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Artikel „Müller, Johannes von“ von Franz Xaver von Wegele in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 587–610, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCller,_Johannes_von&oldid=- (Version vom 15. Oktober 2024, 00:12 Uhr UTC)
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Band 22 (1885), S. 587–610 (Quelle).
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Müller: Johannes von M., Geschichtschreiber und Staatsmann, geb. am 3. Januar 1752 zu Schaffhausen, wo sein Vater, Johann Georg M., das Amt eines Diaconus und Conrectors bekleidete. Die ungewöhnliche Begabung Müller’s meldete sich schon in den ersten Jahren des Knaben an: ein außerordentliches Gedächtniß, unermüdlicher Lerneifer, lebhafte Phantasie, neben welchen bald genug ein unbezwinglicher Trieb der Mittheilung und das Vorgefühl einer großen Bestimmung in kindlicher Form zum Durchbruch kam. In erster Linie wendete sich Müller’s Neigung der Geschichte zu und wurde durch seinen in diesen Dingen wohl bewanderten mütterlichen Großvater mächtig geweckt und unterstützt; und hiebei war es wieder die vaterländische Geschichte, auf welche jener sein Führer mit besonderer Vorliebe seine Aufmerksamkeit hinlenkte. Als M. in seinem 9. Lebensjahre in das sogenannte Gymnasium seiner Vaterstadt eintrat, vermochte die hier herrschende trockene Methode des Unterrichts in der einmal [588] eingeschlagenen Richtung ihn nicht irre zu machen und ging der jugendliche empfängliche Autodidakt schnell zur Reproduction des aufgenommenen geschichtlichen Stoffes über. Zugleich entschädigte er sich für den sterilen Unterricht der Schule bald auf eigne Faust durch die Lectüre der römischen Classiker, die „wie ein electrischer Funke seine Seele ergriffen und eine unaussprechliche Liebe und Verehrung großer Männer und der Freiheit in ihr entzündeten“. Eine größere Befriedigung wurde seinem Bildungstrieb zu Theil, als er in das sogenannte Co11egium humanitatis, – eine Vorbereitungsanstalt für die Universität – übertreten durfte, wo bereits philosophische und theologische Vorträge gehalten wurden. An einige seiner Lehrer in dieser Anstalt hat er sich auch später mit Dankgefühl erinnert und es hat hier nach Allem an fruchtbaren Anregungen nicht gefehlt. Der bestehenden Schulordnung zu Folge war M. u. a. veranlaßt, mehrmals als öffentlicher Redner aufzutreten, bei welcher Gelegenheit die Frühreife wie die Selbständigkeit seines Geistes zur Anerkennung gelangten. Daß man etwas Außerordentliches von ihm zu erwarten habe, war schon jetzt die Meinung aller, die seine Entwickelung und sein Auftreten näher verfolgten. Sein Vater, der seit seiner ersten größeren Rede die Beweglichkeit und die „zappelnde“ Unruhe seines ältesten Sohnes nicht ohne Besorgniß betrachtete, hatte ihn zum Theologen bestimmt und dachte niemals anders, als daß M., wie er selbst, innerhalb dieses Berufes, sich in seiner Vaterstadt eine bescheidene Zukunft gründen werde. Der junge M. widerstrebte gerade diesem Wunsche nicht, schloß aber in seiner Seele den Vorbehalt nicht aus, diesen Weg als gelehrter Theologe zu verfolgen. J. L. Mosheim war das Vorbild und das Ideal, das er sich in dieser Zeit erwählte. In Schaffhausen bestand die Verordnung, daß jedes Theologie studierende Landeskind wenigstens zwei Jahre eine auswärtige Universität besuchen mußte. Dieses an sich schon höchst verständige Gesetz entschied im letzten Grunde über Müller’s Schicksal und Zukunft. Es führte ihn aus den engen Grenzen seiner Vaterstadt und des dort geltenden und sorgfältig gehüteten Herkommens heraus und eröffnete ihm die Welt. Von einem so beweglichen, receptiven und ahnungsvollen jungen Manne hätte sich leicht voraussagen lassen, daß er als ein anderer wiederkommen würde als er ging. Im August 1769, noch nicht 18 Jahre alt, trat M. die Reise nach Göttingen an, das in der That als die seiner Bestimmung und seinem Geiste entsprechendste Hochschule betrachtet werden konnte. Er blieb zunächst der Theologie treu, aber die streng conservative Richtung, die ihm anerzogen worden war, erhielt hier doch bald genug empfindliche Stöße. Die theologischen Professoren, wie Joh. Peter Miller, Walch, D. Michaelis, nahmen ihn, vor allem der erstere, freundlich auf, sie erkannten schnell, daß hier ein ungewöhnliches Talent ihnen entgegentrat, aber ein Lehrer, wie z. B. Michaelis, mußte unfehlbar den skeptischen Geist gegenüber dem orthodoxen Glauben seiner Jugend in ihm erwecken. M. fühlte sich in der Atmosphäre, in die er eingetreten, glücklich, und ließ die Eindrücke und Anregungen der neuen Umgebung nach allen Richtungen hin auf sich wirken. Er blieb, wie gesagt, vorläufig der Theologie getreu, griff aber zugleich schon über ihre Grenzen hinaus. Die ausgesprochene Vorliebe für die Kirchengeschichte hielt er fest, vollzog aber unter Schlözer’s Einfluß im Stillen bereits den Uebergang zur Profangeschichte. Zu seiner innern Abwendung von der Theologie überhaupt, und nicht bloß vom practischen geistlichen Berufe hat, außer seinem eigenen Temperamente und dem Geiste des Jahrhunderts die Einwirkung des gelehrten Herausgebers der „Staatsanzeigen“ am mächtigsten mitgewirkt. Am liebsten wäre M. im Auslande geblieben, um den in der Heimath drohenden Fesseln zu entgehen. Die Pietät bewog ihn jedoch, für den Wunsch seines Vaters sich zu überwinden und nach Ablauf der Jahre nach Hause zurückzukehren, jedoch er erklärte [589] zugleich, daß er entschlossen sei, außer den Pflichten, welche sein künftiger Stand von ihm fordere, „noch auf eine andere Weise seinen Mitbürgern und zugleich der Nachwelt zu dienen – durch Schriften“. Und in der That war es ihm mit der Schriftstellerei[WS 1], bezw. mit schriftstellerischen Plänen schon jetzt vollster Ernst. Den Reigen eröffnete er mit einer Abhandlung religiöser Natur, „Christo rege ecclesiae nihil esse timendum“; sie war ein Zugeständniß vor allem an seinen strenggläubigen Vater, drückte aber so wenig mehr seine wirkliche Ueberzeugung aus, daß er sie bald darauf desavouirte und verwarf, ein Zeugniß immerhin für seine in ihm schlummernde gefährliche Fähigkeit, sich künstlich und beliebig in Stimmungen zu versetzen, wie sie der wechselnde Augenblick eben zu erheischen schien. Allerdings legte er seinem Vater gegenüber schließlich noch von Göttingen aus das offene Geständniß ab, daß der aufklärende Geist des Jahrhunderts ihn erobert habe. „Auf die Tafel meiner Seele haben Schlözer, die Theologen in Berlin, Rousseau, Montesquieu, Mosheim, Abbt, Voltaire – erhabene Wahrheiten geschrieben, die keine Zeit, keine Gewalt der Menschen, kein Schicksal austilgen soll“. Schlözer hatte ihm zum ersten Versuche in der Profangeschichte das Thema einer kritischen Untersuchung „über den cimbrischen Krieg“ gestellt, dessen Bearbeitung ihn jetzt beschäftigte, und sein väterlicher Freund, der Theologe J. P. Miller (s. Bd. 21, S. 749), der ihn richtig genug beurtheilte, hatte, als eine Lebensaufgabe, bereits den Gedanken, der Geschichtschreiber seines Vaterlandes zu werden, in seiner empfänglichen Seele erweckt. In der That fällt der förmliche Ursprung dieses Lebenswerkes Müller’s bereits in diese Zeit. Nicht ohne Zuthun Schlözer’s hat der Verleger der sogenannten deutsch-englischen Welthistorie ihm noch während seines Göttinger Aufenthalts den Antrag gemacht, die Bearbeitung der Geschichte der Schweiz zu übernehmen; M. hatte mit beiden Händen zugegriffen, ohne sich die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens weiter zu überlegen. Er versprach bis Michaelis 1775 das Werk zu liefern und machte sich im ersten Eifer auch sofort an die Arbeit. Jetzt sah er bald ein, daß er bei dem Mangel brauchbarer Vorarbeiten den Termin nicht einhalten könne. Es hat auch in der That fast ein Jahrzehnt gedauert, bis der erste Band zu Stande kam. Die für das akademische Studium in Göttingen bestimmten zwei Jahre waren mittlerweile abgelaufen und M. kehrte im Herbst 1771 in seine Vaterstadt zurück. Sein Vater hätte ihn nun offenbar am liebsten bei dem ihm ursprünglich zugedachten Berufe festgehalten. M. unterzog sich in der That ihm zu Liebe dem Examen pro ministerio und predigte ein paar Mal, aber es konnte sich Niemand darüber täuschen, daß er nicht mit dem Herzen bei der Sache war. Sein Geist hatte bereits eine ganz andere Richtung genommen; er sehnte sich hinaus über die engen Schranken der Stadt seiner Geburt und verlangte nach einem größeren Wirkungskreise. Er vollendete zunächst seine Schrift „De bello Cimbrico“, die ihm durch Form und Gehalt von überall her so laute Anerkennung eintrug, daß er über seinen Beruf nicht länger im Zweifel bleiben konnte. Welche Wünsche schon in dieser Zeit seine Seele bewegten, bezeugt die Thatsache, daß er diesen ersten litterarischen Versuch dem Kaiser Joseph II. zusendete, und noch mehr die Worte, mit welchen er die Sendung begleitete: „Bei einer kaiserlichen Bibliothek, bei mehr Bequemlichkeit und Aufmunterung, im Umgange der größten Männer, täglich nahe bei großen Dingen, unter Joseph oder Friedrich wollt’ ich wichtigere Pläne ausführen. Auf Adlersflügeln erhöbe sich mein Geist zur Sonne der Weisheit, Funken des Feuers zu stehlen, das die Alten zu unsterblichen Thaten und Werken erwärmte: dann schriebe ich die Annalen der Menschheit, dann die Geschichte und Thaten Ew. Majestät“. – Wir wissen nicht, ob und welche Antwort diesem kühnen Annäherungsversuche von Seite Kaiser Josef II. zu Theil geworden, gewiß ist aber, daß bei solchen geheimen [590] Wünschen seiner Seele M. der Aufenthalt in seiner kleinen und stillen Vaterstadt nicht viel besser als dem jungen Aar ein enger Käfig behagen konnte. Und doch schien vor der Hand ihn kein günstigeres Loos zu erwarten. Die Schaffhauser Regierung unterließ ihrerseits nicht, ihrem hoffnungsvollen jugendlichen Mitbürger ein freilich schwaches Zeichen ihres guten Willens zu geben, und ihn an die Vaterstadt zu fesseln, d. h. sie übertrug dem 20jährigen die Professur der griechischen Sprache am städtischen Gymnasium, freilich mit einem so geringen Gehalte, daß die Stelle nur als Ehrenamt angesehen werden konnte. M. selbst sah die Sache wohl nicht anders an und vertiefte sich um so emsiger in die Verfolgung zunächst seiner litterarischen Pläne. Es war inzwischen bekannt geworden, daß er sich mit der Absicht der Abfassung einer Geschichte der Eidgenossenschaft trage, und von allen Seiten strömten ihm Aufmunterungen und Mittheilungen brauchbaren, namentlich urkundlichen Materiales zu. Noch in Göttingen hatte er überdieß die Verbindung mit Nicolai angeknüpft und angefangen, ihm auf dessen Wunsch Beiträge zur allgemeinen deutschen Bibliothek zu liefern. Mit einer Besprechung von Lessing’s Berengarius Turonensis hat er diese seine recensirende und kritische Thätigkeit begonnen, die den Unermüdlichen dann bis zum Ende seines Lebens begleitet hat und die für ihn wie für die deutsche Litteratur so überaus wichtig geworden ist. Für die Denkweise Müller’s in dieser Zeit erscheint es bezeichnend, daß er bei Gelegenheit der Besprechung theologischer Schriften einen so freien Ton anschlug, daß selbst ein so nüchterner Mann wie Nicolai, es für angezeigt hielt, ihn vor seinen „witzigen Declamationen gegen die Schultheologie“ zu warnen und zu ersuchen, sich lieber auf das historische Gebiet zu beschränken. Unter den von dem kampflustigen Kritiker Angegriffenen befand sich auch Lavater, der jedoch verständig genug war, eine solche Aburtheilung nicht zu schwer zu nehmen und ihn sogar bald darauf in Schaffhausen aufsuchte. Das Urtheil, das Lavater bei dieser Gelegenheit über den jugendlichen M. fällte, ist bekannt und macht dem Scharfblick des Urhebers der Physiognomik alle Ehre. „M. ist ein zwanzigjähriges Monstrum Eruditionis“, schreibt er an Spalding. „Er hat das beste Herz, aber ist im Schreiben noch absprechend und dreist. Sein Styl ist sehr witzig und bis zur Affectation lebhaft. Aber er hat das Gute, daß er sich gern belehren läßt und sich leicht schämen kann. Er ist äußerst