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Artikel „Schmidt, Julian“ von Constantin Rößler in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 751–768, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schmidt,_Julian&oldid=- (Version vom 11. Oktober 2024, 05:54 Uhr UTC)
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Schmidt: Heinrich Julian Aurel S. wurde am 7. März 1818 zu Marienwerder als der Sohn eines Kalkulators bei der dortigen Regierung geboren. Er besuchte das Gymnasium in Marienwerder seit dem 1. November 1827 und verließ es mit dem Zeugniß der Reife am 30. März 1836, um in Königsberg Philologie zu studiren. Dort erlangte er am 9. Juli 1840 den philosophischen Doctorgrad und bestand am 30. November die Oberlehrerprüfung. Am 1. Januar 1841 trat er das Probejahr der Gymnasiallehrer in Marienwerder an und wurde am 1. Januar 1842 Hülfslehrer des dortigen Gymnasiums. In dieser Stellung blieb er bis zum 1. October, wo er nach Berlin ging, um zunächst eine Lehrerstelle an dem Beheim-Schwarzbachschen Privatgymnasium zu übernehmen. Ostern 1843 trat er als Lehrer bei der Luisenstädtischen Realschule in Berlin ein und verließ diese Stellung nach vierjähriger Wirksamkeit, um sich in Leipzig der Schriftstellerlaufbahn zu widmen. Der Schriftsteller, dessen Leben noch mehr in sich gekehrt war, als das der meisten deutschen Gelehrten, hat auf die Periode des deutschen Geisteslebens, in der er wirkte, einen weit größeren Einfluß geübt, als er bis jetzt geschätzt worden. Diese Minderschätzung erklärt sich durch den Umstand, daß S. nie in einem einzelnen Werk sein geistiges Vermögen zu irgend einem erschöpfenden Ausdruck gebracht hat. Er wirkte als Kritiker in Zeitungen und Zeitschriften in Anknüpfung an Tageserscheinungen. Mit Ausnahme der rein technischen Fragen umfaßte seine Besprechung den ganzen Umfang des geistigen Lebens in Wissenschaft, Kunst und Politik. Bei einer so zerstreuenden Thätigkeit war die Wirksamkeit Schmidts eine einzige durch seine [752] Hingebung an die Sachen und durch die Stärke seiner Tendenz. In die technische Seite der Gegenstände sich einzuleben, war keineswegs seine Befähigung. Meist gab er ausdrücklich zu, daß er nicht als Sachverständiger urtheile. Er wollte nur die Seite ins Auge fassen, von der die Schöpfungen aller Art das allgemeine Denken und Empfinden beeinflussen. Aus seinen Besprechungen der Erzeugnisse der Dichtung und Wissenschaft gestaltete er seine Litteraturgeschichten.

Wenn seine deutsche Litteraturgeschichte bis zur 6. Auflage gekommen ist und eine Verbreitung gewonnen hat, wie bis dahin wol kein wissenschaftliches Werk, so kann man doch nicht sagen, daß es eine Geschichte sei. Denn zu dieser gehört die genetische Entwicklung der Erscheinungen. Eine solche zu geben lag weder in seiner Absicht noch in seinem Vermögen. Er war Kritiker und Charakteristiker, nicht Entwicklungsforscher. Seine Litteraturgeschichten sind daher Aneinanderreihungen von Kritiken und Charakteristiken. Die Kraft, die er für diese Aufgaben besaß, hat seiner Wirksamkeit den großen Einfluß verschafft.

Man vergegenwärtige sich den Zustand der deutschen Bildung bei seinem Hervortreten und in den Jahren seiner geistigen Entwicklung. Der deutsche Charakter, gewissenhaft und gründlich wie er ist, suchte zur Beurtheilung jeder Erscheinung die Anknüpfung an höchste Grundsätze der Wissenschaft und Moral. Die Quellen, wo diese Grundsätze geschöpft wurden, waren verschiedenartige. Meist suchte man sie in den philosophischen Systemen. Ein Lessing verfolgte jede Frage bis zu ihrem letzten Quell. Er stieg von dem einzelnen und zufälligen Vorkommniß hinauf zu der ewigen Wahrheit, wenn er auch kein System fertiger Wahrheiten besitzen wollte, um daraus für jeden Fall die Regel zu entnehmen. Aber die meisten Lehrer unserer Bildung waren keine Lessinge und griffen nach den fertigen Systemen. Sie thaten, was sie thun mußten, und folglich, was recht war. Aber bei dem abnormen Zustand der deutschen Nation führte dieses an sich ganz richtige Verfahren zu einer seltsamen Einseitigkeit. Das deutsche Leben war arm, weil in sich zerrissen und geknickt. Es kam die Zeit, wo aus diesem armen Leben die deutsche Seele sich mit einem ungemeinen Schwung von Intelligenz und Empfindung emporzuheben trachtete. Nun gingen Theorie und Praxis, welche in beständiger Wechselwirkung das Leben der gesunden Völker ausmachen, in solcher Entfernung von einander, daß sie zwei verschiedene Welten ausmachten. Aber der Mensch lebt nicht von der Theorie allein und auch nicht von der Praxis allein, er kann auch nicht zwischen beiden wechseln, wenn sie ganz verschiedene Reiche bilden. Er verkrüppelt oder erkrankt in allen diesen Fällen. Der hochgespannten Theorie, unter welcher wir jetzt immer Wissenschaft und Kunst zusammen verstehen, konnte die Praxis nicht folgen. Das hatte aber auch für die Theorie die schlimme Wirkung, daß sie der unentbehrlichen Berichtigung durch die Praxis entbehrte. Die Ideale müssen sich in beständigem Kampf mit der Wirklichkeit reinigen und stärken, beschränken und vervollkommnen. Das war es, was der deutschen Theorie fehlte. Dieser Zustand hatte manchmal unglaubliche Sonderbarkeiten im Gefolge. Die einfachste Sache konnte nicht mehr nach ihrem natürlichen Zusammenhang, sie mußte nach irgend welchen hochliegenden Systemen oder Ideenfolgen beurtheilt werden. An Widerspruch gegen dieses Verfahren fehlte es allerdings nicht, aber er ging von ungeeigneten Personen, von Utilitariern, Philistern, Weichlingen und Schwachköpfen, oder auch von frivolen und zugleich trivialen Genußmenschen aus. So blieben die Ideen oben und die gemeine Wirklichkeit unten. Diese wurde von den Priestern der Ideen verworfen und mißhandelt, aber nur verwirrt, niemals reformirt und veredelt. Dazu war die Lage des deutschen Volkes nicht angethan, dazu waren auch die Ideen, wenn auch ihre Production die ewige Ruhmesthat des deutschen Volkes und eine der werthvollsten Leistungen der Menschheit bleiben wird, zu [753] ungeschickt, da ihrer Entstehung jede ernste Berührung mit der Praxis gefehlt hatte.

Die Entwicklung Schmidts fällt in die vierziger Jahre, sein erstes öffentliches Auftreten in das Jahr 1847. Damals war bereits der deutsche Idealismus in eine ungesunde Gährung übergegangen. Schon verzweifelnd an der Erfüllung seiner ewigen Sehnsucht, endlich die Praxis zu erreichen, begann er, entweder seiner selbst zu spotten, Blasirtheit, Egoismus und Nihilismus zu predigen, oder die Ideale, wenn er ihre Wurzel noch festhielt, ins Unmögliche und Lächerliche zu übertreiben. Die Entwicklung Schmidts trieb ihn auf die Befreiung von diesem erkrankten Idealismus, ja die Antithese gegen denselben wurde sein eigentlicher geistiger Lebensinhalt. Es war nicht die Krankheit im Patienten, die er tödten wollte, sondern den Patienten selbst. Er wollte die eigenthümliche Form des Idealismus, wie er sich auf dem durch geschichtliche Verhältnisse abnorm gewordenen deutschen Boden entwickelt hatte, in ihrer Wurzel vernichten.

Was setzte er dem Idealismus entgegen? Er glaubte, die Wahrheit im gesunden Menschenverstand zu haben. Das war nun freilich ein völliger Irrthum. Denn was ist der gesunde Menschenverstand? Ist er etwa eine angeborene Gabe, oder wenigstens die, wie die Mathematik, durch unfehlbare Verstandesoperationen erreichbare geistige unveränderliche Natur des Menschen? Nichts von dem. Schelling definirt den gesunden Menschenverstand als die locale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechtes der Menschen und erklärt ihm die Philosophie gerade entgegengesetzt. Diese Definition ist richtig, nur gehört noch die Erklärung dazu, daß die locale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechtes der Menschen den allerverschiedensten Werth haben kann. In einem glücklich begabten, durch glückliche Kämpfe mit äußeren und inneren Hindernissen zu einer dauerhaften Gesundheit des historischen Lebens gelangten Volke, da ist der gesunde Menschenverstand etwas höchst Vortreffliches. Er bildet dann den ganzen Niederschlag einer durch erfolgreiche Arbeit bewährten Erfahrung, die Summe der, nicht in ihrer ganzen Bedingtheit verstandenen, aber zum wohlthätigen Vorurtheil gewordenen Grundsätze des socialen und politischen, wie des moralischen Lebens. Aber das deutsche Nationalleben war ja eben ein elendes, krankes, verkümmertes. Wo wollte irgend einer den gesunden Menschenverstand hernehmen? Die ihn zu besitzen glaubten, das waren jene, die sich mit der Entartung und Verkümmerung des deutschen Lebens begnügten und sie in Schutz nahmen. Woher nahm nun S. seinen gesunden Menschenverstand, den er, wie alle Apostel dieser Art, für den allgemeinen Weltverstand hielt?

