchten Mörike – so schrieb sein Freund David Fr. Strauß 1847 – stärkere Assimilationsorgane, oder, um es deutsch zu sagen, derbere poetische Freß- und Verdauungswerkzeuge wünschen. Die rauhe, rohe Wirklichkeit, die Geschichte mit ihrem oft herben Kern in bald lederner, bald stachlichter Schale, ist unserem zartgefügten Dichter eine zu harte Nuß, für die er kein Gebiß, keinen Magen hat.“ Ein Grund endlich, warum M. einen so unverhältnißmäßig spärlichen Leserkreis hat, mag in dem Maßhalten seiner Productivität liegen, in dem frühen Verstummen seiner Saiten (hierin seinem Landsmann Uhland ähnlich) und nicht wenig haben unsere gangbaren Litteraturbücher mit beschränkten und ungerechten Urtheilen sich gegen den Dichter versündigt. „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“, heißt es in jenem reizenden Gedicht „auf eine Lampe“, welches den Eindruck, der von Mörike’s ganzem Wesen ausgeht, so einzig wiedergibt.

Der Oeffentlichkeit ist M. stets scheu aus dem Wege gegangen; sein Leben ist jenes traumhafte Stillleben, daß uns in seinen Dichtungen so entzückt; es beschränkt sich als das ächte Pfarrhausidyll auf einen ebenso kleinen Erdenfleck, als seine Muse ein mäßiges Stoffgebiet umfaßt.

Die ältesten bekannten Vorfahren der Familie M. sollen aus Havelberg in Preußen nach Württemberg eingewandert sein. Albrecht Ludwig M. ließ sich als Apotheker in Neuenstadt am Kocher nieder, wo er sich mit Christiane Wolters vermählte. Dieselbe stammt in sechster Linie von Martin Luther ab. In der Familie M. wird Luther’s silberner Tischbecher als Erbstück aufbewahrt. [245] (Ueber diese Descendenz handelt die Schrift von Eduard Mörike’s Großonkel, Christian Ludwig M., Pfarrer zu Burgstall: „Meine Abstammung von D. Luther und sein Tischbecher“, Stuttgart 1817 und 1883.) Des Dichters Großvater väterlicherseits war der Hofmedicus Gottlieb M. in Ludwigsburg, mütterlicherseits Christian Friedrich Beyer, Pfarrer zu Beuren, welcher mit Friedrike Wethrlin, der Schwester des bekannten Publicisten Wilhelm Ludwig Wethrlin, vermählt war. Seine Eltern waren Dr. Carl Friedrich M., Oberamtsarzt und Charlotte Dorothea Beyer († 26. April 1841). M. hat uns in seiner bescheidenen Selbstbiographie, welche er 1834 beim Antritt der Pfarrei Cleversulzbach der ersten Predigt einverleibte, die trefflichen Eltern aufs liebevollste geschildert. Der Vater war ein durch und durch origineller, zu philosophischer Speculation aufgelegter Mann; die Mutter voll unendlicher Güte, Anmuth und Freundlichkeit. Das bezaubernde Erzählungstalent Eduard’s ist nicht zum mindesten mütterliches Erbtheil.

Geboren am 8. September 1804 zu Ludwigsburg, der schwäbischen Dichterstadt, aus und in der Schiller, Schubart, Justinus Kerner, Strauß, Vischer hervorgegangen oder wenigstens mit ihrer Kindheit wurzeln, befand sich Eduard M., ein Knabe von ungewöhnlicher Schönheit, in einem lebhaften Kreise mehrerer Geschwister, von denen namentlich ein älterer Bruder den größten Einfluß auf ihn gewann. „Was nur ein jugendlicher Sinn – heißt es in der angeführten autobiographischen Skizze – irgend Bedeutungsvolles hinter der Oberfläche der äußeren Welt, der Natur und menschlicher Verhältnisse zu ahnen vermag, das alles wurde durch Gespräche dieses Bruders auf einsamen Spaziergängen, wenn ich ihn manchmal auch nur halb verstand, in meinem Innern angeregt; er wußte den gewöhnlichsten Erscheinungen einen höheren und oft geheimnißvollen Reiz zu geben; er war es auch, der meine kindischen Gefühle zuerst mit mehr Nachhaltigkeit auf übersinnliche und göttliche Dinge zu lenken verstand.“ M. besuchte die lateinische Schule seiner Vaterstadt. Friedrich Notter, ein älterer Schulkamerad, erzählt einen anmuthigen Zug aus dieser Zeit. Als der junge M. eines Tages auf der Schulbank vor sich hin träumte, trat der Lehrer vor ihn und fragte den erschrocken Aufschauenden: „Nun, von welchem Brückle guckst jetzt eben wieder hinunter?“ Fürwahr, unbewußt ein feines Gleichniß vom jugendlichen Gemüth, welches noch auf alle die ungewordenen Liederbächlein hinaussinnt, die später in ein großes Meer von Wohllaut zusammenströmten! Erinnerungen aus einer seltsam mystischen Knabenzeit hat M. im „Maler Nolten“ niedergelegt, wenn er diesen z. B. berichten läßt, wie er als Kind sich am liebsten in einen dunkeln Bretterverschlag auf dem Dachraum setzte und, während draußen der helle Tag schien, eine Kerze anzündete, vertrauten Gespielen Märchen erzählend. Die Kinder durften ab und zu durch zwei Astlöcher schauen, durch welche sie, wenn die Sonne niederging, hinausblickten auf die seligen Inseln. Hauptsächlich auf Wunsch eines Oheims kam man überein, daß sich M. dem geistlichen Stande widmen sollte. Schon in seinem elften Jahre lernte er den bitteren Ernst des Lebens kennen: der Vater wurde in Folge übermäßiger Berufsanstrengung vom Schlage getroffen und siechte drei Jahre lang dahin, bis er am 22. September 1817 von seinen Leiden erlöst wurde.

Jetzt trat der edle Oheim, der nachmalige Consistorialpräsident v. Georgii, ein hochgebildeter Mann, vor die trauernde Wittwe mit dem Anerbieten, die Sorge für die Ausbildung des Knaben übernehmen zu wollen und Eduard siedelte nach Stuttgart über. Unter seinen dortigen Lehrern gedenkt er namentlich mit dankbarer Anhänglichkeit des verdienten Pädagogen Karl Ludwig Roth, sodann des Prälaten v. Flatt, bei welchem er den herzgewinnenden Confirmationsunterricht erhielt. Nach bestandener letzter Schulprüfung, dem sogenannten dritten [246] Landexamen, entschied sich des Jünglings Beruf zum Prediger und im October 1818 wurde er mit einigen dreißig Zöglingen in die neu errichtete Klosterschule zu Urach aufgenommen. „Die prachtvolle Gebirgsgegend, das schöne Thal, worin wir wohnten (M. hat es in einem seiner vollendetsten Gedichte gefeiert), das enge Zusammensein mit einer Menge junger, nach Art und Begabung höchst verschiedener Menschen, die Eigenthümlichkeit der Lehrer, die Bekanntschaft mit Büchern, die nicht unmittelbar auf meinen Beruf hinwiesen – dies alles gab dem nun zum Jüngling erwachsenen Knaben in einer abgeschlossenen und einförmigen Lage die mannigfaltigste Anregung. Die Begriffe gewannen schnell einen größeren Umfang, Gesinnungen und Neigungen bestimmten sich; mit Ueberraschung sah ich eine reiche Welt des Geistes vor mir aufgethan, deren Widersprüche bereits auf mich zu wirken begannen, so daß ich das, was ich mein eigen nennen konnte, was vom Empfangenen mit meinem innersten Bedürfnisse zusammentraf, nur immer heimlicher und fester an mich zog.“ (Selbstbiographie.) In Urach schloß M. den Herzensbund mit seinem treuesten Freunde Wilhelm Hartlaub (geb. am 29. Mai 1804, † in Stuttgart am 10. Juli 1885). Diesem Trefflichen sind die Gedichte in der ersten Auflage von 1838 gewidmet; ihn, den früheren Pfarrer von Wermuthshausen, „dessen vier Wände in einer Woche mehr Haydn, Mozart und Beethoven zu hören bekamen, als die Concertsäle mancher Residenz in einem Winter“, den begeisterten Verehrer und Kenner unserer classischen Musik, hat der Dichter mehrfach poetisch verherrlicht. Andere Jugendfreunde aus der Uracher Zeit waren Ernst Bruckmann (geb. 1804, † als Pfarrer in Trossingen 1878) und Mährlen, später Professor am Stuttgarter Polytechnikum.

