ADB:Pestalozzi, Johann Heinrich
Hotze nahe verwandt. Mit Heinrich wuchsen ein älterer Bruder und eine jüngere Schwester auf; der erstere, Joh. Baptist, ging in den Achtzigerjahren [433] aufs Meer und ist da verschollen; die Schwester, Anna Barbara, an der P. mit großer Liebe hing, verheirathete sich 1777 mit einem Kaufmann Große in Leipzig. Mutter Pestalozzi starb 1796.
Pestalozzi: Joh. Heinrich P. ist am 12. Januar 1746 in Zürich geboren. Sein Vater, Johann Baptist, der Sohn des Pfarrers Andreas Pestalozzi in Höngg, war Chirurg und hinterließ, als er im Juli 1751 starb, die Wittwe mit vier Kindern, deren eines bald nachher starb, in dürftigen Verhältnissen; dieselbe, Susanna Hotz, stammte vom Lande und war mit dem bekannten Arzt Hotz in Richterswyl und dem in österreichischen Diensten stehenden GeneralHeinrich P. war von Geburt schwächlich und kränklich. Die Verwaistheit und die Armuth der Familie waren auch nicht dazu angethan, die normale Entwicklung des Knabenalters zu befördern. Es fehlte für die Erziehung der weiterschauende Blick der väterlichen Leitung; aber was mütterliche Sorge leisten konnte, das wurde P. in reichem Maße zu Theil; und der Mutter zur Seite stand eine treue Magd, das Babeli, die, wie sie dem sterbenden Vater versprochen, derselben in hingebender Treue die Haushaltung durchdringen half. Die Schattenseite dieser Erziehung schildert P. selbst im „Schwanengesang“: „Ich wuchs an der Hand der besten Mutter als ein Weiber- und Mutterkind auf, wie nicht bald eines in allen Rücksichten ein größeres sein konnte. Ich kam, wie man bei uns sagt, jahraus jahrein nie hinter dem Ofen hervor; kurz alle wesentlichen Mittel und Reize zur Entfaltung männlicher Kraft, männlicher Erfahrungen, männlicher Denkungskraft und männlicher Uebungen mangelten mir in dem Grad, als ich ihrer bei der Eigenheit und bei den Schwächen meiner Individualität vorzüglich bedurfte.“ Und in „Lienhard und Gertrud“ schildert er bei der Erzählung von den Jugendverhältnissen des Pfarrers Ernst seine eigene Jugend, wenn er sagt: „Es hätte Alles aus ihm werden können, wenn er in seiner Jugend die Menschen von Angesicht zu Angesicht gesehen wie in den Büchern. Aber er sah nur seine Mutter und seine Magd, die himmelstreu war, aber den Buben einsperrte, damit er der armen Mutter wenig Geld koste.“
Die Folgen dieser jugendlichen Abgeschlossenheit von seinen Altersgenossen („damit er nicht unnützer Weise Kleider und Schuhe verderbe“) machten sich denn auch geltend, als Pestalozzi in die Schule kam. „Mit diesem Pestalozzi“, erzählt 1783 einer seiner Zeitgenossen, Pfarrer Schinz (1745–1790), „ging ich schon in die allerunterste Schule. Der Schulmeister behauptete, es könne und werde aus dem Knaben nie etwas Rechtes werden, und alle Schüler verlachten und verspotteten ihn wegen seiner unangenehmen Gesichtsbildung, seiner außerordentlichen Nachlässigkeit und Unreinlichkeit. In den höheren Schulen bekam P. den Ruf eines sonderbaren Menschen, der bei aller beibehaltenen unausstehlichen äußerlichen Unreinlichkeit und Unachtsamkeit dennoch, wenn es sein mußte und er einmal von seiner beständigen Gedankenzerstreuung zu sich selbst gebracht wurde, genau den Punkt traf, zu welchem man ihn leiten wollte.“ Und damit stimmt trefflich, was Pestalozzi in seiner Selbstschilderung vom Jahre 1802 sagt: „Ich war von Jugend auf der Narr aller Leute; meine Jugendführung gab meiner Lebhaftigkeit in tausendfachen träumerischen Ideen allgemeine Nahrung und ließ mich zugleich in Allem, was die Menschen Gewöhnliches genießen, können und thun, genußleer, ungeübt. Die Buben in der Schule schon schickten mich, wohin sie nicht gern gingen; ich ging, wohin sie nicht gingen und that, was sie wollten. Selbst beim großen Erdbeben (es ist wol dasjenige vom 9. December 1755 gemeint), wo die Präceptoren den Kindern schier über die Köpfe die Stiege herabgingen und es Keiner wagen wollte, wieder hinaufzugehen, ging ich und brachte ihnen Kappen und Bücher hinunter. Aber ich schickte mich doch nicht zu ihnen und hatte, ob ich schon gut lernte, dennoch im Gewöhnlichen und Täglichen was vorfiel ganz und gar nicht die Gewandtheit, die die Fähigern unter den Andern alle auszeichnete; auch lachten sie mich alle aus und gaben mir den Namen „Heiri Wunderli von Thorlikon“. Ich kann es ihnen nicht übelnehmen.“ Eingehend hat sich P. im „Schwanengesang“ über die Eigenthümlichkeiten [434] seiner Individualität, wie sie schon in seiner jugendlichen Entwicklung hervortrat, ausgesprochen. Nach diesen fremden und eigenen Zeugnissen treten in dem jungen P. Unbeholfenheit, Ungeregeltheit, Ueberwuchern der Einbildungskraft über die geordnete Verstandsbildung, geistvolle Erfassung dessen, was ihm zusagte, mit gänzlicher Vernachlässigung von alle dem, was seinem Gemüthe keine Nahrung gab, als charakteristische Züge hervor; alles das verbunden mit gelegentlich aufblitzender Energie und einer Gutmüthigkeit, „die alle Welt wenigstens so gutmüthig und zutraulich glaubte als sich selbst“; endlich auch darin die Art des Sanguinikers, daß es ihm nichts galt, wenn er auch „mit seinem Kopf in hundert und hundert Kleinigkeiten mehr als ein anderes Kind an die Wand stieß“. Suchen wir noch einen Ausdruck, der all das zusammenfassend bezeichnet, so hat, wie in manch Anderm, ihn P. selbst gegeben, wenn er von der starken Ausbildung seines „Traumsinns“ redet.
Dieser Träumersinn fand nun in den äußern Verhältnissen, in denen das reifere Jugendalter Pestalozzi’s sich bewegte, reichliche Nahrung. Die höheren Schulen von Zürich, die Pestalozzi besuchte, um Theologie zu studiren, standen damals nach Pestalozzi’s ausdrücklichem Zeugniß in wissenschaftlicher Beziehung ausgezeichnet gut. Es war die Zeit Bodmer’s, Breitinger’s, Steinbrüchels. Es war eine Zeit der Versenkung in die Ideale der classischen Welt. „Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Wohlthätigkeit, Aufopferungskraft und Vaterlandsliebe war das Losungswort unserer öffentlichen Bildung. Der Geist des Unterrichtes, den wir genossen, lenkte uns mit vieler Lebendigkeit und reizvoller Darstellung dahin, die äußeren Mittel des Reichthums, der Ehre und des Ansehens einseitig und unüberlegt gering zu schätzen und beinahe zu verachten. Das ging so weit, daß wir uns in Knabenschuhen einbildeten, durch die oberflächlichen Schulkenntnisse vom großen griechischen und römischen Bürgerleben uns solid für das kleine Bürgerleben in einem der schweizerischen Kantone und ihren zugewandten Orten vorzüglich gut vorbereiten zu können.“ Der von der Erdschwere sich loslösende idealische Geisteszug haftete aber nicht blos an den Persönlichkeiten, die auf P. und seine Mitschüler erzieherisch einwirkten; es war die Atmosphäre, in der die Bessern jener Zeit lebten und webten und sich über die Kleinlichkeit der Gegenwart erhoben. Was diese nicht darbot, suchte und fand man in der Vergangenheit, in Athen, Sparta und Rom, und bei den biedern Altvordern der eidgenössischen Heldenzeit. Pestalozzi’s Erstlingsarbeit „Agis“, die die Größe des alten Spartanersinns verherrlicht (1765), Lavaters Schweizerlieder, die Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft, Müller’s Schweizergeschichte geben Zeugniß von dieser Geistesrichtung. Oder man schwärmte mit Rousseau für die Rückkehr zur Natur; Geßner’s Idyllen riefen sanfte Rührungen hervor; der alte Bodmer bot seine Ideale in Patriarchaden dar.
Aber mit diesen sittlichen, socialen und politischen Phantasiegebilden stand die Gegenwart in so schneidendem Widerspruch, daß der Jugend nicht zu verdenken war, wenn sie an dem Anblicke derselben ihre sittliche Ueberzeugungskraft schärfen und gelegentlich auch ein wenig Weltgericht spielen wollte. Dazu bot ihr der gefeiertste Zürcher jener Zeit, der alte Bodmer, „der Vater der Jünglinge“, ein Mann von scharfem Blick und scharfer Zunge, Gelegenheit und Anregung auf seinen Spaziergängen im „Platz“ und durch die Stiftung der helvetischen Gesellschaft zur „Gerwe“. Diese versammelte sich wöchentlich einmal. Ausbreitung geläuterter Begriffe über das sittliche, politische, gesellschaftliche Leben war ihr Endzweck. Pädagogische, geschichtliche, moralische, politische Abhandlungen wurden da vorgelesen und besprochen. Mit Neujahr 1765 gründete dieses junge Zürich (die sog. „Patrioten“) sogar ein moralisches Wochenblatt, [435] den „Erinnerer“, der im Drucke erschien und es bis in den dritten Jahrgang hinein brachte, dann aber obrigkeitlich unterdrückt wurde.
Der Prophet dieser jungen Generation war Rousseau. Auch auf P. übte er entscheidenden Einfluß. „So wie sein Emil erschien (1762), war mein im höchsten Grade unpraktischer Traumsinn von diesem ebenso im höchsten Grad unpraktischen Traumbuch enthusiastisch ergriffen. Ich verglich die Erziehung, die ich im Winkel meiner mütterlichen Wohnstube und auch in der Schulstube, die ich besuchte, genoß, mit dem, was Rousseau für die Erziehung seines Emil ansprach und forderte. Die Hauserziehung, sowie die öffentliche Erziehung aller Welt und aller Stände erschien mir unbedingt als eine verkrüppelte Gestalt, die in Rousseau’s hohen Ideen ein allgemeines Heilmittel gegen die Erbärmlichkeit ihres wirklichen Zustandes finden könne und zu suchen habe. Auch das durch Rousseau neubelebte, idealisch begründete Freiheitssystem erhöhte das träumerische Streben nach einem größeren segensreichen Wirkungskreise für das Volk in mir. Knaben-Ideen, was in dieser Rücksicht in meiner Vaterstadt zu thun nothwendig und möglich sei, brachten mich dahin, den Stand eines Geistlichen, zu dem ich früher hinlenkte und bestimmt war, zu verlassen und den Gedanken in mir aufkeimen zu machen, es könnte möglich sein, durch das Studium der Rechte eine Laufbahn zu finden, die geeignet wäre, mir früher oder später Gelegenheit und Mittel zu verschaffen, auf den bürgerlichen Zustand meiner Vaterstadt und sogar meines Vaterlandes einigen thätigen Einfluß zu erhalten.“ P. führt also seinen Uebertritt von der Theologie zu rechts- und staatswissenschaftlichen Studien auf die Einwirkung der Schriften Rousseau’s zurück; thatsächlich ist er auch aus dem Carolinum, der höheren Lehranstalt Zürichs, nach den Schülerverzeichnissen vor Ostern 1766 ausgetreten, d. h. ehe er in die eigentliche classis theologica übergegangen wäre; somit fällt wol die gewöhnliche Erzählung, ein Mißgeschick bei der ersten Predigt sei Ursache des Berufswechsels gewesen, die zuerst Henning aus Iverdon mitgebracht, ohne Weiteres dahin.
Auch nach einer andern Seite hin übte Rousseau einen bemerkenswerthen Einfluß auf P. und seine Jugendgenossen aus. Der Apostel der Natur schlug für diese Städter die Brücke zum theilnehmenden Interesse und zur thatkräftigen Sympathie für die Verhältnisse der Landbevölkerung. Sie gehen aufs Land heraus, suchen zu ergründen, wie der Bauer denkt, was ihn drückt. Sie vergleichen ländliche und städtische Zustände und finden erstere unverdorbener, werden Schwärmer für Landleben und Landbau. Zu dieser Annäherung an das Landvolk hatte P., sowol bei den Verwandten seiner Mutter am Zürichsee, als namentlich bei seinem Großvater, dem Pfarrer Pestalozzi in Höngg, Gelegenheit. Vom Pfarrhaus aus lag es nahe den Blick in die Schule zu werfen, Vorzüge und Schattenseiten der ländlichen Erziehung abzuwägen, die Mängel des Volksunterrichtes zu erkennen. „Es fiel mir frühe auf“, sagt P. bei Besprechung seiner Höngger-Erinnerungen, „daß der Fehlerhaftigkeit der ländlichen Erziehung allgemein in ihrem Wesen unendlich leichter zu helfen sein könnte, als derjenigen der städtischen. Dabei war mir das Landvolk lieb. Ich bedauerte den Irrthum und die Ungewandtheit, in denen seine noch belebtere Naturkraft unbeholfen dastand und es regte sich sehr frühe in meinen jugendlichen Jahren ein lebendiger Gedanke, ich könnte mich fähig machen, diesfalls mein Scherflein zur Verbesserung der ländlichen Erziehung beizutragen. Es schien mir schon in meinen Jugendjahren heiter (bei P. stehender Ausdruck für: klar), dieses müsse in Kunsthinsicht durch die höchst mögliche Vereinfachung der gewohnten Schulunterrichtsmittel des Lesens, Schreibens und Rechnens angebahnt werden.“
Es war wirklich eine kühne Jugendgeneration, die sich um Lavater und [436] Füßli als ihre Vorkämpfer schaarte und bald auch P. als begeisterten Gesinnungsgenossen und thätigen Mitarbeiter in ihre Kreise zog. Im J. 1762 hatten sie durch eine anonyme Klagschrift die Regierung zur Bestrafung des Junkers Felix v. Grebel (des Eidams des um Staat und Wissenschaft hochverdienten regierenden Bürgermeisters Leu) genöthigt, welcher 1758–61 Landvogt in Grüningen gewesen. 1764 brachten sie einen ungetreuen Verwalter zur Flucht; 1765 verzeigten sie einen schlechten Pfarrer dem Antistes durch ein anonymes Billet; bei der Untersuchung nach dem Schreiber desselben wurde auch P. in Verhör genommen. Noch mehr stellte diesen in den Vordergrund die Entdeckung eines handschriftlichen „Bauerngesprächs“, in dem die Regierung die Aufforderung an die Unterthanen auf dem Lande erblickte, einem allfälligen Truppenaufgebot nach Genf sich zu widersetzen (Januar 1767). Mit aller Energie ward auf den unbekannten Verfasser gefahndet. P. hatte eine richtige Ahnung, wer der Thäter sei; er ging zu ihm, um ihn zu bereden, sich der Obrigkeit zu stellen; aber dieser – es war der cand. theol. Christoph Heinrich Müller (s. A. D. B. XXII, 521) – nachmaliger Professor in Berlin und Herausgeber des Nibelungen – floh, und nun kam P. in den Verdacht, ihn zur Flucht aufgemuntert und ihm dabei geholfen zu haben. Er ward vier Tage in Untersuchungshaft gehalten. Im Urtheil wurden die Kosten solcher Haft ihm und den Mitgenossen auferlegt, und angeordnet, daß denselben – P. ist dabei mit Namen erwähnt – das obrigkeitliche Mißfallen unter nachdrucksamem Zuspruch bezeugt werden solle. Das corpus delicti wurde vor dem Rathhaus feierlich verbrannt. Eine schriftliche Aufzeichnung berichtet weiter über den Ausgang: „Allen Patrioten soll ernstlich angezeigt werden, daß, wo sie künftig etwas wider den Staat reden sollten, sie ihres Burgerrechts sollten verlustig sein; die drei Klafter Holz müßten sie dem Henker bezahlen. Uebrigens solle die Commission ernste Untersuchung machen, wie diesem Uebel ferner zu steuern, auch wegen der gefährlichen Gesellschaften, und der „Erinnerer“ soll nicht mehr unter die Preß kommen. NB. Vogel trieb auf dem Rathhause ein Gespött und Dälliker und Pestalutz spazierten mit einer (Tabak-)Pfeifen auf der (benachbarten) Meisen-Zinne, als man die Schriften verbrannte.“
So sehen wir den Jüngling P. aus der Schüchternheit seiner frühern Jugend mit einem Male, fast vorzeitig, ins Leben der Oeffentlichkeit herausgetreten; und wie hier im Kampf gegen die Mängel des Staatslebens, so zu gleicher Zeit auch, getrieben vom Drang seiner genialen Natur die litterarische Concurrenz mit seinen Lehrern versuchend. Noch im hohen Alter erzählt er darüber mit einer sichtbaren inneren Befriedigung: „Mitten indem ich in einigen Theilen eines bestimmten Unterrichtsfaches hinter meinen Mitschülern weit zurückstand, übertraf ich sie in einigen anderen Theilen desselben in einem seltenen Grad. Das ist so wahr, daß ich einst, da einer meiner Professoren, der sehr wol Griechisch verstand, aber durchaus kein rhetorisches Talent hatte, einige Reden des Demosthenes übersetzte und drucken ließ, die Kühnheit hatte, mit den beschränkten Schulanfängen, die ich im Griechischen besaß, eine dieser Reden auch zu übersetzen und am Examen als Probestück meiner diesfälligen Vorschritte niederzulegen. Ein Theil dieser Uebersetzung wurde im Lindauer Journal einem Aufsatze, „Agis“ betitelt, beigedruckt. Meine Uebersetzung war auch unstreitig in Rücksicht auf Feuer und rednerische Lebendigkeit besser, als die des Herrn Professors, ungeachtet ich ohne alle Widerrede noch so viel als nicht Griechisch konnte, hingegen der Herr Professor wohl.“ P. war zur Zeit dieser seiner ersten litterarischen Veröffentlichung (1765) 19 Jahre alt und es wird wenige Schriftsteller geben, die durch mehr als 60 Jahre hindurch – „Schwanengesang“, [437] „Lebensschicksale“ und „Langenthaler Rede“ datiren von 1826 – sich die Frische für litterarische Productionen erhalten haben.
