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Artikel „Keller, Gottfried“ von Albert Geßler in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 486–505, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Keller,_Gottfried&oldid=- (Version vom 8. Oktober 2024, 19:28 Uhr UTC)
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Keller *): Gottfried K., schweizerischer Dichter, von Glattfelden (Kanton Zürich), geboren in Zürich am 19. Juli 1819 (im Hause „zum goldenen Winkel“, jetzt Neumarkt Nr. 27), war das zweite Kind des aus Glattfelden stammenden Drechslers Hans Rud. Keller (1791–1824) und dessen Gattin Elisabeth Scheuchzer (1787–1864). Der Vater war nicht nur ein geschickter Handwerker, sondern ein eifriger, für den politischen Fortschritt des Schweizerlandes und für das Wohl seiner Mitbürger ernstlich besorgter Mann, nicht ohne poetische Anlagen. Die Mutter, eine schlichtere Natur, war trotz ihrem nüchtern praktischen Sinne ebenfalls nicht ohne Gefühl für Poesie. Im Sommers 1817 waren die jungen Eheleute nach Zürich gezogen; Geschäft und Haushalt begannen zu blühen. Da starb (1824) der Vater, und die Wittwe stand mit dem fünfjährigen Gottfried und der 1822 geborenen Regula allein in der Dürftigkeit, aus der sie sich mit ihrem Manne eben herausgearbeitet hatte. K. hat seinen Vater nie vergessen. Ganz eng aber schloß er sich nun an die Mutter an; Mutter und Sohn sind auch später ein innig gepflegtes Lieblingssthema des Dichters gewesen. Die Jugend Keller’s ist aus dem „Grünen Heinrich“ bekannt: es sei in diesem Roman, sagt er in dem Aufsatz „Autobiographisches“ („Nachgelassene Schriften und Dichtungen“ S. 20) „die eigentliche Kindheit, sogar das Anekdotische darin, so gut wie wahr“. Diese Jugend war, trotz äußerer Beschränkung und Dürftigkeit, im Ganzen eine heitere, so daß der etwas verschlossene, zum Trotz neigende, innerlich aber sehr regsame Knabe nicht unter dem Drucke der kleinen Verhältnisse zu leiden hatte. Mit sechs Jahren kam er in die Armenschule „zum Brunnenthurm“; seine Erlebnisse dort („Meierlein“ u. s. w.) sind im „Grünen Heinrich“ geschildert. Auf dem Dachboden eines befreundeten Hauses fand er das Bild des „Meretlein’s“; auch „Frau Margreth“ und „Vater Jakoblein“ sind Figuren aus Keller’s Jugendbekanntschaft: Jakob Bächtold hat diesen ganzen Kreis in seiner Keller-Biographie (Bd. I, S. 16 ff.) genau beschrieben. Von 1831–1833 besuchte K. als Sohn eines Niedergelassenen das „Landknabeninstitut“. Aus dieser Zeit stammen kindliche, aber bereits Talent verrathende Zeichnungen Keller’s, ferner Entwürfe zu kleinen Dramen, über die er selbst im Aufsatz „Autobiographisches“ (a. a. O. S. 14 ff.) berichtet. Im Frühjahr 1833 trat K. in die Zürcher „Industrieschule“ über. Er war ein fleißiger Schüler, daneben zu Possen geneigt, aber kaum mehr als Andere. Durch eine Verknüpfung unglücklicher Umstände (s. darüber Bächtold I, S. 37 ff.) wurde er jedoch im Juli 1834 aus der Schule gewiesen; er hat diese ungerechte Relegation oder, wie er zu sagen pflegte, die Schuld an seinem „verhunzten“ Bildungsgang den Schulbehörden nie verziehen. Er wurde dadurch schon in der Jugend ein Einsamer, und sein strenges, knorriges, wortkarges Wesen konnte sich besonders deutlich ausbilden. Er streifte nun, von der etwas zu nachsichtigen Mutter nicht gehindert, in Feld und Wald umher und hielt sich mit besonderem Vergnügen beim Bruder seiner Mutter, dem Arzt Joh. Heinr. Scheuchzer (1786 bis 1856) (dem Oheim Pfarrer des „Grünen Heinrich“) und dessen Frau [487] Regula, geb. Frey (dem Urbilde der Frau Regel Amrain), auf. Schon vorher hatte er den Entschluß gefaßt, Landschaftsmaler zu werden. Die Mutter erkundigte sich nach einer Lehre und übergab ihn dann einem Peter Steiger (dem „Habersaat“ des „Grünen Heinrich“) zur Ausbildung; aber K. lernte dort nichts als eine faustfertige, oberflächliche Manier des Copirens. Er machte sich übrigens bald von dieser Lehre los und richtete sich im elterlichen Hause ein Atelier ein; aber über abenteuerlich romantisirende, dilettantenhafte Compositionen ist er dort nicht hinausgekommen. Zu Weihnachten 1835 wurde K. confirmirt: wie sehr ihn dieses Ereigniß innerlich bewegt hat, ist ebenfalls aus dem „Gr. H.“ (Bd. II, Cap. 11 u. 12) zu ersehen. Im Sommer 1837 kam K. in die Hände eines wirklichen Künstlers: Rudolf Meyer von Regensdorf (des „Römers im „Gr. H.“, Bd. III, Cap. II u. V). Auch da copirte der Schüler; aber der Meister hielt ihn auch zum Naturstudium an. Leider wurde Meyer geisteskrank. K. stand also wieder rathlos da. Aus jener Zeit stammt ein Brief des angehenden Malers an Joh. Müller aus Frauenfeld (Bächtold I, S. 62 ff.) mit Schilderungen des eigenen Zustandes, die den künftigen Schriftsteller deutlicher und charakteristischer ahnen lassen als die damaligen Aquarelle den Maler. Sodann sind in jener Zeit schriftliche Darstellungen von Landschaften, nach Keller’s Ausdruck „idyllische Naturschilderungen in der Art Jean Paul’scher Traumbilder“ entstanden; auch einen „Rückfall“ ins Dramatische constatirt der Aufsatz „Autobiographisches“ (a. a. O. S. 16) für jene Epoche. Neben diesen schriftstellerischen Versuchen und der Arbeit als Maler las K. viel. Dann erfaßte ihn die erste Liebe; die Erwählte hieß Henriette Keller (1818–1838) und war ein lieblich zartes Kind, das 19jährig in Richtersweil gestorben ist, nachdem K. es als Bewohnerin des Hauses seiner Mutter und als Sommergästchen in Glattfelden kennen gelernt hatte. Auf ihren Tod hat er ein an Heine anklingendes Gedicht gemacht (Bächtold I, S. 81): Henriette ist das zarte Urbild der Anna des „Grünen Heinrich“. Das Lied auf ihr Grab ist, neben zwei noch früher entstandenen Liebesgedichten (Bächtold I, S. 424 ff.), die erste Lyrik Gottfried Keller’s. Nach seinem 20. Geburtstage, an dem er seinem Freunde Joh. Müller einen bedeutsamen Brief geschrieben hatte (bei Bächtold I, S. 84 ff.), that K. in seiner Malerlaufbahn einen Schritt vorwärts; er entschloß sich, nach München zu gehen, um dort mit der Malerei von vorn anzufangen. Noch bewegte den von Vaters Erbtheil her für politisch-freiheitliche Bewegungen stets rasch und heftig Entflammten der unter dem Namen „Züriputsch“ bekannte conservative Bauernaufstand gegen die Berufung des Professors D. F. Strauß (6. September 1839) aufs Tiefste; dann reiste er mit geringer Barschaft, etwa dem vierten Theil einer kleinen väterlichen Hinterlassenschaft, nach München. Die Stadt gefiel ihm, nicht so die Bewohner; er hielt sich darum fast nur an die Schweizer Landsleute, speciell an den Zürcher Maler Joh. Salomon Hegi. An der Akademie hätte er kaum aufgenommen werden können; er betrieb deshalb seine Malerausbildung wieder selbst, besuchte etwa das Atelier eines Collegen und studirte in den Museen. Also wieder keine rechte Ausbildung; darum auch in München kein Erfolg. Denn daß er in der Schweizer-Gesellschaft als drolliger Spaßmacher gerne gesehen war und daß er dort litterarische Schnurren verfaßte (s. Bächtold I, S. 427 ff.), das förderte ihn nicht. Dazu trat eine Krankheit (Typhus) und kam, was das Schlimmste war, die Noth. Die Erbsumme war verbraucht; die Mutter konnte neue Mittel nicht schaffen; so zieht sich denn durch die Münchner Briefe an Frau Elisabeth das Thema der Geldverlegenheit in fast endlosen Variationen hin. Die Mutter forderte schließlich den Muthlosen auf, heimzukommen und etwas anderes zu werden; [488] aber K. blieb, bis er sich genöthigt sah, seinen ganzen Kunstbesitz (Skizzen, Aquarelle, Cartons) mit seiner letzten Habe zum Trödler zu tragen, ja endlich, wie sein „Grüner“, Flaggenstangen blau-weiß anzustreichen (October 1842). Im November endlich verschwand er aus München und kehrte heim: als Maler gescheitert. Und doch war die Münchner Zeit keine vergebliche gewesen: sie hat ihm den Hauptstoff zum „Grünen Heinrich“ geschenkt.