Entsprossen aus dem ehrbaren Familienleben des kleinen preußischen Beamtenstandes, den kategorischen Imperativ dieser Lebensstellung von Jugend auf vor Augen, klammerte er sich an das einzige erhebende Moment, das in seine Seele fiel, an den Ruhm und die Tüchtigkeit des preußischen Staates. Vom Gymnasium auf die Universität gekommen, tritt er in eine Burschenschaft, und erfüllt sich mit der Art von Selbstgefühl und dessen persönlicher Vertretung, wie es in deutschen Studentenverbindungen erzogen wird. Das sind seine sittlichen Elemente. Man kann sie mit einem dreifachen P umschreiben. Er war unerschütterlicher Protestant, unerschütterlicher Preuße und unerschütterlicher Parteimann. Denn was er in sein Gemüth aufnahm, nahm er gründlich auf. Sein Protestantismus war kein dogmatischer, in der Dogmatik hat er sich zeitlebens schlecht zurechtgefunden. Dieser Protestantismus bestand in der Ueberzeugung, daß die innere Rechtschaffenheit und weiter nichts den ganzen Werth des Menschen ausmacht: weder persönliche Gaben, noch viel weniger die Kunststücke religiöser Magie, katholischer oder pietistischer Art, vermögen diesen Werth zu erhöhen [754] oder zu ersetzen. In diesem Glauben lebte er schlecht und recht und machte daraus das Richtbeil, mit dem er jeder unechten Größe den Kopf abschlug. Nun sein Preußenthum. Er war nicht ganz wie jener Ungar, der die Erde für den Mittelpunkt der Welt, Ungarn für den Mittelpunkt der Erde und sein Dorf für den Mittelpunkt Ungarns hielt, aber er war doch wie jener Seemann, der die schwarzweißen Farben ein für allemal für die allerschönsten erklärte. Er erkannte an, daß es noch manches Große und Glänzende in der Welt gegeben, aber an Preußen konnte kaum etwas heranreichen, geschweige darüber gehen. Das war sehr schwer unter Friedrich Wilhelm IV., wo Friedrich der Große in den Augen Vieler für eine überwundene Episode galt, wo Rußland und Oesterreich die Leitsterne der deutschen Politik waren, wo die Anrufung des großen Königs und des großen Kurfürsten für ein müßiges Spiel mit nie zu wiederholenden Thaten galt, deren Erinnerung man am besten thue, zu begraben. Wenn unserm Freund das vorgehalten wurde, pflegte er zu sagen: auf diesem Boden bin ich erwachsen; Punktum. Parteimann war er, noch ehe es in Deutschland einen Parteiinhalt, den er ergreifen konnte, und noch ehe es überhaupt Parteien gab. Er hatte wie so viele deutsche Jünglinge in der Studentenverbindung das Mittel gefunden, in der Anlehnung an einen begrenzten Kreis das Selbstgefühl zu sichern und zu steigern, die Eigenart zu discipliniren und innerhalb begrenzter Kameradschaft jeden Eigenbesitz hinzugeben. Als das politische Leben bei uns begann, wurde es ihm nicht schwer, den ihm zusagenden Parteiinhalt zu finden. Preußenthum, Bürgerthum, der Staat und der Stand der Pflicht und der Arbeit, waren die Pole, nach denen sein Kompaß unverwandt zeigte. Er hat viel dazu beigetragen, den Parteibegriff zu Ehren zu bringen, als er uns Deutschen noch keineswegs geläufig war und von Vielen noch mit Mißtrauen betrachtet wurde. Ich hätte können noch ein viertes P zu seinen Eigenthümlichkeiten hinzufügen, aber es floß dieses nur aus der Art, wie er sich das Parteiwesen und den Parteimenschen dachte. Das vierte P würde gelautet haben: er war geborener Partikularist. Er würde sich nie einer Partei angeschlossen haben, die sich vermißt, die Welt mit ihrem Geist allein zu erfüllen und die Menschheit zu tyrannisiren. Sein Streben war nie ausschweifend, weltumspannend, und am wenigsten organisirend. Ihm lag der Genuß des Parteigefühls gerade darin, daß man den fremden Nachbar am Ellenbogen fühlt, den man bereit ist, ihm in die Seite zu drücken, aber mit dem Bewußtsein, daß er davon keineswegs gleich umfallen wird. Er meinte, das Ganze komme am besten heraus, wenn jeder Theil seinen Platz behauptet, doch mit dem Bewußtsein, daß die anderen auch leben wollen. So war unser Freund, mit diesen einfachen Elementen stellte er sich einer gährenden, stark bewegten Welt unerschrocken, ja trotzig gegenüber, mit einem verblüffend kindlichen Glauben an die Unfehlbarkeit des sittlichen Inhaltes, den er in sich trug. Aber die sittlichen Elemente machen allein nicht den gesunden Menschenverstand. Es gibt Dinge genug, die mit dem Sittlichen nichts zu thun haben. Für diese hielt sich unser Freund an den Augenschein, an die sinnliche Thatsache. Er ließ sich nicht irre machen weder durch eine Philosophie, welche die sinnliche Welt für Erscheinung oder auch für bloßen Schein erklärte, noch durch die Naturwissenschaft selbst, welche schon zu seiner Zeit im Vordringen war zu solchen Elementen der physischen Welt, die nicht mehr physisch, sondern metaphysisch sind. Er dachte bei seiner Zuversicht auf den Augenschein nicht an die schönen Goetheschen Zeilen:

Den Sinnen hast Du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie Dich schauen,
Wenn Dein Verstand Dich wach erhält.

[755] Der Verstand, der die Sinne wach erhält, war ihm der elementarste. In allen Phasen seiner Kritik hat er immer wiederholt: vergeßt nur nicht das Einmaleins und die zehn Gebote.

Das war sein gesunder Menschenverstand, mit dem er sich wol manchmal eingebildet hat, eine Welt, die ihm verschroben und verkehrt vorkam, in Ordnung bringen zu können. Natürlich nicht durch sein persönliches Wirken allein, er war von jeder Selbstüberschätzung entfernt, sondern durch die unvermeidliche Ausbreitung der gesunden Grundsätze, durch das Selbstbesinnen der Menschheit auf die Wahrheit. In der That aber läßt sich durch den gesunden Menschenverstand die Welt nicht in Ordnung bringen, weil sie denn doch höhere Kräfte enthält, die man mit einem solchen Hausschlüssel nicht bannen kann. Auch unser Freund verdankt die starke Einwirkung, die er auszuüben vermocht hat, keinswegs dem gesunden Menschenverstand allein oder auch nur überwiegend. Das bedeutendste Element seiner Natur kommt in unserer Aufzählung erst jetzt an die Reihe. Es bestand dieses Element in scharfer Seelenbeobachtung, allerdings innerhalb sehr fester, wie mit Bretern vernagelter Grenzen. Diese Seelenbeobachtung aber war bedingt durch die Fähigkeit, die Scala starker Seelenbewegungen in der eigenen Seele zu erleben und folglich der fremden Seele nachzufühlen. Die starke Seite seiner Kritik, namentlich der Kunstwerke, war dieser fast untrügliche Instinct, herauszufühlen, wo Wahrheit, Kraft, Feuer und Metall, und wo bloßer Teig ist. Die sichere Nachempfindung dieser Kraft des wirklichen Lebens ist es, die seine zahllosen Artikel und die Artikelreihen in seinen Büchern trotz ihrer starken Verletzung der Vorurtheile und oft genug der richtigen Ansicht immer wieder interessant gemacht hat. Dieser Eigenschaft verdankt er die bedeutende Wirkung, die ihm vergönnt war und deren Frucht wir nun kurz bezeichnen wollen.

Er hat seine Zeitgenossen gelehrt, ihre Ansichten über den Werth und die Beschaffenheit lebendiger Dinge nicht aus entfernten Gedankenreihen zu schöpfen, nicht erst den Himmel zu erklettern, um zu erkennen, was vor den Augen liegt, sondern der Unmittelbarkeit des eigenen Gefühls zu vertrauen, sich dabei aber möglichst in Uebereinstimmung zu halten mit dem Gemeingefühl, mit dem Einmaleins und den zehn Geboten.

Diese Regel den Menschen bloß einzuprägen, würde sich schlecht gelohnt haben. Die Wirkung Schmidts hat darin bestanden, daß er dieses Verfahren jahrelang seinen Zeitgenossen an immer neuen Gegenständen, in immer neuen Artikeln, mit immer neuer Frische und Kraft vorgemacht hat. Auf diese Weise haben sie es endlich gelernt.