Das waren freilich nicht eben Vorstufen für rasche Beförderung im zürcherischen Staatsleben. Auch mochten Andere besser als P. selbst die Gefahren erkennen, denen seine Individualität in der juristisch-politischen Laufbahn entgegenging. Das Wort eines sterbenden Freundes, des hochbegabten und klarschauenden Joh. Kaspar Bluntschli (geb. 1742, † 24. Mai 1767 als cand. theol.) entschied und P. faßte nun („plötzlich“) den Entschluß, sich der Landwirthschaft zu widmen. Schon im Herbst 1767 begab er sich zu Tschiffeli nach Kirchberg (Kant. Bern) um sich in seinen Beruf einführen zu lassen. Im Herbst 1768 kam er zurück und kaufte dann, nachdem ein zürcherisches Kaufmannshaus ihm die Mittel, einen Versuch zur Krappcultur im Großen zu machen, vorgeschossen hatte, auf dem Birrfelde im Gebiet des damaligen Kantons Bern Land zusammen; er nannte das Gut, das er so am Fuße der Brunegg im „Letten“ bei Birr sich erwarb, den „Neuhof“; bis er das von ihm gleichzeitig in Bau genommene Landhaus beziehen konnte (Frühjahr 1771), wohnte er in dem benachbarten Dörfchen Müligen an der Reuß. Hier gründete er nun auch einen eigenen Hausstand. Am Sterbebette Bluntschli’s hatte ihn die gemeinsame Verehrung für den kranken Freund mit Anna Schultheß, der Tochter des Pflegers Schultheß zum „Pflug“ näher zusammengeführt; das Andenken an den Verstorbenen pflanzte gegenseitige Freundschaft, aus der Freundschaft ward Liebe, ideale, schwärmerische Liebe. Diese Liebe überwand alle Bedenken und Schwierigkeiten, und deren waren nicht wenige: Pestalozzi war mehr als sechs Jahre jünger denn seine Braut; er war arm, Anna’s Vater war reich, Anna war schön und gefeiert, P. häßlich und unordentlich. Die Eltern Anna’s waren entschieden gegen die Verbindung. Pestalozzi’s Darlegungen seiner öconomischen Plane setzten sie ein nur zu begründetes Mißtrauen entgegen. Nicht nur Verwandte und Jugendfreunde, selbst hochstehende Persönlichkeiten wie Bürgermeister Heidegger nahmen sich der Liebenden an. Endlich erfolgte die Einwilligung, aber nur so, daß die Mutter Schultheß erklärte, sie wolle sich der Verbindung nicht mit Gewalt entgegensetzen; sie ließen die Tochter ziehen, doch ohne Aussteuer. Am 30. October oder 2. October 1769 – das Datum ist nicht vollständig sichergestellt – fand die Trauung in Gebistorf bei Brugg statt.
In inniger Reinheit entfaltete sich das Familienleben. Das Tagebuch, das die beiden Gatten gemeinschaftlich führten, zeigt ihr innerstes Seelenleben in voller Offenheit; die ruhige, fromme Klarheit der Frau, ihre Verehrung und zarte Sorge für den „Geliebten“, seine wechselnden Stimmungen, die oft an Hypochondrie streifen, voller Seelenkämpfe. Am 19. August 1770 wurde Pestalozzi’s einziges Kind, ein Sohn, geboren, Hans Jakob[WS 1] oder „Jakobli“ wie er nachher im Hause hieß, in der Zeit, als die finanzielle Unternehmung Pestalozzi’s bereits dem Untergang verfallen war.
Die Mutter Schultheß hatte Anna mit den Worten entlassen: „Du wirst mit Wasser und Brod zufrieden sein müssen!“ Noch ehe die junge Haushaltung in den „Neuhof“ herüber ziehen konnte, begannen diese Worte sich zu erfüllen. P. hat in späterer Zeit seine Leidensgeschichte auf dem Neuhof in herzergreifender Weise geschildert, schon im „Schweizerblatt“ von 1782 in seinem „Nachruf an Iselin“ und dann wieder 1826 im Schwanengesang. Aber wir besitzen darüber auch einen Bericht von dritter Hand, das Urtheil eines in seinem Naturell von Pestalozzi gänzlich verschiedenen kühl und praktisch denkenden Freundes, in dem Briefe des Pfarrers Schinz, in welchem derselbe, der zudem als sachkundiger Experte Gelegenheit gehabt, einen unparteiischen Blick in die Verhältnisse zu thun, unterm 12. April 1783 einem Freunde über die Persönlichkeit [438] des Verfassers von „Lienhard und Gertrud“ Aufschluß gab. Dieser Bericht hält deutlicher als Pestalozzi’s eigene Darstellungen die verschiedenen Stadien der Unternehmung auf dem Neuhof 1769–1780 auseinander und mag daher in den Hauptpunkten hier seine Stelle finden:
„P. kaufte zu Birr bei 40 Morgen Landes, ließ ein zu seinen Absichten zweckloses, sonst sehr geschmackvolles Haus und andere Gebäude, gegen mein und aller Freunde Rath und Zureden aufführen und hoffte auf der Grappflanzung alle Auslagen wieder zu gewinnen. Die Grappflanzung gedieh übel. P. konnte nicht Rechnung halten, wie er sollte, weil er sich nie mit den Kleinigkeiten des Rechnungswesens beladen wollte, sondern nur im Großen es durchdachte. Daher entstand in seiner Oekonomie eine Verwirrung, die wichtiger war als er selbst glaubte. Von dem vornehmen Kaufmanne, der seine vielen tausend Gulden zugleich mit Pestalozzi’s eignem zugesetzten Gelde in der größten Gefahr sah, ward ich zum Mittelmann erbeten, weil derselbe sich auf meine etwelchen durch Erfahrung erworbenen, landwirthschaftlichen Kenntnisse verließ. Ich untersuchte und brachte es zur Liquidation, bei welcher der Kaufmann auf ca. 5000 Gulden freudigen Verzicht that, wenn damit dem unerfahrenen Speculanten geholfen werden konnte. Nach mißlungenem Versuche in der Grappcultur unternahm P. eine Sennerei, für die er seine Felder in Esparsettenbau verwandelte. Endlich gab er nach diesfälligen, ebenfalls schlechten Proben seiner Feldbaupraxis auch diese Idee auf um sie mit einer andern zu vertauschen, nämlich auf seinem Gute eine Erziehungsanstalt für verlaufene, heimathlose, von liederlichen Eltern schlecht besorgte Bettelkinder zu errichten. Nach dem Erziehungsplan mußten die Kinder bei gutem Wetter auf den Feldern arbeiten, bei schlechtem Wetter aber und im Winter ihr Brod mit Baumwolle spinnen gewinnen und verdienen lernen. P. gab einen weitläufigen, durch seine Beredsamkeit hinreißenden Plan dieser Anstalt im Drucke heraus, wodurch er vermittelst einer zinslosen Geldenthebung auf gewisse Jahre bei seinen Freunden die zu diesem Institut nöthigen Fonds sammelte. Für Zürich machte P. mich zum Sammler. – Ein paar Jahre ging die Sache gut; trefflich wenigstens waren die Nachrichten, die in Iselins Ephemeriden und in andern öffentlichen Blättern darüber gegeben wurden. Allmählich zog das Gerücht von dieser Anstalt dem P. mehrere Freunde aus der Versammlung (der helvetischen Gesellschaft) zu Schinznach zu. Diese kamen, nachdem P. zuvor in Kenntniß gesetzt worden war, in großer Anzahl zu ihm aufs Birrfeld. Auch ich war dabei und fand hier einen schicklichen Anlaß, dem P. die mir auffallenden Fehler in freundschaftlicher und vertraulicher Unterredung nachzuweisen. Hierauf ging es etwas besser; aber der weise und scharfsichtige Theoreticus, dabei höchst unglückliche Practicus, ließ sich eine andere Speculation beifallen. Er der mit Geld nicht umzugehen wußte, der den Mittelweg zwischen dem leichtgläubigsten Zutrauen und einem unbedingten Mißtrauen gegen die Menschen niemals kannte, der zum Calculiren und Scripturiren, zum gemeinen Handel und Verkehr viel zu gut war, dehnte seine Spinnereien auf Kaufhandel mit Baumwollbüchern, auf Besuchung der Messen u. s. w. aus. Dadurch kam die Erziehungsanstalt in Abgang, die Haushaltung in Verlust und er selbst in solche Gefahr seines Vermögens und seines ehrlichen Namens, daß er nur durch völlige Nachsicht seiner Gläubiger und mit Hilfe und Unterstützung seiner Freunde von Verzweiflung und gänzlichem Untergange zu retten war. Er war in der dringendsten Noth und hatte gar oft in seinem sonst anmutigen Landhause weder Geld noch Brot, noch Holz, sich vor Hunger und Kälte zu schätzen. Dazu kam noch eine traurige langwierige Krankheit seiner Frau, Druck und Unterdrückung, Zertretung von Innen und Außen.“
Fragen wir uns, welche Stellung diese erste Periode des praktischen Wirkens [439] 1769–1780 auf dem Neuhof in Pestalozzi’s Leben einnehme und was sie zu seiner pädagogischen Entwicklung beigetragen, so ist vor Allem, wie schon Mörikofer richtig gesehen, festzuhalten, daß zunächst durchaus nicht Gedanken pädagogischer Art P. nach dem Neuhof geführt haben. Und wenn P. sich zu Anfang der Siebzigerjahre auf dem Neuhof pädagogisch beschäftigt hat, so war dies die Beschäftigung des liebenden Vaters mit seinem einzigen Söhnlein, über den er ein nachher von Niederer in Bruchstücken veröffentlichtes Tagebuch führte. Wir gewinnen aus dieser Zeit durchaus den Eindruck eines Mannes, der mit seinen Unternehmungen in erster Linie die Existenz seiner Familie sicher stellen will und von dieser Sicherstellung die Möglichkeit abhängig macht, seinen edeldenkenden Sinn auch für weitere Kreise zu bethätigen. Anders gestalteten sich freilich die Verhältnisse, als P. 1774 dazu kam, zur Hebung seiner ökonomischen Bedrängniß eine Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof zu begründen und durch diese Unternehmung dazu geführt ward, seine Erziehungsideen auch theoretisch klar zu stellen. In der Hauptsache gewiß richtig hat Niederer – zwar nicht Augenzeuge, aber nachmals von P. zu seinem Biographen bestimmt und wol auch instruirt – den Gedanken dieser Anstalt folgendermaßen präcisirt: „Pestalozzi’s erstes diesfalls in seinem Lebensgange Epoche machendes Unternehmen, war ein im eigentlichen Sinne ökonomisch-pädagogischer Speculationsversuch. Im Besitze eines beträchtlichen Landgutes war er überdies Associé einer Baumwollenfabrik und eines Handelshauses. Sein Landeigenthum war cultivirbar, aber durchaus unangebaut und verwildert. Er wollte es durch Benutzung ungebrauchter, ebenso vernachlässigter menschlicher Kräfte anbauen und in Aufnahme bringen. Der Grundsatz von dem er ausging, bestand auf den kürzesten Ausdruck zurückgeführt, darin: die einen durch die andern gegenseitig so zu benutzen, daß der Mensch die Natur, die Natur hinwieder den Menschen cultivire. Der Fabrikationserwerb und Handelsbetrieb, den er damit verknüpfte, sollte einerseits die Subsistenzmittel der Anstalt vermehren und sichern, andrerseits selbst wieder als Uebungs- und Bildungsmittel der menschlichen Kräfte benützt und so die physischen Bedürfnisse der Kinder mit den Forderungen der Fabrikation und des Handels, diese mit der Anregung und Benützung der menschlichen Kräfte in Uebereinstimmung gebracht werden. Von Seite des Gemüthes stützte sich das Unternehmen auf den menschenfreundlichen Trieb der Armenhülfe. Bettelkinder sollten dem Bettel entrissen werden, ihr Brot selbst verdienen lernen und dabei die Kosten ihrer Erziehung sogar mit ökonomischem Vortheil, für den Unternehmer vergüten. Der Gedanke war neu, großartig und verkündete einen Fürsten im Gebiete der Civilisation“. Noch merkwürdiger aber und folgenreicher als die praktische Durchführung und die speciell pädagogische Seite des Unternehmens waren die theoretischen Ideen, auf welche P. durch dieses Unternehmen geführt wurde und welche er in seinen „Briefen über die Erziehung der armen Landjugend“ 1777 in Iselins Ephemeriden niedergelegt hat. Nicht durch Wohlthätigkeit sondern durch Entwicklung der in den Menschen, auch in den ärmsten liegenden Kräfte ist der Menschheit zu helfen. Alle Volksbildung ist somit Bildung zur Industrie, d. h. Anleitung zur richtigen Entfaltung und Verwerthung der im Volke liegenden Arbeitskräfte. Dadurch schafft sich die Armenerziehung die Hülfsmittel unabhängiger Existenz und so zugleich die Mittel ihrer eignen unendlichen Entwicklung. Um dies Ziel zu erreichen, ist aber nothwendig, die Armuth in der Armuth und für die Armuth zu erziehen; die Erziehung zur Erwerbsthätigkeit der theoretischen Bildung vorangehen zu lassen und dann den Unterricht mit der Arbeit zu verbinden; als Arbeitsbranche die ertragfähigste auszuwählen und darum zum mindesten die gewerbliche Fabrikation der Landwirthschaft an die Seite zu stellen; endlich diese Arbeit in großem Maßstabe zu [440] organisiren; in dieser Organisation der Arbeit auf Grund einer Erweiterung der Familie als Collectivgenossenschaft aller bethätigten Arbeitskräfte zu gemeinsamen Einsatz ihrer Thätigkeit für das Gesammtarbeitshaus dämmern bereits die socialen Zukunftsideen des 19. Jahrhunderts herauf.