Es folgten nun sechs Jahre in der Heimath (1842–1848); K. hat sie „verlorene“ genannt; sie waren schlimm: er führte ein Einsiedlerleben, war womöglich äußerlich noch rauher als früher. Aber er ist in jener Zeit innerlich zum Dichter gereift. Das geht objectiv aus dem Tagebuch hervor, das er vom 8. Juli bis zum 16. August 1843 geführt hat. Wir erfahren da z. B. von vielartiger Lectüre; namentlich zog ihn Jean Paul magisch an (Bächtold I, S. 209); er versuchte auch wieder zu malen; doch gelangen ihm die Bilder mit Worten besser als mit dem Pinsel. Endlich sprang auch der Quell der Poesie hervor: „Ich habe“, heißt es am 11. Juli 1843, „nun einmal großen Drang zum Dichten. Warum sollte ich nicht probiren, was an der Sache ist? Lieber es wissen, als mich vielleicht heimlich immer für ein gewaltiges Genie halten und das andere vernachlässigen“. Er berichtet da von einigen Gedichten, die er zur Versendung an eine Zeitschrift zusammengepackt, und von einer Erzählung („Reisetage“), die er begonnen habe. Sodann trat der Plan eines „traurigen kleinen Romanes“ hervor „über den tragischen Abschluß einer jungen Künstlerlaufbahn, an welcher Mutter und Sohn zu Grunde gingen … Es schwebte mir das Bild eines elegisch-lyrischen Buches vor mit heiteren Episoden und einem cypressendunkeln Schlusse, wo alles begraben wurde“ (Nachgel. Schr. S. 18). Aber kaum hatte er zu schreiben angefangen, so „gab es unversehens eine klangvolle Störung“: es rauschte die Lyrik aus seinem Innern. Zunächst politische Poesie, stark subjectiv, dabei aber in der Form oft an Heine, Lenau, Freiligrath, Herwegh angelehnt. Nur drei von diesen Gedichten sind später in die erste Sammlung Keller’scher Lyrik (1846) aufgenommen worden; eine Auswahl aus dem übrigen 1843 Gedichteten gibt Bächtold (I, S. 432 ff.). Wegen der Herausgabe seiner Gedichte wandte sich K. an Dr. Julius Fröbel, den Begründer des „litterarischen Comptoirs Zürich und Winterthur“, das 1841 Herwegh’s „Gedichte eines Lebendigen“ herausgegeben hatte. Fröbel wies ihn an Adolf Ludwig Follen, der damals in Zürich lebte und einem Kreise deutscher Revolutionäre angehörte, den K. sehr hoch schätzte. Follen fand in den Gedichten „viel lyrisches Feuer, auch Ohr für den Vers“, und half sofort bei einer Umarbeitung und Sichtung mit, so daß in den Jahrgängen 1845 und 1846 des beim „litterarischen Comptoir“ herausgegebenen „deutschen Taschenbuches“ die „Lieder eines Autodidakten (Gottfried Keller von Glattfelden bei Zürich)“ herauskommen konnten. Sie wurden an verschiedenen Orten rühmend begrüßt. K. eilte dann als überzeugter Radicaler in die Freischarenzüge des Jahres 1845: revolutionäre Bewegungen, welche im wesentlichen gegen die Jesuiten in Luzern gerichtet waren, mangels genügender Organisation aber gescheitert sind. Erlebnisse aus diesen Zügen hat er später in der prächtigen Novelle „Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“ verwerthet, gleich wie er die Siebenmännergesellschaft der Aufrechten, z. Th. Freunden seines Vaters, mit denen er damals in Verkehr trat, in der köstlichsten seiner humoristischen Erzählungen geschildert hat. Zu Anfang 1846 erschienen dann bei Winter in Heidelberg Keller’s „Gedichte“ als Bändchen von 346 Seiten. Die „Blätter für litterarische Unterhaltung“ meinten dazu: „Wenn irgend Einer, so hat Keller eine Gegenwart, die ihm die Zukunft verbürgt.“ Dieses prophetische Wort begreifen wir jetzt angesichts [489] der Ursprünglichkeit und Tiefe der Keller’schen Lyrik in seiner vollen Bedeutung. Unter den Vaterlandsliedern findet sich zwar noch manches (nach der ersten politischen Lyrik entstandene) grimmige, blutig höhnende Trutzgedicht, aber auch eine so unvergängliche Perle ist darunter wie „An mein Vaterland“, ein Gedicht, das K. selbst allerdings nie besonders geliebt hat, das aber, trotz der schwierigen Melodie Wilhelm Baumgartner’s, eines der volksthümlichsten Schweizerlieder (wenn auch nicht Nationalhymne) geworden ist. Unter den Naturpoesien sodann stehen Gedichte, die dem Besten deutscher Lyrik zugehören; in ihnen klingt kein fremder Ton mehr mit; sie sind Seele Gottfried Keller’s, die alle Schönheiten, alle Aufschwünge, alle Wunder der Natur als Offenbarungen empfindet und diese wieder außer sich setzt als Leben gewordene Träume, von denen aber das Traumhafte nicht abgestreift ist. Und dabei welche Kraft und mitnehmende Gewalt der Anschauung in Gedichten wie „Abendlied. An die Natur“:

„Hüll’ ein mich in die grünen Decken
Mit deinem Säuseln lull’ mich ein!
Bei guter Zeit magst du mich wecken
Mit deines Tages jungem Schein.
Ich hab’ mich müd in dir ergangen,
Mein Aug’ ist matt von deiner Pracht:
Nun ist mein einziges Verlangen,
Im Traum zu ruh’n in deiner Nacht.“

oder

„Fahre hinauf, du kristallener Wagen,
Klingender Morgen, so frisch und so klar!
Seidene Wimpel, vom Oste getragen,
Flattre, du rosige Wölkleinschaar!“

Man fühlt in solcher Anschauung aufs angenehmste den Maler, der objectiv beobachtet; aber die gestimmte Seele nimmt diese Anschauung auf, löst sie in Stimmung, macht sie zur Lyrik. Und aus der Naturstimmung heraus wachsen Erhebungen des Ich zu mannhafter Klarheit, zu Entschlüssen wie in Nr. V der „Herbst“-Lieder:

„Es ist ein stiller Regentag,
So weich, so ernst und doch so klar,
Wo durch den Dämmer brechen mag
Die Sonne weiß und sonderbar.

„Ein wunderliches Zwielicht spielt
Beschaulich über Berg und Thal;
Natur, halb warm und halb verkühlt,
Sie lächelt noch und weint zumal.

„Die Hoffnung, das Verlorensein,
Sind, gleicher Stärke, in mir wach;
Die Lebenslust, die Todespein
Sie ziehn auf meinem Herzen Schach.

„Ich aber, mein bewußtes Ich
Späht mit des Feldherrnauges Ruh:
Und meine Seele rüstet sich
Zum Kampfe mit dem Schicksal zu.“

In den „Sonetten“ dann so klare Erinnerungsbilder wie „An einen Schulgenossen“, oder so lebendige, bildgewaltige Geistesumwerthungen wie „Reformation“. Hierauf der Cyklus der „27 Liebeslieder“: ein zartester, in duftige Lyrik verhüllter Roman. K. hat später (1883) diesen Cyklus grausam umgestaltet, um, wie ihm dies bei der Herausgabe der „Gesammelten Gedichte“ Ideal war, objective epische Ruhe – auch in seiner Lyrik – zu gewinnen. Die schönste Blüte dieser 27 Lieder aber hat er wieder an den Anfang gestellt [490] und hat sie „Jugendgedenken“ genannt; es ist das zauberhaft traumweiche Gedicht:

„Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,
Die wie Lindenwipfelwehn entflohn.“

Mehr novellistisch-idyllisch ist der Cyklus „Gedanken eines lebendig Begrabenen“: vielfach barock, an der Grenze des guten Geschmacks, aber doch von Poesie gesättigt. Aehnlich ist der Cyklus „Feuer-Idylle“; nur tritt hier das Novellistische fast ganz zurück: es ist Idylle mit lyrischem Einschlag, etwa der Art Hebel’s zu vergleichen. Auch das thränenfeuchte und doch so wundersam hoffnungsvolle Lied „Bei einer Kindesleiche“ und die ergreifende Dichtung „Am Sarge eines 90jährigen Landmanns vom Zürichsee“ streifen an die Idylle. Von Goethe’scher innerer Größe und äußerer Anschauung, echte, aus dem Leben herausgeschaute Lyrik, sind die zwei Gedichte: „Die Spinnerin“; diese ist eine der größten und tiefsten Frauengestalten des erlesenen Frauenmalers G. Keller. Nach der Herausgabe der Gedichte unternahm K. eine kleine Sommerreise nach Graubünden. Im J. 1847 machte ihn die Liebe zu einer schönen Winterthurerin, Luise Rieter, unglücklich-glücklich; diese Liebe verklärt sein im Herbst 1846 wieder aufgenommenes „Traum- und Tagebuch“ mit dem Zauberdufte reiner Lyrik. In diesem Tagebuch zeigt sich K. auch politisch reifer als früher: sein revolutionäres Freischärlerthum hat sich zu einem ruhigen sachlichen Freisinn gemildert; dies geht auch aus den „Litterarischen Briefen aus der Schweiz“ hervor, die er damals (1847) in die Brockhaus’schen „Blätter für litterarische Unterhaltung“ schrieb (derselben Zeitschrift hat er 1849, 1851, 1852 und 1855 die Aufsätze über Jeremias Gotthelf – Nachgel. Schr. S. 93 ff. – geliefert, welche, trotz manchem scharfen Urtheil, die beste Würdigung des großen Schweizer Bauerndarstellers sind). – Daneben vervollständigte K. seine allgemeine Bildung durch Lectüre und gelegentlichen Besuch eines philosophischen Collegs.

… Aber es ging nicht so weiter. Er durfte nicht länger der Mutter zur Last sein. Da thaten einige deutsche Universitätsprofessoren in Zürich, die ihn hochschätzten, Schritte, um bei der Kantonsregierung ein Stipendium für ihn zu erwirken. Es gelang; K. bekam 800 Frcs. und ging im October 1848 nach Heidelberg: für ein Jahr, wie er meinte; er ist aber volle sieben Jahre in Deutschland geblieben. Sie sind für sein Talent die endgültig entscheidenden geworden. In Heidelberg hörte er Jakob Henle’s berühmte Vorlesungen über Anthropologie und schloß sich eng an Hermann Hettner, den Litterarhistoriker und Aesthetiker, an. Mit diesem unterhielt er sich namentlich über dramaturgische Fragen; denn er hatte für sich selbst die feste Absicht, sich dem Drama zu widmen. Seine Welt- und Lebensanschauung empfing ferner in Heidelberg eine ganz bestimmte Richtung und Formulirung durch die freigeistigen Vorträge Ludwig Feuerbach’s über das Wesen der Religion. Diesem tiefsten inneren Erlebniß Keller’s ging ein anderes parallel: seine Liebe zu Johanna Kapp, der geistvollen Tochter des Philosophen Christian Kapp, die ihn hochachtete, innerlich aber einem anderen angehörte. Einige von Keller’s schönsten „Neueren Gedichten“ sind an die Verehrte gerichtet.

