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Artikel „Freytag, Gustav“ von Alfred Dove in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 749–767, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Freytag,_Gustav&oldid=- (Version vom 5. Oktober 2024, 11:55 Uhr UTC)
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Band 48 (1904), S. 749–767 (Quelle).
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Freytag: Gustav F., Dichter, Historiker, Journalist, in seiner Gesammterscheinung als deutscher Schriftsteller im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts zeitgemäß und namhaft wie kein anderer; geboren am 13. Juli 1816 zu Kreuzburg in Oberschlesien, † zu Wiesbaden am 30. April 1895. – Freytags Stammtafel hebt mit einem Simon F. (geb. 1578) an, der als protestantischer Freibauer im Dorfe Schönwald, nördlich von Kreuzburg, an der polnischen Sprachgrenze saß; gleich ihm nahmen alle seine Nachkommen deutsche Frauen. Da der Hof, mit dem Simons Enkel Adam durch Heirath eine Scholtisei verband, sich als Minorat vererbte, mußten ältere Söhne draußen ihr Glück suchen. So wandte sich Adams ältester Enkel Georg F. (1737–99) der Theologie zu, ward im siebenjährigen Kriege Diakonus im nahen Städtchen Konstadt und wirkte dort als rechtgläubiger Pastor wacker bis ans Ende. Sein ältester Sohn Gottlob Ferdinand (1774–1848), Vater des Dichters, erwarb in Halle, wo er seit 1793 Medicin studirte, die humane Bildung jener Tage; unter den frohen Erinnerungen, die ihn von da durchs Leben begleiteten, stand die Aufführung Ifflandscher Stücke durch das Weimarer Theater in Lauchstädt obenan. In der Kreisstadt Kreuzburg, wo er sich als Arzt niederließ, gewann er das Vertrauen der Mitbürger so entschieden, daß sie ihn bei der Einführung der Steinschen Städteordnung zum Bürgermeister wählten. Nach den Freiheitskriegen vermählte er sich mit Henriette Albertine Zebe, Landpredigerstochter aus Wüstebriese bei Ohlau († 1855). Die Geburt des ersten Knaben Gustav bewog ihn, die einträglichere Praxis als Kreisphysikus mit dem Wohnsitz in Pitschen wieder aufzunehmen; zwei Jahr später riefen ihn jedoch die Kreuzburger [750] auf Lebenszeit in ihr nunmehr besser besoldetes Bürgermeisteramt zurück, das er dann bis ins Greisenalter tüchtig und würdig verwaltet hat.

Im Elternhause verlebte Gustav F. eine glückliche Kindheit bis nah an sein vierzehntes Jahr, bis gegen Ende seiner Breslauer Periode (1846) blieb er dort wenigstens in freien Wochen heimisch. Die Mutter, die klug und rührig Haus hielt, schildert er uns als rechte Schlesierin: gutherzig, lebhaft, heiter, erfindungsreich, hat sie ihrem Liebling mitgetheilt, was an gemüthlicher Laune, harmloser Lebenslust, reger Einbildungskraft in diesem Stamme verbreitet ist. Im Bezeigen des Vaters stellte sich die Tugend des preußischen Beamten dar, der durch das Zeitalter Napoleons aufrecht hindurchgeschritten: Pflichttreue, Redlichkeit, Herrschaft über sich selbst, gestützt auf das Bewußtsein eigenen sittlichen Werthes; von klein auf empfing so der Sohn eine Richtschnur nicht allein fürs Handeln, auch der gewissenhafte Charakter seines geistigen Schaffens wurzelt in diesem Boden. Neben ihm wuchs ein jüngerer Bruder Reinhold auf, der (1858) vorzeitig als Staatsanwalt gestorben ist; ihm zur Seite bildete der Dichter früh die Gesinnung des guten Kameraden und fürsorgenden Helfers in sich aus, die er nachmals an so vielen geräuschlos wohlthuend bewährte. – F. ward häufig von leichten, mitunter von schweren Störungen seiner Gesundheit heimgesucht; im ganzen besaß er jedoch eine kraftvolle, rüstige Natur, hohen Wuchs, starken Knochenbau, der sich in straffer Haltung kundgab. Lichtblondes Haar umrahmte dauerhaft eine freie, geräumige Stirn; um den Mund, den er in männlichen Jahren mit dreispitzigem Bart verzierte, glitt in der Regel ein freundlicher Zug von vielgeübtem Humor; grundgescheit, froh lebendig, ohne jeden schwärmerischen Anflug, wie er wol für poetisch gilt, erschien noch das vollere, geröthete Antlitz des Greises. Den einzigen