Es ist bereits gesagt worden, daß auch dieses Unternehmen äußerlich mißlang und warum es mißlang. Die Anstalt, die 30–40 Kinder beherbergt hatte, mußte sich 1780 auflösen. P. selbst schildert dieses Ergebniß kurz und klar in den einfachen Worten: „Mein Versuch scheiterte auf eine herzzerschneidende Weise. Meine Frau hatte im Uebermaß ihres Edelmuthes ihr Vermögen beinahe ganz für mich verpfändet. Ehe ich mich versah, steckte ich in unerschwinglichen Schulden und der größere Theil des Vermögens und der Erbhoffnungen meiner lieben Frau war gleichsam in Rauch aufgegangen. Unser Unglück war entschieden. Ich war jetzt arm.“ Pestalozzi’s Verwandte kauften ihm den Neuhof ab, damit er die dringendsten Gläubiger befriedigen könne; von nun an hatte er nur noch die Nutznießung, nicht mehr den Besitz des Gutes. Aber diese Armenerziehungsanstalt ist doch die Wiege der pädagogischen Ideen Pestalozzi’s geworden und hat durch ihn der Menschheit den reichsten Gewinn gebracht. Nicht vergeblich hatte er auf die Ruhe seines Familienlebens verzichtet um der Erziehung armer Kinder zu leben, und mit diesen armen Kindern wie ein Bettler gelebt, um sie wie Menschen leben zu machen.
Doch was sollte er jetzt anfangen, mittellos, creditlos wie er war? Seine Freunde, vor Allem Iselin in Basel, wiesen ihn auf die Schriftstellerei. Und nach einigen kleinern Arbeiten („Abendstunde eines Einsiedlers“, „Ueber Aufwandgesetze in einem kleinen handeltreibenden Freistaat“) entstand sein Volksbuch „Lienhard und Gertrud“, in das er seine psychologischen Erfahrungen niederlegte und das ihn mit Einem Mal zu europäischem Ruhme emporhob. Dieses wunderbare Buch, dessen erster Theil auf die Frühlingsmesse 1781 zunächst anonym erschien und in den Jahren 1783, 1785, 1787 weitere Theile als Fortsetzungen erhielt, ist durchaus der geniale Wurf eines Autodidakten. „Die Geschichte floß mir (erzählt der Verfasser) ich weiß nicht wie aus der Feder, und entfaltete sich von selbst ohne daß ich den geringsten Plan davon im Kopfe hatte oder auch nur einem solchen nachdachte. Das Buch stand in wenigen Wochen da, ohne daß ich eigentlich nur wußte wie ich dazu gekommen.“ Den Schlüssel zu der Bedeutung des Werkes aber gibt er selbst, wenn er die Situation nach Auflösung der Armenerziehungsanstalt schildert: „Das Entgegenstreben gegen mein Unglück führte jetzt zu nichts mehr. Indessen hatte ich in der unermeßlichen Anstrengung meiner Versuche unermeßliche Wahrheit gelernt und unermeßliche Erfahrungen gemacht und meine Ueberzeugung von der Wichtigkeit (Richtigkeit?) der Fundamente meiner Ansichten und meiner Bestrebungen war nie größer als in dem Zeitpunkt, in dem sie äußerlich ganz scheiterten. Auch wallte mein Herz immer unerschütterlich nach dem nämlichen Ziel, und ich fand mich jetzt im Elend in einer Lage, in der ich einerseits die wesentlichen Bedürfnisse meiner Zwecke, andrerseits die Art und Weise wie die mich umgebende Welt über den Gegenstand meiner Bestrebungen in allen Ständen und Verhältnissen wirklich denkt und handelt, erkennen und mit Händen greifen lernte. Ich sage es jetzt mit innerer Erhebung und mit Dank gegen die ob mir waltende Vorsehung: selber im Elend lernte ich das Elend des Volks immer tiefer und so kennen, wie sie kein Glücklicher kennt. Ich litt was das Volk litt und das Volk zeigte sich mir, wie es war und wie es sich Niemand zeigte.“
Die Grundgedanken von Lienhard und Gertrud sind leicht heraus zu finden; wir schließen uns in unsrer Darlegung derselben in der Hauptsache an die Auseinandersetzung, die Mann von denselben gibt (in s. Einleitung zu L. und G.)
[441] Gertrud sagt: Wenn es nichts als Arbeit und Verdienst brauchte die Armen glücklich zu machen, so würde bald geholfen sein, aber das ist nicht so: bei Reichen und bei Armen muß das Herz in Ordnung sein, wenn sie glücklich sein sollen. Der Mittelpunkt der Erziehung ist daher die sittliche und zwar die religiös-sittliche Erziehung; aber diese Selbstaufraffung des Menschengeschlechts kann nicht befohlen oder geschenkt werden, sie muß von Innen heraus, von unten herauf wachsen und es gilt für die Freunde der Menschheit nur, dieser Selbstentwicklung Handreichung zu thun.
Jene Emporhebung vollzieht sich nun in Pestalozzi’s Buch in concentrischen Kreisen, zunächst in der Einzelfamilie, dann in Gemeinde und Staat, und ihr Hauptfactor ist die Mutter, das Centrum des häuslichen Kreises. Sie ist die erste und natürlichste Lehrerin der Kinder; sie knüpft alle Lehren an ihre nächsten Verhältnisse, auch die Lehren der Religion, die ihr Quelle der Sittlichkeit ist. In den Gaben, die sie den Kindern gibt, zeigt sie ihnen Gaben Gottes, in ihrer Liebe Gottes Liebe; dem Dank der Kinder gegen die Eltern gibt sie die Richtung auf Gott und so gründet sie auf das Kinderverhältniß in der Familie den Glauben an Gott, die Liebe zu ihm und dem Nächsten. In dem engen Kreis der Familie liegt auch der natürliche Boden für die Einsichtsbildung und die Uebungsstätte für das, was das äußere Glück schafft, Thätigkeit und Treue im Kleinen.
Nun ist aber der thatsächliche Zustand der Dinge derart, daß das Glück der Einzelfamilie durch die allgemeinen Zustände der Gemeinde mitbedingt ist; hier tritt Arner helfend ein; aber selbst ein Arner darf nicht rechnen die Generation der Erwachsenen umzuwandeln. Die Sorge richtet sich daher vor Allem auf die Jugend, und da das im Allgemeinen tief gesunkene Familienleben nicht die Kraft hat, den Neubau der social-sittlichen Reform ausreichend und gesichert zu tragen, tritt zum Ersatz und zur Ergänzung die Schule ein. „Da man nicht daran sinnen kann, daß die verderbten Spinnereltern ihre Kinder zu so einem ordentlichen und bedächtlichen Leben anhalten und auferziehen werden, so bleibt nichts übrig, als daß das Elend dieser Haushaltungen fortdauert, so lang das Baumwollspinnen fortdauert und ein Bein von ihnen lebt“, sagt der Baumwollenmeyer, „oder daß man in der Schule Einrichtungen macht, die ihnen das ersetzen, was sie von ihren Eltern nicht bekommen und doch so unumgänglich nöthig haben.“ Der Zweck der Idealschule Pestalozzi’s ist also Erziehung; Erziehung zu den Sitten ein Hauptstück der von ihm gezeichneten Schule im Hause der Gertrud; durch die Schule will er die Menschen bilden, deren Hand, Herz und Kopf gleichmäßig und ihrer eigenthümlichen Lebenslage entsprechend entwickeln. Schulmeister ist ihm daher nicht ein Mann von Gelehrsamkeit, sondern ein Mann, der zufolge seiner frühern Beschäftigung die Welt gesehen, die Menschen kennen und behandeln gelernt, der Lieutenant Glüphi (Lieutenant: wol mit Doppelsinn, „Unterofficier“ und „Stellvertreter“ Pestalozzi’s), ein Mann, mit klarem Blick, warmen Herzen und fester Hand, und ihm geht Gertrud, die Mutter, helfend zur Seite. Die Erziehung der Hand ist hier theoretisch noch dargestellt wie sie P. auf dem Neuhof praktisch geübt, als Erziehung auf Grund der Anleitung zu beruflicher und gewerblicher Thätigkeit. So hat denn auch den ersten Gedanken einer solchen Schule der Baumwollenmeyer, ein Mann der sich durch Bedächtlichkeit, praktischen Sinn und Sparsamkeit aus der Armuth zum Wohlstand emporgearbeitet, in welchem verwirklicht ist, wozu P. die Bevölkerung erziehen will. In der Erziehung des Herzens hilft der Pfarrer Ernst, der in Verbindung mit dem Lieutenant sich bemüht, die Kinder auch von Seite der Religion aus, zu einem stillen, arbeitsamen Berufsleben zu führen, durch feste Angewöhnung an eine weise Lebensordnung, die Quellen unedler, schandbarer [442] und unordentlicher Sitten zu verstopfen, und auf diese Weise den Grund der stillen, wortleeren Gottesanbetung und der reinen thätigen und ebenso wortleeren Menschenliebe zu legen. Und zu diesem Ziel zu gelangen, bindet er jedes Wort seiner kurzen Religionslehre an das Thun und Lassen der Kinder, an ihre Umstände und das Berufsleben ihres Hauses also, daß wenn er mit ihnen von Gott und Ewigkeit redet, es immer scheint, er rede mit ihnen von Vater und Mutter, von Haus und Heimath, kurz von Sachen die sie auf der Welt nahe angehen.
Die Sorge für den Kopf dagegen ist die ausschließliche Domäne Glüphis, d. h. der Schule. Glüphi wirkt, daß was in den Kopf hinein müsse, heiter und klar sei, wie der stille Mond am Himmel. Er beugt dem Kopfverdrehen bei seinen Kindern dadurch vor, daß er sie vor Allem aus genau sehen und hören lehrt, durch Arbeit und Fleiß die kaltblütige Aufmerksamkeit übt und zugleich den reinen Natursinn der in jedem Menschen liegt, in ihnen stärkt. Für P. ist die Anschauung nicht blos ein Mittel sich irgend einen Unterrichtsgegenstand leicht und sicher anzueignen, sie ist ihm zunächst ein Mittel zur Stärkung der Geisteskraft selbst, ihr Zweck ist für ihn hauptsächlich ein formaler: das Anschauen an und für sich ist also zu üben und zur Kraft auszubilden; denn „recht sehen und hören ist der erste Schritt zur Weisheit des Menschen“. In einer solchen Schule regiert der Geist ernster Liebe und eine auf überlegene Geisteskraft sich stützende Autorität, nicht das „Narrenholz“. Nach den Erfahrungen des Neuhof verbindet P. mechanische Handarbeit (Spinnen) mit dem Unterricht. Und auch darin stützt sich P. auf die Erinnerung an seine Armenerziehungsanstalt, daß er an die Möglichkeit glaubt, eine so einfache Unterrichtsmethode zu finden, mit welcher ein jeder recht verständige Bauersmann, wenn er nur schreiben und rechnen könne, in der Hauptsache ebensoviel ausrichten würde wie Glüphi. „Es brauchte nicht einmal, daß ein Mann nur selber rechnen könnte, und ich habe mit meinen Augen einen Mann gesehen, der seine Rechnungstabellen mit einer ganzen Stube voll Kinder gebraucht hat und damit fortgekommen ist.“
Die psychologischen und socialen Ideen wie sie P. bei dem Werke der Volksreform vorschweben, hat er in „Arners Gesetzgebung“ niedergelegt. Die Hauptpunkte derselben sind etwa folgende: 1. Der Mensch muß aus einem Naturmenschen zum sittlichen Menschen erst erzogen werden. 2. Das kann nur geschehen von Innen heraus durch die Entbindung der in ihn gelegten Kräfte. 3. Diese Kräfte kommen zur gesunden Entfaltung auf Grund der Uebung in den nächsten Individualkreisen (Segen der Wohnstube). 4. Zu ihrer weitern Entwicklung ist nothwendig, daß durch die Sorge der Gemeinschaft rechtlich festgestellte Verhältnisse des staatlichen Lebens dem Menschen der seine Pflichten erfüllt, eine bürgerlich ehrenhafte Existenz und Erwerbsfähigkeit, unabhängig von den Launen und Gnadenerweisungen der Machthaber, garantiren. 5. Der Staat hat nicht nur die Pflicht unrechtlichen Uebergriffen zu wehren, sondern von sich aus eingreifend seine Angehörigen zu bürgerlicher Ehrenhaftigkeit und Erwerbsfähigkeit zu erziehen, und den Unordnungen die lähmend einwirken könnten, prophylaktisch entgegenzutreten. 6. Indem die Gemeinde durch Organisation der gegenseitigen Handbietung gleichsam die Familie im Großen zur Darstellung und dieses Familienbewußtsein durch gemeinsame Prüfungsstunden und sinnbildliche Festfeiern zum Ausdruck bringt, leistet sie für das Volksleben, was die Einzelfamilie für deren Angehörige: sie verbürgt die Aufrechthaltung einer festen und weisen Ordnung und jeglichen Fortschritt. – 7. Die Bildung des Menschen baut auf seinen Kopf, auf seine Hände und Füße und nicht auf sein Herz auf. 8. Sie beginnt damit, daß die Menschen angehalten werden, in Sachen ihres [443] Brodkorbs ihre Augen zu gebrauchen und rechnen zu lernen und besteht darin, daß die Bildung und Erhebung aller wahren Kräfte unserer Natur begünstigt und ihre Abschwächungen, sowie ihre Verwilderung verhütet werde; verzichtet daher auf alle abstracten Allgemeinheiten und tritt allen Arten der Träumerstimmung entgegen. 9. Die Kopfbildung ist somit auch unabhängig von der Religionslehre durchzuführen; letztere – die übrigens strenge von allen theologisch gelehrten Fragen frei zu halten ist, – bildet nicht die Grundlage, sondern den Schlußstein der Volksbildung, die „auf das Fundament der festen und vollendeten Mauern einer weisen bürgerlichen Bildung gebaut“ ist. 10. Aber die Endzwecke einer wahrhaft weisen Gesetzgebung stimmen mit den Endzwecken einer wahrhaft weisen Religion überein und die Mittel, unser Geschlecht durch eine gute bürgerliche Gesetzgebung zu veredeln, sind innerlich gleich mit den Mitteln dasselbe durch den Dienst des Allerhöchsten zu veredeln.