Haben sie es wirklich gelernt? Sie haben gelernt, sich jeder auf das eigene Urtheil zu verlassen, kein Urtheil mehr mühsam zu folgern aus der Autorität anerkannter oder selbstgewählter Principien, sondern gleich alles keck aus der Pistole heraus zu treffen. Aber was S. wollte, hat er nicht bewirkt und konnte es auf seine Art nicht bewirken. Die Grundlagen, auf denen sein gesunder Menschenverstand aufgebaut stand, waren individuelle, nicht allgemeine. Sein keckes Vorgehen flößte aller Welt ein nie dagewesenes Selbstvertrauen ein, aber jeder brachte eine andere zufällige, oft ungewaschene Individualität zum Vorschein. So befinden wir uns denn keineswegs unter der Herrschaft des gesunden, d. h. des gemeinen Menschenverstandes, des common sense, wie die Engländer sagen, sondern wir befinden uns in einer Anarchie der Geister, die zur Zeit kein Mensch bewältigen kann. Auch diese Epoche wird vorübergehen und Ordnung wird wieder in die geistige Welt einkehren, aber die Anarchie war nothwendig, um Ordnung und Freiheit im geistigen Leben zu vereinigen, wir können auch sagen, um Natur und Bildung in der Individualität zu vereinigen. Sage Niemand, [756] daß diese Anarchie, dieses Abwerfen aller unfrei übernommenen Ideenfolgen auch eingetreten wäre ohne die Wirksamkeit Schmidts. Es ist ein unfruchtbarer Streit, ob die menschlichen Dinge ihren Gang gehen ohne die Menschen, mit anderen Worten, ob jede Menschenkraft, die gehemmt wird, sogleich wieder ersetzt wird durch eine oder hundert gleichwerthige. Nach tausend Jahren gleichen sich die beschleunigten und die verspäteten Wirkungen aus, für die Zeit in der ein Menschengeschlecht wirkt, ist es gar nicht gleichgültig, welche Ausrüstung es erhalten hat und ob die zu der ihm obliegenden Aufgabe geeigneten Kräfte durch Natur und Glück auf ihren Platz zu stehen kommen und lange genug auf demselben bleiben können. Unser Freund ist auf seinem Platz gewesen und hat mit der ihm eigenthümlichen Kraft den Gang der Dinge befördert, der unausbleiblich war und der allerdings nicht immer „durch Auen, reich begabter Welt“ führt.

Wir wollen ihn jetzt durch die Epochen seines Lebens begleiten. Des Menschen Geschichte ist sein Charakter; damit sagt Goethe, daß der Charakter die Geschichte macht und darin sich offenbart, nicht umgekehrt, daß die Geschichte den Charakter macht. Unser Freund war durch seinen Charakter bestimmt, zwei scheinbar unverträgliche Eigenschaften zu vereinigen: die Eigenschaft des einsamen, weltfremden Gelehrten und die Eigenschaft des auf das große Publicum wirkenden Tagesschriftstellers.

Er war und blieb von Kindheit an bis zu seinem in hohen Jahren erfolgten Lebensende fremd in der Welt, wie ein Kind. Wie verträgt sich das mit der von uns hervorgehobenen Schärfe der Seelenbeobachtung? Er verstand die menschliche Seele nur, wo sie ihren Affecten hingegeben ist, in Zorn, Liebe, Haß, Eitelkeit, Bosheit, Feigheit, Treuherzigkeit, durch die ganze unendliche Scala hindurch. Aber er mußte die Affecte, gerade wie die modernen Pathologen ihre Pilze, in Reinculturen vor sich haben. Daher seine unbeschränkte Aufnahmefähigkeit von Erzeugnissen der Phantasie aller Grade und Arten. So aber wie das Leben die Charaktere vorführt, in fortwährender vielseitiger Gebrochenheit durch Verhältnisse, Sitte, Gesetz, Zwang und Widerstand von allen Seiten, dazu durch eigene Reflexion auf eigennützige oder moralische Triebfedern, so verstand er die Menschen nicht, ja er wußte gar nichts mit ihnen anzufangen. Er konnte nur eine Beziehung zu ihnen gewinnen, wenn er ihre Affecte in mehr oder minder charakteristischen Momenten beobachtet hatte und sich nun einbildete, den Kern gefunden zu haben. Oft täuschte er sich dabei, durch zufällig erregte Sympathie oder Antipathie verführt. Er wechselte das Urtheil über Menschen sehr oft, hin und wieder gelang ihm eine auf den Grund dringende Beobachtung. So wenig er die complicirten Charaktere verstand – und auch die einfachsten, so wie sie das Leben schafft, waren für ihn noch zu complicirt – so wenig verstand er überhaupt den Zwang des Lebens. Nach einigen Zusammenstößen, die ihm die Jugend gebracht, griff er zu, als ihm die unabhängige Lebensstellung sich bot, die es für ihn gab, die eines von seiner Feder lebenden Schriftstellers. Unabhängig ist diese Stellung allerdings nicht für die armen Teufel, die ihre Waare nach dem Verlangen des Marktes zuschneiden müssen. Aber er besaß die Stärke des Talents, dessen Leistungen man beachtet und sucht, auch wenn sie sich um den Markt nicht kümmern, die vielmehr jeder genöthigt ist, mehr oder minder ernstlich zu prüfen.

Aber mit diesen Eigenschaften wäre er noch immer nicht der in der Menge seiner Production wirksame Schriftsteller geworden. Es gehörte dazu immer neuer Stoff und zur Herbeischaffung eine Lesefähigkeit, die wahrscheinlich selbst von den berühmtesten Viellesern unter seinen Zeitgenossen, z. B. einem Macaulay, nicht erreicht worden ist. Nicht jeder Vielleser wird ein Vielwisser, und das war [757] eigentlich das Geheimniß der Viellesekunst unseres Freundes. Er besaß die Fähigkeit, zahllose Bücher durchzuschlagen und nur zu sehen, was ihn interessirte. Wie könnte eine zum Durchdenken, zur vielseitigen Gedankenverfolgung angelegte Natur durch eine solche Büchermenge hindurchkommen? Aber dagegen war er durch seine geistige Organisation völlig geschützt. Nur gewisse Fibern der Seele wurden im Lesen, überhaupt im Wahrnehmen des Lebens bei ihm erregt. Gegen alles, was diese Fibern nicht berührte, besaß er eine erstaunliche Indolenz. Die Schranken seiner Empfänglichkeit waren fest wie ein Bauzaun. Unser Freund bezeigte eine ungemeine Empfänglichkeit für die Einwirkungen einer kräftigen Phantasie, weil er selbst eine solche besaß. Aber das ist cum grano salis zu verstehen. Kant hat für das höchste theoretische Vermögen den bezeichnenden Ausdruck der productiven Einbildungskraft gefunden und verstand darunter das Vermögen, welches die Erscheinungswelt aufbaut. Wir wollen dieses Vermögen einmal als constructive Einbildungskraft bezeichnen. Daran hatte unser Freund keinen Theil. Seine Phantasie erhob sich nur zu den Bildern, die die Gefühle bewegen und in denen sich das bewegte Gefühl wiederum erkennt. Wissenschaftliche oder praktische Synthese lag nicht in seinem Vermögen.

Bei dieser Stärke der Empfindung und diesem Vermögen der Anschauung, verbunden mit allgeläufigen Maßstäben, begreift sich, wie ein weltscheuer, weltunerfahrener Mann zu einem Tagesschriftsteller werden konnte, der einem großen Leserkreis oft fesselnd und immer verständlich blieb, ob er zum Widerspruch reizte oder warme Zustimmung gewann.

Eigener Wunsch und günstige Umstände hatten ihn zum Lehramt an der Luisenstädtischen Realschule in Berlin geführt. Aber er suchte keine Berührung mit den mannigfaltigen Kreisen der großen Hauptstadt, er suchte Kunstgenüsse auf und beschränkte seine Geselligkeit, wie auf der Universität, auf den Verkehr mit den preußischen Landsleuten seiner Studentenverbindung, von denen sich ein Theil in Verfolgung verschiedener Lebenszwecke zu Berlin wieder zusammenfand. Da erschienen am 3. Februar 1847 die Patente über die Bildung und Einberufung des vereinigten Landtags. Die gewaltige Bewegung, welche in den sieben Jahren seit 1840 das deutsche Volk ergriffen hatte, infolge der immer mächtigeren Sehnsucht nach politischer Freiheit und nationaler Würde, war nach Ostpreußen nicht bloß ebenfalls vorgedrungen, sondern hatte dort von Anfang einen glühenden Herd gefunden. Man denke an die Namen Schön, Johann Jakoby, Ludwig Walesrode, Motherby[WS 1] und manche andere. Die Patente vom 3. Februar riefen überall in Deutschland die Erwartung einer neuen Epoche wach, nicht durch das, was sie gewährten, sondern durch das, was sie gegen den Willen des Urhebers hervorzurufen versprachen. S., wie alle begabten Jünglinge von der Sehnsucht der Zeit ergriffen, wurde auf Besuchen, die er von Berlin aus in seiner Heimath abstattete, Zeuge und Theilnehmer der Bewegung in der Provinz, insbesondere auch der Berathschlagungen der adligen und städtischen Kreise, aus denen die Mitglieder des Provinziallandtages hervorgegangen waren, die sich demnächst zum vereinigten Landtag begeben sollten. Diese Vorgänge sowohl als die ersten Verhandlungen und Beschlüsse des vereinigten Landtags, der am 11. April durch jene berühmte Rede des Königs eröffnet worden war, schilderte S. in einer Reihe von Briefen an die Wochenschrift „Die Grenzboten“ in Leipzig. Dies veranlaßte den Redacteur Kuranda, dem jungen Berliner Gymnasiallehrer vorzuschlagen, den Versuch zu machen, ob er sich dauernd in Leipzig niederzulassen und den Beruf des Tagesschriftstellers zu ergreifen Lust bekäme. S. nahm einstweilen auf ein Jahr Urlaub und ging nach Leipzig. Ehe das Jahr um war, beschloß er, die Laufbahn des Lehrers mit der des freien Schriftstellers zu vertauschen.