Im J. 1822 bezog M. die Universität und das Stift Tübingen. Seine geistigen Anlagen drohten ihn von seiner Bestimmung eher ab- als ihr entgegenzuführen. Daß er aber dem Studium der Theologie treu blieb, dankt er, nach seinem eigenen Bekenntnisse, nächst der Beschränkung der äußeren Umstände der Leitung seines Stuttgarter Oheims und eines Studiengenossen Rudolf Flad, des allzufrüh (1830) verstorbenen Freundes. Er hörte Collegien bei den Professoren v. Bengel, Eschenmaier, Tafel, Steudel, Schmied und Haug. Vor Allem ergab er sich dem Zauber der griechischen Dichtung, aber nicht pathologisch wie sein unglücklicher Landsmann und Liebling Hölderlin. Von dem Studentenleben hielt er sich gänzlich fern; mit gleichgestimmten Freunden, dem poesievollen Ludwig Bauer, dem genialischen Wilhelm Waiblinger und „mit traurig schönen Geistern im Verkehr“ sonderte er sich immer mehr von der Außenwelt ab und die Gefahr lag nahe, sein Talent möchte in spielender Phantastik aufgehen. Man schuf eine eigene Mythologie, ein Fabelland, die Insel Orplid, die heilige, von den Göttern verlassene Stadt und bevölkerte sie mit den wunderbarsten Gestalten. Daraus sind die beiden Phantasmagorien von der Orplid’schen Märchenwelt hervorgegangen; die eine, „Der letzte König von Orplid“ von M. steht als Schattenspiel im „Maler Nolten“, die andere, „Der heimliche Maluff“, befindet sich in Ludwig Bauer’s Schriften. In einer geheimnißvollen Brunnenstube oder in dem am Tage künstlich verdunkelten Gartenhäuschen des Decans Pressel auf dem Oesterberge war der Schauplatz, wo M. und Bauer ihre Mysterien feierten und wo Homer, Shakespeare, Goethe und Calderon – M. besaß ein bedeutendes mimisches Talent und es geht die Sage, der nachmalige Herr Vicar habe einst bei einer in Noth gekommenen Schauspielertruppe aushilfsweise den Hofmarschall Kalb gespielt – gelesen wurden. Man muß die meisterliche Charakteristik der drei Stiftler in dem Aufsatz über Ludwig Bauer von D. Fr. Strauß nachlesen. Damals begann auch Mörike’s Freundschaft mit Strauß und Fr. Th. Vischer. Von den in Tübingen entstandenen Gedichten hat M. später etwa ein Dutzend [247] in die Sammlung aufgenommen. Sie gehören durchwegs zu seinen schönsten Producten. Auch ein Trauerspiel wurde vollendet, ging aber in Flammen auf, da der Dichter die Höhe seiner Idee nicht erreicht zu haben glaubte. Der enthusiastische Ludwig Bauer, welcher Tags darauf einige Reste las, versichert seiner Braut, daß diese Ueberbleibsel zu dem Herrlichsten gehörten, was die Poesie je erschaffen hätte.

Im Herbste 1826 verließ M. Tübingen und führte nun die nächsten acht Jahre das Leben des wandernden schwäbischen Vicars, zuerst in Oberboihingen bei Nürtingen, hernach zu Möhringen auf den Fildern und in Köngen, Nürtinger Decanats. Die angegriffene Gesundheit drängte zu dem Entschluß, auf einige Zeit dem kirchlichen Dienste zu entsagen. Ungefähr ein Jahr brachte M. theils bei Verwandten in Oberschwaben, theils in Stuttgart zu. Auch fand sich günstige Veranlassung zu einer kleinen Reise nach Baiern. 1829 kehrte er mit gestärktem Muthe zum Pfarramt zurück; er kam als Verweser nach Pflummern bei Riedlingen an der Donau, sodann nach Plattenhardt auf den Fildern, von dort nach Owen bei Kirchheim unter Teck. Im Spätjahr 1831 erhielt er die Amtsverweserei Eltingen bei Leonberg, hernach das Vicariat zu Ochsenwang bei Kirchheim an der schwäbischen Alb. Zwei Jahre lang blieb er hier; allein daß Klima war ihm auf die Dauer zu rauh und es wurden ihm rasch nacheinander Vicariate in Weilheim, in dem ihm schon bekannten Owen und in Oethlingen zugetheilt, bis er endlich 1834 vollkommenen Besitz von der Gemeinde Cleversulzbach bei Heilbronn nehmen sollte. Neun Jahre lang wohnte M. mit seiner Mutter und der ihm aufs innigste verbundenen Schwester Clara in eben dem Pfarrhause, wo einst die Mutter und Schwester Schiller’s gewaltet hatten. Mit Justinus Kerner wurde gute Nachbarschaft gehalten, ebenso mit Karl Mayer, Schwab, Uhland.

Wenn schon die frühesten Gedichte Mörike’s mit Staunen erfüllen, war sein erstes litterarisches Auftreten vollends ein unerhörtes, insofern als das Erstlingswerk ihn sogleich auf dem Gipfel seines dichterischen Vermögens zeigt. Der 28jährige Vicar zu Eltingen bei Leonberg trat 1832 mit seinem Roman „Maler Nolten“ an die Oeffentlichkeit. Er hatte ihn theilweise in den Gärten von Hohenheim geschrieben. Das merkwürdige Buch war bald vergriffen. Der Verfasser aber, welcher die inneren Mängel und die Fehler der Composition rasch erkannte, gab später unter keinen Umständen einen Wiederabdruck des alten Textes zu; er beschäftigte sich mit einer Umarbeitung, die sich vornehmlich auf den ersten Theil erstrecken sollte, fand aber erst im Alter die Stimmung wieder, sich dem Werke seiner Jugend nochmals hinzugeben. Berthold Auerbach erzählt in den Briefen an seinen Freund Jakob Auerbach II, 149 am 29. April 1873 von einem Besuch bei dem kränkelnden Dichter: „Mörike arbeitet sich vergebens daran ab, seinen Roman „Maler Nolten“ zu erneuen. Ich habe ihm schon vor mehreren Jahren gesagt, daß das unthunlich sei; eine Jugendstimmung und gar eine romantische muß man lassen wie sie ist und darf sie nicht aus einer späteren Stimmung corrigiren. Ich erzählte ihm damals: ich kannte in Prag eine Frau, bei der ein Maler wohnte, der lange seine Zimmermiethe nicht bezahlte. Eines Tages sagte sie ihm: „Sie können Ihre Schuld abverdienen, ich habe droben ein Bild meines Mannes hängen, machen Sie mir das Bild meines Sohnes daraus!“ Die Geschichte ging damals M. sehr ein. Er wollte doch von seinem Vorhaben nicht lassen.“ Und so ist es gekommen, daß der Dichter über seiner Arbeit gestorben ist und damit ist die gleichmäßige Vollendung eines Kleinodes unserer höheren Erzählungskunst versäumt worden.

Die erneute Gestalt, in welcher der „Maler Nolten“ 1877, zwei Jahre nach des Dichters Tod, in die Welt trat, gilt blos vom ersten Band; an den zweiten [248] sollte zwar nur die glättende Feile gelegt werden, aber da, wo sich die beiden Theile berühren, gähnt eine Lücke, welche die pietätvolle Hand Julius Klaiber’s leise zu überbrücken gesucht hat.

