ADB:Steinbrüchel, Johann Jakob
Breitinger’s Liebling, dem er sich völlig auf- und anschloß. Durch freimüthige Aeußerungen und den derben Spott, den er sich anläßlich der Erscheinung eines Kometen über die ängstlichen Prophezeiungen unter seinen Mitbürgern erlaubte, kam er früh schon in den Ruf eines Freigeistes und Atheisten, sodaß ihm das theologische Examen nicht ohne Widerspruch abgenommen wurde 1751. Seine Predigten fanden indeß namentlich auch den Beifall Wieland’s, der 1752 nach Zürich kam und mit St. in persönliche Freundschaftsbeziehungen trat. Eine Stellung fand sich für den hochbegabten Candidaten, der ohne Vermögen und Familienverbindungen war, in der Heimath nicht; so ging er zunächst für zwei Jahre als Prediger an eine Waldensergemeinde in Schwaben (Pinache) und gründete nach seiner Rückkehr in Zürich eine Art Privatgymnasium, das sich durch Steinbrüchel’s vortreffliches Lehrgeschick und seine allseitige unermüdliche Thätigkeit bald eines vortrefflichen Rufes und großen Zuspruchs erfreute. Erst 1763 gelang es, ihm im officiellen Schulwesen Platz zu schaffen; zunächst ward ihm die Professur für die hebräische Sprache übertragen; aber schon 1764 vertauschte er diesen Vorposten mit der Professur der Eloquenz und letztere 1769 mit der Lehrstelle für die alten Sprachen am Collegium humanitatis; nach Breitinger’s Tod 1776 ward er durch einhellige Wahl dessen Nachfolger in der Professur der griechischen Sprache und der biblischen Hermeneutik, sowie im Canonicat. An der Reorganisation der gelehrten Schulen Zürichs wirkte er neben Breitinger, Heidegger, L. Usteri in großer Hingebung mit; auch an gemeinnützigen Unternehmungen zum Wohl seiner Mitbürger außerhalb des Schulwesens [694] nahm er lebhaften Antheil. Auf der Höhe seines Wirkens als gefeierter Schulmann starb er am 23. März 1796 an einer rasch verlaufenden Lungenkrankheit.
Steinbrüchel: Joh. Jak. St., zürcherischer Philologe und Theologe, ist 1729 zu Schönholzersweilen (Thurgau) geboren; sein Vater, damals Pfarrvicar in dieser Gemeinde, wurde 1736 Pfarrer zu Sax im Rheinthale. Hier verlebte der junge St. glückliche Knabenjahre, die nur der frühe Tod seiner trefflichen Mutter trübte. Seine Studien machte er am Carolinum in Zürich und ward hierSteinbrüchel’s Wissen und Können war ein ungemein vielseitiges und weitgreifendes. In seinen philosophischen Vorlesungen vertrat er die Lehren von Leibniz, Wolff und Baumgarten, arbeitete sich aber in seinen spätern Jahren auch in die Kant’sche Philosophie ein. Als Philologe war er Breitinger’s Schüler und mehr als ebenbürtiger Nachfolger; als Theologe vertrat er die freiere Richtung, der schon Zimmermann in Zürich Bahn gebrochen und schloß sich in seinen Erklärungen namentlich an Ernesti an. Nach Hottinger’s Zeugniß war er weniger zu selbständiger und originaler Production als zu lichtvoller Darstellung und Abwägung der Gedanken Anderer befähigt.