[758] Er brachte nach Leipzig das Manuscript eines Buches mit, das er während der Berliner Lehrerjahre ausgearbeitet hatte. Es erschien im J. 1848 bei dem Verleger der Grenzboten unter dem Titel: „Geschichte der Romantik im Zeitalter der Reformation und der Revolution“. Ein seltsames Buch, es erregte das Befremden und zugleich das Erstaunen derer, denen er das Manuscript stellenweis mittheilte. Nach Leipzig war im Herbst 1846 von Zürich Arnold Ruge übergesiedelt. Um ihn sammelte sich ein Kreis jugendlich strebsamer Geister. Auch S. trat in diesen Kreis, und hier war es, wo er mit seinem Manuscript jenen Eindruck hervorrief. Als es aber im Frühjahr 1848 veröffentlicht wurde, brachte es gar keinen Eindruck hervor. Das hatte den doppelten Grund, daß das Buch zu spät kam und daß es, voll von geistvollen, ja hinreißenden Stellen, keinen Leser errathen ließ, wo der Verfasser hinauswollte. S. hat das Buch später gänzlich verworfen, einige seiner ostpreußischen Landsleute, denen er schon in Berlin das Manuscript größtentheils vorgelesen, haben es für das Bedeutendste erklärt, was er geschrieben. Diese Urtheile lassen sich vereinigen. Von der Macht des Zeitgeistes gepackt, hatte der Verfasser einige seinem Wesen sehr fremde Bestandtheile seiner Betrachtung zu Grunde gelegt, andererseits war er ganz er selbst. Das Buch war der erste und kräftigste, aber durch fremde Zusätze entstellte Ausdruck seines geistigen Wesens.

Im J. 1839 hatten Echtermeyer und Ruge in den Hallischen Jahrbüchern ein Manifest, wie sie es selbst nannten, erlassen: „Der Protestantismus und die Romantik“, eine Reihe zum Theil sehr glücklicher und scharfsinniger Ausführungen. Es handelte sich darum, die Hegelsche Philosophie, die man bisher ohne Widerspruch als die Rechtfertigung der Geschichte aufgefaßt hatte, als das Pantheon, worin alle geistigen Gestalten der Vergangenheit als unvergängliche Bilder des Ewigen versammelt sind, diese Philosophie umzuwandeln in einen vertieften Rationalismus. Der Protestantismus wurde nach Hegels Vorgang als die Selbsteinkehr des Geistes gefaßt, als die Zurückverlegung der Verwirklichung des Ewigen in den subjectiven Geist. Innerhalb des Protestantismus nun constatirte das Manifest einen Abfall, eine katholisirende Richtung, die es, absehend von der Periode des erstarrten Lutherthums, beginnen ließ mit den Anfängen des neudeutschen Idealismus selbst. Die Dichter der Sturm- und Drangzeit wurden als Progonen der Romantik hingestellt und in der folgenden Entwicklung überall ein unwillkürliches Bestreben aufgezeigt, die höchsten Ideen wieder in einer fremden, unverstandenen Welt zu suchen, also vom Protestantismus abzufallen. In der Schule, welche sich selbst den Namen der romantischen gab und mit diesem Namen ein neues Princip ankündigen wollte, wird der Abfall vom Protestantismus, der phantastische Sprung in eine dem Verstand und dem freien Willen entgegengesetzte irrationelle Welt, eine absichtliche That. So weit das Manifest. Nun aber fand der sich überschlagende Radicalismus, der sich zunächst noch der Hegelschen Philosophie als der mächtigsten Waffe der Zeit bedienen wollte, immer mehr Dinge, die ihn einschränkten, die ihm nicht gefielen. Das alles wurde nun ohne Umstände Romantik getauft, bis man glücklich dahin gelangte, daß der Vernunft zu huldigen die größte Romantik sei und der Mensch nur im Unsinn zu sich gelangen könne. Aus diesem Ideengange ist das Schmidtsche Buch hervorgeflossen und es will sich als einen Protest gegen die letzten tollen Ausläufer desselben darstellen, indem es zwar alle geistigen Erscheinungen seit der Reformation als Aeußerungen der Romantik auffaßt, aber auch die rasenden Derwischtänze der Radicalen dahin verweist. S. will zurück zur Vernunft, die aber doch alle Romantik abthun soll, die sie namentlich in der Hegelschen Philosophie angenommen. „Nur durch Ueberwindung aller Illusionen“, heißt es am Schluß der Einleitung, „kann die Vernunft ihre Macht [759] bethätigen. Die Zeit ist vorüber, wo man böse Geister durch einen Zauber bannte; sie fürchten nicht mehr den Höllenzwang der absoluten Philosophie. Wer nicht das heilige Pathos des Herzens mitbringt, wird auf diesem Schlachtfeld nicht der Meister sein“. Da haben wir die Vernunft ohne Illusionen, d. h. den gesunden Menschenverstand, und das heilige Pathos des Herzens, d. h. die Unfehlbarkeit des sittlichen Empfindens, wie es auf irgend einem historischen Boden erwachsen ist. Allein von diesen Göttern merkte man in dem Buche des Verfassers nichts, darum war Niemand, der es verstehen konnte. Der Begriff der Romantik wurde dermaßen ausgedehnt, daß er in dem einen Sinne die Weltanschauung des Mittelalters und alle ihre Erscheinungen umfaßte, in einem anderen Sinne die Weltanschauung der Reformation und alle Folgeerscheinungen. Der Verfasser entlehnte einer vergessenen Abhandlung Friedrich Schlegels die Definition der Romantik, welche daraus entsprungen sei, daß die natürliche Entwicklung der nationalen Gefühlsbildung durch eine künstliche universelle Religion, nämlich durch das katholische Christenthum, vernichtet worden. Ganz entsprechend sagt S.: „Da die romanischen Völker die höchsten Ideen in der Vollendung eines fertigen Wortes empfingen, so blieben sie ihnen ein fremdes Jenseits und das Christenthum wurde zur Romantik.“ Das soll nun so weiter gegangen sein bis zum Jahre 1847, und die Geschichte der romanisch-germanischen Welt ist nichts als die Evolution eines auf den Kopf gestellten Princips. Solche Einfälle brachte damals die Hegelsche Philosophie in den zahlreichen Köpfen hervor, die sich ihr nahten, ohne die Ausrüstung zu besitzen, um sie begreifen zu können. Auch unserem Freunde ist die schwierige Technik des Systems zeitlebens ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Wir müssen jedoch seinen damaligen Ideengang noch etwas weiter verfolgen.