Keller’s dramatische Thätigkeit schien zuerst sich auf eine „Gertrud von Wart“ richten zu wollen; dann aber entwarf er ein modernes Stück „Therese“. Es ist Fragment geblieben und ist Keller’s einzige dramatische Arbeit. Es behandelt das Thema der Drei: Mutter und Tochter lieben denselben Mann. Er liebt Röschen, die Tochter. Wie er um sie wirbt, wird sich auch die Mutter, Therese ihrer Liebe bewußt. Sie fordert von der Tochter Verzicht; Röschen kann nicht gewähren, und Therese stürzt sich in die Fluthen eines Flusses, der im Frühlingssturm, dessen Wehen die Handlung symbolisch begleitet, angeschwollen ist. Was von der Ausführung vorhanden (die beiden letzten Acte), ist [491] zu stark lyrisch, um dramatisch zu sein; in der Breite der Ausmalung zeigt sich auch der Epiker deutlich. Psychologisch ist das Bruchstück von großer Feinheit. Als Epiker schrieb K. in Heidelberg an seinem Roman; doch war dieser noch weit von der Vollendung entfernt, und in Keller’s Willen herrschte noch immer der Drang zum Dramatischen vor. Ja, eigentlich nur, um die richtige Anschauung vom großen Theater zu gewinnen, vertauschte er im April 1850 Heidelberg mit Berlin, nachdem im October 1849 die Zürcher Regierung ein zweites Stipendium (1000 Frcs.) gewährt hatte, dem im Mai 1852 ein drittes (600 Frcs.) folgte. Diese Summen reichten natürlich nicht weit, und K. hat in Berlin kaum weniger gedarbt als in München; nur belästigte er die Mutter nicht mehr mit seinen Geldsorgen; er hat sogar der für ihn so treu besorgten Frau, wohl aus Scham, noch immer nichts geworden zu sein, und um ihr Kummer zu ersparen, fast zwei Jahre lang nicht geschrieben. Berlin war seine eigentliche Lebensschule. Im nach und nach sich anbahnenden Verkehr mit litterarisch bedeutenden Persönlichkeiten bildete sich sein Charakter völlig aus. Eine gewisse Rauheit blieb zwar als Grundzug, neben ihr aber ein tiefes, ja weiches Gemüth, in welchem eine ganz besondere Sonne schien: der Humor, der sich allerdings erst im reifenden Menschen zu voller Klarheit geläutert hat. Wo darum K. hinkam, sah man ihn gern; die ausgesprochene Eigenart des ebenso tiefen wie wortkargen Schweizers gefiel allen intensiver Schauenden. Seine Arbeit in Berlin sollte vorerst noch immer dem Theater gelten; er machte Pläne zu Lustspielen wie zu Tragödien; aber keiner ist ausgeführt worden. Dabei unterhielt er sich brieflich mit Hettner über Dramatik und gab dabei so seine Urtheile ab, daß der von Heidelberg nach Jena berufene Gelehrte ganze Stellen aus Keller’s Briefen direct in sein Buch „Das moderne Drama. Aesthetische Untersuchungen“ (Braunschweig, Vieweg und Sohn, 1852) aufgenommen hat. Keller’s Briefe an Hettner sind die gehaltvollsten in Bächtold’s Bänden. Bei den oben genannten Braunschweiger Verlegern Friedrich Vieweg u. Sohn erschienen 1851 Keller’s „Neuere Gedichte“, d. h. das, was an Lyrik in den Jahren 1846–1849 bei ihm entstanden war. Politische Poesie findet sich da nicht mehr; fremde Anklänge sind völlig verschwunden; auch die Romantik tritt zurück; manches gehört ins Gebiet der Gedankendichtung. An reiner Lyrik gab also das zweite Bändchen weniger als das erste; aber es ist kaum minder reich. Noch immer finden sich wundersam empfundene, anschauungskräftige Naturbilder und Scenen: so etwa „Winternacht“; auch Idyllisch-Lyrisches in prachtvoller Eigenart, Bild- und Klangfülle steht da: „Der Taugenichts“, „Der alte Bettler“; dann „Sommernacht“, wo K. aus dem tiefsten Volksgemüthe schöpft, echt schweizerisch, dabei von einer Sprachbeseelung, kurz von einem Leben, wie es nur der echte Poet schaffen kann. Eine Abtheilung, die etwas junggesellenhaft burschikos „Von Weibern“ überschrieben ist, enthält 16 wie neu aus dem Geiste des Volksliedes geborene Lieder. Am wenigsten original, aber nicht ohne zarte poetische Reize ist die Abtheilung „Ghaselen“; aus Hafis-Stimmung ist ihm auch „Panard und Galet“ erwachsen: dem Stoffe nach aus Baron Grimm’s „Correspondance littéraire“ geschöpft, in Keller’s Hand aber zu einem der lustigsten Trinkgedichte aller Zeiten gewandelt. Eine Idylle mit satirischem Einschlag ist das köstliche Stücklein „Wochenpredigt“. Es steht in der Abtheilung „Aus dem Leben“, welche mit dem gewiß im Anschluß an die Feuerbach-Vorträge entstandenen tief gefühlten Gedicht eröffnet wird:

„Ich hab’ in kalten Wintertagen,
In dunkler, hoffnungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit.“

[492] Auch ein erstes Schmuckstück deutscher Gedankenlyrik steht in diesem Theile:

„Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karawanserai,
Wir sind die Pilger drin.“

Das Gedicht schließt mit den lebensmuthigen Strophen:

„An dich, du wundervolle Welt
Du Schönheit ohne End’!
Schreib ich ’nen kurzen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.

„Froh bin ich, daß ich aufgetaucht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb’ ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz.“

Das ist wie ein Vorklang auf Keller’s schönstes Gedankengedicht hin: „Augen, meine lieben Fensterlein“, das Theodor Storm (1879) das „reinste Gold der Lyrik“ genannt hat.

Als Hauptwerk ist nun aber in Berlin „Der grüne Heinrich“ entstanden, in fünfjähriger Arbeit. Der Roman sollte also des Dichters eigene Jugendgeschichte sein; der Tod des in seiner Künstlerlaufbahn Gescheiterten sollte den Schluß bilden, nachdem sich an die Münchner Erlebnisse noch die Heidelberger inneren Erfahrungen angeschlossen hatten. Aber eben der Schluß! K. selbst stieg ja in langsamer, aber sicherer Entwicklung empor; und der biographische Roman sollte „cypressendunkel“ ausklingen. Da lag die Schwierigkeit; darum die Zögerungen, die zwischen Vieweg in Braunschweig und dem Verfasser einen Briefwechsel hervorriefen, der eine buchhändlerische Tragikomödie ersten Ranges darstellt. Vieweg, der gleich nach den ersten Proben an K. glaubte, Honorar zahlte und – wartete, bis der auf 30–35 Bogen geplante Roman komme; K., der bei Abschluß des Vertrages das Werk im Wesentlichen erst im Kopfe, nicht auf dem Papier hatte, dann zögerte und zögerte und schrieb und schrieb, fünf Jahre lang, bis aus den 30–35 Bogen deren 107 geworden waren, dabei, nach Bächtold’s Ausdruck, der Verleger „nobel, von wahrer Himmelsgeduld, der Verfasser kurz angebunden, unwirrsch, saumselig, wortbrüchig bis zur äußersten Rücksichtslosigkeit“: das ist das Bild, das wir aus den bei Bächtold gedruckten Briefen gewinnen. Der erste Band war im Herbst 1851 gedruckt, Ende 1852 der zweite, Ende 1853 der dritte; am Palmsonntag 1855 endlich „schmierte“ K., nach eigenem Ausdruck, „buchstäblich in Thränen“, das letzte Capitel des vierten Bandes „hin“. Man hat nun für den „Grünen Heinrich“ nach Vorbildern gesucht; es gibt eigentlich nur Eines dafür, Goethe’s „Wilhelm Meister“; aber K. ist nicht Nachahmer; sonst wäre sein Roman versunken wie hundert andere, die sich Goethe’s Werk zum Muster genommen haben. Keller’s künstlerische Art ist Goethisch: Wie die Jugenderlebnisse in Poesie aufgelöst sind, das stellt den „Grünen“ neben Wilhelm Meister. Außer Goethe, dem er in einer wunderbaren Stelle („Gr. H.“ 1. Aufl., Bd. III, S. 4 ff.) gedankt hat, ist auch Jean Paul ein Seelenführer Keller’s gewesen; auch ihn hat er in einer prachtvollen – später getilgten – Stelle (1. Aufl., Bd. II, S. 174 ff.) hoch gepriesen. Im J. 1878 hat dann K. als reifer Künstler den Roman nochmals in die Hand genommen und hat ihn namentlich im Schlusse verändert. Die erste Fassung ist sehr selten geworden; sie sei hier nur kurz skizzirt. Der Roman beginnt als „Er“-Erzählung. Ein junger Maler, Heinrich Lee, wandert aus seiner schweizerischen Vaterstadt nach München. Dort fällt ihm unter seinen Sachen ein Manuscript mit Erinnerungen [493] an seine Jugendzeit in die Hände. Wir lernen es kennen; es behandelt in der Ich-Form bis tief in den 3. Band (S. 173) hinein Heinrich’s Jugendgeschichte: jene Kindheitsschilderung ohne Gleichen, so wahr, so tief, so individuell und zugleich so allgemein menschlich … Alles erlebt und doch Alles so traumhaft poetisch. Erfunden sind nur die Liebesgeschichten; zwar Anna, die so selig reine Figur, ist im Grunde Henriette, Keller’s Jugendgeliebte, aber nur im Keim, aus dem die Phantasie dann lieblichste Blüthen entwickelt. Ganz aus der Phantasie ist die leidenschaftsvolle, lebenglühende Gestalt der Judith geschaffen. Sie und die Mutter wandeln mit dem Helden durch den ganzen Roman. Dieser droht dann und wann etwas zu zerfahren; aber der Dichter weiß ihn dann doch immer wieder zusammen zu halten und die Beziehungen auf den Helden zu gewinnen. Von diesem geht dann die Erzählung in der Er-Form weiter: Münchner Erlebnisse werden geschildert: die Freunde, das große Dürerfest (das K. allerdinges nicht selbst miterlebt hat), dann die Zweifel am Malerberuf, die Anregungen zu innerer Klärung infolge des beim Anthropologen Gehörten. Endlich die Noth, die bittere Noth und – eine Folge von goldenen Heimathträumen – die Flucht zur Mutter. Noch ein Aufenthalt: beim Grafen, der Heinrich’s Bilder beim Trödler gekauft hat; eine Liebe sogar: zu Dortchen Schönfund. Aber er darf an sein unfertiges Leben kein anderes binden; er flieht in die Heimath. Dort erfährt er den Tod der Mutter; der Kummer um ihn hat sie getödtet. Noch einmal blitzt Dortchen’s Bild vor ihm auf: „Seine Blicke glaubten auf dem goldenen Wege, der zu einem schmalen Stückchen blauer Luft führte, die Geliebte und das verlorene Glück finden zu müssen. – Er schrieb Alles an den Grafen; aber ehe eine Antwort da sein konnte, rieb es ihn auf, sein Leid und Leben brach und er starb in wenigen Tagen“. – Dieser tragische Schluß fand keinen Beifall: der Verleger Vieweg, auch Hettner, Varnhagen u. A. empfanden ihn als Fehler. K. selbst sagt zwar („Nachgel. Schr.“ S. 21): „Der einmal beschlossene Untergang wurde durchgeführt theils in der Absicht eines gründlichen Rechnungsabschlusses, theils aus melancholischer Laune.“ Später aber hat K. den Tadlern stillschweigend recht gegeben; denn in der zweiten Fassung des Romans bleibt Heinrich am Leben. Die Umarbeitung also fällt in die Jahre 1878–1880. K. wollte damit die alte Fassung absolut auslöschen; im Winter 1878 auf 79 mußte seine Schwester Regula mit 360 Bändchen der ersten Auflage den Stubenofen heizen, und „die Hand verdorre“, soll K. gesagt haben, „welche je die alte Fassung wieder zum Abdruck bringt“. Die neue nun hat er als bewußt feilender reifer Künstler zunächst von allen Geschmacklosigkeiten und einer Menge von Reflexionen befreit; in der Composition änderte er durchgreifend das Ganze in die Ich-Erzählung um; das gereicht dem Buche nicht immer zum Vortheil; aber größere Geschlossenheit hat er damit sicherlich erreicht. Einige reizvolle Capitel sind neu geschaffen worden. Am Schlusse erscheint Judith noch einmal: K. wollte sich, wie er selbst gesagt hat, „noch einmal am Abglanze dieses von keiner Wirklichkeit getrübten Phantasiegebildes erfreuen“. Heinrich und sie finden sich – aber nicht zur Ehe, sondern zur Freundschaft, die ein sichereres Glück verspricht. Und Heinrich stirbt nicht; er lebt „in bescheidener und doch mannichfacher Wirksamkeit in der Stille“ eines kleinen Amtes, und Judith hilft ihm diese Bescheidenheit tragen und „frei und gesund“ zu bleiben. Dafür hat er ihr das geschriebene Buch seiner Jugend geschenkt. Nach zwanzig Jahren stirbt sie als Helferin bei einer verderblichen Kinderkrankheit. Er aber hat das Buch „aus dem Nachlaß wieder erhalten und den andern Theil dazu gefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln“. Gewiß, der zweite „Grüne Heinrich“ ist künstlerisch vollendeter als [494] der erste. Der tragische Schluß des ersten ist allerdings – trotz Hettner’s, Vieweg’s und Fr. Th. Vischer’s Einwendungen – als Ende für den an seiner Halbheit leidenden, nicht-ganz-sein-könnenden, auch nicht-wollen-könnenden, dabei aber innerlich so tief leidenschaftlichen Heinrich consequenter als das beruhigte Ende des zweiten. Aber auch dieses hat seine Vorzüge und ist Trost für Viele, und nicht die schlechtesten, die mit Heinrich um sein Schicksal bangen, dabei ihr eigenes ansehen und froh sind, daß trotz der tragischen Anlage des Werkes es ein bescheidenes Ausklingen, ein zwar nicht bedeutendes, aber doch lebenswerthes Dasein auch nach dem Zusammenbruche gibt. Das höchste Kunstwerk im deutschen Roman des 19. Jahrhunderts ist dieser zweite „Grüne Heinrich“ doch, weil er, nach Karl Weitbrecht’s Wort, nicht „Dichtung und Wahrheit“, sondern reine Dichtung ist, d. h. es ist ein Lebensschicksal völlig in reine, goldene Poesie aufgelöst. – Von dem gewaltigen Einfluß des Romans auf die neuere deutsche Dichtung zu reden, auch ihn als Culturbild allerersten Ranges näher zu betrachten, ist hier nicht der Ort.