Sich von dem holden Zauber, der über dieser wunderbaren Dichtung liegt, einspinnen zu lassen, gewährt einen Reiz seltenster Art. Wir halten die Handlung (nach der Neugestaltung) mit einigen Strichen fest. Der Maler Theobald Nolten ist mit Agnes, der Tochter eines biederen Försters, verlobt, und – aus Italien zurückgekehrt – eben in den glänzenden Kreis einer deutschen Residenz getreten, wo seinem Talente die schönsten Hoffnungen aufgehen. Agnes, eine zarte sensitive Natur, hatte kurz zuvor eine sonderbare Begegnung mit einer jungen Zigeunerin, die ihr den Verlust des Bräutigams prophezeihte. Das bethörte Mädchen, welches sich stets mit dem Vorwurf quält, ihrem Verlobten nicht zu genügen, verliert darüber einen Augenblick das Gleichgewicht des Gemüthes und erweist einem Verwandten eine zarte Neigung, die den Schein verletzter Treue auf sie wirft. Auch Theobald war als Kind mit der geheimnißvollen Zigeunerin Elsbeth in den Ruinen eines Schlosses zusammengetroffen: die Halbirrsinnige war von dem jungen Schwärmer mit dem unseligen Gedanken geschieden, daß er ihr auf ewig angehöre, sie glaubte ihn durch einen Schwur unauflöslich an sich gebunden zu haben. Nolten hat die Zigeunerin seit jenem Tag nie wieder gesehen, aber das Erlebniß ließ eine tiefe Wirkung in ihm zurück. Der Eindruck, den Agnes von jenem Verwandten empfangen, war ein flüchtig vorübergehender gewesen, aber Nolten – durch fremde Einmischung davon unterrichtet – würdigt die entfernt wohnende Braut keines Wortes mehr, ohne daß die Aermste eine Ahnung davon hat. Nolten’s Freund nämlich, der Schauspieler Larkens, der von vorneherein den Stand der Sache nur wie die künstliche Verwickelung eines Intriguenstückes, dem ein glücklicher Ausgang nicht fehlen könne, betrachtet, ist auf der Stelle – in der treuen Absicht, den Freund glücklich zu machen, entschlossen, die Rolle des Vermittlers zu spielen. Mit der Kunst begabt, fremde Handschriften nachzuahmen, tritt er in die Lücke und nimmt den abgebrochenen Faden der zärtlichen Correspondenz mit Agnes geschickt auf, um dem Mädchen die gewohnte Herzensnahrung zu reichen. Der seltsame Briefwechsel zieht sich in die Länge. Vor dem Ende bangt freilich dem Schauspieler, welcher jeden Augenblick gefaßt sein muß, daß ein Zufall das Wagestück entdecken kann. Nolten verkehrt nun öfter im Hause des Grafen Zarlin und empfindet bald die Wirkung, die Constanze, des Grafen Schwester, eine junge Wittwe von hohem Geist und edler Anmuth, auf seine noch halbwunde Brust macht. Mit Besorgniß überwacht Larkens das aufkeimende Verhältniß zwischen Nolten und der schönen Gräfin Constanze. Die Aufführung eines harmlosen Schattenspiels – der letzte König von Orplid – durch den Maler und Schauspieler im gräflichen Hause bringt eine Wendung in die Dinge. In diesem Stück will der Klatsch Anzüglichkeiten auf den Hof gefunden haben, was den beiden Freunden eine verdrießliche Untersuchung, endlich sogar Verhaftung zuzieht, welche Larkens, der schon früher in eine unerhebliche politische Geschichte verwickelt gewesen, in gewisser Beziehung nicht unerwünscht vorkommt; er glaubt hiermit Nolten’s gräflichen Roman ausgespielt. Schon malt er sich aus, wie er mit dem Freund nach der bevorstehenden Freilassung zu Agnes pilgern wird. Er täuscht sich aber, denn die Gräfin Constanze hat kaum das Mißgeschick Nolten’s vernommen, so ist sie fester als je entschlossen dem Maler ihre Hand zu reichen. Mit Larkens’ Gefangennehmung waren unterdessen alle seine Papiere und unter diesen auch der Briefwechsel mit Agnes in unberufene Hand gefallen. Der Herzog Adolf, mit der Untersuchung betraut und längst auf den lebhaften Verkehr Nolten’s mit Constanze argwöhnisch, spielt dieser die Briefe Agnesens zu. Schmerzlich glaubt [249] die Gräfin an einen Treubruch Nolten’s und verreist plötzlich. Der Proceß wird zwar durch einen Cabinetsbefehl aufgehoben, die beiden Freunde frei gelassen, aber Nolten ist unter den Seelenqualen im Gefängniß erkrankt, nachdem er vergebens auf ein tröstliches Zeichen von Constanze gewartet hatte. Eine Sendung an die Gräfin war uneröffnet zurückgekommen. Diese aber hat nach der jähen Erschütterung, in welche sie jene Entdeckung anfänglich gestürzt, bereits das schöne Ebenmaß ihres Wesens zurückgewonnen. Jetzt, da dem Schauspieler Nolten’s Genesung weit genug vorgeschritten scheint, geht er endlich an die Lüftung des unseligen Geheimnisses: in aller Stille rüstet er zu einer längeren Reise, schreibt zum letzten Mal an Agnes, nimmt rasch Abschied vom Freund und verschwindet. Ein diesem zurückgelassenes Packet enthält die Briefe von Agnes und die Concepte derjenigen des Schauspielers „In der gewissen Ueberzeugung, – schreibt Larkens an Nolten – daß die Zeit kommen müsse, wo Dein heißestes Gebet sein werde, mit diesem Mädchen verbunden zu sein, ergriff ich ein gewagtes Mittel, Dir den Weg zu diesem Heiligthum offen zu halten. Vergib den Betrug! nur meine Hand war falsch, mein Herz auf keine Weise. Ich bin Dein guter Genius und indem ich von Dir scheide, sei Dir ein anderer, besserer empfohlen. Ich meine Agnes. Setze das Mädchen in seine alten Rechte wieder ein! Du hast Dich in Deinem Argwohn geirrt. Eile zu ihr, sie wird nichts Fremdes an Dir wittern. Es steht bei Dir, ob das gute Mädchen das Intermezzo erfahren soll oder nicht; bevor ein paar Jahre darüber hingingen, würde ich nicht dazu rathen. Dann aber wird euch sein, als hättet ihr einmal im Sommernachtstraum mitgespielt, und Puck, der täuschende Elfe, lacht noch ins Fäustchen über den wohlgelungenen Zauberspaß. Ich habe Grund zu glauben, daß die Gräfin meine Correspondenz in die Hand bekommen; die Mappe war mit unter den Gerichtspapieren. Was wirft Du thun? Der Rückweg zu Constanze steht Dir vielleicht noch offen. Du sollst freie Wahl haben. Kannst Du Dich bedenken? Denk’ an das schlichte Kind im Garten hinter des Vaters Haus! Neulich hat sie die Laube zurechtgeputzt. Jeden Tag, jede Stunde erwartet sie Dich – wirst Du kommen? Wag’ es, sie zu betrügen, den hellen Sommertag dieser schuldlosen Seele in dumpfe Nacht zu verkehren!“ Nolten ist wie betäubt. Der Gedanke, der edlen Constanze als ein Elender erscheinen zu müssen, ist ihm unerträglich; das schmerzlich süße Gefühl aber, seine treue Agnes so bald ihm nur beliebt sein Eigenthum nennen zu können, durchbebt ihn mit holdem Staunen. Er schreibt an die Gräfin mit schlichter Geradheit, schildert sein Verhältniß zu Agnes bis zu dem ungeheuren Irrsal, wozu die unheimliche Erscheinung Anlaß gegeben, berichtet den Eingriff des Schauspielers in sein Schicksal und erfleht endlich ein Zeichen ihrer Verzeihung, um im Schmerz des Scheidens doch die Reinheit einer heiligen Erinnerung ungetrübt mit sich nehmen zu können. Der herrliche Sinn Constanzens verleugnet sich keinen Augenblick; hochherzig entsagt sie dem Geliebten, aber ihr Glaube an ihn ist gerettet.

Hier namentlich stehen wir vor dem Punkt, wo die Umarbeitung so sehr zu Gunsten des ganzen Werkes eingegriffen hat. In der ursprünglichen Anlage des Romans hatte Larkens selbst die Briefe Agnesens der Gräfin in die Hände gespielt; wilder Haß erfüllt sie gegen den Verräther, sie veranlaßt die Gefangennehmung der beiden und verzehrt sich, als sie Licht über den Irrthum erhalten, in qualvoller Selbstverachtung. Larkens selbst wollte erst Hand an sein Leben legen, dann entfloh er. – Der Fortschritt in der zweiten Gestalt des Buches ist unverkennbar.

