ADB:Kellner, Lorenz
*): Lorenz K., † am 18. August 1892, angesehener preußischer Volksschulmann. – K. wurde am 29. Januar 1811 in Kalteneber bei Heiligenstadt (Eichsfeld) geboren. Sein Vater Heinrich Kellner war damals dort katholischer Ortslehrer, nachdem er zuvor schon die Aufmerksamkeit als warmer Verehrer und unmittelbarer Schüler Pestalozzi’s auf sich gelenkt hatte. Er war s. Z. zu Fuße nach Ifferten gewandert, um den Meister kennen zu lernen. Später wurde er als Lehrer nach Heiligenstadt berufen, dort zum Rector der Stadtschule befördert und 1836 daneben mit der Direction des in Heiligenstadt eingerichteten neuen Schullehrerseminares betraut. K. erhielt, nachdem er anfangs die Volksschule seines trefflichen Vaters besucht hatte, seine weitere Vorbildung auf den catholischen Gymnasien zu Heiligenstadt und Hildesheim (Josephinum). Unter den Hildesheimer Lehrern verdankte er besonderes viel dem als Botaniker bekannten Professor Johannes Leunis, einem Priester von umfassender Gelehrsamkeit, warmer Liebe zur Natur, väterlichem Sinne gegen die Jugend und echter, milder Religiosität. Von früh auf für den Beruf des Vaters bestimmt und entschlossen, bezog der junge K. alsdann das protestantische Lehrerseminar zu Magdeburg, das damals unter der Leitung des Consistorialrathes, späteren Propstes Karl Christoph Gottlieb Zerrenner stand. Seine erste Stelle als Lehrer erhielt K. an der Dorfschule zu Mackenrode bei Heiligenstadt, wurde aber schon 1831 von dort nach Erfurt berufen, wo er erst Lehrer und seit 1833 Rector der Lorenzschule war. Als 1836 sein Vater die Leitung des neuen Seminares in Heiligenstadt übernahm, trat ihm der Sohn als Seminarlehrer zur Seite und erwarb durch seine dortige tüchtige Wirksamkeit wie als glücklicher pädagogischer Schriftsteller, namentlich auf dem Felde des deutschen Sprachunterrichtes, rasch ungewöhnliches Ansehen in der Schulwelt. In seinem damals zuerst erschienenen „Praktischen Lehrgange für den deutschen Sprachunterricht“ (Erfurt, 3 Bde., 1837–40; 17. Auflage 1888) trat er der herrschenden Einseitigkeit der grammatischen Methode nach Karl Ferdinand Becker und besonders nach Raimund Jakob Wurst’s „Sprachdenklehre“ entgegen und wirkte bahnbrechend für einen lebendigeren, allseitig anregenden deutschen Unterricht, den er an das Lesebuch anzuschließen lehrte. Nicht das Denken über die Sprache erschien ihm als Hauptsache, sondern das Denken in der Sprache; und überhaupt soll der Sprachunterricht nach ihm nicht einseitig den Verstand bilden, sondern zu einer harmonischen geistigen [506] Gesammtbildung anregen. Die zwölf Jahre seines jugendfrischen Wirkens am Seminare mit und unter dem verehrten Vater bezeichnete K. später als die in mehr als einer Hinsicht schönste Zeit seines Lebens. Ihr wurde Ziel gesetzt durch den ehrenvollen Ruf der höchsten Schulbehörde Preußens, der den jungen Seminarlehrer 1848 als ersten catholischen Regierungs- und Schulrath nach Marienwerder in Westpreußen entführte. Auch die dort gestellte, wegen des Vorwaltens