Sein Buch enthält nicht die Geschichte der ganzen Romantik nach jener Definition, sondern die Geschichte der eigentlichen engeren Romantik, welche mit der Reformation beginnt. Die Reformation ist der großartige Versuch, die Romantik zu durchbrechen, der nicht völlig gelingt. Aus Rankes Geschichte der Päpste hatte S. den starken Eindruck der Gegenreformation empfangen, der reflectirten Restauration des Katholicismus durch einen großen Apparat von Mitteln der Phantasie und Sophistik. Diese Reaction ist ihm nun die eigentliche Romantik, aber das andere Glied, da die Romantik nicht völlig überwunden, ist ebenfalls in allen seinen Evolutionen romantisch. Dieser Gegensatz, dessen beide Glieder von der Romantik in verschiedenem Grade inficirt sind, ist nun der Gegenstand des Buches, das auf einen tragischen Eindruck angelegt ist. Denn alle geistigen Gebilde dieser großen Epoche gehen an ihrem inneren Widerspruch zu Grunde. Man merkt nichts davon, daß sie etwas beitragen, die geistige Gesundheit herbeizuführen, an die der Verfasser nach seinen kärglichen Andeutungen glaubt. Im Gegentheil, der Verfasser weilt mit Vorliebe, ja mit Enthusiasmus bei dem Gedanken, daß alles Große und Tüchtige in der Welt nichts weiter vermag, als sich selbst zu Grunde richten. Die Mächte, von denen es schließlich besiegt wird, nachdem es seine Kraft durch inneren Widerspruch verzehrt, sind die Mächte der Gemeinheit und Alltäglichkeit. In diesem Sinne gibt der Verfasser die Inschrift des delphischen Heiligthums seinem Buch als Motto: Ἐγγύα, πάρα δ άτα, d. h. in freier, hier sinngemäßer Uebersetzung: Verfolge ein großes Ziel und die Rache sitzt Dir auf den Fersen. Diesen Gedanken gibt der Verfasser auch in der Form desjenigen Wortes von Pascal wieder, das S. für den eigentlichen Ausdruck des Protestantismus hält: La nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu, et dans l’homme et hors de l’homme. Hat nämlich die Natur Gott verloren, so kann sie den verlorenen Gott in ein geträumtes Jenseits versetzen und ihm auf Erden Altäre eines unverstandenen [760] Dienstes errichten. So verfährt der Katholicismus. Der Protestantismus aber befreit die Natur, damit sie sich selbst zerstöre, nicht in sinnloser Selbstzerfleischung, sondern so, daß ihr der verlorene Gott im Innern als Rächer aufgeht, zu dessen Werkzeug sie sich in der Selbstzerstörung macht. Diesen ungeheuren Gedanken findet S. mit erschöpfender Klarheit ausgedrückt in Shakespeares Dichtung. Die Durchführung dieser Ansicht ist in der That das Geistvollste und Mächtigste, was je aus seiner Feder geflossen. Selbst der alte Tugendberserker Wolfgang Menzel schrieb von dieser Charakteristik, man könne sie nicht ohne Bewunderung lesen. Im übrigen war ihm das Buch greulich und sein Entsetzen so groß, daß es ihm die glücklichste Wortbildung eingab, die ihm je eingefallen ist, indem er den Verfasser einen Nichtswütherich nannte. Wie saftlos ist dagegen Nihilist! Inzwischen kam der Februarsturm des Jahres 1848 und Schmidts Romantik ward vergessen. Um zu sprechen und zu denken, wie jedem der Schnabel gewachsen, dazu brauchte man jetzt nicht erst die geistvolle Schilderung, daß alle Vorfahren gescheitert. Bald sah S. sich die Arbeit aufgedrängt, nicht die Tragik der großen Vergangenheit, sondern die Kläglichkeit der unmittelbarsten Gegenwart aufzuzeigen. Dazu brauchte er nicht mehr den erhabenen Pinsel des Freskomalers und noch weniger den Mantel des Propheten, der ihm ohnedies recht komisch stand. Er trat von nun an nur im Alltagsanzug und mit dem Handwerkszeug des gesunden Menschenverstandes auf. In der Romantik hatte er gezeigt, wie die Großen sich zerstören, um den Schwachen und Gemeinen Platz zu machen. Nun war die Welt der Schwachheit und Gemeinheit durch ein Erdbeben erschüttert, in Folge dessen die Hälfte der Bewohner wie Verrückte durch einander rannten. Da mahnte S., wie nothwendig es sei, das Gesetz der Alltagswelt zu vertheidigen. Dieses Gesetz ward ihm nun das Heiligthum. Sein Buch mit der Verherrlichung der tragischen Genialität und der Verachtung der schwachen Alltäglichkeit ward ihm unheimlich und fremd. Neuen Freunden verbot er es zu lesen.

Der Februarsturm von 1848 änderte auch Schmidts äußere Lebenslage. Es waren noch nicht drei Wochen verflossen seit dem Pariser Ereigniß, als am 13. März zu Wien das Gebäude des altösterreichischen Staates umgeworfen wurde. Nun litt es den Oesterreicher Ignaz Kuranda, den Redacteur der Grenzboten, nicht länger in Leipzig. Er übergab die Führung des Blattes seinem zuverlässigsten und schlagfertigsten Mitarbeiter: S. Aber es trat eine unerwartete Wendung ein. Die Grenzboten waren unter den damaligen halb schöngeistigen Blättern – andere Blätter ließ der politische Druck nicht aufkommen – das angesehenste und verbreitetste geworden, weil sie neben der unvermeidlichen Belletristik die politische Opposition gegen Oesterreich pflegten. Etwas Opposition gegen Oesterreich konnte man in den damaligen Staaten des deutschen Bundes mit Vorsicht und Gewandtheit unter allerlei Masken von harmlosem Humor einschmuggeln. Aber was hatte es für Sinn, diese Art Opposition von Leipzig aus fortzusetzen, nachdem in Wien die Revolution triumphirt? War die Sache schon an sich zwecklos, so hatte nun vollends der Preuße S. gar keinen Sinn dafür, der nicht nur Oesterreich nicht kannte, sondern dem Herz und Sinn jetzt ausschließlich erfüllt wurden durch die Krisis, welche mit der Berliner Revolution vom 18. März über den preußischen Staat hereingebrochen war. Gustav Freytag war im Herbst 1847 in Leipzig gewesen, um seine Valentine aufzuführen, und hatte Ruge und S. kennen gelernt. Im April 1848 kam er wieder, um in der wunderbaren Verwandlung der Zeit, deren Verlauf Niemand absehen konnte, gleichgesinnte Freunde aufzusuchen. Ihn trieb vor allen die Sorge um den preußischen Staat, dessen Führer hinter dem Wagen geschleift wurden, den sie lenken sollten, während zahlreiche Rotten, theils aus Unverstand, theils aus Bosheit herandrängten, um den Wagen umzuwerfen und zu zertrümmern. Dieselbe [761] Sorge erfüllte, nur mit einer viel stärkeren Gemüthsbewegung, die Seele Schmidts. Bei einem zufälligen Zusammentreffen sprachen sie sich aus und beschlossen sofort, gemeinsam für den Gedanken zu wirken, der ihnen jetzt der wichtigste war: die Erhaltung des preußischen Staates. Die Gelegenheit bot sich alsbald, denn Kuranda hatte es eilig, sein Zelt und sein Geschäft in Wien aufzuschlagen und des deutschen Gepäckes ledig zu werden. Er verkaufte das Eigenthumsrecht, das er an den Grenzboten zur Hälfte besaß, an Freytag und S. Am 1. Juli 1848 erschienen die neuen Grenzboten, nicht mehr ein österreichisches, sondern ein deutsches politisches Blatt, der staatlichen Neubildung Preußens und Deutschlands gewidmet. Damit beginnt eine Epoche in Schmidts Thätigkeit, deren sich heute nur wenige noch erinnern, die aber vielleicht die ruhmvollste und verdienstvollste des Schriftstellers ist. Er warf sich den sinnlosen Blasen, welche das noch fortwährende Zittern der Revolution täglich und stündlich emporwarf, mit einer Kraft entgegen, welche in der damaligen Publicistik nicht entfernt ihres Gleichen hat. Es war wirklich gesunder Menschenverstand und heiliges Pathos des Herzens. Er schärfte vor allem unermüdlich die Lehre ein, daß es wider alle Möglichkeit, wider alle Natur und Geschichte sei, einen Staat irgendwo nach einer gewaltsamen Zerstörung alles Bestehenden auf einer tabula rasa aufbauen zu wollen. Ferner predigte er allen Deutschen, vor allen aber den Preußen den unvergleichlichen Werth ihres Staates und ihrer Geschichte. Er bekehrte damit nicht die Massen, aber er bekehrte die selbständigen Köpfe, die damals größtentheils in den mannichfaltigsten Irrgängen unbeschränkter Möglichkeiten und Wünschbarkeiten herumtaumelten. Auf diese Köpfe aber kommt es an, ohne sie ist die Masse nichts. Was später die Kreuzzeitung mit einer Roheit und Einseitigkeit unternahm, womit sie die gute Sache verdarb und zum engsten Parteieigenthum machte, das that gleich im Anfang der Bewegung S. und that es, ohne die politische Gedankenarbeit seit 1813 zu beschimpfen und mit Füßen zu treten. Die Grenzboten waren damals die Kanzel für alle ernsten Menschen in Deutschland, die Freiheit im Verein mit Bildung und Achtung der Sittlichkeit erstrebten.

S. war von Instinct Particularist, wie eingangs dargethan worden. Die Frankfurter Bestrebungen zur Herstellung der Einheit Deutschlands waren ihm bedenklich, wie er nicht verhehlte, und im stillen unsympathisch, was zu sagen er sich verhielt. Ihm kam es auf sein Preußen an, das seinen Horizont ganz ausfüllte. Der preußische Staat, der einzige lebendige Pfeiler, aus dem der Baum einer deutschen Nationalität hervorwachsen konnte, war durch die Persönlichkeit Friedrich Wilhelms IV. die bestgehaßte der sogenannten deutschen Staatsbildungen geworden. Man konnte auf ihn das Wort des Propheten anwenden: er ward verachtet und von allen verschmäht. Im Chor der öffentlichen Stimmen hatte er Monate lang nur einen einzigen Vertheidiger: S. Als diesem Manne gerade nach dreißig Jahren im März 1878 zu seinem sechzigsten Geburtstage durch den König von Preußen eine bescheidene Ehrenpension bewilligt wurde, da trug der preußische Staat eine in der That dringende Schuld ab.