fein organisirt, hat ein helles, leuchtendes Paar Augen; sonst sieht er sehr jungfräulich aus. Ich glaube, man kann aus ihm machen, was man will. Sein Gedächtniß scheint beinahe übermenschlich zu sein“. Ganz den Vorarbeiten für die Schweizergeschichte hingegeben, verschmähte M. jedoch zugleich die erlaubten Freuden des Lebens nicht und suchte in dem Umgange mit gleichgesinnten Freunden und in fröhlicher Gesellschaft gern eine Entschädigung für den Zwang, welchen ihm das engherzige und kleinstädtische Leben Schaffhausens auferlegte. So harmlos im Grunde diese Genüsse waren, so stieß er in der erstarrten Umgebung gleichwol auf Tadel und Widerspruch. Der Wunsch, diesen Fesseln seines vaterstädtischen Bodens zu entweichen und einen größeren Wirkungskreis zu suchen, wurde daher immer lebhafter in ihm. Indem er gelegentlich dem Unmuthe über das Unerträgliche seiner Lage Worte leiht, verräth er zugleich die geheimsten Wünsche seiner hoch strebenden Seele, die er niemals zu überwinden vermocht hat. Im J. 1773 schrieb er an einen Freund: „Ich bin entschlossen, Schaffhausen zu verlassen. Alle Mühe, mich zu bekehren, wäre überflüssig. Ich habe geschworen. Es bleibt dabei. Ich ziehe mich seit einiger Zeit zurück, mache nur die nothwendigsten Besuche und studire tapfer Geschichte, schöne Wissenschaften, öffentliches, Natur-, Völkerrecht und Politik, entschlossen, nicht bloß zuzusehen, sondern zu handeln, wenigstens von Angesicht zu Angesicht den großen Schauplatz zu schauen. Im Frühling meiner Jahre [591] möchte ich mich einem Monarchen weihen, Kenner und groß genug, das werdende Verdienst zu prüfen, hervorzuziehen und an seinen bequemsten Standort zu stellen. Ich denke auf Alles und unternehme Alles, was mein Gesicht schärfen, meinen Geist vergrößern, besonders das Gemälde Europas seit dem neuen Gleichgewichtssystem mir verdeutlichen kann. Zu verlieren habe ich hier nichts. Was wollen die 80 fl. sagen, für die ich hier Professor bin. Ich bin erst 21, ich bin – selig wer das ist! – unverheirathet. Ich wünschte mir lange einen größeren Schauplatz. Für den, welchen Geist, sonst nichts empfiehlt, taugt die Monarchie ungleich besser als eine kleine aristokratische Republik. Ich würde ungleich mehreren nützlich sein. Und soll ich den kleinen Meistern, dem Regiment der Eisenkrämer und Perrückenmacher, welches mich unter unerhörte einfältige Gesetze zwingen will, sclavisch gehorchen, in Kleidung. Rede, Umgang und meiner ganzen Lebensart mich geniren, einen für mich unschicklichen Stand beibehalten, um – wer weiß wann? – eine Dorfpfarre von 4–500 fl. zu erhalten und dann noch der Knechte Knecht zu sein? Stirbt einst Friedrich, so lebt Joseph; stirbt Joseph, so lebt Leopold; wenn auch Leopold stirbt, so blüht eine freie glückliche Insel“. – Das unbezwingliche Verlangen nach einer Stellung im handelnden Leben, das Gefühl, in erster Linie zum staatsmännischen Berufe bestimmt zu sein, welches das Verhängniß seines Lebens geworden ist, findet in diesen Worten zum ersten Male deutlichen Ausdruck. Diese Neigung war in ihm so stark, daß er in dieser Zeit das Rectorat des Joachimsthaler Gymnasiums in Berlin, das ihm mit 800 Thaler Gehalt durch den Minister von Zedlitz durch Merian’s Vermittelung angeboten wurde, rasch entschlossen ausschlug. Berlin selbst und Friedrich d. Gr. behielt M. jedoch nichts destoweniger fortgesetzt im Auge, und that bald darauf bei dem Wadtländer Catt, dem Vorleser des Königs, Schritte, daselbst eine Anstellung zu erhalten, aber nur nicht an einer Schule: „denn dort wäre ich nicht am Platze; mein Geist ist viel zu ungeduldig, und versteht sich viel zu wenig auf grammatische Spitzfindigkeiten“. Man darf indeß vielleicht gleichwohl zweifeln, ob er nicht doch gut gethan hätte, sich zu überwinden und jenes erstere Anerbieten anzunehmen; es hätte ihm leicht den Uebergang zu einer Verwendung in einer ihm mehr zusagenden Art bauen können. Die Erlösung aus dem drückenden Bann seiner Vaterstadt nahte sich indeß doch, wenn auch in anderer Gestalt. M. hatte im Mai 1773 die Zusammenkunft der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach besucht, und dort die persönliche Bekanntschaft einer Reihe gleichgesinnter, hervorragender notabler Männer, wie z. B. mit Breitinger, H. H. Füßli aus Zürich, Tscharner aus Bern, Iselin und P. Ochs aus Basel u. a. mehr gemacht. Am folgereichsten und fruchtbarsten ist für ihn der Freundschaftsbund geworden, welchen seine entzündliche und enthusiastische Seele bei dieser Gelegenheit mit dem um sieben Jahre älteren Berner Patricier Victor von Bonstetten schloß. Bonstetten war eine ausgezeichnete, hochgebildete und den befreienden Ideen des Jahrhunderts zugewandte Persönlichkeit (vgl. über ihn Bd. 3, S. 135 der Allg. D. Biographie), zugleich reifer und ruhigeren Blutes als M. Der Briefwechsel, der nach ihrer ersten Trennung zwischen beiden Freunden begann und dann mit den unvermeidlichen Unterbrechungen fortgesetzt wurde, ist berühmt und gleich nach seiner Veröffentlichung durch Friederike Brun als eine Perle unserer Litteratur und als ein kostbarer Beitrag zur Illustration des Charakters Müller’s mit Recht erkannt worden. Bonstetten war gerade der Freund, wie ihn dieser brauchte, der dessen gute und hohe Eigenschaften zu würdigen wußte und zu dessen Schwächen nichts weniger als schwieg. M. war von Schinznach wieder nach Schaffhausen zurückgekehrt, aber die Eindrücke, die er dort empfangen, ließen ihm das hier auf ihm lastende Joch nur noch unerträglicher erscheinen. Tausend Projecte, oft recht [592] phantastischer Art, tauchten in seiner beweglichen Seele auf. Er war bereit, nach Frankreich, England, Holland und wo sonsthin zu gehen, wenn sich ihm hiezu eine günstige Gelegenheit aufthat. Am liebsten hätte er nach wie vor an dem Hofe eines Fürsten eine Zufluchtsstätte und einen ihm behagenden Wirkungskreis gesucht. Bonstetten suchte seinen Unmuth und seine Ungeduld zu beschwichtigen und warnte ihn in treffender Weise vor übereilten Entschlüssen. „Schaffhausen ist allerdings nicht der rechte Ort für einen Schriftsteller. Aber werfen Sie sich nicht dem ersten Besten an den Hals. Glauben sie mir, daß man in der großen Welt nur dann Erfolg hat, wenn man sich den Anschein giebt, daß man sie verachte. Sind Sie wirklich dazu gemacht, um eingebildeten Thoren Ihre Dienste anzubieten oder mit dem gemeinen Haufen in den Vorhallen des Glückstempels zu warten? Tausend schmeichelhafte Hoffnungen müssen Sie im einsamen Zimmer umprickeln; aber dergleichen Hoffnungen verwirklichen sich nicht, indem man ihnen nachläuft! Wollen Sie als Schriftsteller präsentirt sein, so bemühen Sie sich zuerst, Ihrer selber würdig zu sein“ u. s. w. Ebenso wenig fand Müller’s Sehnsucht nach einer politischen Stellung Gnade vor den Augen seines kühleren Freundes, der ihn nur zu gut durchschaute. „Zu politischen Geschäften, schrieb er ihm etwas später gelegentlich, taugst Du gar nicht. Kenntniß, Geist und Beredtsamkeit hast Du mehr als nöthig wäre, um einen großen Geschäftsmann zu bilden. Allein den Charakter eines solchen hast Du so wenig, daß Du vielmehr gerade umgekehrt alles das im höchsten Grade besitzest, was ein Weltmann nicht haben soll. Erfahrung wird Dir vielleicht allzuspät zeigen, daß Freundschaft, Muße und Wissenschaft Dein alleiniges Leben und alles Andere Tod ist. – Dein Genie, von dem Du nie zu viel Gutes denken kannst, ist mehr zur Wissenschaft als zu Geschäften tüchtig. Zur Politik gehört, weniger Imagination und mehr Charakter als Du hast. Wie viel besser für Dich, Deine Größe in Dir selbst und nicht in dem Verkennen der Fürsten mitunter bei Lakaien oder Schmeichlern zu suchen?“ – Im Hinblick auf die späteren Schicksale Müller’s möchte man wol wünschen, diese ebenso wohlgemeinten als treffenden Vorstellungen seines Freundes hätte einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht, als es in Wahrheit der Fall war; so wenig sie jedoch ihn überzeugten, ebenso wenig litt das gute Verhältniß beider Freunde untereinander durch sie. Daß es für M. wünschenswerth war, ihn von der lähmenden Lage in seiner Vaterstadt zu befreien, war übrigens auch Bonstetten’s ausgesprochene Meinung. So lud er ihn zunächst im Herbste 1773 zu sich auf sein Landgut Valeyres im Waadtland ein und suchte dazwischen nach einer Stellung für seinen Freund, die dessen an sich nicht unbegründetem Wunsche nach einer freieren und bildenderen Umgebung bis auf weiteres genügen könne. Eine solche fand sich nach kurzem Suchen bei dem Alt-Staatsrath Jakob Tronchin-Calandrini zu Genf, dessen beiden Söhne M. unterrichten sollte. M. hatte zwar das Gefühl, daß er für die Erziehung unerwachsener Jugend nicht gerade besonders angelegt sei, aber er nahm das Anerbieten im Sinne einer „augenblicklichen Unterkunft“, und unter den freiesten Bedingungen unbedenklich an. Sein Vater, der auf diese Weise einen seiner Lieblingsgedanken vernichtet sah, hat nicht ohne Widerstreben und erst in Folge der Dazwischenkunft der Mutter, die für ihres Erstgeborenen Wünsche ein besseres Verständniß[WS 2] oder doch eine mildere Beurtheilung fand, seine Einwilligung zu diesem Entschluß seines Sohnes gegeben. Der Rath seiner Vaterstadt hatte das Entlassungsgesuch Müller’s in anerkennender Weise beantwortet und die von ihm bekleidete Professur ihm auf eine Reihe von Jahren vorbehalten. Bezeichnend sind die Worte, mit welchen M. sein Vorhaben jener Behörde mitgetheilt hat. Er wolle in Genf, dem Schauplatze vielfacher Bildung, im Umgange mit ihren „tiefsinnigsten Staatsmännern sich so nützlich machen, um den Regenten und der [593] Nation der Helvetischen Eidgenossen, dem nähern Vaterland, und in dem Fall, wenn das Vaterland seine Dienste nicht brauchen wollte, dem Kaiser und Königen anderer Völker zu dienen.“

In Genf befand sich M. offenbar auf einem ihm zusagenden Boden, der ihm Anregungen der werthvollsten Art bot, wenn er auch, wie bemerkt, das Amt eines Erziehers nur als Gelegenheit ergriffen hatte, seine Freiheit zu gewinnen. Ueber den Genüssen, die ihm die Stadt Calvin’s entgegenbrachte, vergaß er die Schweizergeschichte, die ihm unentwegt am Herzen gelegen hatte, nicht und arbeitete mit einem wahren Feuereifer an ihr, zugleich in der Voraussetzung, daß seine weitere Zukunft von dem Gelingen dieses Werkes abhängen werde. Dank einem Winke Bonstettens, machte er auch dem greisen Voltaire in dem nahen Ferney einen Besuch und erfreute sich der zuvorkommendsten Aufnahme von Seiten desselben. In den in Genf herrschenden Umgangston sich hineinzuleben wurde ihm nicht schwer; hatte er doch an den derberen oder unbeholfenen Umgangsformen der deutschen Gelehrten längst Anstoß genommen. Ueber seinen historischen Studien ließ er zugleich die großen Fragen des Lebens, der Politik und der Gesellschaft nie aus dem Auge, wie das nebst seinen Briefen die in den Jahren 1774 bis 1777 niedergeschriebenen „Beobachtungen über Geschichte, Gesetze und Interesse der Menschen“ verrathen. Es ist auch nicht zu leugnen, und bezeugen es schon diese hingeworfenen Bemerkungen, daß M., bei allem Doctrinarismus, die politischen Verhältnisse der damaligen Welt mit durchdringenden, ahnendem Scharfblicke beurtheilte; kaum einer seiner Zeitgenossen hat so frühe und treffend wie er die sich vorbereitenden Stürme erkannt und vorausgesagt. Eine andere Frage war freilich, ob er sich nicht darüber täuschte, wenn er sich zugleich die Fähigkeit zutraute, mit Erfolg in das handelnde Leben eingreifen und die drohenden Stürme beschwören zu können. Und ferner die Wandelbarkeit seiner Grundsätze und Urtheile, die eine so bedauerliche Seite seines politischen Charakters entwickelte, bricht schon in diesen Jahren durch. Wie Welle auf Welle, strömen die verschiedensten, sich oft widersprechendsten Wünsche, Urtheile und Meinungen nach einander dahin und man thut gut, ihn nie beim Worte zu nehmen. Hatte er vor nicht langer Zeit Kaiser Joseph II. seine Dienste angeboten, so warnt er jetzt die Eidgenossen vor dem Kaiser, als derselbe gegen die Schweiz eine unfreundliche Haltung