der polnischen Sprache im Bezirke besonders schwierige Aufgabe ergriff er mit hingebender Liebe und im eigenen Geiste. Die Regeln, die er für sein Verfahren bei den Schulrevisionen niederschrieb, können noch jetzt jedem Aufsichtsbeamten in ähnlicher Lage zur Richtschnur dienen. Der Eifer, mit dem er sich in die ihm neue und wenig anmuthende Aktenarbeit vertiefte und gleichzeitig die Schulbesuche betrieb, bedrohte seine Gesundheit; im J. 1849 mußte er einige Wochen ausspannen, die er im Bade Kösen verlebte. Aber auch hier ruhte er nicht. Während des Urlaubes entstand seine zweite berühmte, gemüthreiche Schrift: „Zur Pädagogik der Schule und des Hauses. Aphorismen“ (Essen 1850). Dreizehn Auflagen hat er von ihr bis 1892 selbst besorgt. Die vierzehnte mit Bildniß und Lebensabriß des Verfassers erschien wenige Jahre nach seinem Tode (1896). Nach mehrjähriger angestrengter Thätigkeit in den Ostmarken bat K. selbst um seine Versetzung in rein deutsche Umgebung, und diesen Wunsch erfüllte der Minister v. Raumer, indem er 1855 ihn der Regierung zu Trier überwies. In Trier wirkte K. noch fast ein Menschenalter hindurch mit gleichem Eifer und gleichem Erfolge. Die Liebe der Lehrer seines Aufsichtsbezirkes erwarb er in hohem Maaße. Der lebendige Verkehr mit dem Lehrerstande und der leitende Antheil an dessen Vereinsleben lag ihm stets besonders am Herzen. Seine litterarische Thätigkeit blieb auch hier rege. Ihr besonders verdankte er den Grad eines Doctors der Philosophie, den ihm 1863 die Akademie Münster unter Hervorhebung seiner Verdienste um deutsche Sprache und Pädagogik verlieh. Im J. 1871 wurde ihm der Charakter eines Geheimen Regierungsrathes beigelegt. Im J. 1872 berief der Cultusminister Dr. Falk K. nach Berlin unter den Vertrauensmännern, die über die neuen Regulative für das Volksschul- und Seminarwesen zu berathen hatten. Dem längst besessenen Rothen Adlerorden vierter Classe folgte 1877 die dritte Classe, 1888 die zweite Classe des Kronenordens. Inzwischen aber war K. 1886 auf seinen Antrag in Ruhestand versetzt worden. Mit welchen Gefühlen er aus dem Amte schied, mögen einige Verse aus einem Gedichte bezeugen, das er an seinem von Freunden und Verehrern besonders festlich begangenen fünfundsiebzigjährigen Geburtstage verfaßte: „Lang ist die Pilgerfahrt, die mir beschieden, – Und doch so kurz, schau ich auf sie zurück! – Sie war ein Wechsel zwischen Kampf und Frieden; – Doch Glaub’ und Hoffnung hellten stets den Blick! – Sie lenkten mit der Lieb’ im festen Bunde – Das Herz nach oben hin und zum Beruf, – Und Jahr auf Jahr und bis zur heut’gen Stunde – War’s der Beruf, der reinste Freuden schuf. – Mein Herz war stets der Jugend zugewandt, – Und treuen Lehrern drückt’ ich gern die Hand.“ Noch sechs Jahre lebte K. in Trier als Emeritus still und zurückgezogen. Am 18. August 1892 rief ihn ein sanfter Tod ab. In allen Theilen der deutschen Volksschullehrerschaft, protestantischer wie katholischer, wurde er aufrichtig betrauert und durch ehrende Nachrufe gefeiert.