Erzählen wir zu Ende. Wir treffen den Maler auf der Reise, deren Ziel nicht ungewiß sein kann, es gilt dem Ort seiner wiedergefundenen Liebe. Man muß dieses Wiedersehen auf dem Kirchhof, wohin Agnes eben ein Stück Tuch [250] auf die Bleiche getragen hat, selbst nachlesen. Eine ähnliche Scene findet sich in unserer gesammten Litteratur nicht leicht wieder. Die Beiden verleben nun Tage ungetrübten Glücks. Nur manchmal befällt Nolten die Sorge um Larkens, dessen Spur völlig verloren gegangen ist. Nolten hat inzwischen eine glänzende Anstellung als Hofmaler im Dienste eines Fürsten erhalten; das Paar muß von der Heimath Abschied nehmen; Agnes aber, aufs neue von einer düsteren Ahnung befallen, die mit der Prophezeihung der Zigeunerin zusammenhängt, beharrt darauf, zunächst mit dem Bräutigam und dessen Schwester an Ort und Stelle zu reisen, wo dann die Trauung stattfinden soll. Das Verhängniß steht als dunkle Wolke über ihrem Haupte. Man langt eines Abends in einer Stadt an; dort findet Nolten in einer schlechten Wirthsstube unter Handwerkern den lange gesuchten Larkens, der, um ganz von der Welt zu verschwinden, sich in seiner selbstquälerischen Stimmung bei einem Tischler in die Arbeit gegeben hat. Der ehemalige Schauspieler, in dem unglückseligen Wahn befangen, der Maler sei gekommen, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, flieht, ohne Nolten gesprochen zu haben und nimmt Gift. Längst mit sich selbst zerfallen, hatte er die That langsam vorbereitet, daß plötzliche Erscheinen des Freundes hat die Ausführung beschleunigt. In seinem unsäglichen Schmerz findet Nolten eine theilnehmende Seele in der Person des edlen Präsidenten, welcher in dem Tischlergesellen den einst so gefeierten Schauspieler seit geraumer Zeit erkannt hatte. In dem Landhaus des Präsidenten machen die Reisenden auf einige Tage Rast und begraben den Todten. Zu unseliger Stunde aber verräth Nolten seiner Braut daß Geheimniß, welches sein Gemüth belastet, das Spiel mit den unterschobenen Briefen. Agnes erliegt dem Eindruck. In derselben Nacht stellt sich die Erscheinung wieder ein; Agnes wird halbtodt im Garten aufgefunden, neben ihr die wilde Elsbeth, die Zigeunerin, die ihr vermeintliches Recht an Nolten einzufordern gekommen ist. Ueber die Seele des armen Mädchens hat sich ein Schleier gelegt: die sonderbarste Personenverwechslung zwischen Nolten und Larkens ist in ihr vorgegangen, Nolten scheint ihr Larkens, ein Doppelgänger des Geliebten zu sein – sie ist wahnsinnig geworden. Der blinde Gärtnerssohn Henni, eine versöhnend milde Erscheinung mitten in der Katastrophe, bleibt ihr einziger Gespiele. Oft sieht man die zwei in der Hauskapelle vor der Orgel sitzen, die der Blinde spielt. Eine wundervolle Scene malt der Dichter gegen den Schluß des Romans, wie der Knabe gedankenvoll vor der offenen Tastatur sitzt; Agnes, leicht eingeschlafen auf dem Boden neben ihm, den Kopf an sein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem Schooße. Die Abendsonne bricht durch die bestäubten Fensterscheiben und übergießt die ruhende Gruppe mit goldenem Licht. Das große Crucifix an der Wand sieht mitleidsvoll auf sie herab. Noch einige qualvolle Tage vergehen, da wird die Leiche des Mädchens, daß sich in einen Brunnen gestürzt hat, ins Schloß getragen. Die Nacht vor dem Begräbniß erwacht Nolten über einer sonderbaren Musik, eilt hinaus und wird von den aufgeschreckten Schloßbewohnern todt gefunden. Ein heftiger Schrecken hatte die von Kummer und Verzweiflung erschöpfte Natur getödtet. Nicht weit von der Unglücksstätte an der Landstraße stieß man auch auf den entseelten Körper der Zigeunerin, die vor Entkräftung liegen geblieben war.

Der „Maler Nolten“ ist zur Hälfte ein psychologischer, zur Hälfte ein Schicksalsroman. M. steht halb in der Romantik, halb hat er sich zu Goethe’scher Idealität erhoben. Von einem mystisch-romantischen Hintergrund hebt sich leuchtend die klare naturgemäße Handlung ab. Aber Nolten’s fatalistische Wahlverwandtschaft mit der dämonischen Zigeunerin, die wie das Fatum auftritt und in Wirklichkeit eine nahe Blutesverwandte Nolten’s ist – diese Wahlverwandtschaft schafft im Verborgenen, ohne jene Annäherung der wahlverwandten Personen, [251] die in Goethe’s Roman so bewunderungswürdig dargestellt ist und darum ist – wie Vischer bemerkt – der Schluß des Ganzen unbefriedigend, endet mit einer schneidenden Dissonanz, wirkt, nach dem Ausdruck von Hermann Kurz, „weltgerichtlich“. Hier liegt der wunde Fleck des Werkes. Wir dürfen dabei nicht übersehen, daß M. an geheimnißvoll wirkende Kräfte in der menschlichen Natur, an Ahnungen, sogar mystische Erscheinungen glaubte.

Die Conception der Romans ist eine wundervolle. Die Hauptfiguren treten in vollendeter Plastik aus dem Rahmen heraus. Nolten selbst zeigt freilich am wenigsten Individualität, er ist sachgemäß mehr der passive Mittelpunkt der Handlung. Dafür ist der Schauspieler Larkens, die bedeutendste männliche Figur, scharf umrissen: Hypochonder, übersättigt vom Genuß des Lebens, auf der anderen Seite aber mit Gefühlsinnigkeit und einem genialen Humor ausgestattet, hat er dadurch, daß er die Vorsehung spielen wollte, seine tragische Schuld auf sich genommen. Ein psychologisches Meisterstück, voll unbewußter, unendlich rührender Poesie ist Agnes. Der Dichter zeigt hier und in der Schöpfung der Constanze seine Verwandtschaft mit Goethe, dem vorzüglichsten Darsteller des weiblichen Ideals, nicht minder auch in der epischen Ruhe des wahrhaft classischen Stils; da begegnet uns nirgends das Hastige unserer modernen Romanschriftsteller, nirgends eine bloße Effectscene, von Empfindsamkeit keine Rede. Wer den Dichter in Bildern sucht, hebe nur das eine heraus. Auf daß herzliche Gekicher der Mädchen wird ein Gleichniß angewendet. „Die Elfen – heißt es – pflegen sich bei Nacht mit allerlei lieblichen Dingen, unter Anderem auch mit einem Kegelspiel von purem Gold die Zeit zu verkürzen; wenn alle Neun fallen, nennen sie es ein goldenes Gelächter, weil der Klang dabei gar hell und lustig ist.“ M. weiß daß Tragische wie das Komische – man denke an die Figur des Barbiers Wispel – mit derselben Meisterschaft zu beherrschen. Für einen Achtundzwanzigjährigen, der dazu von der Welt noch nichts gesehen, war dieser „Maler Nolten“ ein beispielloses erstes Debut; aber die gewaltigen Schicksalsstoffe, an die sich der jugendliche Dichter hier gewagt, wollte er nicht wieder berühren; was er von jetzt an erzählt, ist zumeist ein heiteres Ereigniß, ein Schwank, ein Idyll, ein Märchen. Schön äußert sich Ludwig Bauer (Schriften S. LIV) am 10. November 1832 dem Freunde gegenüber: „Nolten ist, ohne Ruhm zu melden, ein Meisterstück, ausgezeichnet durch Wahrheit und psychologische Tiefe, während sich ein leiser bänglicher Hauch von Poesie auch über die klarsten Züge des Gemäldes verbreitet. Denn unheilverkündend ist der ganze Horizont, der Nolten’s Leben umfängt; selbst die Farbe der Gegenden, der Flug der Vögel ist wie vor Ausbruch eines Gewitters. Es ist nicht möglich, etwas zu hoffen und allmählich geht das düstere Vorgefühl in ein Grauen über, wie es nur die Mitternacht oder Shakespeare in mir wecken konnte, ein Grauen, das überhaupt nur dann in uns entsteht, wenn wir auf ächt künstlerliche oder rein menschliche Weise eben bis an den Saum eines Jenseits gehoben werden, ohne dabei das Diesseits zu verlieren. Und um so tiefer geht jener gespenstische Schauer, weil man sich mit ganzem Herzen in einen Knäuel fremder Geschicke hineingeflochten und sein Gemüth in den zartesten Saiten erschüttert fühlt. Um so wohlthuender wirkt aber auch die Ruhe, die der Erzähler zu erkennen gibt und der feine Tact, mit welchem alles motivirt wird, als wäre es mehr um ein historisches Interesse zu thun, und die gediegene Klarheit, zu welcher fast alle Gedanken durchgearbeitet sind. Ich habe es bisher für unmöglich gehalten, sich so ganz in einem Producte abzuprägen, wie Du dieses Werk zu einem Abbilde Deines Geistes gemacht hast“ etc. Ludwig Tieck bekannte, daß er seit dem „Maler Nolten“ nun wieder an die Triebkraft der deutschen Poesie glaube.