Schon während der Arbeit am „Grünen Heinrich“ hatte Gottfried K. sich mit Novellenstoffen beschäftigt: u. a. waren der „Galatea“-(Sinngedicht-)Cyklus und „Die drei gerechten Kammmacher“ aufgetaucht (1851); aber es blieb bei flüchtigen Andeutungen. Im J. 1853 wurde dann aber eine neue Novellenreihe entworfen und 1854 und 1855 rasch niedergeschrieben: „Die Leute von Seldwyla“, I. Theil. Es waren 7 Novellen; 2 davon („Der Schmied seines Glückes“ und „Die mißbrauchten Liebesbriefe“) wurden für einen zweiten Band zurückgelegt. Der erste, bei Vieweg in Braunschweig 1856 erschienen, enthielt 5 Novellen. Sie zeigen uns K. als Künstler reifer, als er[WS 1] im Roman erschienen war, herausgewachsen aus der „subjectiven und unwissenden Lümmelzeit“, wie er die „Grüne Heinrich“-Periode nannte. Er war sich, wie auch A. Köster („G. K. 7 Vorlesungen“) hervorhebt, namentlich im mündlichen wie im schriftlichen Verkehr mit Hettner, über das Künstlerische klar geworden. Verzicht auf das Nebensächliche, Betonung des Nothwendigen, Klarheit der Charaktere und der aus ihnen allein sich ergebenden Conflicte, Einfachheit im Aufbau, so daß der Leser „voraussehe“ und nicht durch Sensationen überrascht werde: das waren seine deutlich erkannten Mittel und Ziele geworden; dazu die schon im „Gr. H.“ so schön erfüllte Forderung, daß das Kunstwerk seinen „Anstoß aus dem äußeren oder inneren Leben“ des Dichters zu empfangen habe. So erfand er Seldwyla, einen Ort in seiner Phantasie, aber zugleich einen Ort, wie er nur in der Schweiz möglich wäre und ist: ein Stück satirisch-humoristisch geschauter Vaterlandswelt, aus der nun die fünf Novellen heraus sich entwickeln als eine poetisch gesehene Wirklichkeit. In den beiden ersten behandelt er noch, wie im „Gr. H.“, das Verhältniß von Mutter und Sohn; in der allerersten, „Pankraz der Schmoller“, finden wir die auf ihren Sohn harrende Mutter; der Held selbst, Pankraz, ist der starkköpfige, mürrisch schmollende Gottfried K. der Jugendzeit nach der Relegation aus der Schule; die kümmerliche Haushaltung der Mutter und der Schwester ist ganz diejenige, in der K. aufgewachsen war: aber nicht naturalistisch photo- und kinematographirt, sondern die Wirklichkeit ist durch Keller’s Dichterkraft, die hier aus der Hand der Wahrheit den Schleier sänftigender und verklärender Erinnerung empfing, zu jenem poetischen Realismus gewandelt, der zu allen Zeiten das echteste Wesen gesunder Dichtung ausgemacht hat. Dann die Erziehung Pankrazens und seine Heilung vom Schmollen durch ein Weib und einen Löwen. Und diese seine Erziehungsgeschichte erzählt Pankraz, der einst im Unmuth dem Mutterhaus Entlaufene, als Officier der Fremdenlegion Heimgekehrte, selbst. Also Ich-Form, wie im „Gr. H.“, dem dadurch diese im Schulmeistersinne so unpädagogische und [495] doch so menschlich wahre, humorgesättigte Erziehungsnovelle am nächsten tritt. Pankraz wird denn auch infolge dieser Erziehung kein Seldwyler Lump und Schuldenmacher, sondern an einem andern Ort ein rechter Mensch. – In der zweiten Novelle „Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“ erzieht Frau Regula – zu der Frau Dr. Regula Scheuchzer und Keller’s brave Mutter die Modelle gewesen sind – ihren Fritz, den jüngsten ihrer drei Buben, mit denen sie ihr Mann, ein echt seldwylerischer leichtsinniger Schwächling, hatte sitzen lassen, zum Manne, indem sie ihm in wundervoll wahren Situationen den Geschmack am Seldwyler Lumpenleben und am hohlphrasigen Politisiren abgewöhnt, ja ihn schließlich zum pflichtbewußten Demokraten und Bürger, im Ganzen also zum tüchtigen biderben Schweizer macht. Der erzieht dann sogar noch seinen Vater, den seiner Zeit der Frau und der Vaterpflicht Davongelaufenen, zum brauchbaren Menschen. Auch in dieser Novelle ist das Praktisch-Pädagogische völlig im Poetischen aufgegangen. – Für die dritte Erzählung „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ hat K. ausdrücklich auf einen „wahren Vorfall“ als Grundlage hingewiesen (cf. Bächtold II, S. 65). Er dachte zuerst an ein kleines Epos (Bächtold II, S. 67 f.), hat dann aber zur Prosa gegriffen und das hohe Kunstwerk dieser Novelle geschaffen, in dem, in reiner und großer Erfüllung der von ihm erkannten Gesetze, das Tragische mit einer Sicherheit ohne Gleichen, rein aus den Charakteren und den durch sie geschaffenen Situationen heraus, erreicht wird. Alles Detail und „Milieu“ ist nur insoweit behandelt, mitgegeben, angedeutet, als es zur Gesammtstimmung und zur Klarheit nöthig ist. Und lebendig steht Alles vor uns: die spielenden Kinder, die Väter an den Pflügen; dann der Streit der Alten, die Liebe der Kinder, tragisch vom ersten Anfang an; darauf der Entschluß Salis’ und Dortchen’s[1], sich zu trennen, zuvor aber noch einmal fröhlich zu sein; dann ihre gemeinsame Sonntagswanderung, der Tag, die Mondnacht, die Hochzeit auf dem Heuschiff, das Ende im Wasser. Dazu die schlichte und doch so tiefe psychologische Führung; die tragische Consequenz als unentrinnbar, als Nothwendigkeit. „Ich habe“, sagt ein Dichter, zugleich einer der schärfsten Kritiker eigener und fremder Werke, Otto Ludwig, „unmittelbar vorher Romane gelesen, unmittelbar nachher Novellen von Heyse und Grimm, auch eigene Pläne derart gemacht; aber all das ist wie bemalte Florvorhänge vor einem gemalten Kirchenfenster; das tiefe und glühende Giorgionische Colorit, die compakte Tizianische Leiblichkeit der Keller’schen Novelle strahlt siegend durch und läßt das Blaßträumerische der Behänge noch aquarellhaft körperloser erscheinen“. K. selbst aber hat unter seinen Seldwyler Novellen nicht „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, sondern „Die drei gerechten Kammmacher“ am höchsten geschätzt, wohl weil darin sein Humor die Wirklichkeit am eigenartigsten umspielt. Die drei „Gerechten“, schofel Gerechten, die drei Kammmachergesellen, die „alle recht thaten und desnahen nicht neben einander existiren können“, die durch ihr Rechtthun, d. h. dadurch, daß sie beim Meister liebedienern, das Anrecht auf die Meisterschaft und Nachfolge erkriechen wollen … das sind Prachtgestalten Keller’scher humorvoller Satire; dann ihr Kampf um die eigennützige Jungfrau Züs Bünzlin, ihr tragisch-komisches Geschick: der Selbstmord des Jobst, der Wahnsinn des Fridolin, der Erfolg Dietrich’s, der aber kein Erfolg ist, weil Züs ihn als Frau regiert und unterdrückt und sich selbst als die alleinige Quelle alles Guten betrachtet … Das alles ist so komisch grausig, dabei so real und doch wieder so ironisch lebenverhöhnend, gleichzeitig so tragisch, auch so originell, daß wirklich nur, wie Paul Heyse dem Dichter schrieb, Cervantes und Rabelais zum Vergleich herangezogen werden können. Die letzte Geschichte „Spiegel das Kätzchen“ schreitet aus der Gegenwart [496] heraus in Märchenzeiten, ist auch mit ihrem Zauberer Pineiß und ihrer Katzenpoesie ein echtes romantisches Märchen, nicht seldwylerisch, sondern einfach zeitlos anmuthsvoll; manchmal etwas überkeck, aber Romantik lustigster Art, mit einem ihrer Schnörkel an der Wirklichkeit festgerankt. – Die „Leute von Seldwyla“ fanden jedoch nur bei feingeistigen Kennern Beachtung. K. machte weitere Pläne: „Dietegen“, „Ursula“, die „Legenden“ wurzeln in seiner Berliner Zeit; er schloß auch bereits mit dem Berliner Verleger Franz Duncker, in dessen Hause er, besonders beschützt durch Frau Lina Duncker, viel anregenden Verkehr fand, einen Vertrag für zwei Bände Novellen ab, empfing Honorar als Vorschuß, hat aber, wie an Vieweg zur Zeit des „Gr. H.“, nichts geliefert, weil die Sachen erst „ausgeheckt“, noch nicht geschrieben waren. (Er hat 1876 Vorschuß sammt Zinsen zurückbezahlt.) Außer Duncker nahmen sich Varnhagen von Ense und dessen schöngeistige, aber excentrische Nichte Ludmilla Assing, auch Jul. Rodenberg, sein späterer „rundschaulicher Brotherr“, des Dichters an. Um ihn aus ökonomischen Bedrängnissen zu befreien, schossen Freunde in der Schweiz, Jakob Dubs voran, 1800 Frcs. zusammen; sie reichten zur Tilgung der Verbindlichkeiten. Aber K. blieb in Berlin; auch eine Berufung an das zu gründende Polytechnikum in Zürich lehnte er ab und empfahl Hettner; statt dessen, der nach Dresden ging, wurde Fr. Th. Vischer gewählt. In Berlin hielt den Dichter eine neue Liebe zurück; sie war „unglücklich“. Endlich folgte er den wiederholten Rufen seiner Mutter und seines Freundes Wilhelm Schulz in Zürich und reiste heim, nachdem ihn Frau Elisabeth mit 1000 fl., die sie hatte aufnehmen müssen, losgeeist hatte. „Berlin“, sagt K. selbst, „hat mir viel genützt, obgleich ich es nicht liebe … Ich bin mit vielen Schmerzen ein ganz anderer Mensch und Litterat geworden!“ In der Heimath gefiel es ihm; er fand hochgebildete Freunde: Fr. Th. Vischer, Gottfried Semper, Jacob Burckhardt, Jak. Moleschott, Hermann Köchly; er ging auch im Hause Wesendonck aus und ein und lernte Richard Wagner kennen. Auch Besuche aus Deutschland (Adolf und Fanny Stahr-Lewald, Varnhagen) erfreuten ihn; hauptsächlich aber fühlte er sich als Schweizer wohl an den Festen der Eidgenossen und hat zu mehreren prachtvolle, tiefempfundene Lieder gedichtet, u. a. das tüchtige „Marschlied“, und die Krone dieser Dichtungen, das „Tischlied am Jahresfest (1857) der schweizerischen Militärgesellschaft:

„Heißt ein Haus zum Schweizerdegen,
Lustig muß die Herberg sein;
Denn die Trommel spricht den Segen
Und der Wirth schenkt Rothen ein!
Kommen die Gäste, schön’ Wirthin, sie lacht,
Sie hat schon manchen zu Bette gebracht!“

Am allerwohlsten war ihm bei Schweizerfreunden, dem Maler Rud. Koller und dem Componisten Wilh. Baumgartner; auch bei C. F. Meyer’s Freunden François und Eliza Wille auf Mariafeld, war er gern zu Gast. Zum Schillerfest 1859 hat K. für die Musikgesellschaft in Bern jenen herrlichen Prolog gedichtet, der das beste von dem vielen Guten war, was zu des großen Schwaben, Keller’s erklärten Lieblingsdichters, Geburtstag gesprochen worden ist. Im J. 1861 entstand die farbenreiche Schilderung des Festes am Mythenstein, in welcher das bis heute unerreichte Ideal eines nationalen Festspieles aufgestellt wird (Nachgel. Schr. S. 34 ff.). Im selben Jahre 1861 wurde K. auf Vorschlag seines Freundes, des Finanzdirectors Franz Hagenbuch, zum ersten Staatsschreiber von Zürich gewählt: zur Verwunderung aller Parteien, die sich nichts Gutes von dieser Ernennung versprachen. Sie hat aber erstens den Dichter an ruhiges, sicheres Arbeiten gewöhnt; zweitens ist K. einer der [497] besten, gewissenhaftesten Beamten gewesen, 15 Jahre lang, eine Zeit, in der er innerlich stille reifer und reifer geworden ist. Veröffentlicht hat er in diesen Jahren wenig. Vorher schon war in Berthold Auerbach’s „Volkskalender“ (Jahrgang 1861) „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ erschienen, seine populärste Erzählung, voll von der Frische echten schweizerischen Volksthums: die Geschichte von den sieben „alten Krachern“, die zum eidgenössischen Schützenfest ziehen und für die dann der junge Karl Hediger, der Sohn des einen der sieben, jene Festrede hält, die ihm nicht nur alle Herzen, sondern auch die Zustimmung des Vaters der Geliebten zur Verlobung gewinnt und die außerdem die einzige Schützenfestrede auf Erden ist, die man mehr als einmal lesen kann. Und ein Humor liegt über Allem, reif und klar, kellerisch einzigartig. Zwei andere Beiträge Keller’s zu Auerbach’s Kalender: „Verschiedene Freiheitskämpfer“ (1863) und „Der Wahltag“ (1866) gehören nicht zu seinen beachtenswertheren Werken (Nachgel. Schriften S. 245 u. 277). Im J. 1860 hatte K. auch den schon früher geschriebenen „Apotheker von Chamounix“, ein Buch Romanzen, zur Herausgabe vorbereitet; der Plan stammte aus dem Jahre 1851, als H. Heine’s „Romanzero“ erschienen war; es sollte die Bizarrerie des Dichters oder seiner Nachahmer verspottet bezw. übertrumpft werden. Die Dichtung, zumeist Litteratursatire, hätte schon 1853 der 2. (Titel-)Auflage der „Neueren Gedd.“ beigegeben werden sollen; das unterblieb aus Platzmangel. Beim Tode Heine’s (1856) erschienen geschmacklose Parodien auf dessen Werke, und K. wollte sein Gedicht nicht damit zusammen genannt wissen; aber auch 1860 erschien die Dichtung noch nicht, sondern ist erst 1883 mit den „Gesammelten Gedd.“ veröffentlicht worden (die erste Fassung hat Bächtold im Ergänzungsheft zum „Euphorion“ [Bd. II] abgedruckt). Der erste Theil schildert den Tod des Apothekers Titus von Chamounix durch seine eifersüchtige Geliebte Rosalore unter den bizarrsten Umständen. Im II. Theil wird Heine nach dem Erscheinen seines „Romanzero“ im Traume zu den Schatten der großen Dichter getragen. Er streitet sich mit Börne und wird ins große Tintenmeer gestoßen, in welchem (in der ersten Fassung) als „großer Tintrich“ Gutzkow herumschwimmt. Heine stirbt dann und muß in einem der Felszacken des Montblanc, dem Reinigungsort armer Seelen, die Verleugnung seines Herzens büßen. Die erste Fassung schloß mit dem Hinweis auf das große Schillerfest von 1859. Dieser Schluß ist dann unter dem Titel „Das große Schillerfest“ in die „Ges. Werke“ (Bd. X, S. 153) aufgenommen worden. Als Staatsschreiber hatte K. dann und wann die Bettagsmandate, d. h. die Ansprachen der Regierung an das Volk zum eidg. Dank- Buß- und Bettag zu verfassen; eines (von 1862, das ihm übrigens die Behörde nicht annahm) ist abgedruckt in den „Nachgel. Schr.“ (S. 235). Während Keller’s Beamtenzeit starb (5. Februar 1864) seine Mutter, der das Glück, mit dem wohlbestallten Sohne sorgenlos in der großen alten Staatskanzlei wohnen zu können, die letzten Jahre verschönert hatte. K. hat von da an seine Geselligkeit noch mehr als sonst außer dem Hause gesucht; auf der „Meise“ fand er jenen lieben Bekanntenkreis, dem Alfred Escher, der Philologe Köchly, Fr. Th. Vischer u. A. angehörten. Zum 50. Geburtstage (19. Juli 1869) veranstaltete die akademische Jugend Zürichs eine großartige Ehrung des Dichters. Man betonte dabei vornehmlich zwei Dinge: daß das Vaterland K. besser sollte kennen lernen, und daß er zur Dichtkunst zurückkehren möge. Unter dem Eindruck des zweiten dieser Wünsche gab K. 1872 bei Goeschen in Stuttgart die „Sieben Legenden“ heraus. Er nannte diese, ursprünglich für den „Galatea“-(„Sinngedicht“-)Cyklus bestimmten Umarbeitungen von Legenden Joseph Theobul[WS 2] Kosegarten’s „ein kleines Zwischengericht, ein lächerliches Schälchen [498] eingemachter Pflaumen“. In Wirklichkeit sind sie graziöseste Poesie, von unnachahmlichem Zauber der liebenswürdigsten Erzählungskunst. Aus den mittelalterlichen, bei Kosegarten ungelenk nacherzählten Heiligengeschichten ist das rein Menschliche mit feinstem Sinn und sicherer Poetenhand herausgeholt, „wobei ihnen freilich zuweilen daß Antlitz nach einer anderen Himmelsgegend hingewendet wurde, als nach welcher sie in der überkommenen Gestalt schauen“. Da ist „Eugenia“, die pedantisch nach Männerwissenschaft strebt, sogar Abt eines Klosters wird, dann aber durch reine Weiblichkeit ihr Menschenthum rettet. K. läßt sie nämlich die Gattin eines ehrbaren Mannes werden, während die Originallegende es beim Preise der christlichen Gelehrsamkeit bewenden ließ. Dann werden drei herzige Marienlegenden geboten: erstens „Die Jungfrau und der Teufel“: da ringt Maria mit dem Bösen, dem ein verlumpter Graf seine holde fromme Gemahlin Bertrade versprochen hat, und bringt ihn zum Verzicht auf die Beute. Der böse Gemahl aber kommt um. In der folgenden Legende: „Die Jungfrau als Ritter“ ist Bertrade Wittwe. Um ihre Hand muß turnirt werden. Der etwas linkische, aber treuherzige, brave Zendelwald gewinnt sie; doch nicht er selbst hat gefochten, sondern in seiner Gestalt Maria, während er bei dem Kirchlein eingeschlafen war, bei dem einst die Jungfrau mit dem Teufel um Bertrade gerungen hatte. „Die Jungfrau und die Nonne“ ist die Erzählung von der Klosterküsterin Beatrix, die in die Welt geht, heirathet, Mutter wird, während Maria das Küsteramt versieht. Beatrix kehrt dann reuig zurück. Damit schließt die alte Legende. K. aber „wendet ihr das Antlitz nach einer anderen Himmelsgegend hin“, wieder ins Rein-Menschliche: Eines Tages kommt – als Greis – Wonnebold, der Mann der Beatrix, mit acht Jünglingen, „welche wie ebensoviel geharnischte Engel anzusehen waren“, ins Kloster. Beatrix erkennt ihre Kinder, bekennt sich zu ihnen und bringt somit der Jungfrau die reichste Gabe dar. – Fast gewagt, aber in der schlichten Erzählung doch unschuldig ist die Geschichte vom „Schlimm-heiligen Vitalis“, der in die verrufenen Häuser geht, um verlorene Seelen zu retten. Wie er dann weltlich wird und wie ihn die schöne Jole zu „einem ebenso trefflichen und vollkommenen Weltmann und Gatten“ macht, „als er ein Märtyrer gewesen war“, das ist so lieblich und naiv geschildert, daß der Zweifel über „erlaubt“ oder „nicht erlaubt“ eines solchen Stoffes schwindet. Die unübertreffbar graziöse Form adelt Alles. „Dorothea’s Blumenkörbchen“, die Geschichte des Mädchens, das den geliebten Jüngling, den es nicht besitzen kann, in den Märtyrertod mit hineinzieht, ist von einer wonnesamen Süßigkeit: nicht sentimental, aber ganz eingetaucht in Poesie, mit einem Schlusse, dessen himmlischer Glanz Alles überstrahlt. – Am Ende dann „Das Tanzlegendchen“, vom Allerlieblichsten, was je auf Deutsch geschrieben worden ist: voll Einfachheit, voll Empfindung und in jedem Erzählerschritt so duftig rhythmisch, daß nur das Leiseste und Zarteste etwa in Arnold Böcklin’s Phantasiekunst zum Vergleiche herangezogen werden könnte. – Die „Sieben Legenden“ hatten den vollsten Erfolg. Schon nach wenigen Wochen wurde eine zweite Auflage nöthig. Die Legenden blieben dem Dichter lieb. Er feilte noch mehrmals daran und hat z. B. das „Tanzlegendchen“ feinfühlig mit einem anderen Schluß versehen: derjenige der ersten Fassung, wo der Stadttambour des himmlischen Jerusalems Ruhe stiftete, mußte der grandios einfachen Scene weichen, wo „die allerhöchste Trinität selber“ den herzergreifenden Sehnsuchtsgesang der neun Musen zum Schweigen bringt.