Solche Zwecke wie sie Arner mit dem Dorfe Bonnal verfolgt, können nur dann auf die Dauer mit Erfolg erstrebt werden, wenn der Staat sie sanctionirt und adoptirt. Es gilt darum, die beiden Vorurtheile zu widerlegen, daß dem Volke zu helfen eine Unmöglichkeit sei und daß Volksbildung dem Staate gefährlich werden könne. Dieser Widerlegung ist neben der positiven principiellen Darlegung der 4. (letzte) Theil von Pestalozzi’s „Lienhard und Gertrud“ gewidmet. Das Buch endet damit, daß der Herzog bei seinem Besuch in Bonnal die Ideale seiner Jugend wirklich erfüllt und damit erfüllbar findet. Charakteristisch ist dabei, daß P. jenen Vorurtheilen zwei Anschauungen entgegenstellt, die dem Gedankenkreis der ganzen vorrevolutionären Zeit angehören, aber bei ihm zu besonderer Schärfe sich ausbilden und fundamentale Bedeutung gewinnen. Sobald die Reformen ins Große gehn, wie bei der Umwandlung des Dorfs und bei der gehofften Umwandlung des Volkslebens überhaupt, ist es Aufgabe und Vorrecht der obrigkeitlichen Macht, der ruhigen Umgestaltung von unten herauf, durch ihr Eingreifen von oben herab einen beschleunigten Gang zu geben und geben zu können; dieser Glaube an die Macht des aufgeklärten Despotismus tritt uns sowol in den spätern Theilen von „Lienhard und Gertrud“ als in seinem Commentar „Christof und Else“ in unzweideutiger Weise entgegen, und wir finden uns auch bei Pestalozzi’s Darlegungen lebhaft an das Wort Schillers gemahnt: „Wo sich die Völker selbst befrein, da kann die Wohlfahrt nicht gedeih’n.“ Daß aber die Obrigkeit, daß die höhern Schichten der Gesellschaft zu den von P. für die Veredlung und Hebung der Menschheit geplanten Reformen wirklich die Hand bieten, das hängt nicht von zufälligen Gutmüthigkeitserregungen ab; das wohlverstandene Interesse der Herrschenden selber kann ihnen zeigen, daß die Sicherstellung ihrer eigenen Macht und Rechte abhängig und erst erreichbar ist durch die Sicherstellung der Rechte des gemeinen Manns und eine vernünftige, den Kräften freien Spielraum gebende Ordnung des Volkslebens; eine solche Staatspolitik ist die beste und die einzige Verunmöglichung der Revolution; der klardenkende Egoismus und die Humanität führen auf den nämlichen Wegen dem nämlichen Ziele entgegen, und daher gilt es nur, das Interesse des Egoismus diesem selbst klar zu stellen und ihm die Möglichkeit zu beweisen, daß mit Arners Mitteln mathematisch sicher im Großen und Allgemeinen zu erreichen sei, was Arner in Bonnal erreicht hat. So erklärt es sich, daß des Herzogs Rathgeber Bylifsky das Ergebniß seiner Berathungen mit den Ministern der Finanz und Justiz über die Mittel die der Staat anzuwenden habe, um Arners Reform zu adoptiren und im Großen durchzuführen, in dem Vortrag an den Fürsten dahin zusammenfassen kann: „Wir haben die Sache geprüft und sehen keine andere Last, die dadurch auf den Staat fallen kann, voraus, als die Errichtung eines neuen Lehrstuhls, um Ihre Edelleute mit den [444] Grundsätzen einer besseren Volksführung bekannt zu machen, und einer Landescommission, um Jedermann, der Neigung zeigt, mehr oder weniger von diesen Grundsätzen auszuführen, mit Rath und Leitung an die Hand zu gehen.“
Es sind wahrlich Reformen umfassendster Art, deren Ideen P. „in seiner Einsiedelei träumend“ erfaßt und die er in „Lienhard und Gertrud“ niedergelegt hat. Von der stillen Hütte der Gertrud aus erweitert sich der Blick auf Gemeinde und Staat, auf die ganze civilisirte Menschheit; von der Ordnung des Hauses auf Politik, Recht und Religion, auf die sämmtlichen Ideenkreise der Menschheit. In seinem Geiste sah sich P. als der denkende Schöpfer einer idealen Gesetzgebung der Menschheit gleich den größten Denkern des Alterthums, gleich Männern, die im Mittelalter durch ein weise Ordnung der nationalen Verhältnisse ihr Volk zu Kraft und Wohlstand emporgeführt; und es ist für Pestalozzi’s Denkart überaus bezeichnend, daß er in dem Kreise gleichgesinnter Freunde, der wie er selbst die Beglückung der Menschheit sich zum Ziele gesetzt, als Mitglied des Illuminatenordens, sich „Alfred“ nannte, d. h. sich den Namen jenes großen angelsächsischen Fürsten und Staatsordners hat beilegen lassen, den eben in jener Zeit Haller als Idealbild eines constitutionellen Gesetzgebers vor Augen gestellt (A. v. Haller, Alfred König der Angelsachsen. Göttingen und Bern 1773). Der Traum war göttlich schön, aber es war eben nur ein Traum, mit dem die Wirklichkeit in immer grelleren Contrast trat. Der Enthusiasmus den der erste Theil von „Lienhard und Gertrud“ erregt, minderte sich schon beim zweiten, und der dritte und vierte, die so recht eigentlich mit Pestalozzi’s Herzblut geschrieben waren, ließen kalt und fanden wenige Leser. Nicht minder traf dieses Schicksal Pestalozzi’s zweites Volksbuch „Christof und Else“, in welchem er die Ideen, die in „Lienhard und Gertrud“ zu Grunde liegen, eingehender besprach (1782). Pestalozzi’s Hoffnung als Schriftsteller einflußreich zu wirken und so abgesehen von der Bestreitung seines Lebensunterhaltes auch seinem Gemüth und Herzen Befriedigung zu verschaffen, schwanden so zu sagen mit jeder Publication mehr dahin. Seine Wochenschrift „Ein Schweizerblatt“ (1782) brachte es nicht über einen Jahrgang heraus. Die umfangreiche Schrift „Ueber Gesetzgebung und Kindermord“ (1783) scheint bei den Zeitgenossen wenig Eindruck hervorgebracht zu haben. Die umgearbeitete Ausgabe von „Lienhard und Gertrud“ 1790–92 vermochte das Interesse für dieses Buch so wenig aufs neue zu beleben, daß P. bei der dritten Ausgabe 1804 wieder auf die ursprüngliche Gestaltung zurückgriff. Als P. dann in den Neunzigerjahren angesichts der großen Weltereignisse sich der Besprechung politischer Fragen zuwandte und im Februar 1793 ein größeres Manuscript abschloß: „Ja oder Nein, Aeußerungen über die bürgerliche Stimmung der Europäischen Menschheit in den obern und untern Ständen, von einem freien Mann“ brachte es schon der Inhalt mit sich, daß er dasselbe ungedruckt in sein Pult legen mußte; erst vor einem Jahrzehnt ist es der Leserwelt unter verändertem Titel im Druck zugänglich gemacht worden (Seyffarth, Pestalozzi’s Werke Bd. XVII, 311 ff. „Ueber die Ursachen der französischen Revolution“). Ebenso erging es den politischen und nationalökonomischen Denkschriften, die er anläßlich der Begebenheiten im Canton Zürich, des Stäfner Aufstandes 1795 und der vor 1798 sich neu entwickelnden Gährung in den Zürcherschen Seegemeinden entwarf (gedruckt in Zehnder-Stadlin S. 765 ff.). Das einzige Buch, mit dem P. einigermaßen den Geschmack seiner Zeit getroffen und das daher einige Jahre später eine zweite Auflage erlebte, sind seine „Fabeln“ oder wie sie in erster Auflage heißen „Figuren zu meinem ABC-Buch“ 1797.
Aber die schlimmste Erfahrung machte P. mit dem Werke, dessen Plan er anderthalb Jahrzehende in sich herumtrug, und in welchem er den ganzen Inhalt [445] seines Denkens über Menschenwesen und Menschenwohl zusammenfaßte und an welchem er drei Jahre lang „mit unglaublicher Mühseligkeit“ schrieb. Es ist das ein Versuch, seine Ideen in philosophischer Darlegung zu begründen und auszugestalten. Das Buch erschien ebenfalls 1797, unter dem Titel: „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“. Dasselbe ist durchdrungen von der Wehmuth, theilweise auch von der Verbitterung eines nutzlosen zertretenen Daseins. Und wenn er dann im Verlauf seiner Auseinandersetzungen seine Zeitgenossen bittet, seiner Offenheit doch wenigstens ihre Aufmerksamkeit, seinem Irrthum ihre Widerlegung zu gönnen, so gesteht die Anmerkung der Gesammtausgabe seiner Werke zu dieser Stelle: „Diese Bitte ist nicht erhört worden; es hat beinahe Niemand von dem Dasein dieser Nachforschungen, die schon vor mehr als zwanzig Jahren im Publicum erschienen, Notiz genommen.“
Man begreift, daß unter diesen Verhältnissen Kummer und Sorgen den Neuhof nicht verließen. Immerhin trat gegenüber der Zeit der Auflösung der Armenanstalt eine Besserung der äußern Lage ein. Es ist bekannt, daß das Verdienst diese angebahnt zu haben, jener Dienstmagd „Lisabeth“ (Elisabeth Näf von Kappel Kt. Zürich) gebührt, in der die Zeitgenossen das Urbild der „Gertrud“ sahen und ehrten. Dann halfen Basler Freunde (Felix Battier, Sohn) finanziell nach, so daß das Gut wieder ordentlich bebaut werden konnte. Selbst der Fabrikationsbetrieb wurde wieder aufgenommen, nicht mehr auf eigene Rechnung, sondern indem ein benachbartes Geschäft (Laué & Co. in Wildegg) Arbeit gab. Gegen Ende der Neunzigerjahre erschien P. sogar nominell als Chef eines Seidenhauses in Fluntern bei Zürich, indem er als Städter das bürgerliche Monopol des Fabrikationsbetriebes durch Uebertragung seines Namens einem thatsächlich von Landbewohnern (Heinrich Notz zur Platte in Fluntern) geführten Geschäft gegen eine – wie die Tradition geht bedeutende – jährliche Geldleistung zuwandte. Seit 1790 stand P. für den Erwerb der Familie sein Sohn Jacob auf dem Neuhofe zur Seite; 1791 verheiratete sich derselbe mit A. Magd. Fröhlich von Brugg; mit einer Enkelin Marianne (geb. 1794, † 1802), der später (1798) ein Enkel Gottlieb nachfolgte, zog neues junges Leben in den Neuhof ein. Einzelne Freunde suchten den Verfasser von „Lienhard und Gertrud“ auf dem Neuhofe auf, wie der nachmalige Staatsrath Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767–1839) und traten mit ihm in bleibende freundschaftliche Beziehungen. P. selbst und seine Frau konnten sich wieder freier bewegen. Wie letztere oft längere Zeit bei ihrer Freundin, der Frau von Hallwyl sich aufhielt, so sehen wir P. 1792 seine längst in Aussicht genommene Reise nach Deutschland zum Besuch seiner Schwester in Leipzig unternehmen; den Winter 1793–94 bringt er bei seinen mütterlichen Verwandten in Richterswyl zu; hier besuchten ihn Fernow, Baggesen[WS 2] und Fichte. Besonders mit letzterem trat er in nähern Gedankenaustausch; beide trafen sich in ihren Anschauungen und ihren Interessen für die französische Revolution; es ist wol eine Folge des Zusammentreffens mit Fichte, daß P. sich nun entschloß, in den „Nachforschungen“ seine eignen Ideen zu philosophischer Darlegung zu bringen, und andrerseits hat Fichte seiner Hochachtung für Pestalozzi’s Erziehungsgedanken, nachdem sie mittlerweile in Thatleistungen übergegangen, durch die „Reden an die Deutsche Nation“ ein unvergängliches Denkmal gesetzt. An den Versammlungen der helvetischen Gesellschaft nimmt P. jetzt wieder regern Antheil, nunmehr bereits inmitten einer jüngern Generation; seine Freunde sind gelegentlich nicht ohne Besorgniß, daß seine Hand bei den politischen Unruhen in seinem Heimathkanton mit im Spiele sei und fürchten für seine Sicherheit (Pestalozziblätter 3. Jahrg. 1882, S. 25 ff.).
[446] Aber bei alledem fühlte sich P. nichts weniger als glücklich. Kränklichkeit seiner Frau, der sehr ängstliche Gesundheitszustand seines Sohnes – derselbe hatte schon als Lehrling in einem Handelshause in Basel epileptische Zufälle gehabt, die sich später wiederholten und 1801 seinem Leben ein frühes Ende machten – waren ein Grund für solche Stimmung; der andre bestand darin, daß P. immer dringender nach einem praktischen Erprobungsfeld für seine Ideen sich sehnte. In der Schweiz waren die Verhältnisse zu klein und enge, als daß er je hoffen konnte, hier seinen Wunsch erfüllt zu sehen; sein Briefwechsel mit Iselin, mit deutschen Illuminaten. mit dem Minister Karl von Zinzendorf in Wien legen Zeugniß davon ab, daß er seit Anfang der Achtzigerjahre sich in steigendem Maße mit der Hoffnung trug, in Wien, bei Joseph II., oder durch Großherzog[WS 3] Leopold Verwendung zu finden. Als diese Aussicht sich mit dem Tode Leopolds II. gänzlich zerschlug, wandten sich seine Blicke nach Frankreich. Von der französischen Nationalversammlung in einer ihrer letzten Sitzungen (26. August 1792) zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt (neben Schiller, Campe, Wilberforce u. a.), dachte er während der Schreckensherrschaft 1793 ernstlich daran nach Frankreich zu gehen, aber auch hier scheint ihn – zu seinem Glücke – eigentlich Niemand ernstlich herbeigewünscht zu haben; so unterblieb die Reise, damit schwand aber auch diese letzte Aussicht. Wie unglücklich sich P. über diese „Nutzlosigkeit seines zertretenen Daseins fühlte, davon geben die ersten seiner „Fabeln,“ das Nachwort der Nachforschungen und der „Brief über den Aufenthalt in Stans“ Zeugniß; am tiefsten läßt in seinen damaligen Seelenzustand der Brief blicken, den P. von Stans aus an seine Freundin von Hallwyl schrieb: „Es geht, es geht in allen Theilen; ich lösche die Schande meines Lebens aus; die Tugend meiner Jugend erneuert sich wieder; wie ein Mensch, der Tage lang im Moder und Koth bis an den Hals versunken, seinen Tod nahe sieht, und die Vollendung seiner dringendsten Reife vereitelt sieht, also lebte ich Jahre, viele Jahre in der Verzweiflung und im Rasen meines unbeschreiblichen Elends; ich hätte der ganzen Welt, die um mich herstand und mich also sah, nur ins Gesicht speien mögen; woran konnte ich mich mehr halten? Aber jetzt sehe und fühle ich mich wieder außer meinem Koth; ich sehe und fühle mein Schicksal mit dem Schicksal andrer Menschen gleich, bin auch selbst wieder ein Mensch, und versöhne mich so gern mit meinem Geschlecht und selbst mit denen, die unermüdet waren, Wasser in die Grube meines Elends zu leiten. Zerbrechet den Becher meines Elendes und trinket mit einem Menschenglas auf meine Errettung, auf mein Werk, auf meine Besserung!“
P. hatte bereits sein dreiundfünfzigstes Lebensjahr angetreten und war von dem Gefühl des nahenden Alters niedergedrückt, als die helvetische Staatsumwälzung des Jahres 1798 die alte Eidgenossenschaft der dreizehn Orte in Trümmer warf. Die Besten der Männer, die nun ans Ruder gelangten, schauten zu ihm als ihrem Altmeister in pietätvoller Hochachtung empor. Und P. selbst sah in der Staatsumwälzung die Morgenröthe, ja das Kommen eines neuen Tages und machte aus seinen Jubelgefühlen darüber kein Hehl.
Auf zweierlei Weise konnte er, an die neue Einheitsregierung sich anschließend, die Erfüllung seiner Wünsche für Volksbeglückung anstreben, als Politiker und Erzieher. Im ersten Fall mußte er darauf ausgehen, das Vertrauen der Männer der Regierung dadurch zu gewinnen, daß er mit der Macht seines Wortes zwischen sie und die Volksstimmung vermittelnd und verständigend trat und dadurch auch sich selbst bei jenen Gehör für seine Culturideen verschaffte. Wie Wenige schien gerade er dazu geeignet eine solche Vermittlung wirksam durchzuführen und der Gedanke daran hatte nicht nur äußern, sondern auch innern Reiz. Pestalozzi’s Weltverbesserungspläne wiesen ihn geradezu diesen Weg und er hat zuerst auch diesen betreten. Er schrieb Broschüren, Flugschriften, um das [447] Volk für die neuen Einrichtungen zu stimmen; er nahm die Redaction des „Helvetischen Volksblattes“ an, eines officiösen Organs, das die Regierung schuf, um Belehrung sittlicher und politischer Art von Staatswegen zu verbreiten, und es ist merkwürdig: bei allen folgenden Wendepunkten der Schicksale der vaterländischen Geschicke, hat P. der Versuchung nicht widerstehen können, die Bahn eines politischen Rathgebers zu betreten; so 1802, als er seine „Ansichten über die Gegenstände, auf welche die Gesetzgebung Helvetiens ihr Augenmerk vorzüglich zu richten hat“ schrieb und sich als Abgeordneten zur Consulta nach Paris wählen ließ; 1814, als er der Reaction mit seiner umfangreichen Schrift „An die Unschuld, den Ernst und den Edelmuth meines Zeitalters und meines Vaterlandes“ entgegen zu treten suchte; und noch 1826 ist die „Rede die ich als Präsident der helvetischen Gesellschaft zu Langenthal gehalten habe“ im Wesentlichen eine Zusammenfassung patriotisch-politischer Betrachtungen. Es zeigt sich hierin bei P. eine Ader ächt republikanischen Sinns, der an der Idee festhält, daß Staats- und Volksleben nicht zwei auseinanderfallende Kreise sind, und daß wer für das Volksleben eintreten will, gegenüber dem Wohl und Wehe des Staates nicht gleichgültig bleiben darf.