[252] Mit Wilhelm Zimmermann veröffentlichte M. 1836 das „Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten“. Darin befinden sich zwei der schönsten Lieder Mörike’s, das „Bacchusfest“ (später zur „Herbstfeier“ umgestaltet), „Erstes Liebeslied eines Mädchens“ und die Märchennovelle „Der Schatz“. Hier läßt der Dichter seinem phantastischen Humor freien Lauf in einer bunten, fast übermüthigen Verflechtung rein wirklicher Erzählung mit abenteuerlich Märchenhaftem. – Hermann Kurz in seiner Erstlingsnovelle „Das Wirthshaus gegenüber“ (1836, Gesammelte Werke, Bd. VIII) pries das Ganze als einen Schatz der Poesie: „Diese Fee Briskarlatina, die Frau Lichtlein mit ihren Fieberäpfeln, die räthselhafte Edelfrau, der Wegweiser, der die hölzernen Hände zusammenklatscht, der kleine Feldmesser, der Europa auf der Homann’schen Landkarte bereist, das Waidefegerfest, das unbefangene liebliche Mädchen Josephe – das sind köstliche Gaben, welche die Poesie nur ihren Sonntagskindern schenkt.“

In den Mai 1837 fällt Mörike’s persönliche Bekanntschaft mit dem ihm in vielen Stücken so nahe verwandten Hermann Kurz. Der kürzlich publicirte Briefwechsel der beiden Dichter bildet das theure Vermächtniß ihrer Freundschaft. Anlaß dazu bot dem jüngeren Kurz Mörike’s unvollendeter Operntext „Die Regenbrüder“, der von Ignaz Lachner damals in Musik gesetzt wurde. Zur Ausführung der letzten Scenen aber mangelte dem Dichter die Stimmung; M. litt noch an den Nachwehen einer langwierigen Krankheit. Auf Ludwig Bauer’s Vermittlung hin hatte sich der in Stuttgart als Schriftsteller weilende Hermann Kurz bereit finden lassen, die fehlenden Scenen zu ergänzen und von nun an entspinnt sich eine reiche, für das Schaffen der beiden Dichter äußerst wichtige Correspondenz, die zwar hier und da, namentlich in dem bewegten Jahre 1848, einen Unterbruch erlitt. Allein trotz Mörike’s Abneigung gegen alles, was an politische Debatte blos streifte und trotz der eifrigen Theilnahme, mit welcher sich Kurz als Redacteur des „Beobachter“ geraume Zeit hindurch ganz dem Betrieb radicaler Tendenzen widmete, wurden die abgebrochenen freundschaftlichen Fäden immer wieder aufgenommen bis zum Tode von H. Kurz. Den einen Wilhelm Hartlaub ausgenommen, dessen Briefwechsel mit M. sich der Oeffentlichkeit nicht wird entziehen können, hat sich der Dichter keinem anderen seiner späteren Freunde so herzlich gegeben, wie zeitweilig Hermann Kurz. Ihm erzählt er auch, wie er im Sommer 1837 das halbvergessene Grab von Schiller’s Mutter († 29. April 1802) auf dem Cleversulzbacher Friedhofe mit einem steinernen Kreuze und einer Inschrift geschmückt hat. „Jetzt – schreibt er am 30. Juni – etwas zum Beweis, wie ordentlich zuweilen doch die Heiligenpflege sich mit der Poesie verbindet. Wie Sie wissen, liegt Schiller’s Mutter auf hiesigem Kirchhof begraben. Als ich hierher kam, fand ich die Stätte durch nichts als einen mittelmäßigen Fruchtbaum bezeichnet. (Im Orte selber wußten nur zwei alte Leute Etwas von der „Frau Majorin“ zu sagen, dies war im Löwenwirthshaus, das mit den Pfarrfamilien jederzeit, besonders auch mit dem Pfarrer Frank, dem Schwiegersohn von Schiller’s Mutter, in gutem Vernehmen gestanden. Der Wirth war zugleich Bäcker und die Majorin, eine heitere, zutrauliche Frau, sagte manchmal, sie sei in Bäckerhäusern immer gerne, weil sie in einem solchen auferzogen worden.) Ich ließ vor der Hand einen regelrechten Hügel und fest, von guter Gartenerde, aufwerfen, mit Rasen umkleiden und oben mit einigen Blumen bepflanzen. Indessen verdroß es mich immer, nicht irgendwie eine dauerhafte Inschrift anbringen zu können. Denn wie leicht könnte nach der unglaublichen Gleichgültigkeit, womit man die Sache bisher ignorirte, die Stelle ganz in Vergessenheit kommen! Nun geh’ ich neulich in der Morgensonne auf den Platz und sehe ein etwa vier Schuh’ hohes, sehr starkes steinernes Kreuz in einem Winkel lehnen, welches inzwischen bis über die Arme in die Erde gesunken und [253] soeben ausgegraben worden war, weil es dort hinderte. Soweit ich die Inschrift entziffern konnte, war es über 100 Jahre alt und wahrscheinlich für die Frau eines Geistlichen errichtet. Es hatte seine ursprüngliche Bestimmung verloren und ich beging somit keinen Raub, wenn ich ihm eine neue anwies. Nachdem ich Anzeige von meinem unschuldigen Vorhaben gemacht, welches auch keinen Widerspruch erfuhr, ließ ich den altfränkischen Schild mit der Inschrift, sowie er über und unter den Achseln des Kreuzes herumging, sorgfältig weghauen, daß nur ein schlichtes, wohlgeformtes Kreuz von ziemlicher Höhe dastand, das ich sofort in meinem Garten in eine Laube bringen ließ, um ihm die zwei Worte: „Schiller’s Mutter“, womit es versehen werden sollte, noch eigenhändig einzugraben. Ich habe hierin einige Uebung und sind die Lettern, tief und scharf, Fractur, auch so glücklich gerathen, daß jeder Steinmetz mit Vergnügen sich zu dieser Arbeit bekennen würde. Am Feiertag Johannis, den 24. Juni, nach der Morgenkirche wurde der Stein unter meinen Augen vom Maurer auf den Hügel gepflanzt, wo er sich nun sehr stattlich und sauber im Schatten des Baumes ausnimmt, der seinerseits auch viel dadurch gewinnt. Daß mir kein Mensch einen Großdank dafür gibt, thut ihm nichts und macht mir die Sache nur um so eigner und lieber“. (Vgl. auch Gedichte S. 102.)

Es hat sich aufs schönste gefügt, daß die Mutter Mörike’s nach vier Jahren neben diejenige Schiller’s zu ruhen kam. Bekanntlich ist den beiden Dichtermüttern am 9. Mai dieses Jahres (1885) ein gemeinsamer Denkstein gesetzt worden.