Im Herbst 1872 reiste K. nach München und frischte alte Erinnerungen auf; den Trödler jedoch, dem er einst in bitterer Noth seine Cartons verkauft hatte, vermochte er nicht mehr ausfindig zu machen. Der nächste Herbst (1873) [499] führte ihn ins Salzkammergut zu lieben Freunden: Prof. Adolf Exner und Marie Exner (später Frau v. Frisch); die Bekanntschaft mit diesen vortrefflichen Menschen ging auf sein 50. Geburtstagsfest (1869) zurück. Exner war dann 1872 nach Wien gegangen und zwischen ihm und K., auch zwischen Marie v. Frisch-Exner und dem Dichter, entwickelte sich ein Briefwechsel, in dem K. vom Köstlichsten seines Humors gibt. Ueberhaupt Keller’s Briefe! Sie sind (cf. Bächtold I–III passim) einzigartig in Originalität und Frische. K. ist einer der originellsten Epistolographen des Jahrhunderts gewesen. Im J. 1874 reiste er den Freunden Exner zu Liebe sogar nach Wien. Beide Male lebte er wohl an froher Geselligkeit; dabei hat er auch gearbeitet: 1873 an „Dietegen“, 1874 am „Verlorenen Lachen“. Im J. 1874 erschienen bei Goeschen in 4 Bänden „Die Leute von Seldwyla“, in Band I und II die fünf alten Erzählungen, in Bd. III und IV fünf neue. In der Einleitung nannte K. noch immer „Freude am Lande, mit einer heilsamen Kritik verbunden“, den Grund für seine Dichtung. Seine Seldwyler sind zwar etwas ernster geworden; aber noch gibt es aus der guten lustigen Vergangenheit eine kleine Nachernte. Da ist zuerst „Kleider machen Leute“ eine Geschichte, die in Wädensweil passirt ist und die nun der Dichter ins Realistisch-Poetische wendet: vom Schneidergesellen, der sich, vom Zufall und der Leichtgläubigkeit der Menschen begünstigt, für einen großen Herrn ausgibt, dann aber, entlarvt und gedemüthigt wieder in die Niedrigkeit fallen soll. Das ist mit prächtigem Humor erzählt, und die Schlußwendung, daß Werner Strapinski nicht der elende Schwindler ist, für den man ihn hält und daß er darum sein Nettchen bekommt, ist von freundlich versöhnender milder Menschlichkeit. – Darauf „Der Schmied seines Glückes“, der schon in Berlin geschriebene Schwank: stellenweise fast ein bischen zu verwegen, aber mit seiner Schilderung des allzu klugen Herrn John Kabys „doch wohl“, wie R. M. Meyer treffend sagt, „die glänzendste Humoreske unserer Litteratur, deren sich Boccaccio so wenig zu schämen hätte, wie Ariost des ‚Apothekers von Chamounix‘“. „Die mißbrauchten Liebesbriefe“, ebenfalls altes Berliner Produkt, von Vieweg 1865 in der „Deutschen Reichszeitung“ veröffentlicht, sind eine famose Satire auf ein gewisses trauriges Litteratenthum, daneben eine feine Liebesgeschichte: wie Viggi Störteler seine brave, kluge Frau an den „sinnigen“ Schulmeister verliert und dafür eine wüste zweite Gattin bekommt. Es folgt „Dietegen“, eine Novelle, die, ebenfalls schon in Berlin erdacht, seit 1862 im Manuscript unter dem Titel „Leben aus Tod“ bei den Freunden cirkulirte und 1873 im Salzkammergut zu einem Drittel neu gearbeitet worden war. Der Stoff ist einer alten Chronik entnommen und bizarr genug: das Mädchen, das Dietergen vom Galgen holt, und Dietergen, der Jahre nachher dieselbe Küngold vom Schafotte weg heirathet. Das ist nun aber trotz aller Schauerlichkeit so menschlich natürlich erzählt und ist außerdem so geschickt mit den Ereignissen der größten Schweizer Heldenzeit, den Burgunderkriegen, verbunden, daß man nicht Unrecht thun wird, wenn man dieses Stück den besten deutschen historischen Novellen aller Zeiten zuzählt. – In Berlin als „Sängerfestnovelle“ geplant, 1868 aber ins Politische gewandt, 1874 (in Wien) dann noch um das religiöse Element vermehrt, ist „Das verlorene Lachen“. Die Novelle ist in ihrem Tiefsten wol nur für Schweizer ganz und sofort verständlich, weil Verfassungskämpfe mit ihren Umwälzungen nur in der Schweiz den Bürger bis ins Innerste seines Herzens und seines Hauses hinein bewegen und weil gerade die Schweiz, oder doch vornehmlich sie mit ihrer unbeschränkten Denk- und Sprechfreiheit, eine religiöse Richtung hervorgebracht hat, welche einige ihrer extremsten Vertreter zu einer von Religion und Innerlichkeit [500] weit entfernten phrasenreichen Schöngeisterei führte. Schweizerisch-culturhistorisch ist „Das verlorene Lachen“ also von größtem Werthe; mit ihrer lebendigen Darstellung steht die Novelle aber auch künstlerisch hoch; doch fehlt ihr ein wenig die volle Rundung der Composition um einen menschlichen Mittelpunkt – hier Jukundus Meyenthal und Justine Glor – herum, die sonst Keller’s Werke auszeichnet. Sie hat dem Dichter viel Unangenehmes gebracht, eben weil sie, nach J. V. Widmann’s[WS 3] gutem Wort, „zur glühenden Pracht voller Sommerrosen auch die Dornen eines Rosenhags zeigte und diese Dornen mit großer Schärfe gegen die Reformtheologie richtete“. Man hielt K.’s Angriffe auf religiöse Auswüchse für persönliche Gehässigkeit gegen einen bestimmten Pfarrer und befehdete ihn so, daß er sich „gegen die aufgebrachte Kurie des Freisinns“ 1879 mit einem Artikel „Ein nachhaltiger Rachekrieg“ (Nachgel. Schriften S. 202 u. 343) glaubte wehren zu müssen.

Diesmal war der Erfolg der „Leute von Seldwyla“ ein großer, und es wuchs in dem Dichter der Wunsch, „jetzt kein Jahr mehr vorbeigehen zu lassen, ohne etwas zu Tage zu fördern“. Er gab darum 1876 sein Amt auf und lebte auf dem „Bürgli“ in der Vorstadt Enge, wohin er schon 1875 aus der Staatskanzlei gezogen war, nach eigenem Geständniß „seine glücklichste Zeit“. – Schon 1860 hatte der Dichter an „Zürcher Novellen“ gedacht, welche „im Gegensatz zu den ‚Leuten von Seldwyla‘ mehr positives Leben enthalten“ sollten. Sie erschienen aber erst vom November 1876 bis zum April 1877 in Julius Rodenberg’s „Deutscher Rundschau“. K. macht in ihnen die Vergangenheit seines Zürich ebenso lebendig wie er die Gegenwart Seldwyls geschildert hat. Er schuf zunächst die originelle Rahmenerzählung, in der ein älterer Zürcher seinem jungen Neffen, Herrn Jacques – der ein Original werden möchte –, drei Geschichten darbietet: Zuerst „Hadlaub“, d. i. die liebenswürdig poetische Schilderung von der Entstehung der „Manessischen“ Liederhandschrift, deren Niederschreibung den frischen jungen Bauernsohn Johannes Hadlaub zum Dichter macht. Aufs geschickteste ist dessen eigene Liebe zu einer vornehmen Dame hineinverflochten, und ganz besonders zart und eigenartig ist es, wie K. Motive aus Hadlaub’s eigenen Liedern in die Hand nimmt, sie verlebendigt und als farbenfrische Existenzzüge seiner Geschichte einverleibt. Für die Buchausgabe hat K., einer Bitte Theodor Storm’s folgend, den Schluß, nämlich den Bericht von der Vereinigung der Liebenden, Hadlaub und Fides, etwas erweitert (Briefwechsel zw. Th. Storm u. Gottfr. K. ed. A. Köster S. 11, 13, 23). Auch die zweite Erzählung „Der Narr auf Manegg“ handelt noch von der Manesse-Handschrift. Ein illegitimer Abkömmling der Familie Manesse, der Narr Buz Falätscher, der auf der alten Burg Manegg wohnt und mit dem, wenn er nach Zürich kommt, die Ritter ihren Spaß treiben, hat sie dem letzten richtigen Manesse gestohlen. Sie wird aber von fröhlichen Gesellen, die seine Burg überfallen, wieder geholt und gelangt in den Besitz des Freiherrn v. Sax. – Die dritte Erzählung „Der Landvogt von Greifensee“ ist nicht nur in der deutschen Novellistik, sondern auch in Keller’s Werken ein Juwel. K. hat dabei nach der Schilderung gearbeitet, die dem Landvogt Salomon Landolt durch David Heß (1820) zu Theil geworden war. Viele Züge entnahm er direct dieser Vorlage; die Hauptidee aber, den alten Junggesellen eine Versammlung seiner alten „Flammen“ abhalten zu lassen, ist Keller’s Eigenthum, ihre Ausführung in den Capiteln „Distelfink“, „Hanswurstel“, „Kapitän“, „Grasmücke und Amsel“ das originellste Capriccio des Dichters, der es „die lieblichste der Dichtersünden“ genannt hat,