annahm, und meinte es sei besser, „unter unvergänglichen guten Gesetzen zu leben, als unter guten Fürsten, deren Söhne Tyrannen werden können“. In seiner Stellung bei Tronchin harrte M. ungefähr ein Jahr aus, dann (1775) gab er sie auf, um mit einem jungen Amerikaner (Kinloch) gemeinsam solchen Studien zu leben, welche „dem Charakter Freiheit und Stärke geben“. Er fühlte sich hingezogen zu dem Sohne des Landes der Zukunft, das er sich gerne als Zufluchtsstätte dachte, „wenn Europa der Sclaverei verfiele“. Im Sommer des genannten Jahres bereiste er mit seinem jungen Freunde einen großen Theil der Schweiz, machte zahlreiche Bekanntschaften, studirte Land und Volk und legte die Eindrücke des Erlebten in seiner Schweizergeschichte nieder. Die Erhebung der nordamerikanischen Colonien machte dem Verhältnisse zwischen M. und Kinloch jedoch ein plötzliches Ende. M. hatte auf diese Weise Gelegenheit, das Peinliche, das mit dem Mangel einer festen, gesicherten Stellung für ihn verbunden war, zu empfinden; er scheint jedoch für ein solches Gefühl nicht in besonderem Grade empfänglich gewesen zu sein und erwartete zunächst Alles von der Zukunft, von dem Erfolge seiner litterarischen Thätigkeit und seiner Schweizergeschichte, an deren Drucklegung er nun zu denken anfing. Er lebte die nächste Zeit bei Bonstetten, der stets ein offenes Haus und einen offenen Heerd für ihn hatte, bei dem Philosophen Bonnet in Genthod und auch bei Tronchin, [594] von dem er sich ja in aller Freundschaft getrennt hatte. Bonstetten verfolgte mit dem lebendigsten Interesse die Fortschritte der Schweizergeschichte und gab dem Freunde manchen wohlbegründeten Rathschlag, warnte ihn aber auch vor seiner schlechtverhehlten und oft ungestüm durchbrechenden Begierde nach Ruhm und was dasselbe war, vor seinem unbezwinglichen Ehrgeiz. „Du sprichst unaufhörlich von Ruhm. Dieser Gedanke wird Dich oft peinigen. Dein Genie wird Dich auf die oberste Stufe der Menschheit setzen; aber die Bahn ist nicht so glänzend, so paradiesisch als Du glaubst. Ich wollte, daß Du die Belohnung Deiner Erzeugnisse mehr in Dir selbst als in den veränderlichen Urtheilen der Menschen suchen würdest“. Wo die verhängnißvolle Schwäche in der sittlichen Natur Müller’s lag, wurde Bonstetten immer deutlicher und er unterließ es nicht, ihn als Freund darauf aufmerksam zu machen. „Du bist so ungeduldig, so feurig, so elastisch, daß Deine geringsten Bewegungen immer das Ziel überschreiten. – Ich bemerke eine gewisse Charakterschwäche an Dir, welche mehr von den Meinungen der Menschen als von Deinem eigenen Urtheil abhängig macht. Wenn es regnet, so bist Du im Stande zu glauben, daß die Sonne nicht mehr scheinen werde. – Ich würde es gern sehen, wenn Dein Genie auf Deinen Charakter Einfluß hätte, wenn Du nie etwas thun würdest, was Du nicht offen bekennen darfst, und wenn das Wort eines genialen Mannes das Gewicht hätte, das es durchaus haben sollte. Wenn das Bewußtsein Deines herrlichen Talentes ein wohlthuendes Gefühl ist, so glaube mir, daß das Bewußtsein einer großen und edeln Seele nicht minder erhebend ist“. Wie wünschenswerth es sei, M. möglichst unabhängig zu stellen und doch zugleich der Wissenschaft zu erhalten, hatte auch der Generalprocurator Tronchin in Genf, ein Bruder des Alt-Staatsraths, gefühlt, und ihm im Einklang mit Bonstetten den Vorschlag gemacht, vor einem ausgewählten Kreise von Zuhörern Vorträge über „allgemeine Geschichte“ zu halten; M. kam diesem Vorschlage mit Freuden entgegen und hat jene Vorträge dann noch mehrmals wiederholt und stets aufs Neue umgearbeitet. Sie trugen ihm den lebhaften Dank seiner Zuhörerschaft ein und sind vor Allem auch darum merkwürdig, weil aus ihnen seine Absicht hervorging, ein umfassendes Werk über die Weltgeschichte zu schreiben, eine Absicht, die er dann sein ganzes Leben hindurch festgehalten hat, freilich ohne sie schließlich in dem beabsichtigten Umfange auszuführen. Seine Vaterstadt hatte er in diesen Jahren fast ganz aus den Augen verloren oder doch die Absicht, dahin zurückzukehren, vollständig aufgegeben.

Im J. 1779 starb Müller’s Vater, der sich nur langsam mit dem veränderten Lebensplane seines Sohnes ausgesöhnt hatte, und damit fiel auch der letzte Grund hinweg, der ihn in seinem Entschlusse, seinen eigenen Weg zu gehen, hätte irre machen können. Bonstetten war damit vollständig einverstanden und fuhr fort, seinem Freunde seine gegenwärtige Lage in jeder Weise zu erleichtern und angenehm zu gestalten. Er hatte im Jahre 1778 die bernerische Landvogtei in Saanen im Waadtlande übertragen erhalten und M. dahin zu sich eingeladen. Dieser hat in dieser Zeit seine ganze Muße auf die Vollendung der Schweizergeschichte vereinigt. Bonstetten selbst fing in dieser Zeit, nicht ohne Zureden Müller’s an, sich als Schriftsteller zu versuchen. Er schrieb die „Briefe über ein schweizerisches Hirtenland“, in welchen er die Eindrücke und Beobachtungen, welche Beide auf ihren Wanderungen durch jene abgeschiedenen Thäler von den einfachen Sitten und Gewohnheiten der von der Cultur unberührten Bevölkerung empfangen hatten, niederlegte und beschrieb. Die „Briefe“ waren in französischer Sprache abgefaßt, weil Bonstetten die deutsche nicht in demselben Grade beherrschte; M. hat sie in das Deutsche übertragen und sie sind (1781) in Wieland’s „Deutschem Merkur“ abgedruckt worden. [595] Die Schrift fand eine beifällige Aufnahme und man vermuthete anfänglich, daß M. selbst der Verfasser sei, weil der Styl an die Schweizergeschichte erinnerte, deren erster Band kurz zuvor erschienen war.

Das Erscheinen des ersten Bandes der Schweizergeschichte 1780 macht Epoche in Müller’s Leben, und er selber erwartete von der Wirkung derselben eine entscheidende Wendung seines Schicksals. Derse1be begann mit dem 12. Jahrhunderte und reichte bis zur Schlacht von Näfels (1384). Er ist in dieser Gestalt ein Torso geblieben und hat in der folgenden zweiten Ausgabe eine vollständige Erneuerung und Umgestaltung erfahren. Wir haben aber gleichwohl dabei kurz zu verweilen. Fast ein Jahrzehnt hatte M. auf die Vorarbeiten und Ausarbeitung verwendet. „Ich habe das Ganze wohl sechsmal vernichtet und wieder geschrieben“. Er hat es mit keinem gelehrten Apparat beladen, wahrscheinlich um das Fahrzeug nicht zu sehr zu beschweren. Gleichwohl hatte es ihm Mühe gekostet, einen Verleger zu finden, und um der Aengstlichkeit der Censur zu genügen, wurde zuletzt „Boston“ statt Bern als Druckort angegeben. Die vor Jahren mit Gebauer in Halle getroffene Verabredung war inzwischen offenbar hinfällig geworden. Von einem materiellen Ertrag der Arbeit konnte so gut wie nicht geredet werden, es kam also darauf an, ob und in wie weit sich die Erwartungen, die M. sonst an die Veröffentlichung desselben knüpfte, erfüllen würden. Die Aufnahme des Buches zunächst in der Schweiz war in der That günstig genug, zum Theile eine glänzende; nur an einzelnen Punkten, wie z. B. in Zürich hatte M. dem kantonalen Patriotismus nicht Genüge gethan. M. hatte seit längerer Zeit die französischen Schriftsteller mit Vorliebe studirt und in ihnen die Vorbilder gefunden, welchen er nachstrebte. Und doch wurde seine Schreibweise hier und da zu schwerfällig und dem Tacitus nachgeahmt, von anderen, und vielleicht mit noch mehr Recht, zu gemacht, der Enthusiasmus, dem er gern nachgab, zu künstlich gefunden. Mit der Aufnahme, die dem Buche in Deutschland wurde, war er in seiner Empfindlichkeit freilich nicht ganz zufrieden; daß eine ungewöhnliche Leistung vorliege, wurde gern allgemein anerkannt, aber auch der zu enge, unkritische Anschluß an Tschudi ward von schärfer blickenden tadelnd vermerkt. In Wahrheit fand so ziemlich Alles, was überhaupt Müller’s Stärke als Historiker ausmacht, bereits in dem Buche seinen packenden Ausdruck, vorab die Gabe, sich in die geschilderten Zeiten zu versetzen und ein anziehendes Bild derselben durch die lebendige Wiederherstellung der erforschten Thatsachen zu entwerfen. Ein hinlänglich starkes Maß des patriotischen und sittlichen Pathos das zu den Eigenthümlichkeiten seiner historiographischen Manier gehört, tritt uns auch bereits hier entgegen. Die Vorrede schildert die frühere schweizerische Geschichtschreibung, entwickelt den Gang der europäischen Politik und Kriegskunst, feiert Friedrich den Großen und schließt mit den Worten: „Ein Geschichtschreiber bedarf einer freien Seele und fast aller Kenntnisse eines großen Königs; jene muß er haben, nach diesen streben.“

Der Erfolg des Buches im Großen und Ganzen war der Art, daß M. zufrieden sein durfte und sich in der That ermuthigt fühlte, ernstlich an die Fortsetzung desselben zu denken. Ursprünglich hatte er auch die Absicht gehegt, zugleich mit der deutschen Ausgabe zunächst seinen Genfer Freunden zu liebe eine französische erscheinen zu lassen, und in der That die Uebersetzung in diese Sprache in der Handschrift vollendet, ist aber dann auf Bonstetten’s Anrathen, der ihm die nöthige Gewandtheit in dieser Sprache nicht zutraute, wieder von dem Vorhaben ein für alle Mal abgestanden. M. hat sich von seinem Werke jedoch nicht blos Anerkennung und Ruhm, sondern zugleich die Erlangung einer ihm zusagenden, gesicherten äußeren Stellung erhofft. Nicht umsonst hatte er bei jeder passenden Gelegenheit in dem Buche seine staatsmännische Weisheit leuchten lassen, nicht [596] umsonst den königlichen Helden des Jahrhunderts in der Vorrede gefeiert. Mit einem Worte, er richtete sein Augenmerk wieder nach Berlin; ein Fürst, wie Friedrich der Große, rechnete er, würde am ehesten einen so staatsmännisch angelegten Schriftsteller an den rechten Platz stellen. Zu diesem Zweck veröffentlichte er noch im J. 1781 die „Essais historiques“, – die französische Sprache war nicht umsonst gewählt – eine Sammlung einer kleinen Anzahl geschichtlicher Abhandlungen; die wichtigste darunter ist die „Allgemeine Uebersicht der politischen Geschichte Europas im Mittelalter“, in der That das Zeugniß eines außerordentlichen historischen Talentes; die Wirksamkeit und Pläne der römischen Hierarchie wurden mit Nachdruck, aber noch ohne Uebertreibung und die Auftragung falscher Farben geschildert. Bekanntlich haben die Hoffnungen, die M. auf diesen Besuch in der preußischen Hauptstadt gesetzt, sich nicht erfüllt. Er erhielt zwar eine Audienz bei dem großen Könige, aber der Eindruck, den er auf Friedrich machte, war nicht so günstig, daß ihn dieser, wie einen und den andern seiner Landsleute, hätte festhalten und in seine Nähe hätte ziehen wollen. So endigte der zuversichtlich unternommene Versuch mit einer bitteren Enttäuschung, doch hat M. darum von dem Könige nicht geringer gedacht. Ebenso wenig hat sich sein Wunsch, Lessing’s Nachfolger in Wolfenbüttel zu werden, erfüllt, und er mußte sich, da er sein Glück einmal in Deutschland versuchen wollte, mit einer bescheidenen Stellung, die ihm der General v. Schlieffen in Kassel vermittelte, begnügen. Zwei Jahre ungefähr hat er hier ausgehalten, nicht ohne sichtbare Förderung seines „geistigen Wachsthums“, welches die unwillkürliche Muße begünstigte. Wie lebhaft freilich er sich nach einem großen einflußreichen Wirkungskreis sehnte, darüber gestatten ein paar Schriftchen, die in dieser Zeit entstanden sind, keinen Zweifel. Das wichtigste darunter, die „Reisen der Päpste“, verdankt offenbar diesem seinem unüberwindlichen Verlangen seinen Ursprung. Unleugbar ist M. in dieser Zeit zu den positiv gläubigen Anschauungen seiner Jugend zurückgekehrt und hat sie seitdem nicht wieder verlassen. Sie haben sehr bald seine Auffassung der weltgeschichtlichen Entwickelung modificirt und beherrscht. Ein Besuch, den er im J. 1782 bei Herder in Weimar gemacht, soll hierbei nicht ohne Einfluß gewesen sein. Mit der Beurtheilung der gedachten Schrift hat dieser Umstand im Grunde freilich nicht viel zu thun. Es handelt sich in diesem Falle nicht um Müller’s Verhältniß zum Christenthum, sondern um seine geschichtliche Würdigung des Papstthums und der römischen Hierarchie. Und wenn es mit Recht als sein