S., der den ganzen Sommer von 1848 in Sorge und manchmal fast in Verzweiflung durchlebt hatte, athmete auf, als im November endlich die muthwillige Zerstörerin des Staates, die sogenannte Berliner Nationalversammlung, auseinandergejagt wurde. Als Friedrich Wilhelm IV. am 3. April 1849 die angebotene Kaiserkrone ablehnte, empfand S. allerdings das Niederschlagende dieser kläglichen Handlung, aber im stillen war er zufrieden, daß der wenigstens äußerlich wieder in seine Fugen gerenkte Staat nichts Gefährliches unternahm, denn er war ganz und gar nicht der Mann der schwungvollen praktischen Phantasie. Nachdem die auf die Ablehnung der Kaiserkrone folgenden Velleitäten, [762] der deutschen Nation einige Genugthuung zu bereiten, so gescheitert waren, wie sie nach der dafür eingesetzten Kraft scheitern mußten, und nun die Abwendung von Preußen auch alle die patriotischen Männer ergriff, die nach und nach ihre Kraft eingesetzt hatten, um die deutsche Nation trotz Friedrich Wilhelm IV. und seinem unaustilgbaren Charakter auf Preußen als den einzigen Quell ihrer Wiedergeburt hinzuweisen, da blieb S. seinem Staate treu, als dem einzigen bleibenden Ausgangspunkt, wie er sich ausdrückte, jeder künftigen möglichen Besserung. Nur einmal schwankte auch er, nicht in seinem Gefühl, aber in seinem Urtheil. Und gerade dies Mal war dieses Urtheil das verfehlte eines nicht zur Politik angelegten Kopfes. Dieses Schwanken trat bei ihm ein zur Zeit des Krimkrieges. Er zweifelte, ob die preußischen Patrioten jetzt nicht das deutsche Volk in das Lager des Wiener Cabinets gegen Rußland führen müßten, so wie die preußischen Patrioten 1812 in das russische Lager gegen Napoleon geeilt, ihren Staat, der auf Napoleons Seite getreten, im Stiche lassend. In der That ist die damalige Neutralität die einzige kluge Handlung Preußens unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV. gewesen.

Nach dem Tage von Olmütz konnte eine Wochenschrift für Politik und Litteratur, wie die Grenzboten waren, die Behandlung der Politik nicht mehr zum Hauptthema machen. Das war theils gefährlich geworden, wenn die Schreiber nicht zum Lager der Kreuzzeitung gehörten, theils war das Thema, das nur noch zur bitteren Klage Grund gab, nicht mehr ergiebig genug. So ward die Ungunst der Zeit für S. eine Gunst der Lebensführung, indem sie ihn auf das seiner Befähigung weit mehr entsprechende Thema der kritischen Litteraturbetrachtung drängte. Vom Jahre 1850 an begann S. jene ununterbrochene Reihe kritischer Charakterbilder aus den Litteraturen aller modernen Culturvölker, die ihm seine Stellung in unserem geistigen Leben gegeben haben. Denn seine politischen Artikel wurden von der traurigen Wendung der Tagesereignisse bald hinweggespült. In diesen Litteraturbildern trat nun überall jene eigenthümliche Mischung alltäglicher Nüchternheit mit wunderbarem Instinct für die Macht echter Leidenschaft hervor, die wir als den Grundzug seiner Kritik bezeichnet haben. Im allgemeinen theilte er die Scheu der gedankenlos empiristischen Zeit, die nun hereinbrach, vor der sogenannten Formel. Er wußte nicht, was Formel ist, obwohl er es aus der Mathematik hätte wissen können, nämlich nichts anderes, als der Gedanke, gereinigt von allen ungehörigen Beimischungen. Dennoch versuchte er es zuweilen mit Formeln, die aber unglücklich ausfielen. So stellte er als Grundzug der zeitgenössischen deutschen Dichter, deren er einen nach dem andern zerriß, einen kränklichen und weichlichen Idealismus hin, der seine Ahnen in unserer großen Dichtung habe. Er erklärte diesen Idealismus für unsere Nationalkrankheit, die auch die politischen Schiffbrüche verschuldet habe. Damit wollte er die ungeberdige Heftigkeit seiner kritischen Angriffe rechtfertigen. Die Wirksamkeit von Dichtern wie Gutzkow, Hebbel u. s. w. erklärte er für höchst verderblich.

Dabei beging er einen mehrfachen Irrthum. Was Gutzkow, Hebbel u. s. w. sündigten, das sündigten sie keineswegs als Erben und Schüler von Goethe und Schiller. Sie sündigten auf eigene Hand, als Genossen einer experimentirenden Litteraturepoche. Die Dichter unserer classischen Epoche hatten gesungen, wenn ihnen das Herz voll war, wie gut oder schlecht man das nun finden möge. Die Epigonen sannen nach, wie sie Dichter und berühmte Männer werden könnten, und dichteten je nach dem, was sie für ihren Zweck als dienlich gefunden zu haben glaubten. Das ist nun keineswegs unter allen Umständen ein Vorwurf. Auf die Epoche der schöpferischen Gedanken in der Poesie folgt in jeder Cultur eine Poesie des Handwerks, nur gehören, damit diese Poesie des Handwerks ihre Aufgabe [763] gut erfülle, einige Bedingungen dazu, die der deutschen Poesie gänzlich versagt blieben. Die Hauptbedingung ist ein gesundes öffentliches Leben. Nachdem dieses wieder einmal der deutschen Nation zerstört worden, experimentirten die deutschen Epigonen in der Luft herum. Der große Genius kann alles ersetzen. Er wird die Spuren nationaler Krankheiten in seinen Werken überwinden, wenn auch nicht völlig auslöschen. Die Epigonen, welche sich nicht an den schöpferischen Genius, sondern an die Zeitströmung als ihre Trägerin halten sollen, werden in Ermangelung dieser Strömung die absonderlichsten Experimente anstellen. Diesen experimentellen Charakter, der die Fehler entschuldigen muß, verkannte S. Er hielt diese Fehler entweder geradezu für Bosheit, um die Zeitgenossen zu vergiften, oder für ganz incommensurable Verkehrtheit der anerschaffenen Natur.

Indeß beschäftigte sich S. nicht bloß mit den Erzeugnissen der Dichter, sondern auch mit denen der Gelehrten und Forscher. So trug er nach und nach in den Grenzboten den Stoff seiner deutschen Litteraturgeschichte zusammen, den er zum ersten Mal im J. 1853 unter dem Namen „Geschichte der deutschen Nationallitteratur im 19. Jahrhundert“ in zwei Bänden herausgab. Schon 1855 erschien das Werk um einen Band vermehrt, 1856 in 3. Auflage, 1858 in 4. In demselben Jahre erschien die „Geschichte der französischen Litteratur seit der Revolution“ in zwei Bänden, die 1873 eine 2. Auflage erlebte. Man wird selten ein Beispiel gleicher Productivität und eines gleichen Erfolges finden. Im J. 1862 erschien in zwei Bänden die „Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibniz bis zu Lessings Tod“. Die deutsche Litteraturgeschichte nämlich hob seit der 2. Auflage mit Lessings Tod an. Im J. 1866 erlebte diese Litteraturgeschichte bereits die 5. Auflage. Dann aber keine mehr, denn der Verfasser hatte selbst die fernere Verbreitung des Werkes unmöglich gemacht. Nachdem nämlich die drei ersten Auflagen wesentlich Aneinanderreihungen kritischer Urtheile gewesen waren, begann er schon bei der vierten Auflage, wie er sich ausdrückte, das Actenmaterial vorzulegen, d. h. ausführliche Auszüge aus den Briefen und aus den Werken der Schriftsteller. In der 5. Auflage aber hatte er den unglücklichen Einfall, dieses Material nach der Zeitfolge Tag für Tag synchronistisch vorzuführen. Nun konnte das Buch kein Mensch mehr lesen, es war höchstens zum Nachschlagen zu gebrauchen, so hatten die Auflagen für zwanzig Jahre ein Ende. Indeß ging er in der nicht unberechtigten Erwartung, daß die Nachfrage sich doch wieder einstellen werde, daran, die beiden Werke, deren erstes die Zeit von Leibniz bis Lessing, das zweite die Zeit von Lessing bis zur Gegenwart behandelte, in eines zu verschmelzen. Im J. 1886 war er so weit, die beiden ersten Bände des neuen Werkes, dem er den Titel gab „Geschichte der deutschen Litteratur von Leibniz bis auf unsere Zeit“, herauszugeben. Der Tag der Ausgabe des zweiten Bandes war der Tag seines Todes.