Das zeigt sich auch in der Richtung, die seine schriftstellerische Thätigkeit nahm. Zunächst trat er als Uebersetzer classischer Dramen auf. Es erschienen von ihm: Sophokles’ Elektra nebst Pindar’s 1. Ode (Zürich, Geßner, 1759); König Oedipus nebst Pindar’s 2. Ode (ib. 1759); Philoctetes nebst Pindar’s 3. Ode <tt(ib. 1760); Antigone nebst Pindar’s 4. u. 5. Ode (ib. 1760); in zweiter Auflage als das „tragische Theater der Griechen“ in 2 Bänden mit der Uebersetzung Euripideischer Tragödien (Hekuba, Iphigenia in Aulis, Phönizierinnen und Hippolytus) vermehrt (Zürich, Orell, 1763). Durch äußere Umstände ließ sich St. bewegen, diese Uebersetzerthätigkeit abzubrechen und nicht wieder aufzunehmen. Immerhin ist höchst wahrscheinlich, daß er einige Jahre später noch einen Versuch mit den Reden des Demosthenes wagen wollte. Die von „Z.“ aus eingegangene Uebersetzung der 1. olynthischen Rede, deren Vorwort mit den Initialen „St.“ unterzeichnet ist und die als Probe im 2. Bd. der „vollständigen kritischen Nachrichten von den besten und merkwürdigsten Schriften“ u. s. w. (Lindau und Leipzig 1765) veröffentlicht wurde, ist doch wol von St. in Zürich; sie gab bekanntlich für den jugendlichen Pestalozzi den Anlaß, in der nämlichen Zeitschrift („Lindauer Journal“, s. Pestalozzi’s Schwanengesang) sich mit einer rivalisirenden Uebersetzung aus der 3. olynthischen Rede zu versuchen; Pestalozzi’s Vorwurf, der Arbeit des Professors mangle das rhetorische Talent, scheint allgemein getheilt worden zu sein; wenigstens folgte der 1. olynthischen Rede keine andere in Steinbrüchel’s Uebersetzung nach. Dafür veröffentlichte St. 1769 eine „Anthologia ex libris M. T. Ciceronis de officiis excerpta cui subjungitur lexici antibarbari compendium in usum Collegii humanitatis“ (Turici 1769); ferner in Hottinger’s Musaeum Turicense 1782 kritische Studien über eine Stelle des Sophokles und Bemerkungen zu Euripides’ Hekuba; eine weitere Arbeit über das Violetum der Kaiserin Eudocia, in welchem er eine Compilation des 16. Jahrhunderts nachweisen zu können glaubte, kam nicht vor die Oeffentlichkeit, da die Zeitschrift, in der sie erscheinen sollte, 1786 einging.
Weit bedeutender als seine litterarische Hinterlassenschaft ist der Einfluß, den er durch sein unmittelbares Wirken als Lehrer auf die Geistesrichtung seiner Zeitgenossen gewann. Sein offenes gerades, fröhlicher Geselligkeit gern sich hingebendes Naturell zog ihn zu der Jugend und die Jugend zu ihm. Seine Redeweise war einfach, ungesucht, lebhaft und körnig. Der philologische Kleinkram blieb seinem Unterrichte ebensofern wie seiner Erklärung der biblischen Schriften dogmatische Nebenrücksichten. So viel als möglich trug er frei vor und suchte durch ausgedehnte Betreibung cursorischer Lectüre die Schüler in den Geist des Alterthums einzuführen und zur Beherrschung der classischen Sprachen zu bringen. Witz und satirische Bemerkungen wurden auch auf dem Katheder nicht gespart, namentlich wo es galt, theologischer Intoleranz und religiösem [695] Fanatismus entgegenzutreten. Wie im Leben, so hielt ers auch der Jugend gegenüber: wer einmal seine Zuneigung gewonnen, dem blieb sie; junge Leute von Erziehung und Genie, besonders wenn sie rechte Lust zum Studium der Alten hatten, zog er auf alle Weise hervor, verzieh ihnen jugendliche Unarten leicht und keine Mühe für sie war ihm zu viel; mittelmäßige Köpfe dagegen, wenn sie auch noch so viel Fleiß hatten, konnten seine Zuneigung niemals erhalten. In seinem Wesen lag eine eigenthümliche Mischung der Naturwüchsigkeit des Volksmanns mit dem Hochgefühl der Aristokratie des Geistes: dadurch erklärt sich einerseits die Macht des Einflusses, den er auf die junge Generation der Gebildeten ausübte; anderseits die verschiedene Beurtheilung, die dieser Einfluß besonders in Bezug auf die Gesinnungsrichtung der künftigen Geistlichen, erfuhr; und nicht bloß Dunkelmänner klagten, daß die rein humanistische Vorbildung, die diese in Steinbrüchel’s Schule erhielten, sie dem Volksgemüth entfremde; der Gegensatz, der später zur erbitterten Polemik zwischen Steinbrüchel’s Nachfolgern auf den zürcherischen Lehrstühlen einerseits, Pestalozzi und seinen Anhängern anderseits führte, wurzelt in der Eigenart, die sich von St. auf jene vererbte; dieser Gegensatz tönt auch leise mit in der ebenso pietätvollen als begeisterten Schilderung, die Steinbrüchel’s Schüler, J. J. Hottinger d. ä., des Meisters Persönlichkeit und Wirken gewidmet hat:
„Unter Breitinger’s vielen und großen Verdiensten um seine Vaterstadt ist ohne Zweifel Steinbrüchel’s Weckung und Bildung das größte. Dieser seltene Mann voll Geist und Kraft, dessen Größe Alles, was ihm nahe kam, freiwillig huldigte, schien dazu ausersehen, die weisen Pläne seines Lehrers auszuführen, und was jener angefangen hatte, zu vollenden. Schon früher durch seine Talente und das Feuer seiner Thätigkeit als durch eine öffentliche Stimme zum allgemeinen Lehrer des Vaterlandes berufen, trat er als Jüngling auf und füllte ganz allein die Lücken aus, welche das Gedeihen des wissenschaftlichen Unterrichtes aufhielten. Sein heller Vortrag und die siegende Ueberzeugungskraft seiner geistvollen Darstellung lockte bald die lernbegierige Jugend scharenweise zu ihm herbei. Sie ließ sich die bereits gelesenen Schriften der Griechen und Römer von ihm erklären, und erstaunte, sie nun ganz anders zu finden als vorher: sie hörte seinen philosophischen Unterricht an und das Feuer eines regen Enthusiasmus ergriff alle bessern Köpfe. Das Interesse des Stoffes schränkte sich nicht auf die Stunden des Unterrichts ein. Man fing an selbst zu denken, theilte sich das Gedachte mit, wendete das Erlernte an und Philosophie ward bald der Text der freundschaftlichen Unterhaltung.
„St. ward nicht bloß der allgemeine Lehrer der Jugend. Die heitere Laune seines genialischen Umgangs versammelte bald die gebildetsten seiner Mitbürger um ihn herum. Die anspruchslose Mittheilung seines Geistes und Herzens war die Würze des gesellschaftlichen Ideentauschs, sowie seine Unterhaltung eine Schule sokratischer Weisheit. Er unterrichtete ohne es zu scheinen, man lernte von ihm, ohne es zu wollen. Der große Mann hob seine Zeitgenossen um ein paar Stufen höher. In seinem Umgange rieben sich die Ideen, die Begriffe wurden aufgeklärt, die Vorstellungen gereinigt, die Gesichtspunkte erweitert und berichtigt. Man ward allmählich mit neuen Ansichten vertraut, gesundere Grundsätze kamen empor und die Sache der Vernunft fand selbst unter den Ungeweihten manchen entschlossenen Vertheidiger.
„Jetzt war die Philosophie in ihre Rechte eingesetzt und damit Alles gewonnen. Umsonst machte die Orthodoxie ihre ehemaligen Ansprüche gegen sie geltend. Umsonst forderte sie die Verketzerungssucht zum letzten Beistand auf. Alle ihre Bewegungen führten zu keinem Ziele; sie waren nichts als die letzten Zuckungen ihrer allzulange usurpirten Herrschaft. Allmählich zog sie sich in das [696] enge Gebiet der gelehrten Dogmatik zurück, in welchem sie bis auf das letzte Dezennium friedlich schlummerte. Dieses zu schützen blieb ihr unverwehrt; aber die übrigen Wissenschaften alle, und selbst die Religion, konnte sie dem Einflusse der Philosophie und des durch das Studium der alten Litteratur unter uns aufblühenden Geschmackes nicht entziehen.“
- Nüscheler, Kurze biographisch-charakteristische Nachrichten v. J. J. St., Zürich 1796. – J. J. Hottinger d. ä., Acroama de J. J. St. 1796, in Hottinger’s opuscula oratoria (Turici, Orell 1816, p. 237–284); Desselben Zürichs religiöser u. litterarischer Zustand im 18. Jahrh., Zürich, Orell, 1802. – Neujahrsblatt der Zürch. Gesellschaft der Chorherrn auf 1818 (von Archidiakon Kramer). – M. Lutz, Nekrolog denkwürdiger Schweizer, Aarau 1812, S. 510. – R. Hanhart, Erzählungen aus der Schweizergeschichte, Bd. IV (Basel 1830), S. 480–492. – Hunziker, Geschichte der schweiz. Volksschule, Bd. I (Zürich 1881), S. 208–210.