1838 erschienen die Gedichte Eduard Mörikes. Dieselben bezeichnen den Mittel- und Höhepunkt seines gesammten Schaffens. Das bescheidene Bändchen, großentheils Erzeugnisse der Studenten- und Vicariatsperiode enthaltend (neu aufgelegt 1845, 1856, 1867 und 1878), ist in der letzten Ausgabe fast um das Doppelte angewachsen, wobei nirgends ein Nachlassen der poetischen Kraft spürbar wird. Es ist oft ausgesprochen worden, daß M. als Lyriker Goethe am nächsten kommt. In Hinsicht auf Wahrheit und Innigkeit des Gefühls, unmittelbaren Ausdruck des Gedankens, Grazie und Zierlichkeit der Form gewiß; in einem Punkt überbietet er den großen Meister: der schalkhafte Humor klingt in Goethe’s Liedern nicht so voll und so anmuthig an, wie bei dem schwäbischen Dichter. M. hatte ein feines Ohr für alles, was Wohllaut heißt. Dadurch erzielte er die gesättigte sprachliche Musik seiner Lieder. Daß er ein unvergleichliches Verständniß für Musik selbst besaß, zeigt die herrliche Mozart-Novelle. Jahn’s „Mozart“, Chrysander’s „Händel“ gehörten zu seinen Lieblingsbüchern. Der „Erlkönig“ von Schubert erschien ihm bei großen Schönheiten als ein zu „grelles und den Charakter des Gedichtes gewissermaßen aufhebendes Prachtirstück“. Mit Vorliebe verkehrte er mit musikalisch angelegten Naturen, so mit Hartlaub, Ludwig Bauer, sodann mit Hetsch und Friedrich Kauffmann, den vorzüglichen Componisten seiner Lieder. Von Tonsetzern, die nach Mörike’schen Gedichten griffen, sind außerdem zu nennen: Brahms, Schumann, Robert Franz, Pauline Viardot-Garcia, O. Scherzer, R. v. Hornstein, Hans Huber u. s. f.

M. wandelt anfänglich die Bahn der rein liedartigen Lyrik, später wendet er sich mit Vorliebe dem Gelegenheitsgedicht, dem heitern Stimmungsbilde zu. Mehr und mehr macht sich der Einfluß der Antike geltend. Für die idyllische Poesie zeigt er eine Begabung sonder Gleichen. Seine Welt ist die des Innern, sein Element Liebreiz und Schönheit. Hier glänzende Lichter, dort ahnungsvoller Dämmerschein. Deutsche Innigkeit hat er mit der heitern Form der Griechen verschmolzen. Der competenteste Beurtheiler von Mörike’s Eigenart, Fr. Th. Vischer, faßt seine Ansicht über den Lyriker M. in die Worte zusammen: „von der schwäbischen Gruppe der romantischen Schule hat er das Naive, von [254] der norddeutschen das traumhaft Phantastische, von der classischen Verzweigung unserer letzten poetischen Blüthe das rein menschliche, griechisch schöne Gefühl Hölderlins, von Goethe die plastisch edle Seelenmalerei in der Schilderung tiefer Empfindungskämpfe“. Den schlicht naiven Ton des Volkesliedes schlug nur Goethe an, wie er. Lieder wie „Agnes“, „Das verlassene Mägdlein“, „Ein Stündlein wohl vor Tag“, „Schön Rohtraut“, „Zwei Liebchen“, „Soldatenbraut“, „Die schlimme Greth“, „Der Gärtner“, „Jung Volker“, „Suschens Vogel“ u. s. w. sind tief aus dem klarsten Born der Volksseele geschöpft. Goethe’sch gedacht sind „Das Jägerlied“, „Er ists, „Um Mitternacht“, „In der Frühe“, „An eine Aeolsharfe“, mit der hinreißenden musikalischen Malerei (nun von Brahms componirt). Welch ein Behagen zieht sich durch die Idyllenpoesie unsers Dichters! Welche milde Heiterkeit liegt über dem wunderlieblichen „Thurmhahn“ (ursprünglich in einer württembergischen Kirchenzeitung erschienen) ausgebreitet, oder über den Stücken – man braucht sie nur zu nennen – „Besuch in der Karthause“, „Waldidylle“, „Ländliche Kurzweil“, „Hermippus“. „Ach, nur einmal noch im Leben“, wahren Wunderwerken der Poesie! Beinahe unerreicht steht M. da, wo es sich um Darstellung des Komisch-Schalkhaften handelt. Sein Humor ist blos ein lächelnder, nie verletzender. Die Leser Mörike’s werden gleich an den „Sichern Mann“ denken, jenes biedere Ungethüm mit dem gräulichen Borstenhaupt und den unendlichen Stiefeln. Suckelborst’s Thun ist lauter Nichts und voll thörichter Grillen; ab und zu tritt er einen Meilenzeiger um, oder zur Winterszeit streckt er sich nach seiner ganzen Länge ins beschneite Blachfeld und ergötzt sich, wenn er aufgestanden, an seinem Conterfei mit bergerschütterndem Lachen. Da besucht ihn einst, wie er eben in seiner Höhle den Fraß verdaut, Lolegrin, der Spaßmacher der seligen Götter und entbietet ihm mit schelmischem Ernst, indem er sich auf dem Stiefelabsatz des Ruhenden niederläßt – Moritz von Schwind hat die köstliche Scene im Bild festgehalten – den Gruß der Himmlischen, welche den Sichern zum Lehrer der Menschheit bestimmt hätten. Denn damals, als Suckelborst noch ungeboren im Schoß der steinernen Kröte geschlafen, hätten die Götter ihn mit hohen Gesichten gesegnet und ihm gezeigt, wie Alles in der Schöpfung geworden und noch werden solle. Dieses den schweigsamen Helden und Weisen der Unterwelt zu verkünden, sei der hehre Beruf des sichern Mannes; aber umsonst hätten die Unsterblichen bis jetzt seiner geharrt. Der Sichere steht wie vom Donner gerührt, endlich hebt er halblaut zu brummen, dann gottlos zu fluchen an. Aber er glaubt den Himmlischen nicht trotzen zu sollen und geht schwitzend an sein Werk. Erst muß er ein Buch haben, die wundersamen Gedanken, welche aus den rußigen Kammern seines Gehirns zum Vorschein kommen, aufzuschreiben. In der Mondnacht steigt er nach dem nächsten Dorfe hinunter, hebt ein Dutzend Scheunenthore aus den Angeln und bindet sie mit Stricken zusammen. Als elegante Einbanddecke dienen die stattlichen rothbemalten Thorflügel aus der Scheune des Schulzen. Nun kommt der Geist über ihn, er legt sich vor das offene Buch nieder und holt mit mächtiger Kohle aus zu Strichen, grad wie krumm und in unnachsagbaren Sprachen. Endlich erfolgt das Punctum, reichlich groß wie ein Kindskopf; dann erhebt er sich und stärkt sich mit bedeutender Mahlzeit. Er reist auf einsamen Pfaden nach der Unterwelt, winkt den erst tödtlich erschrockenen Schatten heran, lehnt sein mächtiges Manuscript gegen einen Hügel, räuspert sich unter prasselndem Echo und beginnt alsdann seinen erhabenen Vortrag über Entstehung der Welten. Aber Satan, das schwarze gehörnte Scheusal, hat sich hinter den unverdrossenen Sprecher geschlichen, schneidet Gesichter, schlägt Purzelbäume und reizt das Publicum zu beständigem Lachen; jener, in würdiger Ruhe verharrend, stellt sich, als ob er nichts bemerkte und docirt weiter. [255] Endlich, als es der Teufel gar zu bunt treibt und seinen Schweif dem Redner in die Tasche schiebt, als ob ihn fröre, da greift der Sichere ruht rückwärts und reißt dem Bösen den Schwanz bis zur Wurzel aus und, indem er den ehrfurchtsvollen Seelen sinnend das Object vorhält, verkündet er prophetisch: dreimal werde der sichere Mann dem Teufel den Schwanz ausraufen, neu zwar sprosse selbiger hervor, gerathe aber immer kürzer, bis endlich dem Bösen Muth und Stärke vergehen und er von Allen verachtet werde; dann komme ein großer Festtag für Erde und Hölle. So spricht Suckelborst, legt den Schweif als Zeichen in das Buch, schmettert den Deckel zu und zieht ab unter unermeßlichem Beifallklatschen und freudigem Aufruhr. Lolegrin aber, der das ganze Spectakel heimlich mit angesehn, in Gestalt der Cicade sich auf dem Zweig einer schwarzen Weide wiegend, schwang sich empor zu den Göttern, „ihnen treulich zu melden die Thaten des sicheren Mannes und das himmlische Mahl mit süßem Gelächter zu würzen.“ – Hieher gehört ferner der nicht genug zu preisende graciöse Schnack „Waldplage“, ferner „An meinen Vetter“ (unter der „Sommerweste“ steckt ein geliebter Bruder), „An Longus“ (abermals auf einen Bruder gehend), „Häusliche Scene“, „An Philomele“, „Abschied“ etc. – Des Dichters Neigung geht nicht blos dahin, daß Unbedeutende zu beseelen; es finden sich in der Sammlung auch die besten Erzeugnisse hohen Stils. Man erinnere sich an Gedichte wie: „An einem Wintermorgen“, „Besuch in Urach“, „Mein Fluß“, „Gesang zu Zweien in der Nacht“, „Cantate bei Enthüllung der Statue Schiller’s, „Erinna an Sappho“ u. s. w. Selten ist bei einem Dichter das gediegene Gold so mit Händen zu greifen, wie bei M. Seine wenigen Balladen besingen keine gegebenen Stoffe, alles ist Spiel der Phantasie, welche am liebsten die Gebiete des Mythischen, Märchenhaften streift. So „Die traurige Krönung“, „Die Schiffer- und Nixenmärchen“, „Die Geister am Mummelsee“, der seltsame „Feuerreiter“ etc. – Für das Derbe, das Unedle hat diese weiche, keusche Dichterseele keinen Raum. Von der beliebten Zerrissenheit oder der Selbstbespiegelung keine Ahnung. Tendenz, vollends politische wird Niemand bei M. suchen. Sage man aber deshalb nur nicht, er sei kein Patriot gewesen! Die Geschicke seiner engern Heimath, diejenigen Deutschlands drangen ihm eben so sehr zu Herzen als jedem andern guten Vaterlandsfreunde. Die beste Antwort auf derartige Einwürfe improvisirte er im großen Jahre 1870: „Beschämt hat mein Gedicht geschwiegen Bei deinen Thaten, deinen Siegen, Und andre, die darob mich schalten, Hätten besser auch den Mund gehalten“. – Mörike’s Poesie erhebt sich auch in das religiöse Gebiet: so die innig zarte Legende von „St. Michael’s Feder“, sein herrliches Charfreitagslied: „O Woche, Zeugin heiliger Beschwerde“, oder jenes rührende: „Wo find’ ich Trost?“, daß Agnes im „Maler Nolten“ singt. Seine Bildersprache, in der er edles Maß gehalten, ist von ausgewählter Schönheit: die holde Nacht geht mit leisem Tritte auf schwarzem Sammet, wie ein Gewebe zuckt manchmal die Luft, dazwischen hört man Töne von seligen Feeen, die im blauen Saal zum Sphärenklang silberne Spindeln hin und wieder drehen; die heilige Nacht, gebückt auf ihre Harfe, stößt träumend mit dem Finger an die Saiten; die Purpurlippe des Tages, die geschlossen lag, haucht halbgeöffnet süße Athemzüge; des Morgens früh glänzet ein Hahnenschrei empor; aus dem Gebüsch trieft Nachtigallschlag wie Honig durch das Gezweig und sprüht wie Feuer zackige Töne; sein Herz webt in golden grüner Zweige Dämmerung die Erinnerung alter unnennbarer Tage; die donnernden Massen des Rheinfalls sind ihm Rosse der Götter, die, eines über dem Rücken des andern, herunterstürmen und silberne Mähnen umherstreuen; an der rosigen Pforte des Paradieses lehnt Wache haltend, hellgelockt, ein Engel, hingesenkt ein träumend Ohr den ew’gen Melodien, die im Innern sind u. s. w. – Unveröffentlicht sind eine Menge reizender Gelegenheits- und Hausverslein, versiculi familiares, [256] wie er sie nannte. Eine schöne ungedruckte Strophe mag diesen kurzen Lebensabriß schmücken: „Des Herrlichen, womit die volle Welt Uns überdrängt, sich mächtig zu erwehren, Und Lust und Leid, worin er sich gefällt, In tausend Herzen bleibend zu verklären, Erglüht der Sänger schwärmend im Gedicht Meist ohne Dank, zum mindsten fühlt ers nicht“.