Aber ebenso merkwürdig ist: so gefeiert der Name Pestalozzi’s war und wurde, so hat doch jedesmal der Instinct der öffentlichen Meinung herausgefühlt, daß hierin nicht Pestalozzi’s Bedeutung liege; der Strom der Entwicklung rauschte über diese seine Kundgebungen dahin, ohne daß sie einen nennenswerthen Einfluß auszuüben vermocht hätten, und ihm blieb, wenn er anderes gehofft – und wie hätte ein solcher Sanguiniker nicht anderes hoffen sollen! – auf diesem Gebiete nichts als mehr oder weniger bittere Enttäuschung. Zum Idealpolitiker war er mit dem Reichthum, der Tiefe und der Reinheit seines Gemüthes geschaffen; zum Realpolitiker fehlte ihm die Ruhe und Unvoreingenommenheit objectiver Prüfung, die Unabhängigkeit von dem momentanen Eindruck der ihn umgebenden Persönlichkeiten und Verhältnisse, das heißt nicht viel weniger als Alles!
Und so ging es denn auch dies erste Mal. Von der allgemeinen Anschauung aus, daß die Zukunft auf der Möglichkeit der Consolidation der neuen Staatsverhältnisse beruhe, ließ er sich zur Rechtfertigung von Dingen hinreißen, die kaum durch die Noth der Zeit entschuldbar waren, und schneller als er erkannten die Freunde, daß er bei längerer politischer Bethätigung nur sich selbst rasch abnutzen werde. Er selbst freilich sah darin Undank und Verkennung, und wunderlich mischen sich daher Anklagen und Selbstgeständnisse in dem Urtheil, das er 1801 über die Männer der Helvetik in seinem Buche: „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ niederlegte: „Ich irrte mich nicht nur in jedem Schlauen, ich irrte mich in jedem Narren, und traute Jedem der vor meinen Augen stand und ein gutes Wort redete, auch eine gute Meinung zu. Aber dennoch kannte ich das Volk und die Quellen seiner Verwilderung und Entwürdigung vielleicht wie Niemand; aber ich wollte nichts, gar nichts als das Stopfen dieser Quellen und das Aufhören ihrer Uebel, und Helvetiens neue Menschen (novi homines), die nicht so wenig wollten und das Volk nicht kannten, fanden natürlich, daß ich nicht zu ihnen paßte; diese Menschen, die in ihrer neuen Stellung wie schiffbrüchige Weiber jeden Strohhalm für einen Mastbaum ansahen, an dem die Republik sich an ein sicheres Ufer treiben könne, achteten mich, mich allein für einen Strohhalm, an dem sich keine Katze anschließen könnte. Sie wußten es nicht und wollten es nicht, aber sie thaten mir Gutes; sie thaten mir mehr Gutes, als mir je Menschen Gutes gethan haben. Sie gaben mich mir selbst wieder und ließen mir im stillen Staunen über die Umwandlung ihrer Schiffsverbesserung in einen [448] Schiffbruch nichts übrig als das Wort, das ich in den ersten Tagen ihrer Verwirrung aussprach: Ich will Schulmeister werden! dafür fand ich Vertrauen.“
Und so betrat denn P. den andern, stillern, mühsamern, aber für ihn allein richtigen Weg, die Erfüllung seiner Menschheitspläne von unten herauf, als Erzieher, zu versuchen. Es scheint, daß Joh. Lucas Legrand, Präsident des helvetischen Directoriums (geb. 1755, † 1836), ein äußerst wolwollender Mann, der aber gleich P. als Politiker nicht eben in seinem Elemente war, zuerst P. in diesen Gedanken bestärkte; als dann Ph. Alb. Stapfer (geb. 1766, † 1840) sein Amt als Minister der Künste und Wissenschaften antrat, fand P. zu seinem Vorhaben bei ihm die treueste und unerschütterliche Unterstützung; auch Dr. A. Rengger (geb. 1764, † 1835), früher der Hofmeister des jungen Ph. E. Fellenberg, jetzt Minister des Innern, half mit. Stapfer bot P. zunächst die Leitung eines neu zu begründenden helvetischen Lehrerseminars an; P. lehnte aber ab, mit dem Bemerken, er wolle seine Ideen für eine bessere Erziehung erst in einer Kinderschule erproben und ihre Resultate sicher stellen. Eben als er daran gehen wollte, diese Absicht auszuführen, ereignete sich die Katastrophe von Stans (9. September 1798). „Das Unglück von Unterwalden“, erzählt P. selbst, „entschied über das Local das ich wählen mußte. Ich ging gern. Mein Eifer, einmal an den großen Traum meines Lebens Hand anlegen zu können, hätte mich dahin gebracht, in den höchsten Alpen, ich möchte sagen, ohne Feuer und Wasser anzufangen, wenn man mich nur einmal hätte anfangen lassen.“
Am 5. December 1798 ward P. vom Directorium mit der Leitung des Waisenhauses in Stans beauftragt. Die Aufgabe war, den Kindern der Unterwaldner, die durch den Einfall der Franzosen Eltern und Heim verloren, von Seiten der Regierung Obdach und Erziehung zu verschaffen. Die Regierung gewährte mit einer bei ihrer schlimmen finanziellen Lage doppelt anerkennenswerthen Bereitwilligkeit die nothwendigen Mittel. Am 7. December siedelte P. nach Stans über – seine Familie blieb auf dem Neuhof zurück; am 14. Januar 1799 konnten die ersten Zöglinge aufgenommen werden; ihre Zahl stieg bald auf 50, im Lauf des Frühjahrs auf 80. Am 8. Juni mußte die Anstalt sich auflösen, da das Herannahen der Alliirten die Errichtung von Lazarethen im Rücken der französisch-helvetischen Armee nothwendig machte, und das Kloster in Stans, das bisher als Local für das Waisenhaus gedient, dafür gut gelegen und geeignet schien; P. selbst war von der Anstrengung aufs äußerste erschöpft und spie Blut; aber auch nachdem der Kriegslärm verrauscht war und P. sich erholt hatte, ward dieser nicht zurückberufen; er hatte in Stans geleistet, was eben nur ein Pestalozzi leisten konnte; und was man nun für die Weiterführung der Anstalt nöthig hatte, das konnte jeder gewöhnliche Verwalter oder Lehrer mindestens ebensogut zur Zufriedenheit der Centralbehörde durchführen als Pestalozzi.
Was hat P. in Stans geleistet? Man darf vor allem nicht vergessen, daß die ganze Zeit seiner dortigen Wirksamkeit auf fünf Monate zusammengeht. Man darf nicht vergessen, daß P. als Protestant in ein katholisches Land, als Organ einer durch fremde Waffen unter allen Gräueln des Kriegs wieder zur Autorität gelangten Regierung nach Stans kam. Man darf auch nicht vergessen, daß die praktische Organisationskraft für das Verwaltungsdetail ihm abging und daß er nicht mit festen methodischen Grundsätzen für den Unterricht, sondern recht eigentlich um diese erst zu finden und zu prüfen, die Stelle angenommen. Nichts desto weniger kann constatirt werden, daß P. auch in diesen Beziehungen auf den Aufenthalt in Stans mit Befriedigung zurückblicken durfte. Gerade diejenigen, die seinem Werke am nächsten standen und aus persönlichen und principiellen Interessen am meisten berufen waren, Kritik zu [449] üben, ließen ihm am meisten Gerechtigkeit widerfahren. „Freund, kannst du glauben“, schrieb er unmittelbar nach seinem Abgang von Stans an Geßner, „die größte Herzlichkeit für mein Werk fand ich bei den Kapuzinern und Klosterfrauen. Thätiges Interesse an der Sache nahmen wenige außer Truttmann (neben diesem, dem damaligen Regierungscommissär, waren es laut Belegen vor allem die Pfarrer Businger und Odermatt). Die, von denen ich am meisten hoffte, waren so sehr in politische Verbindungen und Interessen vergraben, daß diese Kleinigkeit ihnen bei ihrem großen Wirkungskreis nicht bedeutend sein konnte.“ Am Schluß seiner Thätigkeit sah sich P. im Stande, von den 6000 Franken, die er erhalten, 3000 wieder zurückzugeben; das war doch wol ein Beleg dafür, daß er es verstanden, mit den ökonomischen Mitteln hauszuhalten. Und was die geistige Anregung, die von ihm ausging, betrifft, so darf auf die Briefe Businger’s und Truttmann’s hingewiesen werden, von denen der letztere im Februar an Rengger folgendermaßen schrieb: „Im Armenhause geht es gut, Vater Pestalozzi arbeitet Tag und Nacht über Hals und Kopf. Wirklich speisen und arbeiten 62 Kinder im Hause. Zum Schlafen aber bleiben nur 50, aus Mangel an Betten. Da ist es zum Erstaunen, was der gute Mann leistet, und wie weit die Zöglinge, die voll Wißbegierde sind, in dieser kurzen Zeit schon vorgerückt sind.“ Aber der nämliche Truttmann drängte nachher bei Pestalozzi sowol als beim Minister darauf, daß eine feste Organisation und ein geordneter Lehrplan eingeführt werde, und traf damit den Nagel völlig auf den Kopf, wenn er schrieb: „Ich bewundere den Eifer des Bürgers Pestalozzi und seine rastlose Thätigkeit für diese Anstalt; er verdient Ehre und Dank; aber ich sehe ein, daß er die Sache, wenn sie bis auf einen gewissen Grad gebracht ist, in Ordnung und mit gutem Erfolg durchzuführen und seine Ideen zu realisiren außer Stande ist.“ Für den Alltagsmechanismus einer Anstalt war P. nicht geschaffen; das jedoch, was die erste Zeit einer solchen Anstalt brauchte, selbstlose Hingebung der ganzen Persönlichkeit, um Herzen zu gewinnen, Kräfte zu werben, das hat der alte Pestalozzi in Stans in einer einzigartigen Weise geleistet. Daß er den Kindern alles in allem, Lehrer und Vater und Mutter zugleich war, daß er auch hier wie aus dem Neuhof sich keinen Augenblick besann, mit seinen armen Kindern arm zu sein, um ihnen alles zu werden, das ist Pestalozzi’s ewiger Ruhm, der sich nicht nach der Dauer seines Aufenthalts in Stans mißt. Darum hat sich auch für die Zeitgenossen, wie für ihn selbst, die Erinnerung an seine dortige Wirksamkeit verklärt, und erschienen ihm noch im späten Greisenalter die Tage in Stans als „die höchsten Segenstage seines Lebens.“
Denn P. blieb sich seinerseits bewußt, daß er diesen Tagen in Stans Unermeßliches verdanke. Sie hatten ihm das Bewußtsein seiner Kraft wiedergegeben; sie hatten ihn in aller Noth und gerade um dieser Noth willen instinctiv zu den Quellen gelangen lassen, an denen ihm die Erkenntniß der Möglichkeit aufging, daß und wie Unterricht und sittliche Erziehung auf ihre Elemente zurückgeführt werden können; „es war eigentlich das Pulsgreifen der Kunst, die ich suchte – ein ungeheurer Griff – ein Sehender hätte ihn nicht gewagt; ich war zum Glück blind, sonst hätte ich ihn auch nicht gewagt. Ich wußte bestimmt nicht was ich that, aber ich wußte, was ich wollte, und das war: Tod oder Durchsetzung meines Zweckes.“ So fand P. in Stans den Weg zu dem Ziele, dem sein Herz wie ein mächtiger Strom schon seit den Jünglingsjahren entgegen gewallt war, die Quelle des Elends zu stopfen, in das er das Volk um sich her versunken sah. Diese Ueberzeugung belebte ihn auch, als er ferne von Stans für seine geschwächte Gesundheit im Freundeshause auf dem [450] Gurnigel Heilung suchte: „Es war nicht mein Ufer, es war wie ein Stein im Meere, auf welchem ich ruhete, um wieder zu schwimmen. Ich vergesse diese Tage nicht, so lange ich lebe, sie retteten mich, aber ich konnte nicht leben ohne mein Werk, selbst in dem Augenblicke, da ich auf des Gurnigels Höhe das schöne unermeßliche Thal zu meinen Füßen sah, denn ich hatte noch nie eine so weite Aussicht gesehen, und dennoch dachte ich bei diesem Anblick mehr an das übelunterrichtete Volk, als an die Schönheit der Aussicht. Ich konnte und wollte nicht leben, ohne mein Werk.“
Nach seiner Rückkehr vom Gurnigel fand P. durch Vermittlung des helvetischen Oberrichters Schnell Gelegenheit, in Burgdorf an einer Elementarschule seine Versuche fortzusetzen (wahrscheinlich August 1799). Ueber Pestalozzi’s Schulhalten in Burgdorf besitzen wir nun die Darstellung eines Augenzeugen, Johannes Ramsauer (1790–1848), des nachmaligen Mitarbeiters Pestalozzi’s, welcher in jenen Jahren als Schüler bei P. war; diese Schilderung erklärt hinlänglich, warum Pestalozzi’s Unterricht auch in Stans von denjenigen, die nicht in den Kern der Sache vordrangen, hatte mit Mißtrauen beobachtet werden müssen.
Und doch trotz allen diesen äußeren Unvollkommenheiten trat allmählich zu Tage, daß P. sich nicht vergeblich abmühte. Als zu Ende März 1800 nach achtmonatlicher Wirksamkeit die Prüfung stattfand, legte die Schulcommission von Burgdorf ihren Befund in einem Zeugnisse nieder, das ihr selbst zu nicht minderer Ehre als P. selber gereicht. „In dem Alter von 5–8 Jahren, in welchem nach der bisherigen marternden Methode die Kinder die Buchstaben kaum sillabiren und lesen gelernt, haben Ihre Schüler nicht nur diese Pensen in einem bisher ungewohnten Grade der Vollkommenheit zu Ende gebracht, sondern die fähigsten unter ihnen zeichnen sich bereits als Schönschreiber, Zeichner und Rechner aus. Bei Allen haben Sie die Neigung zur Geschichte, Naturgeschichte, Meßkunst, Erdbeschreibung u. s. w. zu erwecken und zu beleben gewußt, daß ihre künftigen Lehrer, wenn sie von diesen Vorbereitungen vernünftigen Gebrauch zu machen wissen, ihre Arbeit ungemein erleichtert finden müssen. Aus Ihren Händen oder aus den Händen eines nach Ihrer Methode zu Werke gehenden Lehrers werden künftig die oberen Schulen nicht mehr mit Kindern besetzt werden, an welchen Jahre lang gearbeitet werden muß, nur an jenen ersten Elementen nachzupflastern, sondern mit Kindern, die von dieser Seite nichts vermissen lassen und deren Köpfe schon mit reellen Kenntnissen angefüllt sind. – Möchte Ihr glühender Eifer für die praktische Anwendung Ihrer trefflich ausgedachten und auf die menschlichen Bedürfnisse so genau berechneten Theorie nicht etwa wieder in bedrängten Lagen unsers Vaterlandes, in Eifersucht wie andern Leidenschaften oder in Mangel an öffentlichen Hülfsmitteln Hindernisse antreffen – möchten Sie durch keinerlei Umstände von Ihrem Lieblingsgeschäft, der Bildung und der Veredlung der Kinderwelt, abgezogen werden. Möchten wir nicht zu klein sein, um etwas zu diesem großen Plane beizutragen!“ –
P. freilich betrachtete auch Burgdorf nicht als seine bleibende Stätte. Er dachte daran, auf dem Neuhof eine Erziehungsanstalt zu gründen; aber die helvetische Regierung konnte ihm die gewünschte Beisteuer an Holz nicht bieten und damit zerschlug sich der Plan. Aber nach andern Seiten zeigte sich, daß die Zeit der Prüfung für ihn ihrem Ende nahe sei. Das allgemeine Interesse begann sich seinen Versuchen zuzuwenden. Stapfer hatte auch in den schwersten Stunden den Glauben an ihn nicht sinken lassen; er veranlaßte nun, daß der helvetische Vollziehungsrath (die damalige Executive) P. durch eine Anleihe von 1600 Fr. den Druck seiner Elementarbücher ermöglichte; der Beschluß erfolgte einstimmig. Aber Stapfer wandte sich auch an das Interesse der gebildeten Kreise [451] überhaupt; durch seinen Schwager Schnell ward zu anfang Juni 1800 eine patriotische Gesellschaft von Erziehungsfreunden in Bern gebildet, in der bestimmten Absicht, die Bestrebungen Pestalozzi’s dadurch zu unterstützen und zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Eine Commission aus ihrer Mitte – Paul Usteri von Zürich und Joseph Lüthi von Solothurn waren dabei mit bethätigt – erhielt den Auftrag, Pestalozzi’s Methode an Ort und Stelle su prüfen; der Bericht, den sie im Herbst abstattete, fiel außerordentlich günstig aus.