Wir sind mit der Erwähnung des Fortgangs der Litteraturgeschichte den Lebensumständen des Schriftstellers vorausgeeilt. Ende des Jahres 1858 war politisch eine neue Zeit angebrochen. Außerdem hatte unser Schriftsteller, nachdem er in diesem Jahre auch die französische Litteraturgeschichte herausgegeben, den litterarischen Stoff für einige Zeit erschöpft. Die politischen Dinge fingen wieder an, ihn, wie alle Welt, zu beschäftigen. Aber dieser neuen Phase der Politik war sein Verständniß nicht gewachsen. Es handelte sich nicht um eine Politik, die auf offenem Markt von allem Volk gemacht werden kann, und in Leipzig hatte S. auch keine Gelegenheit, sich über den Hintergrund der Vorgänge zu unterrichten. Er gerieth daher auf sehr unrichtige Pfade, sah eine ungeheure Gefahr in dem Kriege von 1859, lamentirte über die Militärreorganisation u. s. w. Nur die Wirksamkeit Cavours[WS 2] verfolgte er von Anfang mit dem geziemenden [764] Beifall, als noch ein großer Theil unserer guten Deutschen die Augen voll Sand hatte. Aber die rechte Publicistik war dies nicht, S. fühlte es allerdings nicht selbst, aber nur in Berlin, dem Mittelpunkt der Politik, war damals eine politische Wirksamkeit möglich. Die Möglichkeit der Uebersiedelung sollte sich ihm eröffnen. In dem 1858 gewählten Abgeordnetenhause besaß die altliberale Partei eine ganz überwiegende Majorität, an ihrer Spitze stand der Freiherr v. Vincke, der begabteste Parlamentarier und schlechteste Politiker, der im öffentlichen Leben des preußischen Staates aufgetreten ist. Nachdem er seine Partei und damit das Abgeordnetenhaus zu dem höchst unberechtigten Widerstande gegen die Militärreorganisation verleitet hatte, der den Grund des Verfassungsconflictes legen mußte, begann er in der letzten Session dieses Abgeordnetenhauses, in welches als neugewähltes Mitglied der von 1848 hinlänglich bekannte Waldeck eingetreten war, auf eine unschädliche Aeußerung desselben hin einen sinnlosen Lärm. Darob von einem Theil der Presse heftig angegriffen, wurde er auch von den seiner Partei angehörigen Blättern im Stich gelassen. In seinem Grimme beschloß der zornige Freiherr, ein neues Organ zu gründen, bewog seine Parteigenossen zu Zeichnungen bis zum Betrage von 60 000 Thlr. und die Geschäftsführer beriefen S. als Redacteur. S. griff mit Freuden zu. Am 1. Januar 1862 erschien die Berliner Allgemeine Zeitung.

Das Unternehmen konnte schwer Erfolg haben. Durch Vinckes Auftreten war die altliberale Partei gesprengt. Das Abgeordnetenhaus wurde im November 1861 neu gewählt und erhielt eine starke Fraction der als Fortschrittspartei reorganisirten Demokratie. Das hätte nicht viel ausgetragen, wenn die altliberale Partei nur eine politische Direction gehabt hätte. Aber sie war in der Hauptfrage des Tages, in der Militärreorganisation, oppositionell, im übrigen wollte sie sich von der als Fortschrittspartei verjüngten Demokratie nach wie vor wesentlich unterscheiden. Eine Zeitung, nach solchen Directionen geleitet, konnte nicht durch Klarheit und überzeugende Kraft der politischen Gedanken Einfluß erwerben. Die Strömung der öffentlichen Meinung, die nichts von dem Militärwesen verstand und durch die unter Friedrich Wilhelm IV. üblichen Phrasen von der Herrlichkeit der Landwehr eingelullt war, folglich in der Militärreorganisation nichts als eine reactionäre Laune sah, ging nach links. Vielleicht hätte eine Zeitung wirken können, wenn sie sich dieser Strömung mit aller Macht und Ueberzeugung entgegenwarf. Das sollte gerade die altliberale Zeitung nicht. Außerdem aber war S. zu Wenigem so geschaffen, wie zum Redacteur einer politischen Zeitung. Dazu gehört eine umsichtige Steuerkunst, die gewandt ausweicht, wo es rathsam ist, und dann wieder einmal den Gegner in den Grund segelt, wenn das eigene Fahrzeug stark genug ist. Aber zum Laviren, Diplomatisiren, halbe Gegner heranziehen, andere wiederum einschüchtern, zu allen diesen Dingen war unser weltunkundiger Freund ganz und gar nicht geschaffen. Die Zeitung war kaum vier Wochen erschienen, als sie mit aller Welt im Streit lag. S. war kein Zeitungsleser, die Einzelheiten der Tagespolitik reizten ihn gar nicht. So kam er täglich auf die Redaction und ließ sich von den Mitarbeitern vorlegen, was andere Blätter über seine Zeitung gesagt hatten. Dann ärgerte er sich, setzte sich an den Schreibtisch und hieb sich mit jedem Gegner herum, wie gleichgültig er sein mochte, während die wesentlichen Vorgänge der Politik oft unberührt blieben, weil Niemand da war, der sie verstand und sich darüber gründlich unterrichten konnte. Allerdings wurde die Zeitung viel besser, als S. das große publicistische Talent Alexander Meyers[WS 3] für das Blatt gewann. Aber nun wiederholte sich das vorher und nachher so oft gesehene Schauspiel von Zeitungsgründungen durch deutsche Parteien. Mit erstaunlicher Leichtigkeit wird das Anfangscapital für unverständige Unternehmungen zusammengebracht, wenn [765] dann aber wider alles Erwarten das Unternehmen einzuschlagen verspricht, dann laufen die anfänglichen Zeichner davon und lassen lieber ihren Einsatz im Stich, als daß sie ihn mit viel geringerer Gefahr um eine Kleinigkeit erhöhen. Im Juli 1863 übersah der Parteiausschuß, daß das gezeichnete Capital nur bis Ende des Jahres zur Erhaltung der Zeitung ausreichen würde. Da beschloß die Partei, mit Ende des Jahres die Zeitung eingehen zu lassen.

Eine Erfahrung machte S. bei dieser Gelegenheit, auf die er nicht gefaßt gewesen war. In der Zeit seiner Kämpfe gegen den Radicalismus, der schon im J. 1848 eine starke Hinneigung zum Socialismus zeigte, hatte man den nach Wort und Inhalt aus Frankreich entlehnten Begriff der Bourgeoisie zum Stigma des Hasses und der Verachtung gemacht. Die Bourgeoisie und die Professoren, hieß es damals, haben uns die Revolution verdorben. Die Reactionäre haßte man viel weniger, weil sie ja in ihrer Rolle seien. Es war eine der schönsten und verdienstvollsten Leistungen von Schmidts publicistischet Polemik, wie er für das Bürgerthum eintrat. Während unsere Socialisten und Revolutionäre fortfahren, das französische Wort Bourgeoisie, was dort schon ein Zerrbild bedeutet, als Schimpfnamen gegen deutsche Gegner zu gebrauchen, ist durch S. der Begriff des Bürgerthums zu einer ehrenvollen Kategorie in der politischen Sprache geworden. Er sagte einmal: „Wenn ich wahrnehme, wie die dem Verstand gehorchende Hand den Pflugstier lenkt, wenn ich beobachte, wie anderwärts dieselbe Hand den Hammer schwingt, dessen Schläge das kunstvolle Arbeitsproduct zustande bringen, so sehe ich das ehrwürdige Bild der Menschheit; wenn ich aber eine sogenannte Volksversammlung mit ihrem Niederschreien jeder Vernunft und ihrem Pöbelgebrüll bei jedem Unsinn höre, dann sehe ich dieses Bild geschändet.“ Ein anderes Mal verglich er das Bürgerthum mit dem Prometheus, der den rohen Tritten der Gewalt gegenüber in der Zuversicht verharrt: „Mußt mir meine Hütte doch lassen stehen, die Du nicht gebaut, und meinen Herd, um dessen Gluth Du mich beneidest.“ Das Bürgerthum war ihm mit Recht die Mittelpartei, d. h. die Partei, deren Bestreben dahin gehen muß, Selbstthätigkeit mit Ordnung zu vereinigen. Aber das Material einer Partei mag noch so vortrefflich sein, sie gelangt zu nichts, wenn sie nicht den Schöpfer findet, der den zusammenhanglosen und unbeholfenen Stoff mit dem richtigen Willen beseelt und zum kraftvollen Körper gestaltet. Nur Klägliches kommt zum Vorschein, wenn die unbeholfene Masse als solche handeln muß. S. machte nun die Erfahrung, wie übel daran der Leiter einer Zeitung ist, der einer Zahl von Mittelmäßigkeiten dienen soll, die beansprucht, ihn zu inspiriren, während sie aus Kurzsichtigkeit und Widerspruch zusammengesetzt ist, die nicht kargt mit Tadel und Vorwurf, wenn ihre ungereimten Einfälle sich in der Zeitung nicht schön ausnehmen und nicht die Welt erobern. Als die Zeitung einging, schied er für seine Person aus dem politischen Tageskampf, aber er blieb seiner Partei treu und trug auch den Männern, deren Ungeschick in der Fractionspolitik er hinlänglich erfahren hatte, diese Dinge nicht nach. Er blieb in Berlin und wendete sich ausschließlich der litterarischen Kritik zu, indem er in sehr verschiedenen Blättern seine immer werthvollen Essays veröffentlichte.