1839 veröffentlichte M. eine Sammlung erzählender und dramatischer Dichtungen als „Iris“, Altes und Neues bringend, so den „Schatz“, „Die Regenbrüder“, „Der letzte König von Orplid“, „Lucie Gelmeroth“ (schon 1834 in der „Urania“ mitgetheilt), und „Der Bauer und sein Sohn“. Lucie Gelmeroth ist eine psychologisch fein angelegte Novelle und das Märchen „Der Bauer und sein Sohn“ gehört zu den besten seiner Gattung. (Die drei Erzählungen aus der „Iris“ wurden 1856, um das Märchen „Die Hand der Jezerte“ vermehrt, als „Vier Erzählungen“ wieder abgedruckt). 1840 erschien das erste und einzige Bändchen „Classische Blumenlese. Eine Auswahl von Hymnen, Oden, Liedern, Elegien, Idyllen, Gnomen und Epigrammen“. M. bediente sich bei dieser Anthologie zumeist der bereits vorhandenen alten guten Uebertragungen, manches wurde in einander verarbeitet, ergänzt und neu übersetzt. Aus eben dieser Beschäftigung mit den Alten ist 1855 eine gemeinschaftlich mit Friedrich Notter unternommene Uebersetzung der Idyllen des Theokrit, Vion und Moschos, und 1864 eine Revision und Ergänzung von Degen’s Uebersetzung des Anakreon hervorgegangen. 1844 besorgte M. die Herausgabe der Gedichte seines längst gestrandeten Jugendfreundes Waiblinger.

1843 legte M. seine Cleversulzbacher Stelle ganz nieder. Das geistliche Amt entsprach seiner innersten Neigung nicht, obwohl sein Gemüth auf tiefreligiösem Grunde ruhte. Seit langem hatte er sich in Folge wiederholt auftretenden Kränkelns genöthigt gesehen, sich durch einen Vicar vertreten zu lassen. Was er hier in dem trauten Cleversulzbach und wohl auch noch später allzu sehr liebte, war die Hingabe an die Beschaulichkeit, an einen poetischen Quietismus, welcher auch seine Production quantitativ beeinträchtigte. Qualitativ hat M. genug geschrieben, was unvergänglich fort bestehen wird. Das nächste Halbjahr verbrachte er mit der treuen Schwester bei dem Freunde Hartlaub in Wermuthshausen, siedelte dann nach Schwäbisch-Hall und 1845 nach Mergentheim über, wo er früher schon das Bad gebraucht hatte. Um diese Zeit (1846) kam er auch wieder einmal einige Schritte über sein Schwabenland hinaus; während eines Sommeraufenthaltes lernte er den Bregenzer Wald und die nächstgelegenen Schweizerkantone kennen. Damals entstand seine „Idylle vom Bodensee, oder Fischer Martin und die Glockendiebe. In sieben Gesängen“ (1846). Namentlich auf Jakob Grimms Veranlassung wurde ihm für die anmuthige Dichtung der Tiedgepreis zugesprochen. Dieselbe leidet freilich abermals an einem Compositionsgebrechen, welches die Einheit der Handlung stört. Es werden nämlich zwei verschiedene Erzählungen in einander geschoben. Am Gestade des Sees steht eine uralte, verfallene Capelle. Der lustige Fischer Martin erzählt einst dem Schneider Wendel, welcher in der Nähe mit Heumachen beschäftigt ist, die Sage von der wunderbaren Glocke, die – was kein Mensch ahnt – noch droben im Gebälk des schlanken Thürmchens hange. Wendel läßt sich bethören und macht sich nächtlicher Weile daran, dieselbe zu stehlen, findet aber statt ihrer im Glockenstuhle einen ungeheuren dreispitzigen Hut, den Auswurf seines Geschlechtes, am Stricklein baumeln. Unterdessen ist der muthwillige Fischer, von welchem der Filz hinaufgeschafft worden, dem Glockendiebe nachgeschlichen und spielt dem Ertappten auf der Clarinette die alte Weise vor: „Was gleichet uns Schneidern an Witzen und Listen“. Mitten in diesen harmlosen Schwank greift nun ein zweiter, gleich umfangreicher, nicht blos episodisch behandelter ein; es ist eine [257] Jugenderinnerung des Fischers Martin, welcher einst, um einen Freund zu rächen, dem die Braut untreu geworden, der anderweitig Vermählten in der Hochzeitsnacht den Wagen mit der Aussteuer auf eine einsame Waldwiese hatte führen lassen; dort war von den losen Gesellen der Hausrath Stück um Stück ausgeladen, aufgestellt oder an Bäume gehängt und ein toller Brautschmaus veranstaltet worden. Im Uebrigen sprüht daß Gedicht von liebenswürdiger Schalkhaftigkeit. Alles athmet frische Seeluft und das Landschaftsbild ist bezaubernd wie ein „herbstkräftiger“ Septembermorgen am schwäbischen Meere.