„Süße Frauenbilder zu erfinden
Wie die bittre Erde sie nicht hegt.“

[501] Wir erfahren dann die weiteren Schicksale des Herrn Jacques und bekommen noch, außerhalb des damit geschlossenen Rahmens, „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ und die farbensatte Novelle „Ursula“. Diese hätte ursprünglich „Hansli Gyr“ heißen und eine Seldwyler Geschichte werden sollen. Mit voller Darstellungskraft wird darin das Zürcher Wiedertäuferwesen im Beginne der Reformationszeit geschildert, und mitten drin stehen Ursula und Hans Gyr: sie seine Retterin auf dem Kappeler Felde, seine Liebe Ursula’s Erlöserin aus Banden des religiösen Irrwahns. Die Erzählung enthält eine Scene von monumentaler Kraft: Zwingli’s Tod. Sie ist, aus der Hand eines Schweizers, ein Denkmal des schweizerischen Reformators aere perennius. – Zum Dank für die Zürcher Novellen schenkte Zürich dem Dichter das Ehrenbürgerrecht. Er hatte auch thatsächlich die Vergangenheit seiner Heimath dargestellt, wie kein „Heimathkünstler“ vor, neben und nach ihm sein Land poetisch behandelt hat. Es war „Leben aus Tod“. Leben, das die Schweizer als einen lebendigsten Theil des ihrigen empfinden, war ihnen da aus Künstlerhand neu vor Augen geschaffen und geschenkt worden.

Auch zur Lyrik fand K. auf dem „Bürgli“ neue Stimmung: im Januar 1879 entstand das „Abendlied“: „Augen meine lieben Fensterlein“, wo die Resignation des Alternden restlos in Poesie aufgeht. „Das reinste Gold der Lyrik“ hat, wie schon erwähnt, Storm dieses Gedicht genannt, und er ist nicht müde geworden, es den Seinen vorzulesen. Dann die phantasievolle Duett-Ballade „Tod und Dichter“, ferner „Der Narr des Grafen von Zimmern“, wo Keller’s Humor Heiliges umklingelt, ohne es zu profaniren: ein Seitenstück in Versen zu den Prosa-Kleinoden der „sieben Legenden“. Daneben gab’s kurze poetische Satiren wie „Venus von Milo“ und „Ratzenburg“: da nimmt K. die ganzen Kunstwartkämpfe für Haus- und Städte-Aesthetik voraus und zwar gleich mit jenem souveränen Humor, der wirksamer ist als die ernsteste Predigt. – Nochmals sei hier kurz der Umarbeitung des „Grünen Heinrich“ (1878–1880) gedacht; von komischer „Consequenz“ des Dichters zeugt es, daß auch diesmal der vierte Band auf sich warten ließ und erst 1880 nachgeliefert werden konnte. Fast gleichzeitig erschien der schon 1851 geplante, 1855 erstmals in Angriff genommene „Galatea-Cyklus“ unter dem Titel „Das Sinngedicht“. K. schrieb ruhig da weiter, wo er 25 Jahre vorher abgebrochen hatte, um, wie er sagte, die Conceptionen des Dreißigers als Fünfziger auszuführen, nachdem „die Lebenstrübe sich gesetzt“ habe. Aus dem Duncker’schen Verlag gelöst, erschienen die 6 Novellen zuerst in der „Deutschen Rundschau“ (Juni-Mai 1881), dann (1882) als Buch (mit nicht allzu glücklich erweitertem Schlusse) bei Wilh. Hertz in Berlin. Es sind eigentlich 7 Geschichten; denn die Rahmenerzählung von dem jungen Naturforscher Reinhart, der auszieht, um die Wahrheit des Logau’schen Sinngedichtes zu erproben,

„Wie willst du weiße Lilien zu rothen Rosen machen?
Küß eine weiße Galathee: sie wird erröthend lachen.“

ist selbst eine Novelle, die mit ihrem romantischen Ductus, mit ihrer Poesie vor allem, sich, ohne zu verblassen, direct neben Eichendorff’s „Taugenichts“ stellen läßt. Reinhart kommt auf das Landhaus Luciens und dort werden nun die 6 Novellen erzählt, theils von ihm, theils von ihr: sie behandeln das Thema der Ehe. In der ersten „Von einer thörichten Jungfrau“ erzählt Lucie von dem aus Eigensinn und Thorheit gelösten Verlöbniß der Wirthstochter Salome, die allzuhoch hinaus wollte. „Gleichheit des Standes und des Geistes“, meint Lucie, seien unentbehrlich zum Glück der Ehe. Sie zu widerlegen, erzählt Reinhart die Geschichte „Regine“. Regine ist ein Bauernkind und Magd in der Stadt; ihr Liebhaber und Gemahl, Erwin [502] Altenauer, ist Gesandtschaftssecretär. Sie leben glücklich, bis, herangeführt durch Welt und Bildung, der Zweifel zwischen die beiden Gatten tritt. Das Vertrauen schwindet; Regine wird innerlich tief unglücklich und gibt sich den Tod. Lucie schreibt dem Manne allein die Schuld zu. Herr Altenauer habe nichts verstanden „seiner Frauenausbildung den rechten Rückgrat zu geben“. Reinhart „beweist“ weiter, indem er die Geschichte von der „Armen Baronin“ Hedwig v. Lohausen erzählt, d. h. von der verschämten Armen, die von einem ihre streng verborgenen Herzensvorzüge fast zufällig entdeckenden Manne dem Leben und dem Glücke zurückgegeben wird. Bei der Hochzeit läßt dann K. den Lump von früherem Gemahl der Baronin und ihre verkommenen Brüder auf fürchterlich drastische Art verspotten. Man hat den Dichter darum scharf getadelt. Er hat aber auch einem Storm gegenüber (Briefwechsel ed. Köster S. 111 und 125) daran festgehalten: „Die Geschichte mit den verlumpten Baronen, die Sie so geärgert hat, bleibt stehen, wie einer jener verwünschten Dachziegel in einem Hause, in dem es spukt“. K. hat recht gehabt: sein Humor ist so, daß er manchmal barocke Capriolen machen muß, hart bis an die Grenze des guten Geschmacks; aber das gehört zum Leben und Wesen gerade dieses Humors, und wer möchte ihn im Grunde anders haben? Er ist und bleibt eben Kellerisch, d. h. Nummer Eins. Lucie ist nicht zufrieden, daß die Frauen so ohne einen „Rest von eigenem Willen“ geheirathet werden sollen. Es geht auch manchmal umgekehrt. Um dies zu erweisen erzählt Lucie’s Oheim, der alte Oberst, aus seinem Leben die Geschichte „Die Geisterseher“, wo eine von zwei jungen Männern geliebte Dame den Gefühlsüberschwänglichen verschmäht und den Nüchternen heirathet, weil dieser sich bei einem zur Prüfung veranstalteten Geisterspuk kaltblütig gezeigt hat. Der glückliche Brautgewinner war Reinhart’s Vater. Der Sohn revanchirt sich mit der Novelle von „Don Correa“, dem portugiesischen Admiral, der, von einer schlimmen Frau vornehmen Standes betrogen, sie aufhängen läßt und dann eine Afrikanerin heirathet, mit der er glücklich wird. Lucie ist endlich zufrieden; aber sie antwortet noch mit einer Geschichte, wo der Mann, der frei und originell zu wählen glaubt, heillos genasführt wird; sie erzählt die Posse „Die Berlocken“: Da meint Herr Thibaut V. Vallormes er werde von der Indianerin Quoneschi geliebt und schenkt ihr seine Berlocken als Brautgabe. Andern Tages aber muß er einem Feste beiwohnen, bei welchem Quoneschi’s wirklicher Verlobter, ein junger Indianer, der „Donner-Bär“, die Berlocken Thibaut’s als Nasenschmuck trägt. Der Schluß der Rahmenerzählung, in welche die 6 Novellen so geschickt verflochten sind, daß sie nur wie Theile eines reichorganisirten Ganzen erscheinen, ist wieder vom Anmuthigsten, was je auf Deutsch geschrieben worden ist: das Experiment auf das Recept des alten Logau gelingt nämlich Reinhart und zwar bei Lucien: er küßt sie; sie lacht und erröthet, und um diesen Kuß und dieses erröthende Lachen herum glüht ein goldener Herbst und steht das Idyll einer Schusterstube voll Glück, Gesang und Liebe. Reife Meisterschaft ist die Signatur dieses Cyklus. Sind auch nicht alle Novellen darin von gleichem künstlerischem Werthe („Don Correa“ und „Die Berlocken“ sind eher nur gute „Winterschwänke“ als psychologisch tiefgründige Lebensschilderungen), so leuchtet der ganze Cyklus doch von satten Farben; aus feinen Seelenzügen und trefflich gekennzeichneten Charakteranlagen wachsen die Handlungen hervor, und ein Humor, überhaupt ein klares Licht, scheint so hell und goldig über Allem, namentlich über der frei und leicht erfundenen echt romantischen Rahmenerzählung, daß die Vorliebe, die gerade dieser Band bei vielen Keller-Verehrern genießt, recht wohl zu begreifen ist. In der Gesammtausgabe ist er (als Bd. VII) außerdem mit den „Legenden“ verbunden.