Es beginnt nun die dritte Periode seines schriftstellerischen Wirkens. Wir rechnen die erste von 1847–1850, sie ist wesentlich politisch; die zweite von 1850–1860, sie ist überwiegend litterarisch-polemisch; nach dem kurzen Zwischenspiel mit der politischen Zeitung beginnt dann die dritte und letzte Periode. Er hatte sich an der Polemik gesättigt und hatte außerdem vielen und auch solchen Widerspruch erfahren, gegen dessen Berechtigung er sich nicht verschließen konnte; endlich war er trotz seiner Einfiedlernatur doch mit immer mehr Menschen in Berührung gekommen, zum Theil in wohlwollende Beziehung getreten. [766] Dies alles hatte die bei jeder Berührung mit einer fremdartigen Erscheinung aufzischende Ungeberdigkeit seiner Individualität gemildert. Er lernte fremde Individualität achten, wenn ihm auch das Verständniß nicht leicht wurde. Aber wenn das für ihn Befremdliche blieb, so fehlte ihm doch nicht mehr der Instinct, daß etwas Tüchtiges und Achtungswerthes sich darunter verbergen könne. So nahm denn seine litterarische Production eine andere Form an. Er suchte mehr zu charakterisiren als zu kritisiren, er vermied die Schroffheit des Tadels und des Vorwurfs. Aus den Essays, die er in dieser Art veröffentlichte, sind nach und nach fünf Sammlungen entstanden: 1) 1870 „Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit“; 2) 1871 „Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit“, neue Folge; 3) 1873 „Neue Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit“; 4) 1875 „Charakterbilder aus der zeitgenössischen Litteratur“; 5) 1878 „Porträts aus dem 19. Jahrhundert“. Seit 1878 erschien keine solche Sammlung mehr, den Verfasser nahm die Ausarbeitung, bezüglich die Redaction der von ihm geplanten Geschichte der deutschen Litteratur von Leibniz bis auf unsere Zeit mehr und mehr in Anspruch.

Vor dem Eingehen auf die Sammlungen der Essays ist ein Blick auf jene Lebensjahre von 1864–1886 im ganzen zu werfen. Auch S. erlebte in gewissem Sinne den glorreichen Spruch: Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle. Er sprach es oft aus, daß, was wir erlebt, weit hinausgehe über Alles, was dieses Geschlecht je geahnt, gehofft, geträumt. Auch litterarisch glaubte er zu gewahren, daß das, was er als Kritiker gefordert, mehr und mehr zu Geltung gelange. In den Essays machte sich diese Stimmung bemerklich und trug zu der überall hervortretenden Milderung des Urtheils bei.

Als die letzte Essaysammlung im J. 1878 erschienen war, trat aber eine Trübung der Stimmung, wie in allen Kreisen des gebildeten Deutschland, so auch bei unserem Freunde ein. Der Bruch des Fürsten Bismarck mit der nationalliberalen Partei, das Zurückweichen im Culturkampf, der Uebergang zum Schutzzollsystem waren unverständliche und bedenkliche Vorgänge. Nachdem die Deutschen mehr erlangt, als sie jemals auch nur zu träumen gewagt, hätte unser Freund geglaubt, sie würden nun ihr Haus mit allem was darinnen, Staat, Kunst, Wissenschaft, Familie, Gewerbe u. s. w. als vernünftige Leute einrichten, sich friedlich besprechen und verständigen. Statt dessen sah er neuen und alten Hader. Er hatte geglaubt, daß die Dichtung mehr und mehr die von ihm geforderten Wege einschlagen werde; statt dessen verfiel sie in eine ihm ganz fremde Einseitigkeit. Eine wahre Freude bereitete ihm nur die Erscheinung von Konrad Ferdinand Meyer. Er sah in ihm die größte Dichterkraft, die seit Heinrich v. Kleist in deutscher Sprache aufgetreten.

Unter diesen wechselnden Stimmungen beschäftigte ihn die Verschmelzung seiner beiden Werke über die deutsche Litteratur. Der Umfang des Ganzen wurde auf fünf Bände berechnet, soviel wie die beiden getrennten Werke bereits zusammen ausgemacht hatten. Aber die einzelnen Bände sollten viel schwächer werden, weil alles Ueberflüssige herausgeworfen werden sollte. Man kann da fragen: Was ist überflüssig, was ist nothwendig? Das Merkmal der Unterscheidung wollte der Verfasser darin erkennen, ob eine litterarische Erscheinung bleibend gewirkt hat. Außerdem sollte die chronologisch-synchronistische Methode wieder aufgegeben werden. Der Hauptcharakter des Buches ist jedoch geworden, daß die litterarischen Persönlichkeiten und Erzeugnisse überall selbst zum Wort kommen in einer meist neuen, mit sehr fester, richtig unterscheidender Hand getroffenen Auswahl. Der aphoristische Gang der Darstellung ist vom 3. Bande an, der nach Schmidts Tode herausgekommen, gemildert, während er in den beiden ersten [767] Bänden noch sehr vorherrscht. Das eigene Urtheil, wo es unmittelbar hervortritt, gleicht merkwürdigerweise mehr der früheren scharfen Weise, als der milden der späteren Essays. Wie viel man aber auch gegen das Urtheil des Verfassers einzuwenden haben kann, so bleibt doch das Wort eines Kritikers der neuen Litteraturgeschichte in Geltung: sie wird sich noch lange behaupten, weil sie eine ganze Bibliothek ersetzt.

Wenden wir uns noch einmal zu den Essays der dritten Periode. Sehr mannichfaltig in den Gegenständen, behandeln sie zum Theil Erscheinungen, die der Verfasser schon in den fünfziger Jahren unter das kritische Messer genommen hatte, aber nunmehr in veränderter Auffassung und Darstellung. Hervorragend sind die Essays über die Schriftsteller, gegen die S. von Anfang in ein Verhältniß der Anerkennung getreten war. Es sind Fritz Reuter, Otto Ludwig, Iwan Turgenjeff. Unbedingt ist die Anerkennung für Reuter, bei den anderen beiden Dichtern erleidet sie erhebliche Einschränkungen, doch bleibt Theilnahme und Wohlwollen der Grundton. Ein sehr gelungener Essay ist auch der über Friedrich Spielhagen durch die feinen Bemerkungen und durch die schonende und doch nichts verschweigende Kritik. Was nun aber diejenigen Essays betrifft, worin Tadel und Zurückweisung vorwiegen, so bekunden sie zwar das ehrliche Bestreben, Gerechtigkeit, mit Milde verbunden, anstatt des früheren ungeberdigen und burschikosen Tones vorwalten zu lassen. Aber man kann nicht sagen, daß diese Behandlung viel angenehmer wirkt. Von den kritischen Leistungen Schmidts, soweit sie gut und wirksam ausgefallen, gilt das Wort: facit indignatio versum. Es ist das Temperament, das ihn zum Schriftsteller macht, Humor oder Pathos müssen ihm die Feder führen. Das überkluge Wohlwollen, das er in den späteren Essays angenommen, steht ihm durchaus nicht.

In seiner langen und reichen kritischen Thätigkeit hat S. fast alle sittlichen und ästhetischen Grundsätze sowie die Fragen berührt, welche die Grundlagen des Wissens betreffen. Natürlich ist dies mit sehr verschiedener Gründlichkeit und mit sehr verschiedenem Erfolg geschehen. Man müßte ein ganzes Werk schreiben, um ihn überall zu berichtigen oder zu vervollständigen. Sehr nothwendig wäre jedoch eine Auseinandersetzung und Widerlegung der Stellung, welche er zu den Classikern des deutschen Geistes, zu den großen Dichtern und Philosophen eingenommen. Er hat mit dieser Stellung jahrelang Anstoß erregt. Vielleicht ist jetzt eine Zeit da, wo ihn die Barbaren des jüngsten Deutschland, die Aloger und Cyniker, unter ihre angeblichen Fahnenträger aufnehmen. Die Strafe wäre grausam, aber sie könnte nicht lange währen. Er war im Grunde seines Wesens Idealist und würde über gewisse neuere Erscheinungen der deutschen Litteratur in Zorn und Betrübniß gerathen. Er hatte freilich lange den sogenannten Realismus gepredigt, diese unglückselige Phrase, welche nachgerade nichts bedeutet, als die Gosse, in die jeder halbfertige Mensch ungewaschene Einfälle hineinschüttet. S. hatte sich die Formel ausgedacht, daß der Idealismus der Zweck der Kunst, der Realismus ihr Mittel sei. Das ist nicht gerade ungeschickt, führt aber nicht viel weiter, weil es sehr schwer ist, zu unterscheiden, was Zweck ist und was Mittel. In den organischen Schöpfungen sind Mittel und Zweck in Wahrheit nicht getrennt.

Das Eingehen auf Schmidts Verhältniß zu den classischen Geistern verbietet sich in diesem Werke durch die Rücksichten des Raumes. S. starb am 27. März 1886 plötzlich und leicht zu Berlin durch eine Lungenlähmung. Wenn die Alltagsansicht bekannt ist, daß kein Mensch unersetzlich sei, so sagt das tiefere Lebensverständniß, daß keine geprägte Individualität ersetzt wird. In allem Reichthum der Gegenwart fehlt uns die Vergangenheit und ihre nichtersetzten Persönlichkeiten. So genau und drastisch, wie S., vermag uns heute Niemand [768] bei den poetischen Speisen, die uns aufgetragen werden, zu überzeugen, was gesunde Bestandtheile und was widrige Gemenge einer gequälten Künstelei sind.

Vgl. Gustav Freytag, Julian Schmidt bei den Grenzboten, Preußische Jahrbücher, Juni 1886; und auch: Gustav Freytag, Erinnerungen aus meinem Leben. Gesammelte Werke I.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Robert Motherby (1808–1861); deutscher Arzt, Gutsbesitzer und Parlamentarier
  2. Camillo Benso Graf von Cavour (1810–1861) italienischer Staatsmann und Unternehmer
  3. Alexander Meyer (1832–1908), deutscher Journalist, Liberaler und Freihändler