wesentliches Verdienst als Geschichtschreiber angesehen wird, daß er im Gegensatze zu der verflachenden Denkweise des 18. Jahrhunderts einer gerechteren und treffenderen Auffassung des Mittelalters mit die Bahn gebrochen hat, so ist auf der anderen Seite nicht zu leugnen, daß er gerade bei dieser Gelegenheit des Guten zu viel gethan und vielfach über das Ziel hinaus geschossen hat. Vor lauter Bestreben, gegen die Päpste gerecht zu sein, ist er gegen Andere ungerecht geworden. Gregor VI. und Innocenz IV. erscheinen in demselben Grade in einem zu günstigen, wie Heinrich IV. und Friedrich II. in einem zu ungünstigen Lichte. Die Schrift war eben doch eine Tendenzschrift und M. hat in dieser Zeit in der That mit dem Gedanken gespielt, ein zweiter Winkelmann, in Rom eine seinen staatsmännischen und wissenschaftlichen Neigungen entsprechende Stellung zu gewinnen. Die bedenkliche Versuchung ist übrigens zu seinem Glücke – nicht näher an ihn herangetreten; später, in Wien, als sie es that, hat er siegreich widerstanden. Katholischerseits fühlte man sich von seinen halbpoetischen Gemälden katholischer Zustände, wie sie sich schon in dem erwähnten 1. Bande der Schweizergeschichte finden, angenehm berührt, aber dabei hatte es sein Bewenden. In Kassel selbst gefiel sich M. bald nicht mehr; für die ihm übertragenen Vorträge [597] an der Kriegsakademie fühlte er sich auf die Dauer zu gut und das Amt des Bibliothekars, das er wünschte, wurde ihm vorenthalten. Da sich eine andere Aussicht dem Heißblütigen nicht aufthun wollte, befreundete er sich in seinem Unmuthe sogar mit dem Gedanken nach Amerika zu gehen, wohin ihn sein junger Freund Kinloch einlud: der verständige Bonstetten, der ihn besser kannte als er sich selbst, redete ihm aber diesen Einfall aus und so entschloß er sich (1783) nach der Schweiz zurückzukehren. Das gastliche Haus Tronchin’s öffnete sich ihm wieder und er nahm die Vorträge über allgemeine Geschichte wieder auf. Jedoch auch jetzt war seines Bleibens hier nicht lange; er ging zu seinem Freunde Bonstetten und weiterhin (1785) nach Bern. An beiden Orten nahm ihn die Umarbeitung des 1. Bandes seiner Schweizergeschichte nebst der Fortsetzung derselben, in Bern zugleich Vorträge über die alte Geschichte vollauf in Anspruch. Der 1. Band der umgearbeiteten Schweizergeschichte erschien im J. 1786, und er ist es, der ihn eigentlich erst zum berühmten Manne, zum gefeierten Geschichtschreiber machte. Es war ein neues Werk, das hiermit an das Licht trat. Die fünf Jahre, die zwischen dem Erscheinen des ersten Versuches und der neuen Bearbeitung lagen, hatten seinen Gesichtskreis sichtlich erweitert und die Anforderungen, die er sich selber stellte, erheblich gesteigert, wenn sich seine Grundanschauung auch wenig geändert hatte. Er setzte jetzt statt im 12. Jahrhundert mit der Geschichte des alten Helvetiens ein und versah das Buch mit zahlreichen gelehrten Noten.

Ehe der 2. Band veröffentlicht wurde, ging in Müller’s äußerer Stellung aber eine maßgebende Veränderung vor sich, die ihn erst recht auf die große Bühne des handelnden Lebens führte, ungefähr in der Art, wie er es sich von jeher gewünscht hatte. Es war in dieser Zeit im Kreise seiner Freunde und Verehrer die Rede davon gewesen, M. an Bern, wo er sich nicht übel gefiel, zu fesseln und ihm auf dem Wege der Subscription eine Jahresrente zu sichern, bis sich ein passendes sicheres Amt für ihn fände. Aber ehe diese gut gemeinten Pläne zum Ziele führten, erhielt er den Ruf als Bibliothekar nach Mainz, und nahm ihn, zum Leidwesen seiner Anhänger in Bern, ungeduldig an. Mit diesem Entschluß trennte er sich auf immer thatsächlich von seinem Vaterlande, wenn er es auch in seinem Herzen mit sich trug und in dem noch übrigen wechselreichen Theile seines Lebens nicht aufhörte, demselben in den bevorstehenden Erschütterungen in seiner Art seine Theilnahme zu bewahren. Die Berufung nach Mainz verdankte er, von der freieren Denkweise des Kurfürsten abgesehen, den Bemühungen Forster’s und Sömmering’s, zu welchen er in Kassel in nähere Beziehungen getreten war, den Empfehlungen Heyne’s und dem Fürwort der gelehrten Mönche von St. Blasien, namentlich Neugarts; wenn M. später in seiner Skizze seines eigenen Lebens eine jede Dazwischenkunft Dritter in Abrede stellt, so hat ihn sein Gedächtniß zur Unzeit im Stiche gelassen. Genug, seine ausgesprochenen Sympathien für die römische Hierarchie waren doch nicht erfolglos geblieben. Die Aufnahme, die M. in Mainz fand, übertraf alle seine Erwartungen. Er gewann das Vertrauen des Kurfürsten und seiner Umgebung; kaum war ein Jahr um, so erhielt er die politische Stellung, nach welcher er sich bisher vergeblich und so lange gesehnt hatte, wurde Staatsrath und Staatsreferendar, d. h. der geheime Cabinetssecretär des Kurfürsten und für die wichtigsten politischen Geschäfte in Anspruch genommen. Dabei blieb ihm bei seinem nie rastenden Fleiße noch Zeit, den 2. Band seiner Schweizergeschichte, den er noch in seiner Heimath vollendet hatte, herauszugeben und die Hälfte des dritten hinzuzufügen. Seine politische Thätigkeit galt u. a. besonders dem von Friedrich d. Gr. hervorgerufenen Fürstenbunde, dem sich der Kurfürst von Mainz angeschlossen hatte. Die Schrift Müller’s über den Fürstenbund (1787) ist berühmt, sie gilt [598] noch jetzt als eine der „besten historisch-politischen Schriften“, die wir besitzen. M. entfaltet hier eine umfassende Kenntniß des deutschen Staatsrechtes und der deutschen Geschichte und die Universalität seines Blickes und seines Gedankenganges verleihen seinen Erörterungen eine packende Kraft, wenn sie auch öfters zum Widerspruch herausfordern. Zu dem Zwecke, die Geneigtheit der Kantone seines Vaterlandes zum Anschluß an den Fürstenbund zu erforschen, bereiste M. im Auftrage des preußischen Cabinets, aber in geheimer Sendung, im Sommer 1787 die Schweiz und legte hinterher in einem vorzüglichen Bericht Rechenschaft über diese Mission ab. In jener Zeit hat er, unstät wie er war, sich mit der Hoffnung getragen, eine ihm zusagende Stellung in Berlin zu finden. Diese Hoffnung verwirklichte sich jedoch nicht und als das Berliner Cabinet bald darauf von den ursprünglichen Tendenzen des Fürstenbundes zurückwich, modificirte M. seine Sprache und schlug in den „Erwartungen Teutschlands vom Fürstenbunde“ einen wesentlich andern Ton an. Mit der Betreibung des Fürstenbundes und der Candidatur K. Theodors von Dalberg als Coadjutors von Mainz hing auch eine Schrift zusammen, die M. fast gleichzeitig mit der zuerst erwähnten veröffentlichte: „Die Briefe zweier Domherren“, in welcher er die geistlichen Hochstifter dem niederen Adel Deutschlands vorbehalten wissen wollte. Ueberall hier spricht M. in der prophetischen Ahnung großer nahender Stürme von der Nothwendigkeit einer Kräftigung des deutschen Nationalgeistes und der Reorganisation der Reichsverfassung, deren Schwächen ihm deutlicher waren als vielen anderen. Dalberg, der auch der preußische Candidat war, ist bekanntlich durchgedrungen und M. wurde mit der Sendung nach Rom betraut, die Bestätigung dieser Wahl einzuholen: ein Vertrauensbeweis, wie er in der That gegenüber dem protestantischen Staatsrath nicht bedingungsloser gedacht werden kann. Jene Ahnungen Müller’s erfüllten sich nur zu schnell: die französische Revolution brach aus und nahm rasch eine unerwartet heftige Gestalt an. M. war nicht dadurch überrascht und ließ sich durch die ersten Gewaltthätigkeiten derselben in seinem zustimmenden Urtheile nicht irre machen. Man weiß, daß er den Tag der Zerstörung der Bastille als den schönsten Tag seit dem Untergange der römischen Weltherrschaft begrüßt hat. „Wie weit es gehen und wie es endigen werde, schreibt er weiterhin, kann ein menschlicher Verstand nicht voraussagen, doch ist es wahrscheinlich am Ende ein Gewinn für die Menschheit. Das Alte bedurfte einer Wiederauffrischung; es müssen periodische Revolutionen eintreten, sonst schlummert Alles in Sinnlosigkeit ein.“ Diese von hohem Standpunkt aus gegriffene Anschauung hielt ihn aber nicht ab, zu entschlossenem Vorgehen gegen einen auftauchenden Versuch, Unruhen im Gebiete des Hochstiftes Mainz hervorzurufen, zu rathen. Die weitere gewaltsame Entwickelung der Dinge in Frankreich stimmte freilich bald genug seine Sympathie für die Revolution gründlich herunter, er zweifelte aber, ob die bewaffnete Einmischung der Großmächte ihr würde Halt gebieten können; ja er meinte auch jetzt noch, „es wäre vielleicht das größte Unglück für die Menschheit“. Er hielt es auch früher als die meisten seiner Zeitgenossen für möglich, daß die siegreiche Revolution die Dämme durchbrechen und dem übrigen Europa dieses Evangelium bringen könne. Und als sich diese Ahnung verwirklichte und der Kurstaat Mainz mit der Hauptstadt einem improvisirten Anfall zum Opfer fiel, war er gerade abwesend in Wien, von wo eine Einladung an ihn ergangen war. Man trug sich hier in der That mit der Absicht, den Verfasser der Schrift über den Fürstenbund, in welcher er dem Hause Habsburg nicht geschmeichelt und die auf eine Universalherrschaft gerichtete Politik Kaiser Ferdinands II. getadelt hatte, in die österreichischen Dienste zu ziehen. So auffällig das scheinen kann, so leicht ist der Schlüssel für diese Wendung zu finden. Kaiser Josef II., dessen um sich greifende Politik [599] M. heftig genug angegriffen hatte, lebte nicht mehr und mit der Nachfolge seines maßvolleren Bruders Leopold war dort ein Systemwechsel eingetreten. Ein so begabter Mann wie M., der sich als Anwalt der Hierarchie und des conservativen Princips bewährt hatte, mochte mit Recht als eine wünschenswerthe Erwerbung für einen Staat erscheinen, der keinen Ueberfluß an Talenten hatte. Freilich war man bei dieser Berufung zugleich von der stillschweigenden Voraussetzung ausgegangen, M. würde so consequent sein und sich bereit finden lassen, zur römischen Kirche überzutreten. Ehe es aber in dieser heiklen Frage Licht wurde, kamen Schlag auf Schlag die erschreckenden Nachrichten von der Niederlage der coalirten Waffen in Frankreich und der Gefahr des Kurstaates Mainz. So brach M. denn rasch die Unterhandlungen ab, ehe sie noch recht in Fluß gekommen waren, und eilte nach Mainz, dessen Fall er unterwegs vernahm, zurück, um wenigstens die Früchte seiner Lebensmühe, seine Collectaneen, Briefe und die Acten seiner Geschäftsführung zu retten. Custine nahm ihn zuvorkommend auf und wollte ihn sogar an die Spitze der neuen Verwaltung stellen. Die Franzosen wußten, daß M. in Mainz populär und im Reiche eine hochgeachtete Persönlichkeit war. Sie begriffen so gut als später Napoleon, was ein solcher Mann ihren Absichten für gute Dienste thun könne. Jedoch M. widerstand und lehnte ab. „Es würde den Anschein haben, als hätte ich zu diesen Ereignissen beigetragen und ich möchte die öffentliche Achtung verlieren; ich würde mir selbst und dem Charakter untreu werden, den ich stets bewahrt habe“. Hätte er doch 15 Jahre später der Zumuthung, für Napoleon die Kohlen aus dem Feuer zu holen und seine bösen Absichten gegen Deutschland mit seinem guten Namen zu decken, mit gleicher Tapferkeit widerstanden! Freilich hätte M. in diesem Falle noch bessere Gründe für seine Enthaltung finden können, als blos die Rücksicht auf seine Person, indeß war er einmal gewohnt, sie an die Spitze aller seiner Erwägungen zu stellen. Die eine Folge für seine nächste Zukunft hatte die Katastrophe von Mainz aber doch, daß, als man von Wien aus jetzt die unterbrochenen Unterhandlungen mit Nachdruck wieder aufnahm, und ihm weiter keine Bedingungen stellte, er angesichts der trostlosen Zustände im Mainzer Kurstaate nachgab und in die weit entgegengestreckte Hand einschlug. Der Kurfürst von Mainz gab ihm die erbetene Entlassung und M. trat als geheimer Hofrath bei der geheimen Hof- und Staatskanzlei in die Dienste des Hauses Oesterreich. Der Republikaner von ehedem ließ es sich gefallen, daß er, als Ausdruck besonderer kaiserlicher Gnade als „Edler von Sylfelden“ zugleich in den Adelsstand erhoben wurde.