[503] Seit 1881 sichtete der Dichter seine Lyrik. Seinem gereiften Kunstgeschmacke, dem das Objectiv-Epische höchste künstlerische Forderung geworden war, opferte er dabei alles zu Subjective, zu Leidenschaftliche, nach seiner ruhig und klar gewordenen Empfindung zu Maßlose. Er hat damit seine „Gesammelten Gedichte“ von 1883 künstlerisch gewiß gehoben; es ist auch sicherlich Manches ohne Schaden weggefallen, und mehr als eine Umarbeitung war recht wohl angebracht; aber – das rein Lyrische, das subjectiv Empfindungs-Unmittelbare hat darunter gelitten; der allerfeinste Duft der Seelenstimmung ist dann und wann von dem glättenden Finger weggewischt worden. Dennoch ist Keller’s Lyrik – auch in der neuen Form – von edler Tiefe und Reinheit in Gefühl und Ton, und den Kennern des Echten wird K. immer zu den wenigen ganz großen deutschen Lyrikern, d. h. zu den Goethe, Kerner, Mörike und Storm, gehören. Im October 1876 hatte K. seine letzte größere Reise unternommen: er war, speciell auf P. Heyse’s Betreiben, nochmals in München gewesen; im Herbst 1881 machte er dann mit zwei Freunden, den Malern Rud. Koller und Emil Rittmeyer, das „bescheidene Kunstreischen“, das er in der „Neuen Zürcher Zeitung“ so ruhevoll und doch so lebendig beschrieben hat (Nachgelass. Schr. S. 218). Zu Keller’s auswärtigen Freunden gesellten sich in jener Zeit zwei Norddeutsche: Regierungsrath Wilh. Petersen in Schleswig und Theodor Storm in Husum; mit Beiden hat K. in intimem Briefwechsel gestanden (cf. Bächtold und – für Storm – A. Köster). Im Herbst 1882 zog K. aus dem lustigen „Bürgli“, wo sich namentlich seine kränkelnde Schwester, die ihm den Haushalt führte, nicht wohl befand, nach dem Thaleck am Zeltweg in Hottingen, in eine gewöhnliche Miethswohnung, in der es ihm nie recht gefallen hat. Um so wohler war ihm an Samstag- und Sonntag-Abenden auf der „Meise“ in gemüthlicher Gesellschaft. Bächtold erzählt da (Bd. III, S. 293 ff.) viel von Keller’s Sympathien und Antipathien: von seinen Freunden, mit denen er heimelig war, aber auch von unbequemen Anreisern, die er manchmal recht grob abtrumpfte.

Keller’s Schlußdichtung war „Martin Salander“, ein Familienroman, der sich aber zum schweizerischen Sittenbilde großen Stiles erweitert, ja mehr als das: der zum politischen und ethischen Erziehungsbuche für das Schweizervolk wird, dessen Lebensäußerungen Keller’s eigenes tiefes Interesse ein ganzes Leben lang gegolten hat. Der alternde Mann sah in politischen und gesellschaftlichen Dingen Vieles wanken, sah die Streber emporkommen, sah ihre Charakterlosigkeit, und davor sein geliebtes Volk zu warnen, das war seine Absicht. Der Roman erschien – langsam – im J. 1886 in Rodenberg’s „Deutscher Rundschau“. Er ist nicht in freudigem Zuge entstanden, sondern unter vielem Schimpfen von des Verfassers, unter freundlichem Drängen von des Herausgebers Seite. Und als er fertig war, befriedigte er nicht. Die Schweizer nannten ihn pessimistisch, das Ausland fand ihn zu speciell schweizerisch. Der Held, Martin Salander, ist ein Optimist, aber er ist nicht klug genug für den neuen Kurs. Ein Schlauer, Louis Wohlwend, bringt ihn um sein Geld; er wandert aus und kehrt erst nach sieben Jahren heim, wohlhabend, aber nicht gewitzigter, so daß ihn derselbe honigsüße Schönredner Wohlwend nochmals um sein Geld betrügen kann. Er geht neuerdings auf drei Jahre übers Meer. Nach seiner abermaligen Rückkehr will er sich an den neuen Zuständen im Vaterlande freuen; aber er muß sehen, wie Alles corrumpirt ist. Zwei Streber geringster Sorte, die Brüder Weidelich, heirathen seine Töchter; die Schufte von Gatten kommen aber ins Zuchthaus. Doch Salander’s Idealismus zerbricht nicht; er verliebt sich sogar ein bischen. Da kommt sein Sohn Arnold aus der Fremde heim, ein tüchtiger Mensch. Unter [504] dessen Einfluß gehen ihm die Augen auf; aber er bleibt ein Optimist: Sein „Schifflein fuhr ruhig zwischen Gegenwart und Zukunft dahin, des Sturms wie des Friedens gewärtig, aber stets mit guten Hoffnungen beladen“, heißt es schließlich von ihm. Einen rechten Schluß hat das Werk trotz den beiden in der Buchausgabe hinzugefügten Capiteln, 20 und 21, nicht, und K. hat bis an sein Ende an einem neuen, besseren Schluß herumgedacht. An Charakteristik lebendiger Menschen aber: Salander’s, seiner wackeren Frau und seines Sohnes Arnold, der Weidelichs und ihrer Eltern ist das Buch so reich wie irgend ein früheres des Dichters. Auch der kräftige, männliche Stil ist so „kellerisch“ wie je. Der Humor allerdings hat einen etwas säuerlichen Beigeschmack, und die Composition leidet an Längen. Pessimistisch ist das Buch im Grunde nicht; es ist im Gegentheil, nach Bächtold’s treffendem Ausdruck, „eine That. Es ist das große Vermächtniß des Dichters für seine Heimath … Ein politisches Erbauungsbuch! Und doch ein Poesiebuch!“ Nach dem „Salander“ schrieb K. für den Druck nur noch eine kleine autobiographische Skizze für die Chronik der Kirchgemeinde Neumünster (Nachgel. Schr. S. 1); das dort statt des Schlusses des „Salander“ in Aussicht gestellte „selbständige Buch“ ist nicht mehr geschrieben worden. Im März 1885 ging der Gesammtverlag von Keller’s Schriften an Wilh. Hertz in Berlin über. (Seit 1901 ist der Verlag in den Händen der J. G. Cotta’schen Buchhdlg. Nachf. in Stuttgart.)

Keller’s Wanderung

„auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt“

wurde beschwerlicher. Noch allerdings trat ihm ein neuer Freund nahe: Böcklin, der damals in Zürich wohnte und mit seiner olympischen Heiterkeit den oft Launenhaften und Mürrischen aufheiterte; der mit nie versagender Freundlichkeit die Ausbrüche übler Laune ertrug, und der froh war, wenn auch bei K. wieder auf Augenblicke die Sonne schien. K. hat dafür dem Maler-Freunde zum 60. Geburtstage ein prächtiges, leuchtend schönes, in milder Resignation ausklingendes Gedicht geschrieben (bei Bächtold III, S. 647). Böcklin hat den Freund mehrmals gemalt; aus seiner Hand stammt die Radirung, die den 1889 bei Hertz erschienenen „Gesammelten Werken“ vorgeheftet ist. Am 6. October 1888 starb dem Dichter die Schwester Regula, die ihn so lange treu gepflegt hatte. Er war nun ganz einsam. Seinen 70. Geburtstag verbrachte er auf dem Seelisberg in Gesellschaft zweier Freunde, Arnold Böcklin’s und des Bundesrichters Hans Weber. Die von Böcklin modellirte Medaille nannte er „das Zeichen für das Ende vom Lied“. Nach Neujahr 1890 erkrankte er an Influenza; er machte sein Testament und setzte darin zu Erben den Hochschulfonds der Universität Zürich, die Zürcher Stadtbibliothek und die eidgenössische Winkelriedstiftung ein. Am 15. Juli 1890 starb er; am Vorabend seines 71. Geburtstages (18. Juli 1890) wurde er durch Feuer bestattet. – K. ist in Vielem ein „Heimathkünstler“ gewesen; aber er hat zugleich weit über das Heimathliche hinaus, ins rein Menschliche hinein geschaffen. Seine Werke sind die schönste Frucht jenes deutschen Realismus, der auch das Ideale in sich schließt, d. h. sie sind echte große Kunst. Diese ist Offenbarung: nicht „von dieser Welt“ wenn man will; aber sie steht doch auf dem Boden der Erde, ist Wahrheit im Lichte des Ewigen.

Die Litteratur über Keller ist verzeichnet bei Richard M. Meyer, Grundriß der neuern deutschen Litteraturgeschichte (Berlin 1902), Nr. 2662 bis 2686. Neu hinzugekommen sind: Ricarda Huch, „G. K.“ i. d. Samml. „Die Dichtung“ Bd. IX, Berlin; Otto Stoeßl, „G. K.“ i. d. Samml. „Die Literatur“ Bd. X, Berlin. Ferner zu beachten: „Der Briefwechsel[WS 4] zwischen [505] Theod. Storm u. G. K.“, hrsg. u. erläut. v. Albert Köster, Berlin 1904. Hnr. Driesmanns, „Der Erziehungsroman“ („Grün. Heinr.“) Literar. Echo 1902/3, S. 1525; Ernst Trautmann, „G. K. in Heidelberg“ (Frkf.Ztg. 1903, Nr. 108). Emil Jakobs, „Aus G. K.s Berliner Zeit“ (Westermanns Monatsh. Oct. 1904); „Emil Kuh’s Briefe an G. K.“ ed. Alfr. Schaer i. Zürch. Taschenb. auf 1904; A. Schwab, „Das Sinngedicht von G. K.“ (Monatsbl. f. dtsch. Lit. IX, 9); F. Wichmann, „G. K.s Frauengestalten“ (Propyläen, München 87, 88); Max Nußberger, „Der Landvogt von Greifensee u. seine Quellen“ (Frauenfeld 1904); Marie Strinz, „Irdische u. himmlische Liebe“ („Die Frau“, Berlin, XI, 10); Emil Geiger, „Beiträge zu einer Aesthetik der Lyrik“ (Halle 1905); Felix Rosenberg, „Der schlimm-heilige Vitalis“ von G. K. und „Thais“ von Anatole France (Archiv f. d. Stud. d. neueren Sprachen u. Literaturen, Bd. 112 [neue Serie 12], Heft 3/4.) Hauptwerk bleibt immer: G. K.’s Leben. Seine Briefe und Tagebücher. Von Jakob Bächtold. 3 Bde. Berlin 1894–97. Auch die gegenwärtige Biographie ruht auf diesem festen Fundamente.

[486] *) Zu S. 108.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 495. Z. 26 v. o. l.: Vrenchen (statt Dortchen). [Bd. 55, S. 895]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage kein Leerzeichen zwischen als und er
  2. gemeint ist offenbar Ludwig Gotthard (=Theobul) Kosegarten (1758–1818).
  3. Joseph Victor Widmann (1842–1911), Dichter und Journalist.
  4. Vorlage: Briefwchsel