Inzwischen war aber in Pestalozzi’s persönlicher Stellung eine große und entscheidende Veränderung vorgegangen. Wir erinnern uns jenes Planes von Stapfer im J. 1798, ein helvetisches Lehrerseminar zu gründen. Der Versuch einer solchen Schulanstalt war, nachdem P. und Andere abgelehnt, durch Joh. Rud. Fischer[WS 4] von Bern, Stapfers Secretär, unternommen worden; die helvetische Regierung hatte ihm dafür das Schloß Burgdorf eingeräumt. Die Noth der Zeit modificirte den ursprünglichen Plan; mit Hülfe der wohlhabenden Familien Burgdorfs gelang es Fischer, für eine Schaar armer Appenzellerkinder in Burgdorf und Umgebung Quartier zu finden; Fischer hatte dabei ersucht, den Kindern einen jungen Mann beizugeben, der Lust habe, Schulmeister zu werden, er wolle dann seine Ausbildung übernehmen. Der Kindertransport, 19 Knaben und 7 Mädchen, kam am 26. Januar 1800 in Burgdorf an, mit ihm Hermann Krüsi, ein junger Lehrer mit offenem Kopfe und gutem Verständniß für die Kinderwelt, aber von höchst mangelhafter Berufsbildung. Krüsi fuhr in Burgdorf fort, seine Appenzellerkinder zu unterrichten, während er selbst theoretisch und praktisch Fischers Lehrschüler geworden war. Im übrigen gerieth die Ausführung des Plans einer Lehrerbildungsanstalt ins Stocken; Fischer siedelte schon am 2. April nach Bern über und trat bei Stapfer wieder als Secretär ein; seine Kraft war durch das Fehlschlagen seiner Hoffnungen gebrochen; am 11. Mai 1800 starb er, erst achtundzwanzig Jahre alt. P. war es, der zuerst Krüsi die Todesnachricht mittheilte und sie zugleich mit der freundlichen Einladung begleitete, Krüsi möge seine Schule mit derjenigen Pestalozzi’s vereinigen. In Krüsi fand nun P. einen Mitarbeiter, wie er ihn unter Tausenden nicht besser hätte finden können. Er besaß, was P. abging, die Kunst des praktischen Schulhaltens, in hohem Maße, und war zugleich einsichtig und bescheiden genug, um sich voll und ganz der geistigen Leitung Pestalozzi’s zu unterziehen. Durch Krüsi beredet schloß sich noch im Sommer der Theologe Tobler, ebenfalls ein Appenzeller, dem Unternehmen an; dieser seinerseits beredete den würtembergischen Buchbindergesellen Buß, ihm unmittelbar nachzufolgen. Die helvetische Regierung gab für die Anstalt, die Erziehungsanstalt, Seminar und Waisenhaus in sich schließen sollte, unentgeltlich die nöthigen Localitäten im Schlosse, dazu Holz- und Pflanzland. Im October 1800 ward die Anstalt eröffnet; ihre Entwicklung als Erziehungsinstitut drängte aber bald die andern Zwecke in den Hintergrund. In demselben gelangte P. dazu, die praktischen Consequenzen seiner Grundgedanken zu ziehen und mit Hülfe seiner drei ersten Mitarbeiter ihre Verwerthung für die Unterrichtspraxis in Angriff zu nehmen. Nachdem er bereits 1800 in einem Bericht an die Commission der Erziehungsgesellschaft den Versuch gemacht, den sich in ihm gestaltenden Ideen Ausdruck zu geben, arbeitete er nun eine größere Schrift zu diesem Zwecke aus: „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“, die 1801 erschien und in ähnlicher Weise wie „Lienhard und Gertrud“, aber weit folgenreicher, das Interesse der gebildeten Welt für den Verfasser und seine Ideen in Anspruch nahm. Dieses Buch, das den Einfluß Pestalozzi’s auf das Schulwesen des 19. Jahrhunderts begründet hat, besteht in 14 Briefen an seinen Freund Geßner (Buchhändler in Bern). In den drei [452] ersten Briefen schildert er die Vorbereitung, die er selbst, Krüsi und Buß, – Tobler war bereits wieder aus Pestalozzi’s Kreise geschieden, kehrte aber später in denselben wieder zurück – zu dem Werke mitgebracht; in Brief 4–11 die Resultate seiner Beobachtungen und der gemeinschaftlichen Arbeit für die Denkbildung (intellectuelles Gebiet), in Brief 12 diejenigen für die Bildung der Fertigkeiten (auf physischem und sittlichem Gebiet); Brief 13 und 14 besprechen die Anwendung dieser Grundsätze auf das Centrum der Menschenbildung, die Bildung zu sittlicher Religiosität. Der Titel entspricht dem Inhalt wenig, es sei denn, daß man in dem Namen „Gertrud“ das einfachmenschliche, ruhig beobachtende, pädagogische Denken personificirt sieht; das Ziel, auf das die Darstellung hinsteuert, ist, zu zeigen, daß man durch richtiges Elementarisiren des Wissens die schlichteste Mutter in den Stand setzt und ihr damit Recht und Pflicht auferlegt, ihre Kinder selbst richtig zu erziehen; also könnte etwa der Titel dem Inhalt in der Fassung angepaßt werden: „daß Gertrud ihre Kinder erziehen kann und darum auch soll!“
P. hat später noch zu wiederholten Malen seine Methode im Zusammenhang dargestellt: 1807 in den „Ansichten und Erfahrungen, die Idee der Elementarbildung betreffend“; 1809 in der „Rede über die Elementarbildung“, die P. bei der Versammlung der Gesellschaft der Erziehungsfreunde in Lenzburg hielt („Lenzburger Rede“), die aber nur in der von P. veranlaßten Ueberarbeitung durch Niederer im Druck erschienen ist; 1818 in der „Rede an mein Haus“; 1818/19 in „Briefen über Elementarbildung an J. P. Greaves Esq.“, die bis jetzt nur in englischer Uebersetzung bekannt sind (letters on early eduation), 1826 im „Schwanengesang“ und in dem „Versuch einer Skizze über das Wesen der Idee der Elementarbildung“, den er für die Helvetische Gesellschaft ausarbeitete (Pestalozzibl. 3. Jahrg. 1882, S. 49 ff.). Wesentliche Umbildungen der Grundgedanken fanden aber nicht mehr statt und da es im Zusammenhang dieser Arbeit nur darum sich handeln kann, die Grundzüge von Pestalozzi’s pädagogischem Denken zu geben, die in dem Buche „Wie Gertrud etc.“ in ihrer historischen Entwicklung dargeboten sind, schließen wir hier einen kurzen Umriß derselben an.
Der Grundgedanke Pestalozzi’s ist die Psychologisirung des Unterrichts und der Geistesbildung, d.&nbep;h. Unterricht und Geistesbildung sollen dem geistigen Fassungsvermögen angepaßt werden. Wenn es nun gelingt, den Bildungsstoff in seine Elemente zu zerlegen, so ist es klar, daß die Elementarbildung mit der Elementarentwicklung des Kindes, d. h. schon im Säuglingsalter desselben sich verbinden und deshalb in die Hand der Mutter gelegt werden soll. Schon diese ersten Einwirkungen sind der Kunstbildung, d. h. bewußter Planmäßigkeit zu unterwerfen.
Nun ist alle Kunst nur dann wahrhafte Kunst, wenn sie dem Gang der Natur sich anschließt und ihre ganze Kraft ruht auf der Uebereinstimmung mit der physischen Natur. Die Natur aber zeigt mit Klarheit in ihren Schöpfungen, welchen Gang auch die Kunst der geistigen Bildung ins Auge zu fassen habe. Denn der Mechanismus der sinnlichen Menschennatur – und auf die sinnliche Empfindung und Anschauung baut ja die geistige Entwicklung auf – ist in seinem Wesen den nämlichen Gesetzen unterworfen, durch welche die physische Natur allgemein ihre Kräfte entfaltet. Nach diesen Gesetzen soll aller Unterricht das Wesentlichste seines Erkenntnißfachs unerschütterlich tief in das Wesen des menschlichen Geistes einprägen, dann das weniger Wesentliche allmählich, aber mit ununterbrochener Kraft, an das Wesentliche anketten und alle ihre Theile bis an das Aeußerste des Faches in einem lebendigen, aber verhältnißmäßigen Zusammenhang mit dem Wesentlichen erhalten: wie dies im Reich der Natur [453] beispielsweise der Einblick in die Entwicklung des Baumes lehrt. Daraus leitet P. im nähern seine Naturgesetze für die kunstmäßige Entwicklung der geistigen Kräfte oder die Erziehung ab: fürs erste sind die Anschauungen zu ordnen und das Einfache zu vollenden, ehe man zum Entwickelten fortschreitet; dann gilt es alle wesentlichen zusammengehörenden Eindrücke von Dingen (Merkmale) im Geiste in eben den Zusammenhang zu bringen, in dem sie sich in der Natur wirklich befinden; weiterhin sie durch möglichstes Zusammenwirken der verschiedenen Sinne allseitig und vollständig zur Wahrnehmung zu bringen; ferner sie ohne Einmischung unserer Willkür als unbedingt nothwendig auf uns einwirken zu lassen; und endlich durch Reichthum und Vielseitigkeit in Reiz und Spielraum uns zur freien Beherrschung derselben zu erheben. – P. nennt diese Gesetze physisch-mechanische Gesetze und leitet sie nachträglich auf eine dreifache Quelle zurück, d. h. er begründet sie durch drei psychologische Erfahrungsthatsachen: 1. daß das Geistesleben seiner Natur nach von dunklen Anschauungen ausgeht um zu deutlichen Begriffen zu gelangen; daraus ergibt sich die Nothwendigkeit, diese Anschauungen in die einfachen Grundtheile zu zerlegen, aus denen sie bestehen und die bleibenden Bestandtheile ihrer Erscheinungsform vor den wechselnden hervorzuheben; so wird das Vorstellungsleben vor Irrwegen behütet und durch Eine klare Anschauung die leichte Aufnahme ganzer Reihen verwandter Anschauungen vermittelt; – 2. daß mit dem Anschauungsvermögen die (in ihrer unmittelbarer Bethätigung der Täuschung unterworfene) Sinnlichkeit der menschlichen Natur allgemein verwoben sei; daraus folgt die Nothwendigkeit eines allmählichen langsamen Gangs der Erkenntniß, damit dieselbe von sinnlichen Trübungen abgeklärt zu allseitiger Ausreifung gelange; – 3. daß für die Deutlichkeit der Anschauung „das Verhältniß der äußern Lage des zu erkennenden Gegenstandes mit meinem Erkenntnißvermögen (d. h. die räumliche Entfernung des Objects vom Subject) maßgebend sei, daraus folgt die Nothwendigkeit, die Gegenstände dem Erkenntnißvermögen nahe zu bringen, und das Nächstliegende, ja den Mittelpunkt dieses Kreises, das Kind selbst, als ersten Unterrichtsstoff zu verwenden. – Also geht unsere Erkenntniß von Verwirrung zur Bestimmtheit, von Bestimmtheit zur Klarheit, und von Klarheit zur Deutlichkeit über.
Welches sind nun, fragt P., die Elemente des denkbildenden Unterrichts? Zunächst bieten sich dafür die gewöhnlichen Elementarfächer dar, und es wären also diese nun wahrhaft elementarisch, in psychologischen Reihenfolgen, zu gestalten. Aber sofort zeigt sich, daß jene nicht elementarer Natur sind; das Schreiben ist eine Unterart des Zeichnens und dieses beruht auf der Kunst des Messens; das Lesenkönnen ist dem Redenkönnen untergeordnet und die Natur schreitet erst allmählich vom Schall durch Laut und Wort hindurch zum Redenkönnen empor; man wird also auf jene Grundkräfte, auf die Urformen der menschlichen Geistesentwicklung zurückgehen und diese kunstmäßig ausbilden müssen, wenn man durch die Erziehung die Geistesentwicklung sicherstellen will, und diese Urformen der Geistesentwicklung werden den Grund- und Hauptformen der Dinge entsprechen. Da tauchte P. intuitiv der Gedanke auf – er selbst sagt: „wie ein deus ex machina“ –: die Mittel der Verdeutlichung aller unsrer Anschauungserkenntnisse gehen von Zahl, Form und Sprache aus. Zahl, Form und Sprache (die Pestalozzische Trias) sind gemeinsam die Elementarmittel des Unterrichts, indem sich die ganze Summe aller äußern Eigenschaften eines Gegenstandes im Kreise seines Umrisses und im Verhältniß seiner Zahl vereinigt und durch Sprache meinem Bewußtsein zu eigen gemacht wird. Und wie sie so die Elemente des Objects bilden, so auch diejenigen des erkennenden Geistes; unsere ganze Erkenntniß entquillt aus 3 Elementarkräften: aus der Schallkraft, der die [454] Sprachfähigkeit entspringt; aus der unbestimmten blos sinnlichen Vorstellungskraft, welcher das Bewußtsein aller Formen entspringt; aus der bestimmten, nicht mehr blos sinnlichen Vorstellungskraft, aus welcher das Bewußtsein der Einheit und mit ihr die Zählungs- und Rechnungsfähigkeit hergeleitet werden muß. „Ich urtheilte also, die Kunstbildung unseres Geschlechtes müsse an die ersten und einfachsten Resultate dieser 3 Grundkräfte, an Schall, Form und Zahl, angekettet werden, und der Unterricht über einzelne Theile könne und werde niemals zu einem, unsere Natur in ihrem ganzen Umfang befriedigenden Erfolge hinlenken, wenn diese drei einfachen Resultate unserer Grundkräfte nicht als die gemeinsamen, von der Natur selbst anerkannten Anfangspunkte alles Unterrichts anerkannt und im Gefolg dieser Anerkennung in Formen eingelenkt werden, die allgemein und harmonisch von den ersten Resultaten dieser drei Elementarkräfte unserer Natur ausgehen und wesentlich und sicher dahin wirken, den Fortschritt des Unterrichts bis zu seiner Vollendung in die Schranken einer lückenlosen, diese Elementarkräfte gemeinsam und im Gleichgewichte beschäftigenden Progression zu lenken …, damit finde ich aber auch das Problem: einen allgemeinen Ursprung aller Kunstmittel des Unterrichts und mit ihm die Form aufzufinden, in welcher die Ausbildung unseres Geschlechtes durch das Wesen unserer Natur selber bestimmt werden könne.“ Also auf die Resultate der drei Grundkräfte des Sprechens, Messens und Zählens muß der Unterricht aufgebaut werden. Die Sprachlehre muß daher aufbauen auf die Wortlehre, d. h. auf die Mittel einzelne Gegenstände kennen zu lehren und diese auf die Tonlehre, d. h. auf die Mittel die Sprachorgane zu bilden; und sie selbst, die Sprach- oder vielmehr Sprechlehre, ist nichts anderes als die Zusammenfassung der Mittel, durch welche wir dahin geführt werden, uns über die uns bekannt gewordenen Gegenstände und über alles, was wir an ihnen zu erkennen vermögen, bestimmt ausdrücken zu können. Die Formlehre, deren praktische Bethätigung Zeichnen (und Schreiben) ist, beruht auf der Meßkunst, diese hinwieder geht aus von einer systematisch geleiteten Anschauungskunst; und wie die Tonlehre auf ein ABC der Töne als die Grundlage aller Lautcombinationen hinführt, ebenso muß auch ein ABC der Anschauungen als die Grundlage aller Formcombinationen gefunden werden können. Und ebenso beruht die Rechenkunst darauf, daß ein solches ABC der Anschauung zu Grunde gelegt werde, welches für die Operation mit ganzen Zahlen in den angeschauten Combinationen der Einheit, für die Zertheilung der Einheit am vollkommensten in den Theilungscombinationen des Quadrates zu suchen ist. (Pestalozzische Einheiten- und Bruchtabellen.) Die Richtigkeit der Bildung unseres Vorstellungsvermögens, dessen Grundkräfte Zählen und Messen sind, hängt davon ab, daß die Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntniß sei, mit andern Worten, daß jede Erkenntniß von der Anschauung ausgehe und auf sie müsse zurückgeführt werden können. – Ganz in gleicher Weise nun wie das theoretische Erkennen elementarisirt, d. h. auf ein ABC sei es der Laute (Sprache), sei es der Anschauung (Zahl und Form) zurückzuführen ist, muß auch das Gebiet der Fertigkeiten, d. h. des praktischen Könnens, elementarisch gebildet werden. Und das bezieht sich sowol auf die körperlichen Fertigkeiten (ABC der Körperübungen, als Grundlage eines methodisch-allseitigen Turnunterrichts) als auf die sittlichen (ABC der sittlichen Fertigkeiten); und Pestalozzi weist am Schlusse des Buches „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ in begeisterter Klarheit nach, wie die höchste Begründung des sittlichen Verhaltens, die religiöse, ihre Grundkräfte aus dem naturgemäßen instinctiven Verhältniß zwischen Mutter und Kind herauszuentwickeln vermöge, so daß die zur Bestimmtheit gebrachten und systematisch geweckten Gefühle der Liebe, des Vertrauens, der Dankbarkeit, des Gehorsams des Kindes gegen die [455] Mutter gewissermaßen das ABC bilden würden, auf dem sich der ganze Bau des Gemüths- und Willenslebens erheben kann.