Mit der Uebersiedlung Müller’s nach Wien beginnt ein neuer Abschnitt seines Lebens. Zwölf Jahre lang hat er dort ausgehalten, bis er zuletzt im Unmuth den Staub von den Sohlen schüttelte und sich wieder dem Staate Friedrichs d. Gr. zuwandte. Ungeheuere Ereignisse fallen in diesen Zeitraum, die Revolution machte die Runde um die Welt, das alte Europa nahte dem Umsturz oder stürzte, wie sein schweizerisches Vaterland, wirklich in Trümmer. M. hätte seine Natur verleugnen müssen, hätte er die Sturmfluth dieser Ereignisse und Umwälzungen nicht mit zum Theile leidenschaftlicher Aufmerksamkeit verfolgt. Der österreichische Staat erlitt die empfindlichsten Erschütterungen durch die Kriegslust der französischen Republik und des zu seinem Ziele vordringenden neuen Cäsars, und hatte Mühe, sich über dem Wasser zu halten. M. wurde indeß zur Betheiligung an der großen und verwickelten Aufgabe der österreichischen Politik dieser Zeit nur wenig zugezogen. Anfangs übertrug man ihm die Correspondenz mit Rom, wie man mit Recht vermuthet, in der Hoffnung, er würde sich um so eher zu dem erwarteten Uebertritt zur römischen Kirche bereit finden lassen, aber er blieb standhaft und täuschte diese Erwartung. Als Preußen seinen ihm in Wien so [600] sehr verdachten Separatfrieden mit Frankreich schloß, lieh auch M. seine Feder, dem Unmuthe des kaiserlichen Hofes darüber officiöse Worte zu verleihen und auf die öffentliche Meinung zu Gunsten der Fortsetzung des Krieges zu wirken. Viel weiter brachte er es jedoch nicht. Im J. 1797 bereiste er im Auftrage des Ministers Thugut die Schweiz, jedoch das Benehmen, daß er bei dieser Gelegenheit entwickelte, scheint nicht das glücklichste und vorsichtigste gewesen zu sein und hat ihm schon damals gleich nach seiner Rückkehr nach Wien und in verschärfter Gestalt in unsern Tagen heftige Vorwürfe der Zweideutigkeit, des Buhlens mit der Revolution, ja des Verrathes an seinem Vaterlande eingetragen. Eines erscheint gewiß, der heißblütige, allen Eindrücken offene Mann konnte unter Umständen zu Einfällen und Zugeständnissen fortgerissen werden, die er schon Tages darauf gerne wieder zurücknahm oder anders auslegte, als sie gemeint oder doch verstanden worden waren. Zwar genoß er in der Schweiz in vielen Kreisen noch immer großes Ansehen und nach dem Frieden von Luneville tauchte hier sogar der Wunsch auf, er möchte als Gesandter des Kaiserstaates dorthin geschickt werden. Schon in der Hoffnung nützen zu können, hätte er sich einer solchen Bestimmung nicht entzogen, aber die Frage ist am entscheidenden Punkte kaum je ernstlich erwogen worden. M.’s eigene Ansicht über die Lage der Dinge in der Schweiz seit der französischen Einmischung und dem Zusammenbruche der alten Eidgenossenschaft stand im übrigen doch auch unter dem Eindrucke der Zeit, er hatte Sympathien für die gefallene Aristokratie und wußte doch recht gut, daß gerade diese an ihrem Sturze den größeren Theil der Schuld trug. Die Dazwischenkunft Napoleons und die Mediationsacte fanden seine Anerkennung, wie ihm denn der erste Consul überhaupt imponirte. Seine gedachte Verwendung in der Hofkanzlei nahm mit dem J. 1800 ein Ende; er wurde zum ersten Custos an der kaiserlichen Bibliothek ernannt und somit jeder amtlichen Beschäftigung mit den Fragen der Politik enthoben. In seiner neuen Stellung, zu welcher er ja wie berufen erscheinen mußte, hat er einen erstaunlichen Fleiß und eine Arbeitskraft der rühmlichsten Art entwickelt. Seine wissenschaftlichen Studien und Arbeiten sind überhaupt während seines Wiener Aufenthaltes ganz ungemein gefördert worden. Sie mußten ihn zugleich über die schwere Noth der Zeit und manche herbe Erfahrung hinwegheben. Er hat jetzt für die Ausführung seines Planes einer Universalgeschichte die unermüdlichsten und umfassendsten Forschungen und Untersuchungen auf zum Theile abgelegenen Gebieten angestellt und zugleich die Hand an die Ausführung im großen Stile angelegt, jedoch der Anlauf gerieth ins Stocken, und was zuletzt wirklich zu Stande kam, war ein Auszug daraus, die sog. 24 Bücher Allgemeiner Geschichte, auf die wir noch zu sprechen kommen werden; außerdem beschäftigte ihn noch die Fortsetzung seiner Schweizergeschichte. Schon im Mai 1794 war der dritte Band in der Handschrift vollendet und erschien im September desselben Jahres im Drucke; hierauf trat in der Fortsetzung mehrere Jahre hindurch ein Stillstand ein, erst seit seiner Versetzung an die Bibliothek erwachte seine Arbeitslust wieder, bis dann seit dem J. 1803 in Folge äußerer, lähmender Störungen privater Natur, ein neuer Stillstand erfolgte, nachdem er den Faden bis zu dem Anfange der Burgunderkriege geführt hatte. An anregendem Verkehr und vielfachen Beweisen der Achtung seiner Persönlichkeit fehlte es M. übrigens nicht. Er nahm sich junger Talente, die seine Freundschaft und seinen Rath suchten, väterlich an; Hormayr und Hammer-Purgstall sind von ihm in die Litteratur eingeführt worden. Auch mit dem Erzherzog Johann hat er in dieser Zeit nachhaltige Beziehungen angeknüpft. Das fröhliche behagliche Wiener Leben sagte ihm zu, wie er von Haus kein Ascet und besonders ein Liebhaber der Genüsse der Tafelfreuden war. Er ist bekanntlich sein Leben lang Junggeselle geblieben und hat der Ehe im [601] Hinblick auf den bekannten Ausspruch des Apostels grundsätzlich entsagt. Auf die Dauer fühlte er sich indeß in Wien nicht mehr zufrieden und sehnte sich heraus. Ein Freund des Stilllebens war er trotz aller häufiger Betheuerungen des Gegentheils niemals gewesen. Die Zurückhaltung von den politischen Geschäften, die ihm auferlegt war, ging gegen seine Natur; daß man ihm als Protestanten nie recht traute, wußte er recht gut und wurde ihm in der letzten Zeit aufs neue deutlich, als man ihn bei der aufgegangenen Vorstandschaft der kaiserlichen Bibliothek, auf die er gerechnet hatte, rücksichtslos zurücksetzte. Ja das heillose Mißtrauen der officiellen Kreise ging soweit, daß man ihm sogar die Veröffentlichung der Fortsetzung seiner Schweizergeschichte untersagte. So richtete er sein Auge in allem Ernste wieder nach Berlin, obwohl er sich sagen mußte, daß er seit seiner Uebersiedelung nach Wien sich besondere Ansprüche auf Dank von Seiten der preußischen Regierung nicht erworben habe. Mit der deutschgesinnten Partei hatte er in der Kaiserstadt allerdings Fühlung behalten und man trug sich in ihren Kreisen mit dem freilich kühnen Wunsche, die Höfe von Wien, Petersburg und Berlin einander näher und so eine neue Coalition gegen Frankreich zu Stande zu bringen. Angeblich um in diesem Sinne zu wirken, ging M. im Anfange des Jahres 1804 zunächst nach Dresden und von da nach Berlin; höchst wahrscheinlich sollte der von ihm übernommene Auftrag eben nur ein Vorwand sein, um seine eigenen Angelegenheiten zu fördern. Er fand hier, wenn auch nicht für seinen Auftrag, so doch für seine Person die entgegenkommendste Aufnahme; alles dazwischen liegende schien rein vergessen und er fühlte sich „wie ein aus der Fremde gekommener Sohn“. So gewann der Wunsch, M., den gefeierten Geschichtschreiber an Berlin zu fesseln, am Hofe rasch eine greifbare Gestalt; M. erhielt den Antrag, als geheimer Rath, beständiger Secretär der Akademie und Historiograph des königlichen Hauses etc. zugleich mit einem für jene Zeiten hohen Gehalte in preußische Dienste zu treten, und, wie vorauszusehen, nahm er mit Freuden den Antrag an. Sein liebster Wunsch war so erfüllt, unter den ehrenvollsten Bedingungen war ihm in Berlin in dem Augenblicke eine Freistätte eröffnet, in welchem die Stellung in Wien für ihn zum mindesten allen Reiz verloren hatte. –

Mit der Uebersiedelung nach Berlin beginnt der anziehendste und zum Theil wichtigste Abschnitt in Müller’s Leben. Der preußische Staat, gestützt auf die Segnungen des Friedens, befand sich in einem blühenden Zustande und keine Stimme wurde laut, die vor den Gefahren der scheinbar so erfolgreichen Neutralitätpolitik gewarnt hätte. Mit höchster Genugthuung trat M., ein willkommenes Mitglied, in den Kreis ausgezeichneter Männer, die „Berlin zu einer Freistätte und einem Mittelpunkte deutscher Art und Kunst und aller vernünftigen Freiheit zu machen“ entschlossen waren. Seine Stimmung war die heiterste der Welt, seine in Wien zuletzt gesunkene Schaffenslust erwachte von neuem und er griff die verschiedensten Arbeiten zu gleicher Zeit an. Er nahm die Ordnung seiner Sammlungen für die geplante Universalgeschichte wieder auf, besorgte eine neue revidirte Auflage der drei ersten Bände der Schweizergeschichte und legte an den vierten Band die letzte Hand an. Außerdem übernahm er die Herausgabe von Herder’s historischen Schriften und schrieb die bekannte geschichtliche Einleitung zum „Cid“. Endlich fing er ernstlich an, sich in die preußische Geschichte zu vertiefen und erhielt bald den Auftrag von Seiten des Königs, vor allem die Geschichte Friedrichs d. Gr. zu schreiben. Seine akademische Rede „Ueber die Geschichte Friedrichs II.