1851 erhielt M. einen Ruf an das Katharinenstift in Stuttgart, um dort als „Pfleger weiblicher Jugend“ wöchentlich eine Stunde über deutsche Litteratur zu lesen. Zugleich ging der Siebenundvierzigjährige mit der Mergentheimer Freundin Margaretha Speeth[1] seine Ehe ein, aus welcher zwei Töchter entsprossen sind. Auf das Lehramt verzichtete er zum großen Schmerze seiner Mädchen 1866 in Folge eines Halsleidens.

Weihnacht 1852 brachte sein Märchen „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“, ein mit Poesie und goldenem Humor durchtränktes Gebilde von unvergleichlicher Anmuth, aufgebaut auf den Grund schwäbischer Traditionen und örtlicher Bräuche. Auf der einen Seite die Geschichte von dem drolligen Pechschwitzer, genannt Tröster, mit seinen zwei Paar Glücksschuhen und dem Hutzelbrot, Dinge, welche an den beiden Liebesleuten, dem Schustersepp und der Vrone Kiderlen erprobt werden; auf der andern die aus eitel Duft und Poesie gewobene Gestalt der schönen Lau, welche, im Blautopf, einem sehr herrlichen Quell hinter dem Kloster Blaubeuren weilend, fünf Mal von Herzen lachen sollte, um die Gunst ihres grämlichen Gemahls, eines Donaunixes, wieder zu gewinnen, was ihr auch schließlich mit Hilfe der wackern Bewohner des Nonnenhofes gelingt – all’ das ist zu einem einheitlich gestalteten Sagenbild von wunderbarer Schönheit verschmolzen, auf das der milde Humor des Dichters sich am vollsten ergossen hat. Die köstliche schwäbische Sprachfärbung verleiht dem „Hutzelmännlein“ die Naturfrische der Dialectdichtung.

Das Jahr 1856 förderte jenes Juwel deutscher Erzählungskunst „Mozart auf der Reise nach Prag“ zu Tage. Die Handlung oder besser die Situation ist die einfachste. Ein kurzer Glückstag aus dem Leben des unsterblichen Meisters, welchem, als er auf der Fahrt nach Prag zur ersten Aufführung des „Don Juan“ begriffen ist, ein anmuthiges Reiseabenteuer zustößt, das – Alles ist freie Erfindung des Dichters – nach kurzer Verwickelung die schönste Lösung findet; der liebenswürdige Maestro verdirbt – mit Hermann Kurz zu reden – in kindlicher Unbewußtheit einer edlen Familie eine Ueberraschung, um derselben eine doppelt freudige zu bereiten. Auf den hellen Lebenstag wirft die Ahnung eines frühen Todes am Schlusse ihren schwermüthigen Schatten. Theodor Storm hörte bei seinem Besuch in Stuttgart im August 1855 den Dichter sein eben fertig gewordenes Werk selbst vorlesen. Er erzählt auch, wie ihn damals M. an die Wiege des schlafenden Töchterleins führte und, auf zwei Rothkehlchen deutend, die im Bauer vor dem Fenster standen, meinte: „Richtige Gold- und Silberfäde ziehe sie heraus; sie singe so leise, sie wolle das Kind nit wecke“.

Nach der letztgenannten Novelle sind außer einigen Gedichten keine Erzeugnisse mehr von Mörike’s Muse an die Oeffentlichkeit getreten.

Die letzten Jahre seines Lebens brachte der Dichter theils in Stuttgart und Nürtingen zu, theils in ländlicher Abgeschiedenheit zu Lorch und Bebenhausen. Der traute Familien- und Freundeskreis war die Quelle seiner reinsten Freuden. Am liebsten vertiefte er sich in Kunstgegenstände und suchte selber die zierlichsten Werke dieser Art hervorzubringen, oder er lebte in stillem Verkehr [258] mit den auserwähltesten Geistern der Menschheit und spann seine Träume. Er war sinniger Handschriftensammler: von Goethe besaß er die kindlichen Schülerarbeiten, welche Hermann Kurz im „Morgenblatt“ veröffentlicht hat, von Schiller u. a. ein Blatt Studien zum „Wilhelm Tell“, daneben Manches von Hölderlin und anderen. Immer wahrhaft, einfach, ungesucht, bescheiden, von lauterster Güte, liebenswürdig, geistvoll, besaß M. die wunderbare Gabe, alles mit dem Glanz der Poesie zu verkären. Er bezauberte damit jeden, der in seine Nähe trat. Sein Humor, seine Laune ruhte unverrückt auf diesem Grunde. Wie alle Schwaben war er ein unerschöpflicher Anecdotenmann.

An äußern Auszeichnungen und Ehren fehlte es ihm nicht. Die Universität Tübingen verlieh ihm 1852 den Doctorgrad „für seine vorzüglichen Verdienste um die schwäbische Dichtkunst“; er war Inhaber des bairischen Maximilianordens, der nach seinem Tode auf Niemand Würdigeren als auf Gottfried Keller übergehen konnte; Heyse widmete ihm seine „Braut von Cypern“, Moritz von Schwind und Eugen Neureuther erfreuten ihn mit ihren genialen Illustrationen.

Von treuer Fürsorge bis zum letzten Augenblick umgeben, ist M. am 4. Juni 1875 in Stuttgart gestorben. Fr. Vischer rief dem theuren Manne zwei Tage nachher über der offenen Gruft sein schönes Lebewohl nach. Wilhelm Rösch hat die freundlich milden Züge des verklärten Sängers in der schönen Büste unübertrefflich wiedergegeben.

Eduard Mörike’s gesammelte Schriften, Stuttgart, G. J. Göschen’sche Verlagshandlung 1878; Friedrich Theodor Vischer in den kritischen Gängen, Bd. II, 216 ff., die Grabrede desselben bei Fr. Notter, Eduard Mörike. Ein Beitrag zu seiner Charakteristik als Mensch und Dichter, 1875; Vischer’s Rede bei der Einweihung des Mörike-Denkmals in der Schwäbischen Kronik vom 6. Juni 1880, Nr. 133; beide Reden wiederholt in Altes und Neues I, 175; David Fr. Strauß in dem Aufsatz über Ludwig Bauer, (1847) in den kleinen Schriften; die Briefe in Ludwig Bauer’s Schriften, 1847; Gustav Schwab’s kleine prosaische Schriften, 1882, S. 213–36; B. Gugler in Chrysanders allg. musikalischer Zeitung, 1875, Nr. 43–44; Blaze in der Revue des deux mondes, 1845; Heyse in der Einleitung zu den gesammelten Werken von Hermann Kurz; J. E. Günthert in Birlinger’s Alemannia, III, S. 193 bis 205; K. Mayer, Ludwig Uhland, seine Freunde und Zeitgenossen, II, S. 173 ff.; Emil Kuh, Eduard Mörike. Ein Gedenkblatt, 1875 (Separatabdruck aus Nr. 134 und 135 der Wiener Abendpost); Th. Storm, meine Erinnerungen an Eduard Mörike, (1876), in den gef. Schriften, XIV, 141 bis 173; Theobald Ziegler in den Studien u. Studienköpfen, 1877, S. 271 bis 304; Fresenius in den Grenzboten, 1879; W. Lang im Neuen Reich, 1875, Nr. 26.; Julius Klaiber, Eduard Mörike, Zwei Vorträge über ihn, 1876 und in der Einleitung zu den gesammelten Schriften; Dr. Hermann Fischer, Eduard Mörike. Ein Lebensbild des Dichters, 1881; derselbe, Jugendbriefe Eduard Mörike’s an Wilhelm Waiblinger in der Neuen Zürcher Zeitung, 1883, Nr. 132, 134, 136; Baechtold in der deutschen Rundschau, XI, S. 269–84, 1884 (darin die autobiographische Skizze); derselbe, Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike, 1885; Pressel, das Pfarrhaus in Cleversulzbach, 1885.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 257. Z. 12 v. o. l.: von Speth. [Bd. 26, S. 831]