Das sind die psychologischen Grundlagen der Methode Pestalozzi’s. In der Technik ihrer Durchführung erwies sich für P. und den Pestalozzianismus die Schranke, die alles Menschliche nur allmählich zur Vollkommenheit schreiten läßt. P. selbst ist sich hier auch gar nicht immer gleich geblieben; die Anwendung des gegenseitigen Unterrichts, die gleichzeitige Beschäftigung der Kinder durch Unterricht und Bethätigung der Hand tritt zeitweise in den Vordergrund, zeitweise wieder völlig zurück; der Versuch die Anschauung des Kindes zuerst an seinem eignen Körper zu üben, erwies sich als entschiedener Mißgriff. Daß der Methode als solcher, d. h. nicht ihrer psychologischen Grundlage und Idee, sondern der Erscheinungsform derselben, die sie durch die pädagogischen Experimente Pestalozzi’s und seiner Mitarbeiter erhielt, Unfehlbarkeit zugeschrieben und dadurch das Mechanische dieses Methodisirens anstatt der freien geistigen Verwerthung jener Grundlagen als das unbedingte Hilfs- und Heilmittel der menschlichen Entwicklung hingestellt wurde, hat sich im Ausgang der praktischen Erziehungsunternehmungen Pestalozzi’s und in der Thatsache aufs bitterste gerächt, daß die pädagogische Entwicklung, bei aller Hochachtung für Pestalozzi, sehr rasch über den Pestalozzianismus seiner unmitttelbaren Jünger zur Tagesordnung geschritten; aber auf den geistigen Grundlagen, die P. für seine eignen pädagogischen Experimente mit der ganzen Schärfe und Hingebung seines Geistes aus den Tiefen der Menschennatur herausgegraben, baut die Menschheit immer noch fort und wird dieselben sich nicht mehr zuschütten lassen. Auch diese Grundlagen sind nicht in allem Detail der Darlegung unanfechtbar; aber sie waren ein redlicher und geistvoller Versuch, sich über die psychologische Gestaltung aller Menschenbildung ins Klare zu setzen; dieser Versuch zog darum die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, weil er dem Ringen der Zeit, die Menschennatur zu ergründen und zu heben, beredten Ausdruck verlieh und weil der Mann, der ihn theoretisch gethan, zugleich auf die praktische Durchführung, die er und begeisterte Mitarbeiter in Burgdorf der Welt vor Augen stellten, hinweisen konnte, und diese Begeisterung hinwiederum, welche die Mitarbeiter an das gemeinsame Werk fesselte und welche von ihnen aus auch auf die zahlreichen Besucher überging, war die Wirkung einer Persönlichkeit, in welcher der Grundsatz der hingebendsten Begeisterung für Menschenwohl: Alles für Andere, für sich Nichts! gleichsam eine lebendige Verkörperung gefunden.
So mühevoll P. sich zu einem endlichen Gelingen hatte emporringen müssen, so schnell vollzog sich nun in Burgdorf der Umschwung: schon 1803 zählt das Institut über 100 Zöglinge, P. steht auf der Höhe des Weltruhms und von allen Seiten pilgern Schaaren pädagogischer Jünger heran um ihn kennen zu lernen, das Institut zu besichtigen, die Methode zu studieren. Es ist eigentlich ein wundersames Phänomen: der Mann, der zeitlebens nicht orthographisch und stilgerecht schreiben konnte, wird der Prophet für die Methode des Unterrichts; der Mann, der in seiner Naivetät den Freunden gestand, er verderbe (durch seine blinde Gutmüthigkeit) alle die, mit welchen er zu thun habe, der Prophet der Erziehung; der Mann, der nur in der Gegenwart lebte und dessen geistiges Leben nach Niederer’s treffendem Ausdruck eigentlich keine Geschichte hatte, eine Persönlichkeit von centraler culturgeschichtlicher Wirksamkeit; der Mann, der sozusagen nie über die Grenzen seines kleinen Vaterlandes herausgekommen, zieht die Bewunderer aus aller Welt zu sich heran; der Mann, der sich selbst der absoluten Regierungsunfähigkeit anklagt, war der herrschende Mittelpunkt und der Gegenstand einer Hingebung, die das Unmögliche um seinetwegen möglich zu machen suchte. Wo man hinsieht, steht man vor lauter Widersprüchen [456] und findet die Lösung kaum anderswo und anderswie als in Pestalozzi’s eigenem Ausspruch: „Man hat mir in meinen Knabenschuhen schon gepredigt, es sei eine heilige Sache um das von unten herauf dienen; aber ich habe jetzt erfahren, um Wunder zu leisten, muß man mit grauen Haaren von unten herauf dienen.“
Die Schilderung des einfachen naturvollen Anstaltslebens, wie es in Pestalozzi’s Persönlichkeit seinen Gemüth und Willen tief anregenden Mittelpunkt hatte, die Darstellung des Unterrichtsgangs, der religiös-sittlichen Abend- und Morgenunterhaltungen, des ungezwungenen Verkehrs zwischen Lehrern und Zöglingen, – hier ins nähere auseinanderzulegen würde zu weit führen und ist, seitdem die diesfälligen Auseinandersetzungen von Soyaux, Gruner, Ramsauer, Türck, Torlitz u. a. in der neuen Pestalozzilitteratur wieder allgemein zugänglich gemacht worden sind, auch nicht mehr nothwendig. Wir wenden uns daher abschließend dem äußern Gang der Schicksale Pestalozzi’s und seiner Unternehmungen zu.
Auf der Höhe, die P. gleich in den ersten Jahren in Burgdorf erreichte, vermochte er sich und seine Erziehungsunternehmungen ein volles Jahrzehnt zu halten und eigentlich erst von 1817 an beginnt die Ueberzeugung sich allgemeine Bahn zu brechen, daß es Abend werden wolle. In der Wittwe seines einzigen Sohnes (die sich später mit einem Herrn Kuster verehelichte) erhielt P. eine vorzügliche, ihm treu ergebene Besorgerin des weitläufigen Haushaltes. Das Jahr 1803 brachte ihm in Niederer und Muralt zwei Mitarbeiter, die an Lückenlosigkeit höherer Bildung ihn überragten und mit der gleichen Hingebung, wie der einfache Krüsi, sich an seine Unternehmung anschlossen, in seine Ideen einlebten. Als P. 1804 Schloß Burgdorf räumen mußte, da die neue Mediationsregierung des Kantons Bern das Gebäude für staatliche Zwecke zu bedürfen erklärte, wagte dieselbe es doch nicht, trotz aller Voreingenommenheit gegen den Emporkömmling der Revolution, ihn so geradezu zu vertreiben; sie bot ihm das Johanniterhaus in Münchenbuchsee für seine Zwecke an; auch waadtländische Städte luden ihn ein, in ihren Mauern die Anstalt fortzusetzen. P. ging nach Buchsee. – Eine Viertelstunde von Buchsee liegt der Wylhof („Hofwyl“), wo ebendamals der P. von Jugend auf bekannte und mit dessen Sohn gleichaltrige P. Em. v. Fellenberg (1771–1844) die Grundlagen seiner großartigen Erziehungsinstitute legte, an Jahren um ein Vierteljahrhundert jünger als P., ein Mann von eiserner Energie, reichen Mitteln und hohem Organisationstalent. Was lag näher, als eine Verbindung beider nach den gleichen Zielen strebender Männer, die sich in so glücklicher Weise in ihren Eigenschaften ergänzten? So urtheilten vor allem Pestalozzi’s Mitarbeiter Tobler und Muralt; sie knüpften unter der Hand mit Fellenberg an; P. selbst ging auf den Gedanken einer Vereinigung ein und so entstand der Plan, ein Netz von Erziehungsanstalten zu gründen, dessen Organisation Fellenberg leiten, dessen Seele P. sein sollte. Die Anstalt in Buchsee trat unter Fellenbergs Verwaltung; P. selbst ging zunächst nach Iferten, um dort das dritte Glied diesses Organismus ins Leben zu rufen; als viertes war Payerne oder Avenches in Aussicht genommen. Allein die mit so großen Hoffnungen angeknüpfte Verbindung war nicht von Dauer. P. und Fellenberg waren beide zu scharfkantige originale Naturen, als daß nicht Mißverständnisse und Reibungen hätten entstehen müssen; dazu kam, daß Fellenberg, eben damals körperlich leidend und zudem noch in der jugendlichen Vollkraft seines ebenso rücksichts- als rückhaltslosen Wollens, Pestalozzi’s Mitarbeiter sich durch seine launenhafte Haltung gründlich entfremdete. Schon im Frühjahr 1805 löste sich die Vereinigung, nicht ohne herbe gegenseitige Beschuldigungen; Lehrer und Schüler von Buchsee zogen zu P. nach Iferten hinüber; im Juli [457] war das ganze Haus daselbst wieder vereinigt. Und die nächsten fünf Jahre blühte nun das Institut in Iferten zu stets höherem Glanze empor. Zöglinge aus aller Herren Ländern strömten ihm zu; junge Erzieher und Besucher eilten herbei, um hier kürzere oder längere Zeit die „Methode“ zu studieren. Rußland und Preußen sandten von Staatswegen Jünglinge als Eleven zu diesem Zweck, letzteres die drei späteren Schulmänner Kawerau, Dreist und Henning. Niederer leitete die litterarische Thätigkeit, gab Pestalozzi’s Darstellungen die Weihe eines in der gelehrten Welt hoffähigen Stils und redigirte 1808–1812 die „Wochenschrift für Menschenbildung, herausgegeben von Heinrich Pestalozzi und seinen Freunden“, die die Ideen Pestalozzi’s als publicistisches Organ verbreiten sollte; man kam schließlich auf diesem Gebiete so weit, daß nach dem Vorgange Salzmanns in Schnepfenthal und des Waisenhauses in Halle mit dem Institut eine eigene Buchdruckerei und Buchhandlung verbunden wurde. Neben die Knabenerziehungsanstalt trat eine Mädchenpension, von Frau Kuster geleitet; unter der letzteren wirkte Rosette Kasthofer (später Niederers Gattin), die 1813 das Mädcheninstitut auf eigne Rechnung übernahm. Pestalozzi’s Thätigkeit nach allen Seiten war eine fast übermenschliche. Mit seltenen Ausnahmen war er jeden Morgen um 2 Uhr wach und begann seine schriftstellerischen Arbeiten; bei dem Gewühl des Tages zwischen Zöglingen, Lehrern und Gästen sagte er wol einem besuchenden Freund mit dem Ausdruck innern Glücks: „Es gad ung’hür!“ Gleichen Eifer erwartete er auch von den Lehrern, zumal von den in seinem Hause gebildeten Unterlehrern; „es gab Jahre“, erzählt Ramsauer, „in denen keiner von uns nach 3 Uhr Morgens im Bette gefunden wurde, und man arbeitete Sommer und Winter von 3–6 Uhr“. Aber eben der Glanz, den das Institut verbreitete, barg auch die Keime der Zersetzung in sich. Die Lage des Instituts an der Grenze zweier Sprachgebiete trug zur Vermehrung der Zöglinge bei, aber schädigte die Einheit der erzieherischen Einwirkung und Zwecke. Man wollte eine Art Universalinstitut werden, nahm die alten Sprachen in den Unterrichtsplan auf und vernachlässigte darüber die Elementarbildung. Die Gäste verbreiteten den Ruhm des Instituts, aber ihr beständiges Kommen und Gehen machte geregelte Arbeit unmöglich und setzte der Gefahr aus, auf den Schein hinzuarbeiten. Die litterarische Thätigkeit war eine nothwendige Ergänzung für die Verbreitung der Idee, aber sie zersplitterte Zeit, Kraft und Stimmung Pestalozzi’s und Niederer’s und schädigte dadurch ihre erzieherische Wirksamkeit. Buchdruckerei und Buchhandlung waren eine ständige Versuchung, die Arbeit dahin zu richten, um diesem Nebenzweige Beschäftigung zu geben, und bei Pestalozzi’s und Niederer’s Geschäftsunkenntniß ein zehrender Schaden für die Finanzen. Der Institutsorganismus war nachgerade zu groß geworden, als daß Pestalozzi’s Geist allenthalben in seiner stillen Kraft hätte wirken können, und wenn das nicht mehr stattfand, so waren P. und Niederer am wenigsten geeignet mit festen Organisationsformen nachzuhelfen. Die Lehrerschaft war bis über die Zahl von 30 Lehrkräften angewachsen; die älteren Mitarbeiter sonnten sich in dem durch ihre Mithilfe gewonnenen Ruhmesglanz, wurden in der Erfüllung ihrer täglichen Pflichten bequem, und alle glaubten, von der Unfehlbarkeit, die das Institut in der öffentlichen Meinung behauptete, auch einen Antheil genießen zu können; das schuf Dissonanzen. Joseph Schmid, unter Pestalozzi’s jüngern Lehrern sein besonderer Liebling, ein tüchtiger Mathematiker, aber ohne zureichende Allgemeinbildung, verließ die Anstalt 1810; im gleichen Jahr folgte dem Rufe als reformirter Prediger nach Petersburg Muralt, von dessen Bildung und ruhig praktischem Wesen die Nächststehenden am ehesten erwartet hätten, er werde im Stande sein, die auseinanderstrebenden Elemente zusammenzuhalten. Längst schon hatten aber da und dort Stimmen verlauten [458] lassen, auch in der Presse, es stehe in Iferten nicht alles so glänzend, wie von dort aus verbreitet werde. Um diesen Angriffen ein Ende zu machen, ließ sich P. durch den Rath seiner Mitarbeiter 1809 bewegen, von der Tagsatzung eine officielle Expertise zu verlangen. Die Tagsatzung ging auf das Gesuch ein und ernannte P. Girard in Freiburg, Professor Trächsel in Bern und Rathsherrn Merian in Basel zu Prüfungscommissären. Sie kamen, blieben drei Tage in Iferten; ihr Bericht, von Girard verfaßt, ward im folgenden Jahre der Tagsatzung vorgelegt und gedruckt. Er lobte, was er nur immer loben konnte, tadelte in den mildesten Formen, sprach mit der höchsten Ehrerbietung