“ hatte dazu die nächste Veranlassung gegeben. Friedrich Wilhelm III. hatte in einem Handbillet die ehrende Erwartung ausgesprochen, „daß dies ein Werk sein würde, das des Geschichtschreibers des Schweizerbundes würdig wäre, und schwerlich einem andern je so vollkommen [602] gelingen wird“. Das Vertrauen des Königs zu M. und seine würdige Vorstellung von der Aufgabe der Geschichtschreibung war so groß, daß er ihm die „uneingeschränkte Benutzung“ der Archive decretirte und ihn von der herkömmlichen Censur ausdrücklich befreite. M. schritt hierauf in der That zur Durchforschung des archivalischen Materials. Damit war indeß der Kreis seiner Arbeiten in diesem Jahre noch keineswegs erschöpft. Er studirte die venetianischen Relationen, die in die Berliner Bibliothek gelangt waren, und war somit einer der ersten, der ihre Bedeutung als Geschichtsquelle ersten Ranges erkannte. Ferner: mit Woltmann hat er den Plan, eine systematische Sammlung der Geschichtsquellen des Mittelalters in Verbindung mit der Akademie d. W. zu unternehmen, in einsichtige Erwägung gezogen. Hierzu kam eine fortgesetzte Thätigkeit als Recensent, insbesondere für die Jenaer A. Lit. Zeitung, zu welcher ihn der ihm freundschaftlich verbundene Goethe und zugleich das Andrängen namentlich der jüngeren Historiker im Zusammenhange mit seiner eigenen Neigung bestimmte. Allerdings hat er hierbei häufig seine Humanität zu laut mitsprechen lassen, aber andererseits ist hervorzuheben, daß er auf diesem Wege doch manches, der Ermunterung bedürftige jugendliche Talent in seiner Entwickelung gefördert hat. Sein Ansehen wie sein Einfluß auf die jüngere Generation der Historiker war im Steigen: eine Reihe derselben, wie Woltmann, Luden, Bredow, Dippold, Friedrich von Raumer verehrten ihn als Meister und Leitstern, und er selbst brachte ihrer Zuneigung ein unermüdliches, stets bereites Wohlwollen entgegen. Wie man über diesen seinen Einfluß denken mag, gewiß ist, er hat in der That eine Art von historischer Schule gegründet, wiewohl er niemals akademischer Lehrer gewesen ist. Seine Verbindungen nach allen Seiten gingen überhaupt weit: sein Briefwechsel war nach wie vor umfassend, und es ist oft genug anerkannt worden, daß derselbe zu den interessantesten und lehrreichsten seiner Art gehört, obwohl er nicht in vollständiger Gestalt vorliegt und die Vorsicht des Herausgebers seiner Werke – seines Bruders Georg – uns vieles Charakteristische vorenthalten hat. Die wachsende Gefahr und Verwirrung der Zeitverhältnisse gestattete M. freilich nicht, sich auf die Ausführung seiner wissenschaftlichen Arbeiten und Pläne zu concentriren; im Gegentheil, der Augenblick war gekommen, der ihn rasch wieder vom Strudel der großen Politik erfassen ließ, und seine eigene Neigung war nun einmal so beschaffen, daß er dieser Versuchung keinen Widerstand entgegensetzte; dies um so weniger, als die öffentliche Meinung gerade ihn als den Mann bezeichnete, der durch sein Talent und seine Gesinnung unter den gegebenen Umständen der guten Sache wahrhaft nützlich werden konnte. Man täuschte sich ja in den politischen Kreisen Berlins nicht mehr darüber, daß die Stunde nahe, in welcher der preußische Staat aus seiner Neutralität würde heraustreten und zum Schwert gegen den Zwingherrn greifen müssen. Es gab hier eine Kriegspartei und M. neben dem Prinzen Louis Ferdinand und dem Minister Freiherrn von Stein war eines der rührigsten und lautesten Mitglieder derselben. Die der Vollendung entgegengehende Universalherrschaft des Corsen erklärte er wiederholt und aus allen Tönen als das schwerste Unglück, das der Welt, der Cultur und der Freiheit begegnen könne, und wurde nicht müde, je bedenklicher die Lage der Dinge wurde, um so ungestümer in die Kriegstrompete zu stoßen und zur Vereinigung Aller gegen den gemeinsamen Feind aufzurufen. Die hohe und maßgebende Rolle, die Preußen nach seiner Vergangenheit und Macht in dem erhofften Entscheidungskampf zufallen würde, hat er wiederholt und ohne Vorbehalt und enthusiastisch verkündet, und es würde, ihn selbst mit eingeschlossen, es Niemand für möglich gehalten haben, daß er seine Sache jemals von dem preußischen Staate würde trennen können. Als der Berliner Hof dann endlich der herausfordernden [603] Demüthigungen, welche Napoleon über ihn zu verhängen fortfuhr, müde, die Hand an das Schwert schlug, war es wieder M., der diesen Entschluß aufs Freudigste begrüßte und aufs Nachdrücklichste vertrat. Und als es sich auf Stein’s Rath darum handelte, das preußische Volk von diesem Entschlusse in Kenntniß zu setzen, verstand es sich ganz von selbst, daß M. mit diesem Auftrage beehrt wurde, dessen Ausführung freilich durch den unerwartet schnellen Ausbruch des Krieges vereitelt wurde. Als der König in seinem kriegerischen Entschlusse schwankend wurde, erklärten sich die Brüder desselben, wie der Prinz Ludwig Ferdinand entschieden dagegen. Im Auftrage des letzteren verfaßte M. eine Vorstellung an den König zum Zwecke der Entlassung seiner unzuverlässigen Räthe – Haugwitz, Beyme und Lombard – und die genannten Prinzen wie Stein nebst den Generälen Phull und Rüchel unterzeichneten sie. Der König nahm aber diese Einmischung übel, und M. empfand es als einen Act der Ungnade, daß ihm beim Ausbruche des Krieges die Abfassung des Kriegsmanifestes nicht übertragen wurde. Hinterher pries er freilich die Fügung, „welche ihn von der Geschäftslaufbahn entfernte“.

Was nun geschah ist bekannt. Die Ereignisse, die die unerwartete Niederlage der preußischen Waffen und der Zusammenbruch des preußischen Staates herbeiführte und begleitete, können und brauchen an dieser Stelle des Näheren nicht auseinander gesetzt zu werden. Nicht minder überraschend aber als die große Katastrophe war die Haltung, zu welcher ihr gegenüber sich M. entschloß. Sagen wir es kurz, sein Charakter wurde bei dieser Gelegenheit auf die Probe gestellt und er hat sie so schlecht als möglich bestanden. Er wurde gewogen und zu leicht befunden. Napoleon zog als Sieger in Berlin ein; der König und der ganze Hof war nach Memel geflüchtet; M. hatte es aber vorgezogen in Berlin zu bleiben; das einzig richtige für ihn nach allem Vorausgegangenen wäre aber gewesen, demselben zu folgen und sein Schicksal zu theilen. Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt, M. hat in diesem Falle aber unleugbar vor Allem an sich gedacht; oder war der Staat Friedrich d. Gr., für welchen er sich Jahre hindurch als eine providentielle Schöpfung so heiß begeistert hatte, nun plötzlich ein Erzeugniß des Zufalles, an welches man beim ersten, wenn noch so schweren Sturze plötzlich allen Glauben verlieren und an dessen Fähigkeit, sich wieder zu erheben, man verzweifeln mußte? Ein Mann wie M., der von seinem in der That oft bewährten politischen Scharfblick so erfüllt war, hätte doch sich dem Eindrucke des Momentes nicht in dem Maße gefangen geben und etwas weiter denken sollen. Indem er dieses aber nicht that, kam bei dieser Gelegenheit seine Charakterlosigkeit, verbunden mit einer Dosis Eitelkeit und Selbstsucht, in betrübender Weise zu Tage. Die Franzosen kannten ihren Mann und der moderne Attila hatte sich ihn als Opfer ausersehen. M. wurde von den Franzosen mit gesuchter Aufmerksamkeit behandelt, von allen Lasten der Einquartierung blieb er befreit und sein Gehalt wurde ihm nach wie vor ganz ausbezahlt, während sämmtliche preußische Beamte von staatswegen auf Halbsold gesetzt wurden. Und mehr als dieses, Napoleon erwies M. die Auszeichnung, ihn zu einer Audienz zu befehlen; in der That eine auffällige Großmuth, denn es hatte dem Sieger unmöglich unbekannt bleiben können, welche Sprache M. noch vor einigen Wochen gegen ihn geführt hatte. Ob übrigens dieses artige Benehmen des Kaisers aus dessen eigener Initiative hervorging, steht doch dahin; es liegt nämlich actenmäßig vor, daß M. in einem Briefe an den Fürstprimas von Dalberg seine Bewunderung für Napoleon ausgesprochen und den Wunsch hinzugefügt hatte, von diesem bemerkt zu werden. In der That, er hatte innerlich seinen Frieden mit dem Kaiser längst gemacht und sich mit der Hoffnung befreundet, von ihm herangezogen und verwendet zu werden, ehe er ihm gegenüberstand. Am [604] 20. October (1806) fand die oft besprochene Audienz statt, in welcher sich die bereits eingeleitete Bekehrung, der Abfall Müller’s vollendete. Napoleon hatte leichtes Spiel mit ihm, von einem Sträuben war keine Rede. „Es war einer der merkwürdigsten Tage meines Lebens. Durch sein Genie und seine unbefangene Güte hat er mich erobert.“ M. hatte ja schon vorher eingesehen: „Gott hat ihm das Reich, die Welt gegeben“, und war bereit, „bei der Weltumschaffung, wenn nicht mitzuwirken, doch sie wenigstens ganz unparteiisch zu beschreiben.“ Und jetzt schreibt er: „Die von dem morsch gewordenen Alten nutzlos verschwendeten Kräfte müßten auf das Neue übertragen werden, man müsse sich umdenken.“ Preußen hatte er aufgegeben. „Auf dieses Land läßt sich kein sicherer Schluß mehr machen. Vorausgesetzt, es werde ganz unhaltbar, so muß abgewartet werden, ob der, dem Alles gegeben ist, eben auch über mich gebeut, in welchem Falle nicht zu widersprechen ist. Vergißt er mich, so daß ich hin kann, wo mir sonst gut zu sein scheint, so würde ich die Schweiz gewiß allem vorziehen.