KellnerKellner’s bleibender Name in der Geschichte der Pädagogik knüpft sich an seine Verdienste um den deutschen Sprachunterricht. Diesem galt auch ein wesentlicher Theil seiner litterarischen Thätigkeit. Außer dem grundlegenden Praktischen Lehrgange sind in dieser Hinsicht zu nennen: „Deutsches [507] Lese- und Bildungsbuch für höhere cathol. Schulen“ (Freiburg 1857; 10. Aufl. 1890); „Aufgaben zu Uebungen im schriftlichen Gedankenausdruck“ (das.; 9. Aufl. 1883). Minder originell, aber durchaus achtenswerth erscheinen die späteren Werke allgemein pädagogischer Tendenz: „Volksschulkunde, ein praktischer Wegweiser“ (Essen 1855; 8. Aufl. 1886); „Erziehungsgeschichte in Bildern und Skizzen, mit besonderer Rücksicht auf das Volksschulwesen“ (das. 1862, 3 Bde.; 3. Aufl. 1880); „Kurze Geschichte der Erziehung und des Unterrichts“ (Freiburg 1877; 10. Aufl. 1893). Ganz besonders aber spricht des Verfassers warme, liebenswürdige Persönlichkeit aus den oben bereits erwähnten Aphorismen wie aus den „Pädagogischen Mittheilungen aus den Gebieten der Schule und des Lebens“ (Essen 1852; 3. Aufl. 1868), den autobiographischen „Lebensblättern, Erinnerungen aus der Schulwelt“ (Freiburg 1892) und aus zahlreichen kleineren Aufsätzen, die aus dem von K. in Trier längere Zeit redigirten „Schulfreunde“ und anderen Zeitschriften nach des Verfassers Tode von Görgen in seinem Auftrage gesammelt und nebst Briefen u. a. als „Lose Blätter. Ergänzungen zu L. Keller’s Aphorismen und Lebensblättern“ (Freiburg, Herder) herausgegeben sind. – In religiöser Hinsicht war und blieb K. Sohn eines Geschlechtes, das mit aller Treue gegen die catholische Tradition weitherzige Anerkennung anderer Bekenntnisse zu vereinigen wußte. Sein Vater, der Pestalozzianer, und sein Lehrer Leunis blieben ihm darin Vorbilder. Doch konnte er sich der Spannung der Gegensätze im Laufe seines langen Leben nicht ganz entziehen. Schon im Streit über die Stiehl-Raumer’schen Regulative urtheilte er 1855: „Die Angriffe, die sie erfahren, sind Beweis dafür, daß sie das Uebel erkannt und die Wahrheit geboten haben. Die katholische Schule ist durch den festen Anschluß an den Fels der Kirche vor jenen Abwegen und Verirrungen bewahrt, denen die Regulative mit Ernst und Sachkunde zu begegnen streben.“ Bei solcher Grundansicht konnte er der preußischen Schulpolitik seit 1872, deren Verdienste er übrigens nicht verkannte, nur mit Vorsicht folgen und mußte mehr und mehr das katholisch-confessionelle Moment in seinem persönlichen Wirken wie in seinen Schriften betonen. Dies zeigte sich auch in Kellner’s politischer Stellung und Thätigkeit. Wiederholt gehörte er dem Hause der Abgeordneten an: 1849, 1850, 1867–71. Er hielt sich hier zu den gemäßigt Conservativen, seit 1867 zu den Freiconservativen, konnte sich aber den Einflüssen des Centrums zuletzt schon nicht ganz entziehen. Doch hielt er sich von allen ultramontanen Extremen fern und ließ zwischen sich und seinen protestantischen Freunden niemals eine trennende Mauer aufkommen. Unter diesen schätzte er besonders Karl Kehr, seinen jüngeren Rivalen auf dem Gebiete des deutschen Unterrichtes, dessen vorzeitigen Hintritt er 1885 mit schönen Worten freundschaftlicher Anerkennung betrauerte. Alles in allem genommen ist K. einer der edelsten, liebenswerthesten und verdientesten deutschen Männer, die im 19. Jahrhundert am Ausbau der deutsche Volksschule mitgearbeitet haben.
- Vgl. außer Kellner’s eigenen Schriften, besonders den Lebensblättern, die Nekrologe, namentlich den von Edmund Oppermann in der Deutschen Schulzeitung (1892, Nr. 39, 40) und Beck, Geheimrath Dr. Lorenz Kellner, (Metz 1894).