von P., aber durch all das konnte und sollte nicht verhüllt werden, daß die Grundanschauung der Commission dahin ging: Vieles ist im einzelnen gut und sinnig, aber es greift nicht zu einem dem Bedürfnisse der Zöglinge entsprechenden, wohldurchdachten und abgeschlossenen Ganzen zusammen, – oder mit andern Worten: es wird viel zu behaglich experimentirt und man ruht zusehr auf den Lorbeeren einzelner gelungener Experimente aus –; und das Ganze ist nicht dazu geeignet, daß die öffentliche Schule durch Anschluß an das Institut einen wesentlichen Nutzen von demselben ziehen könnte. Obgleich die Tagsatzung P. auf diesen Bericht hin den Dank des Vaterlandes aussprach, war mit eben diesem Bericht das Urtheil über das Institut gesprochen; die Hoffnung, daß dasselbe der Ausgangspunkt für die zukünftige Entwicklung des schweizerischen Schulwesens werde, war abgeschnitten. Als Privatinstitut freilich mochte es weiter wirken, und auch mit Ehren fortbestehen, und Pestalozzi’s Lebensabend sicher stellen und erfreuen. Aber nun war das Verhängniß, daß die leitenden Persönlichkeiten, statt sich der innern Reorganisation zu widmen, glaubten, auf publicistischem Wege und durch neue pädagogische Entdeckungen für die Ehre des Institutes einstehen zu sollen. Mit fieberhaftem Eifer warf sich P. auf die Anwendung der Methode für die alten Sprachen, Niederer auf die litterarische Polemik, an der sich auch P. durch seine Zuschrift „an Hrn. Geheimrath Delbrück“ und „Erklärung gegen Hrn. Chorherr Bremi“ 1812/13 betheiligte. Die Finanzen geriethen in immer heillosere Zerrüttung; alles schien aus Rand und Band gehen zu sollen. P. rief nun auf Niederer’s Drängen 1815 Schmid zurück, der ein großes organisatorisches Talent besaß; mit gewaltiger Hand griff das Vorarlberger „Naturkind“ ein; man erwachte zu neuer Hoffnung. Da starb im December 1815 Pestalozzi’s treue Gattin, die in der letzten Zeit nach dem Tode der Frau Kuster durch die allgemeine Achtung, in der sie stand, das versöhnende Mittelglied gewesen. An ihrem Begräbnißtag, dem 16. December 1815, brach der offene Streit unter den Mitarbeitern aus; 1816 schieden Krüsi und Ramsauer; 1817 sagte sich Niederer von Pestalozzi’s Institut los. Bei dem Mangel an Lehrern (durch mehrfache Massenaustritte veranlaßt) waren die Unterlehrer überanstrengt und revoltirten nun (Juli 1817): P., von all den Aufregungen überreizt, wurde vorübergehend gemüthskrank. Ein Versuch des französischen Generalinspectors Jüllien, eine neue Verständigung des in der Genesung begriffenen Greises mit Fellenberg herbeizuführen, hatte den gleichen Verlauf wie das Experiment des Jahres 1804: zuerst vollständige Einigung, dann immer größere Entfremdung, und endlich – unter Schmid’s Einfluß – gänzliche Entzweiung mit beiderseitigen Vorwürsen. P. warf sich nun vollständig Schmid in die Arme, der durch einen günstigen Vertrag mit Cotta über die Herausgabe sämmtlicher Werke Pestalozzi’s, dessen Alter sorgenfrei gestellt. Noch einmal schien Pestalozzi’s Stern aufzuleuchten. 1818 gründete P. in der Nähe von Iferten, in Cleudy, eine Armenerziehungsanstalt, die jedoch schon im dritten Jahre ihres Bestehens mit der Anstalt zu Iferten verschmolzen wurde. Das Institut war durch Schmid, der P. nunmehr unbeschränkt beherrschte, finanziell [459] gerettet; aber Pestalozzi’s Geist, unter Schmid’s Vormundschaft gestellt, vermochte nicht mehr dasselbe mit seiner selbstlosen Hingabe zu durchleuchten und zu erwärmen; es trieb zusehends der Auflösung entgegen, die durch häßliche Processe zwischen Schmid und P. einerseits, Niederer und Krüsi andrerseits, beschleunigt wurde. 1825 mußte P. die Anstalt schließen und zog sich zu seinem Enkel auf den Neuhof zurück. Lebensvoll wie immer, rastlos thätig in schriftstellerischen Leistungen (1826: „Schwanengesang“, „Meine Lebensschicksale als Vorsteher meiner Erziehungsinstitute in Burgdorf und Iferten“, „Langenthaler Rede“) und mit großen Projecten betreffend die Verwerthung seiner Methode für das Studium der alten Sprachen beschäftigt, trat P. in das neunte Decennium seines Lebens ein, als ein sich plötzlich verschlimmerndes Steinleiden ihm in Brugg, wo er ärztliche Hilfe gesucht, am 17. Februar 1827 den Tod brachte. Sein Sterbebett war Zeuge meisterhafter Standhaftigkeii im Leiden, klarsten Bewußtseins und seines unbegrenzten Vertrauens zu dem Mann, um dessenwillen sich seine treusten und ältesten Jünger von ihm getrennt. Schon am 19. Februar ward P. in Birr bestattet; es war ein kalter Wintertag, Schnee fiel; die entfernteren Bekannten hatten nicht frühzeitig genug benachrichtigt werden können; das Leichengeleite war klein; Lehrer und Schüler der Umgebung sangen ihm ins Grab.
Von seiner Familie überlebten ihn sein Enkel Gottlieb († 1863 in Zürich) und dessen Gattin, Schmid’s Schwester Katharina (geb. 1799, cop. 1822, † 1853) und sein Urenkel Karl (geb. 1825, gegenwärtig Professor am Eidgen. Polytechnicum); ebenso die meisten der in seine Lebensgeschichte eingreifenden Mitarbeiter: Hermann Krüsi, geb. 1775, † 1844 als Seminardirector in Gais; Gustav Tobler[WS 5], geb. 1769, von 1800 an zu verschiedenen Malen Pestalozzi’s Mitarbeiter, † 1843 zu Nyon; Joh. Christoph Buß, geb. 1776, 1800–1805 bei Pestalozzi; † 1865 in Bern; Joh. v. Muralt, geb. 1780, † als Prediger der deutschen reformirten Gemeinde in Petersburg 1850; Joh. Niederer, geb. 1779, † 1843 als Vorsteher eines Töchterinstitutes in Genf, und Rosette Niederer geb. Kasthofer (1779–1857); Joh. Ramsauer, geb. 1790, † zu Oldenburg 1848; Joseph Schmid, geb. 1785 oder 1786, nach 1825 Privatlehrer in Paris, † 1850.
- Für Pestalozzis Leben sind vor allem aus maßgebend seine eigenen Schriften, die in folgenden Sammelwerken zusammengestellt sind: 1. Pestalozzi’s sämmtliche Schriften Band 1–15, Stuttgart bei Cotta, 1819–1826 (die Mängel dieser Ausgabe sind bekannt). – 2. Pestalozzi’s sämmtliche Werke. Gesichtet, vervollständigt und mit erläuternden Einleitungen versehen von L. W. Seyffarth, 18 Theile in 9 Bänden, Brandenburg bei A. Müller, 1869–1873. – 3. J. H. Pestalozzi’s ausgewählte Werke. Mit Pestalozzi’s Biographie, hrsg. von Fr. Mann, 4 Bände, Langensalza bei H. Beyer, 1878–1879. –
- Seit der Herausgabe der Werke P.’s durch Seyffarth sind in den „Pestalozziblättern“, hrsg. von der Commission für das Pestalozzistübchen in Zürich (zuerst im Correspondenzblatt des Archivs der Schwz. perm. Schulausstellung, 1878–1879, von 1880 an selbständig), an Schriften Pestalozzi’s, die in jener Ausgabe fehlen, erschienen: 1878: An die Freunde der Menschen und an Helvetiens Freunde. – 1879: Allgemeine Begriffe von der Gesellschaft der Illuminaten. – 1880: Ideen zu e. christlichen Lied für eine Arbeitsstube meistens armer Kinder. – 1882: Versuch einer Skizze über das Wesen der Elementarbildung (1826). – 1885: Memoire über die Verbindung der Berufsbildung mit der Volksschule (1790). – 1886: Zuruf an die Bewohner des vormals demokratischen Cantons (1798). – An Helvetiens Volk, Nr. 1 [460] (1798). – Ueber die Niederlassung der Protestanten im Veltlin (1790). – Die Gutachten P’s. über die volkswirthschaftl. Verhältnisse im Cant. Zürich finden sich bei Zehnder-Stadlin, Pestalozzi. Gotha 1875. – Eine Reihe z. Th. umfangreicher Actenstücke aus Pestalozzi’s Feder sind zum ersten Mal in Morf’s Buch „Zur Biographie Pestalozzi’s veröffentlicht.
- Sammelwerke von Auszügen aus Pestalozzi’s Schriften: 1. R. Christoffel, Pestalozzi’s Leben und Ansichten. Zürich 1846. – 2. Dr. A. Vogel, Die Pädagogik J. H. P.’s in wortgetreuen Auszügen. Bernburg 1882. – 3. Dr. A. Vogel, Systematische Darstellung der Pädagogik Joh. H. P.’s mit durchgängiger Angabe der quellenmäßigen Belegstellen. Hannover 1886.
- Die Ausgaben einzelner Werke mit Specialeinleitung und Commentar sind zahlreich in Bezug auf Lienhard und Gertrud 1. u. 2. Thl. u. Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Das Pestalozzistübchen hat herausgegeben: Lienhard und Gertrud, 1. u. 2. Theil Jubiläumsausgabe Zürich 1881. Dritter u. vierter Theil Zürich 1883. – Meine Nachforschungen über den Gang der Natur u. s. w. Zürich 1885.
- Urtheile und Berichte von Zeitgenossen über P. und seine Methode: 1. Gruner, Briefe aus Burgdorf 1804; 2. Aufl. Frankfurt 1806. – 2. Soyaux, Pestalozzi, seine Lehrart und seine Anstalten. Leipzig 1803. – 3. W. v. Türck, Briefe aus Münchenbuchsee. Leipzig 1806. – 4. J.Niederer, Pestalozzi’s Erziehungsunternehmung im Verhältniß zur Zeitcultur. 2 Bde. Stuttgart 1812, 1813. – 5. Herbart, Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung. Göttingen 1804. – 6. Torlitz, Reise in die Schweiz, veranlaßt durch P. und dessen Lehranstalt. Kopenhagen u. Leipzig 1807 (Abdruck der auf P. bezüg. Briefe Pestalozzibl. Jahrg. 1884). – 7. Denkschrift auf G. H. L. Nicolovius. Bonn 1841 (Abdruck der auf P. bezüg. Stellen Pestalozzibl. Jahrg. 1885). – 8. Henning, Mittheilungen über P. im „Schulrath an der Oder“ 1816/1817 (Abdruck der auf P.’s Jugend bez. Stellen in Pestalozziblätter 1885). – 9. Gegenschrift gegen P.’s Lebensschicksale: E. Biber, Beitrag zur Biographie H. P.’s. St. Gallen 1827.
- Memoiren von Mitarbeitern: 1. J. Ramsauer, Kurze Skizze meines pädagogischen Lebens 1836. 2. Aufl. Oldenburg 1880. – 2. Ramsauer u. Zahn, Pestalozzische Blätter 1. Heft: Memorabilien J. Ramsauers. Elberfeld 1846. – 3. Heft: Krüsi, Erinnerungen aus meinem pädagogischen Leben. Stuttgart 1840. – 4. J.Niederer, Pestalozzische Blätter. Aachen 1828, 1829.
- Aus der übrigen Litteratur über P., deren (damals) annähernd vollständiges Verzeichniß das Correspondenzblatt des Archivs der Schweiz. Schulausstellung II. Jahrg. 1879 Nr. 3 (auf 16 Seiten) enthält, heben wir hervor: Blochmann, K. J., Heinrich Pestalozzi. Leipzig 1846. – Chavannes, Biographie de H. P. Lausanne 1883. – Guillaume, J., Pestalozzi im Dictionnaire de Pédagogie von F. Buisson, Ière partie (pages 2283–2358). Paris. – Rog. de Guimps, Notice sur P. 1843 (ins Deutsche übersetzt: H. P. nach seinem Gemüth, Streben und Schicksalen. Aarau 1844). – Hunziker, O., Pestalozzi und Fellenberg. Langensalza 1879; – Pestalozzi (in Hunziker’s Geschichte der schweiz. Volksschule II S. 73 ff. Zürich 1881); – Pestalozzi und Rousseau. Basel 1885; – Pestalozzi’s Ideen über Armenerziehung auf dem Neuhof (in Bühlmann’s Praxis der schweiz. Volks- und Mittelschule 1. Jahrg. Zürich 1881); – Glüphi, der Idealschulmeister in Lienhard und Gertrud (ib. 2. Jahrg.) – Krüsi, H., Pestalozzi, his life, work and influence. New-York 1875. – Fr. Mann, Biographie P’s. (in Bd. I der ausgewählten Werke P.’s). – Mörikofer, Heinrich Pestalozzi (in der Geschichte der schweiz. Litteratur des 18. Jhd. Leipzig 1861). – H. Morf, Zur Biographie Pestalozzi’s. Band I–III. Winterthur 1868, 1885. – [461] J. Niederer, Pestalozzi, in den Pestalozzischen Blättern 1828, neu abgedruckt als „Pestalozzi nach Niederer’s Schilderung“ in den „Pestalozziblättern“ 1880. – Paroz, J., Pestalozzi, sa vie, sa méthode etc. Bern 1857. – Pestalozzi, sein Leben und Wirken einfach und getreu erzählt, hrsg. von der zürch. Schulsynode (verfaßt von J. Bär). Zürich 1846. – Pestalozziblätter herausgegeben von der Commission für das Pestalozzistübchen in Zürich. 1.–8. Jahrg. Zürich 1880–1887. – Das Pestalozzistübehen in Zürich. Zürich 1886. – Pompée, Etude sur la vie et les travaux de Pest. Paris 1850, 1878. – Seyffarth, L. W., Pestalozzi nach seinem Leben und aus s. Werken dargestellt. 6. Aufl. Leipzig 1876. – Zehnder-Stadlin, Josephine, Pestalozzi; Idee und Macht der menschl. Entwicklung. 1. Bd. Gotha 1875.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Hans Jacob Pestalozzi (1770–1801), gen. Jacqueli; einziger Sohn von Johann Heinrich und Anna Pestalozzi. Siehe das Personenverzeichnis in: Johann Heinrich Pestalozzi: Sämtliche Werke und Briefe : Kritische Ausgabe, Register-Bd. 1 / verf. von Leonhard Friedrich und Sylvia Springer, Verl. Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1996, S. 416, ISBN 3-85823-475-3.
- ↑ Jens Immanuel Baggesen (1764–1826), dänischer Dichter. Siehe den Artikel in der Wikipedia.
- ↑ Gemeint ist Erzherzog Leopold.
- ↑ Johann Rudolf Fischer (1772–1800), schweizerischer Theologe; 1795–97 Studium in Jena, 1798 pädagogisch interessierter Sekretär des Ministers Philipp Albrecht Stapfer (1766–1840).
- ↑ Im Original falscher Vorname. Korrekt: Johann Georg Tobler.