“ Selbst in einem Falle, wo er öffentlich Farbe bekennen mußte, wurde es ihm nicht mehr möglich, die plötzliche Umwandlung seiner Gesinnung zu verhüllen. Am 29. Januar sollte er in der Akademie über Friedrich d. Gr. reden. Die Aufgabe war freilich nicht leicht, aber er hat sie mit möglichst geringem Tacte gelöst. Daß er die Rede in französischer Sprache hielt, möchte hingehen, aber es war doch das Uebermaß der an Hohn grenzenden Schwäche, wenn er unter Anderem dem Schatten des Siegers von Roßbach in wenig verhüllten Worten Freude über den Sturz seines Staates zumuthete. So bricht Schlag um Schlag die feige Gesinnungslosigkeit des Apostaten durch. Er geht so weit, in dem Rheinbunde den Kern der Wiedergeburt Deutschlands und einer Gesammtverfassung desselben zu erblicken und zu rühmen; man liest es freilich zwischen den Zeilen durch, daß ihm eine maßgebende Stelle bei demselben nicht zuwider sein würde. Die Hoffnung auf eine derartige Erfüllung seiner schlecht verhehlten Wünsche stellte seine Geduld gleichwol einigermaßen auf die Probe und doch hatte er inzwischen Schritte gethan, seine Entlassung aus dem preußischen Staatsdienste zu erhalten; die Vorwände, mit welchen er diesen Entschluß zu beschönigen suchte, vermögen übrigens Niemanden zu täuschen. Der Bescheid von Memel aus erfolgte übrigens nicht sogleich: man hätte ihn ja auch am liebsten festgehalten; selbst die Königin Louise, die ihn als begeisterten Patrioten verehrt hatte, wendete sich in diesem Sinne an ihn, aber vergeblich. So geschah denn zuletzt sein Wille, er erhielt, was er verlangt hatte, in trockenen Worten und hörte auf ein Bürger seines Adoptivvaterlandes zu sein. Das erwartete Wort Napoleons blieb noch immer aus. In dieser Zeit des Hangen und Bangens, die für ihn um so peinlicher war, als bereits von überall her die verdammenden Anklagen wegen seines Abfalls sich gegen ihn rührten – der vernichtende Absagebrief von Gentz ist bekannt – gelangten an ihn von Stuttgart her Anerbietungen einer Professur in Tübingen, die dem ehemaligen Göttinger Historiker und jetzigen Curator der gedachten Universität, Spittler, nicht fremd waren. M. lehnte sie nicht geradezu ab, fing am Ende sogar an zu packen und sich zur Abreise zu rüsten. Indessen täuschte er sich gewiß selbst nicht darüber, daß eine Wirksamkeit der Art, zumal bei seinem vorgeschrittenen Alter, nicht seine Sache sei. War ihm durch den Freiherrn v. Stein doch zu gleicher Zeit die Aussicht eröffnet worden, an der neu zu gründenden Universität Berlin eine passende Stellung zu finden; wir wissen aber nicht, ob er diese Möglichkeit überhaupt nur in Ueberlegung gezogen hat. Gleichwol trat er noch im October 1807 die immer wieder verschobene Reise nach Tübingen wirklich an, aber unterwegs ereilte ihn in Frankfurt a. M. sein Verhängniß in der Gestalt eines französischen Couriers, der ihn schleunigst nach Fontainebleau befahl und ihn durch die Ernennung zum Minister-Staatssecretär [605] des neugebildeten Königreiches Westfalen überraschte. M. gehorchte, als ob Napoleon ihm überhaupt etwas zu befehlen hätte. Er gab zwar zu verstehen, daß er irgend ein anderes, weniger heikles Amt vorgezogen hätte, aber immerhin, er eilte nach Fontaineblau und erhielt hier, freilich ohne den Kaiser zu sehen, die definitive Bestallung und trat sein Amt in Kassel, als Minister Jêrome’s, an. Er konnte sich zwar des Gefühles nicht entschlagen, welch’ einen gewagten Schritt er hiermit that, aber einerseits sein Ehrgeiz, andererseits die Selbsttäuschung, daß er gerade in dieser Stellung der guten Sache und der deutschen Nation nützen könne, betäubte alle Bedenken, die ihn vor diesem Entschlusse hätten warnen sollen. So ließ er sich verlocken und verfiel seinem Schicksale, d. h. der gefährlichen Neigung seiner Natur, die am Ende nicht darin bestand, daß er sich zu staatsmännischem Wirken berufen hielt, sondern daß er ohne Auswahl und Unterschied sich jedem ergab, der die Hand nach ihm ausstreckte und ihm die Befriedigung seines Ehrgeizes in Aussicht stellte. Es war ein Irrthum, wenn M., indem er sich im Widerspruch mit seinen ein ganzes Leben hindurch bezeugten Grundsätzen von Napoleon mißbrauchen ließ, zu verstehen gab, er habe die angebotene Rolle eines Vermittlers zwischen Deutschland und dem Kaiser nicht zurückweisen wollen. Zwischen Deutschland und Napoleon gab es eben nichts mehr zu vermitteln und jeder solcher Vermittelungsversuch bedeutete nur die Verlängerung der nationalen Schmach und die Steigerung in der Verwirrung der Geister. Wenn also sein Uebergang zu Napoleon mit einem fast allgemeinen Sturm der unverdorbenen öffentlichen Meinung in Deutschland beantwortet wurde und die meisten seiner alten Freunde sich trauernd von ihm abwendeten, so durfte sich M. um so weniger darüber beklagen, je höher er bis dahin gestanden und je lauter er für die nationale Ehre und die Sache der Freiheit eingetreten war. Freilich ist ihm auch die bitterste Enttäuschung nicht erspart worden; die zerschmetternde Einsicht, zu der er bald genug kam, daß er seinen guten Namen an eine verwerfliche Sache dahingegeben, muß uns mit seiner Schuld einigermaßen versöhnen. Trotz dieser seiner Verirrung und seiner eiteln Schwäche war er doch zu gut gewesen, dem gewissenlosesten aller Tyrannen zum Opfer zu fallen. Die Schwäche Müller’s erbittert freilich auch den milden Richter, wenn er erfährt, daß M. später, um sich aus der schiefen Stellung, in die er sich hatte verlocken lassen, mit einigem Anstand zu befreien, sich Napoleon als seinen Geschichtschreiber empfehlen ließ, nachdem er „durch dessen Sieg die schöne Aufgabe verloren, derjenige Friedrich d. Gr. zu werden“. Bekanntlich fand M. die übernommene Last seines neuen Amtes so unerträglich schwer, daß er schon nach einigen Wochen den König Jêrome „aus Gesundheitsrücksichten“ um Enthebung von demselben bat. Er erhielt sie und wurde dafür zum Staatsrath und Generaldirector des öffentlichen Unterrichts ernannt. Aber auch diese Aufgabe war schwierig und undankbar und M. wurde es endlich deutlich, welche unüberbrückbare Kluft das deutsche und das französische Wesen, die deutsche und französische Denkweise von einander schied. Er hat in dieser Stellung zwar das menschenmögliche geleistet, er hat manches Gute gewirkt, manches Böse verhindert und die ihm anvertrauten Anstalten vor cynischer Vergewaltigung und peinigendem Mißtrauen nach Kräften zu schützen versucht, aber er begriff doch bald genug, daß sein guter Wille der Unverschämtheit und Anmaßung der französischen Umgebung des Königs nicht gewachsen sei. Die übermüthigen Diener Jêrome’s, die er aus Frankreich mitgebracht hatte, lachten M. im besten Falle aus, wenn er mit seinem gutmüthigen Idealismus und mit seinen besten Absichten ihnen lästig fiel. Und doch ließ er sich immer wieder beruhigen, wenn nur etwa sein Behagen am öffentlichen Auftreten vorübergehend einige Befriedigung gewährte. Er kann es nicht verbergen, wie glücklich er war, als er den König bei seinem Besuche in Göttingen und Halle begleiten, ihn an der Spitze der Corporation [606] mit einer feierlichen Rede begrüßen und die Universitäten seinem Wohlwollen empfehlen durfte. Und wie schmeichelte es ihm, daß er berufen wurde als officieller Redner den ersten westfälischen Reichstag zu entlassen. Die Rede liegt gedruckt vor und wer wollte behaupten, daß sie M.’s innerster Ueberzeugungen, seiner Vergangenheit und der inzwischen gemachten Erfahrung würdig war? Indessen alles dieses änderte nichts an der Unerträglichkeit seiner Lage, denn eine jede solche Auszeichnung mußte er mit neuen Demüthigungen und Kränkungen bezahlen. In dieses glänzende Elend, in dieses Jammerleben warf neben seinem lebhaften religiösen Sinn nur noch die Beschäftigung mit seinen historischen Studien und Arbeiten und der briefliche Verkehr mit den ihm noch befreundeten Gelehrten und seinen Angehörigen in der Schweiz, namentlich seinem Bruder Georg, einen Schimmer von Trost. Seine vortreffliche Mutter war längst dahin gegangen. Die Correspondenz mit Bonstetten hatte nie ganz aufgehört, aber im Verlaufe der Zeit ihre Bedeutung wesentlich verloren. Müller’s letzter Brief an seinen Freund ist vom 1. April 1809 datirt. Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten lag ihm die Weltgeschichte und die Schweizergeschichte nach wie vor am Herzen. Wie hätte er aber in Kassel Zeit finden sollen, sie erheblich zu fördern. In der Vorrede zum vierten Theile hatte M. noch von Berlin aus das baldige Erscheinen eines fünften in Aussicht gestellt. Jedoch schon dort rückte die Arbeit unter dem Drucke der Zeit und seiner eigenen Lage bald nur langsam vorwärts und in Kassel gerieth sie vollends in das Stocken. Auf Bonstetten’s Rath schickte er nun soviel als eben vollendet war als erste Hälfte des fünften Bandes nach Leipzig, der im November 1808 im Drucke erschien. Er umfaßt den Zeitraum von den Burgunderkriegen bis zum Ausbruch des sogen. Schwabenkrieges (1476–1499). Kaum daß M. Zeit gefunden hatte zu einer Vorrede, die zugleich ein recht sprechendes Zeugniß seiner gedrückten Stimmung ablegt. Unvollendet also hinterließ er das Werk seines Lebens der Nachwelt. Seine Lage war immer verzweifelter geworden und doch wollte sich keine Befreiung aus ihr mehr finden lassen. Es tauchte zwar von Seiten seiner Freunde in der Schweiz gerade jetzt der Plan auf, ihn durch die Tagsatzung in sein Vaterland zurückzurufen, damit er hier in gesicherter Muße sein Werk vollende, aber ehe dieses Project irgend eine greifbare Gestalt gewann, trat der Erlöser Tod dazwischen und gab dem Lebensmüden die verscherzte Freiheit wieder. Das Maß war voll. Eine persönliche Roheit Jêrome’s, durch dessen Verdruß über die Dörnbergische Erhebung hervorgerufen, warf den Erschöpften auf das Krankenlager und am 11. Mai 1809 schloß er seine Augen auf immer. Ein Denkmal, das ihm der damalige Kronprinz von Baiern, Ludwig, der zu Müller’s Verehrern gehörte und unter Anderem seinen Rath für die von ihm geplante Walhalla in Anspruch genommen hatte, gesetzt hat, bezeichnet die Stelle seiner Ruhestätte. So tragisch endete der Mann, den die Natur reich wie Wenige ausgestattet hatte, der sich zu Hohem in Wort und That berufen hielt, der als Schriftsteller Unvergängliches geleistet hat, den aber leider sein Ehrgeiz die Grenze seines Talentes und seiner Kräfte nicht zur rechten Stunde erkennen ließ.

Müller’s Nachruhm ist zu seinem Glücke nicht an seine staatsmännischen Versuche, sondern an seine Leistungen als Schriftsteller, in erster Linie als Geschichtschreiber geknüpft. Und hier wieder sind es seine Schweizergeschichte und die 24 Bücher Allgemeiner Geschichte, die in erster Linie in Frage stehen, und auf welche wir kurz zurückkommen wollen. Das letztere Werk, erst nach Müller’s Tode veröffentlicht und eine Abschlagszahlung für das von ihm seiner Zeit geplante umfassende Werk über die Universalgeschichte, nimmt in der Reihe der deutschen universalhistorischen Litteratur einen hervorragenden Platz ein und hat ihn trotz der dazwischen liegenden Fortschritte der historischen Forschung auf [607] allen Gebieten bis auf den heutigen Tag behauptet. Es zeichnet sich zunächst durch den seltenen Vorzug aus, daß es die gesammte Summe des schwer zu bewältigenden Stoffes in stramm geschlossener Einheit wie eine Einzelgeschichte zusammenfaßt und in fest gefügtem Zusammenhang wie in treffender Auswahl vor uns vorüberführt. M. war wirklich zum Universalhistoriker berufen. Er vermeidet jede Einseitigkeit und verfällt in seltenen Fällen einer Voreingenommenheit nach dieser oder jener Seite hin. Er besitzt, wie man mit Recht gesagt hat, ein Mitgefühl für die Zeiten, die er beschreibt und hat stets die höchste Aufgabe der Menschheit vor Augen, oder wie er sich (im J. 1794) selbst ausdrückt: „Mein Hauptwerk, das Geheimniß alles Guten, was in meinen Schriften sein oder darein kommen kann, ist, aller Zeiten, die ich zu schildern habe, möglichst gegenwärtig zu sein, sie zu schauen, und dieses supponirt, daß ich Alles aus den Quellen und zwar so viel möglich von Männern wisse, die, was sie haben, selbst gesehen oder gethan“. Er versteht es zugleich, den inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Epochen und die Continuität der Entwickelung der Gesammtheit und der einzelnen Völker zu erfassen und verständlich zu machen. Dabei ist bei ihm aber von keiner philosophischen Behandlung der Geschichte die Rede; die Speculation und was damit zusammenhängt hat er grundsätzlich stets von sich fern gehalten; er hatte freilich auch keine Anlage dazu mitgebracht. Er ahnte in der Geschichte zwar ein verborgenes Walten der Vorsehung, wagte jedoch nicht, das Geheimniß derselben zu erkennen und erörtern zu wollen. Ein hervorstechender Charakterzug des Werkes wie seiner Geschichtschreibung überhaupt ist ferner die lehrhafte Tendenz desselben, der didaktische Pragmatismus, der die Geschichte als eine Schule der praktischen, vor allen auch der staatsmännischen Weisheit ansieht und von der Voraussetzung ausgeht, die sich bisher freilich im Grunde wenig bewährt hat, daß die Menschen durch das Studium der Geschichte und die von ihr gegebenen Lehren und Beispiele weiser und besser werden können und sollen. Was den wissenschaftlichen Werth des Werkes anlangt, so wird das entscheidende Urtheil bei einer Arbeit der Art nicht von der Kritik der vorgetragenen einzelnen Thatsachen ausgehen dürfen; doch aber ist nichts gewisser, als daß M. in dieser Beziehung an Anstrengung es nicht hat fehlen lassen. Und war die Kritik notorisch nicht seine vornehmliche Stärke, so hindert das nicht, daß das grundsätzliche Zurückgehen auf die ihm erreichbaren, oft abgelegenen Quellen seiner Darstellung eine Sicherheit und einen Reiz verleiht, welchen wir bei anderen und kritischen Werken vergeblich suchen. In dem gegebenen Falle ist die treffende Auffassung der geschilderten Zeiten und Völker offenbar die Hauptsache, und da muß zugegeben werden, daß M. in der großen Mehrzahl der Fälle das Richtige getroffen hat. Es sind allerdings die drei großen Epochen der Geschichte nicht alle gleichmäßig durchgearbeitet, aber ihr Inhalt und ihre Bedeutung ist fast stets mit glücklichem Tacte erkannt und dargestellt. Der Behandlung der neuen Zeit läßt sich dieser Vorzug vielleicht am wenigsten nachrühmen, schon darum, weil die Erzählung an der Schwelle der großen Revolution innehält, während doch die gesammte Entwickelung der Dinge auf eine solche Katastrophe hindrängt. Die befriedigendste Wirkung bringt die Darstellung des Mittelalters hervor. Müller’s principielles Verdienst in dieser Richtung haben wir schon angedeutet. Vor übertriebener Hochstellung der geschichtlichen Bedeutung des Papstthums und der Hierarchie hütet er sich jetzt mit größerer Vorsicht, als er dies z. B. in den „Reisen der Päpste“ gethan. In der Kunst der Charakteristik einzelner Persönlichkeiten leistet er ungewöhnliches: mit ein paar Strichen stets eine correcte Zeichnung von Personen und Ereignissen zu geben, verlangte einen Meister. Genug, was man Alles mit Recht und Unrecht an dem Werke auszusetzen und [608] zu vermissen gefunden hat, es bleibt ein genialer Wurf, dem unsere Litteratur nichts Gleiches oder Aehnliches an die Seite zu stellen hat.

Die Schweizergeschichte ist es, die, wie wir wissen, gleich bei dem Erscheinen des ersten Bandes die allgemeine Aufmerksamkeit auf M. gelenkt und seit der Veröffentlichung der neuen Bearbeitung desselben und der darauf folgenden Theile ihn in wachsendem Verhältniß zum berühmten Mann gemacht und nahezu nach dem allgemeinen Urtheile ihm über alle anderen zeitgenössischen Historiker den Platz angewiesen hat. Daß die Unruhe seines späteren Lebens ihm nicht gestattet hat, auch die neuere Geschichte der Schweiz, namentlich die Epoche der Reformation darzustellen, bleibt stets zu bedauern, denn gerade dieser gewaltige Stoff hätte ihm Gelegenheit geboten, das, was die Stärke seiner historiographischen Kunst ausmacht, mit unzweifelhaft glänzendem Erfolge zur Geltung zu bringen. Mit unserm Urtheile haben wir uns aber an das Vollendete und Vorliegende zu halten. M. hat es selbst oft genug ausgesprochen, er wollte ein Kunstwerk liefern und stellte selbst die höchsten Anforderungen an sein Unternehmen. Die historischen Meisterwerke der alten Welt schwebten ihm vor Augen, und er traute sich zu, mit Erfolg mit ihnen wetteifern zu können. Bei einem Gegenstande wie die Schweizergeschichte war die Schwierigkeit, die einem solchen Ziele entgegenstand, freilich ganz besonders groß. Es verlangte eine ungewöhnliche Gabe der Darstellung, die Einheit in der Vielheit, die Vielheit in der Einheit festzuhalten. Man hat oft an dem Werke getadelt, daß es dieser Anforderung in zu geringem Maße nachgekommen sei, man übersieht aber dabei, daß der vollkommenen Lösung derselben von der Natur des Stoffes eine Schranke gezogen war, die keine Kunst überspringen konnte. Das, worauf es vor Allem ankam, die Entstehung und Ausbildung der Eidgenossenschaft zu schildern und zugleich das Leben der einzelnen Theile derselben zur Anschauung zu bringen, ist, was die formale Seite der Aufgabe betrifft, im Wesentlichen als gelungen zu betrachten. Die wohl überlegte Disposition des Ganzen, das schnellere und langsamere Vorschreiten des Bundes, die Schilderung der günstigen und retardirenden Ereignisse, der stete Hinblick auf die allgemeine Gestaltung der Verhältnisse im Abendlande – alles dieses ergreift und fesselt den unparteiischen Leser mit immer neuer Gewalt. Der Darstellung der Geschichte des 14. und 15. Jahrhunderts wird gewöhnlich die höhere Anerkennung gezollt; den Preis verdient vielleicht die Schilderung der Burgunder Kriege und Karl’s des Kühnen, bei welcher M. die volle Kraft seiner Gabe der Erzählung und Charakteristik entwickelt. Allerdings ist M. von einer gewissen manchmal forcirten Manier und der oft gesuchten Nachahmung der Alten nicht frei zu sprechen; es wollte aber etwas heißen, für die Specialgeschichte eines Landes, das seit drei Jahrhunderten sich dem Reiche entfremdet hatte, die Theilnahme der Gebildeten der deutschen Nation in dem Maße zu erwecken, daß sie dem Werk den Platz vor allen anderen historiographischen Leistungen der Epoche bereitwillig einräumten. Der Grund dieses Erfolges liegt zum guten Theile in dem Schwunge der Darstellung und in dem patriotischen Geiste, von welchem das Buch beseelt ist. Es sollte ja nach des Verfassers Absicht ein Lehrbuch vaterländischer Gesinnung und staatsmännischer Weisheit sein. Man hat M. mit Recht nachgerühmt, daß er deutsche Gelehrsamkeit mit der geistvollen, lebendigen Darstellung der Franzosen vereinigt. Er versteht es, dem kalten Stein Leben einzuflößen und innere Zustände wie äußere Vorgänge mit seltener Kunst zu schildern. Seine Schlachtgemälde sind oft genug gerühmt worden. Das Leben der Höfe, der Ritter und Bauern des Mittelalters hatte noch kein Historiker mit solcher Anschaulichkeit zu schildern versucht. Es war wie eine neu entdeckte Welt, in welche er den Blick eröffnete, und an der Wirkung dieser Kunst änderte es nichts, wenn sich [609] gegen die Farbenmischung hier und da nicht ganz ungegründete Bedenken erhoben. Diese Vorzüge, verbunden mit tiefem Verständniß und nachdrücklicher Berücksichtigung des religiösen Lebens haben der Schweizergeschichte jenes Gepräge aufgedrückt, das man das romantische zu nennen pflegt, und welches in der erfolgreichen Behandlung der mittelalterlichen Geschichte und ihres specifischen Geistes seinen Schwerpunkt findet. So ist es auch gemeint, wenn man M. mit dem Aufkommen der romantischen Schule in causalen Zusammenhang setzt, nur daß es ihm niemals in den Sinn gekommen ist, das Mittelalter für die Normalepoche aller Geschichte auszugeben und zur Rückkehr in dasselbe einzuladen. Diese Narrheit hat er anderen überlassen. Wenn die Schweizergeschichte trotz dieser Vorzüge nicht bloß erst seit gestern an Volksthümlichkeit verloren hat und mit der Messiade insofern auf eine Linie gestellt wurde, als beide in demselben Maße wenig mehr gelesen werden als sie viel gepriesen wurden, so hat das seinen Grund zunächst darin, daß dieselbe hinter der rastlos fortschreitenden Forschung bald weit zurück blieb; aber für die sonstige Volksthümlichkeit derse1ben war dieser Umstand nicht entscheidend. Dieser erklärt sich zum Theil daraus, daß der enthusiastische, schwunghaft patriotische Ton, in welchem das Werk gehalten ist, nicht Stich gehalten hat, zumal der Verfasser selbst trotz der verkündigten schönen Grundsätze der Versuchung erlag. Außerdem, das Geschlecht der Bewunderer und Anhänger Müller’s, das seinen Ruhm noch überall hin verkündigt hatte, starb allmählich aus und die nachfolgende Generation befreundete sich allmählich mit anderen nüchterneren Anschauungen. Die Vorliebe Müller’s für aristokratische Verfassungen u. dgl. und die dann aufkommende Neigung für die demokratischen Regierungsformen wirkte dabei unverkennbar und um so stärker mit, als M. in diesen Dingen nicht immer die wünschenswerthe Objectivität hatte walten lassen. Dazu kommt nun aber noch ein anderes Moment, das wir bereits berührt haben. Die historische Kritik war überhaupt nicht Müller’s Stärke; hat er doch wiederholt Veranlassung genommen, gegen die Anfechtung der Einheit Homers, der Echtheit gewisser Evangelien u. dgl. sich so entschieden als möglich auszusprechen. Wie das aber sein mag, gegenüber der Schilderung der Entstehung der Eidgenossenschaft und auch späterer Vorgänge war dieser historische Conservativismus nicht am Platze. M. schloß sich in dem angeführten Falle fast ganz an Tschudi an und dieser hat den in Frage stehenden Vorgang theils sogar absichtlich entstellt auf die Nachwelt gebracht. Allerdings schlug M. gelegentlich das Gewissen, aber bei dem Conflicte zwischen seinem Patriotismus und der kritischen Ueberzeugung unterlag die letztere. Hat doch die Weichheit seines Gemüthes und die überspannte Pietät für die fromme sagenhafte Ueberlieferung ihn sogar verführt, gegen sein besseres Wissen notorische Erdichtungen als Thatsachen vorzutragen. So konnte es nicht ausbleiben, daß die Schweizergeschichte von der nach einiger Zeit einsetzenden historischen Kritik überflügelt wurde und vor dem Forum der Wissenschaft in Betreff einzelner Abschnitte in Mißcredit gerieth. Als Werk der Litteratur wird sie jedoch unzweifelhaft ihre Bedeutung behalten und einzelne Abschnitte werden sicher stets zu dem gelungensten gezählt werden, was die Muse der Geschichte und die Kunst der Geschichtschreibung hervorgebracht haben.

Die Litteratur über J. v. M. ist außerordentlich groß. Ein Verzeichniß alles dessen, was über M. geschrieben worden ist, findet sich bei C. M. (Mägis): Die Schaffhauser Schriftsteller (Schaffhausen, S. 50–57). Im Folgenden wird nur das Wichtigste angeführt. In erster Linie steht die von Georg Müller besorgte Ausgabe der S. W. Müller’s, inbegriffen seine Correspondenz, die sich freilich vielfache Beschränkung hat gefallen lassen müssen, [610] und zu letzterer ein Nachtrag von Maurer-Constant. Weiterhin zu beachten.: C. L. v. Sinner, Bibliographie der Schweizergeschichte (Bern und Zürich) 1851, S. 2–9. – Julian Schmidt, Geschichte der deutschen Litteratur seit Lessing’s Tod. 4. Aufl. (Leipzig 1858). Bd. 1 u. 2. – J. C. Mörikofer, die schweizerische Litteratur des 18. Jahrhunderts (Leipzig 1861, S. 458 ff.). – Jul. Vogel, Schweizergeschichtliche Studien. Bonn 1864. (Vogel wie Mörikofer schöpften aus dem noch ungedruckten reichen handschriftlichen Nachlaß Müller’s, namentlich des Briefwechsels, beide aber haben es leider unterlassen, die Zeitdaten der von ihnen benutzten oder gar angeführten Briefe hinzuzufügen). – Von jüngeren Zeitgenossen Müller’s haben Heeren (Historische Werke, 6. Thl. S. 469) und L. Woltmann (Berlin 1810,) über M. geschrieben. Das letztere Werk ist mehr für den Verf. charakteristisch als lehrreich über M. Vgl. auch Mezger, Das Leben Georg Müller’s (1884) und des Unterzeichneten Geschichte der deutschen Historiographie (München 1885) stellenweise.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schrifstellerei
  2. Vorlage: Verständiß