körperlichen Mangel, angeborene Kurzsichtigkeit der hellen Augen, wußte er in einen Vorzug zu verwandeln: auf die Brille verzichtend, wurde er ein scharfer Beobachter in der Nähe, wozu ihn ein stetes Verlangen nach Kenntniß der Wirklichkeit trieb. Heimath und Jugend führten ihm übrigens an Eindrücken und Erlebnissen wenig merkwürdiges zu: ebenes Land, kleine Stadt, schlichtes Bürgerthum, aufstrebend, bescheiden im Genuß, reich nur im Besitz ergreifender Erinnerungen. Es war der Durchschnitt des damaligen Daseins, wenigstens in Norddeutschland; ein günstiger Umstand für breiten Erfolg seiner künftigen Erfahrungsdichtung. Ein besonderes bot indessen die Ostmark deutscher Cultur als solche dar; das auffälligste für Auge und Ohr des Kindes war der nationale Gegensatz. Auf dem Markt in Kreuzburg polackische Bauern und jüdische Händler; dicht hinter Pitschen, das die Familie häufig besuchte, das unheimliche Land der echten Polen, mit denen um den Schnitt der Grenzwiesen an der Prosna noch in mittelalterlicher Fehde gestritten ward. Daher denn nicht bloß das Motiv deutscher Kampfbereitschaft und Colonisationslust in Soll und Haben und einigen Theilen der Ahnen; vielmehr verdichtete sich das Gefühl der Nationalität in F. überhaupt zu elementarer Stärke. Ohne Frage bildet den tiefsten Gehalt seiner Schriften die Idee des Deutschthums; keine andere Empfindung hat er so eigen, so wirksam ausgesprochen, wie die innige Freude, mit der ihn der Blick auf sein Volk beseelt. Formale Bedeutung für den späteren Beruf darf man endlich dem kleinen Ereigniß beimessen, daß 1826 eine wandernde Schauspielertruppe, die Gesellschaft Bonnot, das entlegene Kreuzburg aufsuchte; der junge F. lauschte neben dem Vater aufmerksam mancher Vorstellung und begründete so naiv ein warmes Verhältniß zur Bühne als einer sinnvoll gestalteten Welt. Um so leichter, als sonst vom Hauche der Musen wenig zu spüren war. Vater und Mutter ließen sich bisweilen auf Flöte und Guitarre vernehmen, aber Gustav kam auf der Geige über die [751] Plage kaum hinaus; und so war auch später Musik kein Bedürfniß seiner Seele. Fast das nämliche läßt sich von den bildenden Künsten sagen; was er seit der Studentenzeit von ihren Schöpfungen kennen lernte, war ihm vornehmlich wegen des dargestellten Inhalts wichtig: die Kunst der Vergangenheit schaut er antiquarisch an, die der Gegenwart schätzt er nach ihrem Werthe für das Volk. Auch von italienischen Reisen höherer Jahre kehrte er, wie er gestand, als nordischer Barbar zurück. Im Elternhause blieb überdies selbst die poetische Lectüre altmodisch und geringfügig, unsere Classiker waren noch nicht wirklich eingedrungen. Kein Wunder, daß Freytags erster Productionsversuch einer Robinsonade galt, die der zehnjährige Autor episch zum Schicksal einer verschlagenen Familie erweiterte, darunter bereits eine besonders anstellige und aufgeräumte Lieblingsfigur von guter Vorbedeutung.

Mittlerweile empfing der Knabe Privatunterricht beim Pastor Neugebaur, Schwager seiner Mutter, der ihn immerhin zu behendem Lateinlesen anzuleiten verstand. So vorbereitet, bezog er 1829 das Gymnasium im stattlicheren Oels, wo er einige Jahre lang Hausgenosse des Stadtgerichtsdirectors Karl F. wurde. Dieser jüngere Bruder des Vaters, origineller Junggesell, verwachsen und in sich gekehrt, fand seinen Trost in kritisch genießendem Studium schöner Litteratur; daß er am liebsten Aristophanes, Shakespeare, Calderon las, deutet wieder auf einen Familienzug zum Dramatischen. Eine Wirkung auf den Neffen aber ging davon nicht aus, ihm dienten die fremdsprachigen Bücherschätze des Oheims höchstens zu äußerer Orientirung. Auch persönlich kam es zu keiner vertraulichen Erschließung, sodaß F. sich gerade hier ein für allemal an stille Selbständigkeit der Ueberlegung wie der Ausführung gewöhnte. Da ließ ihn ein Zufall der Gelegenheit, zugleich allerdings der herrschende Zug der Zeit, in Walter Scott den ersten Dichter ergreifen, von dem er einen nachhaltigen künstlerischen Einfluß erfahren sollte. In den Uebersetzungen einer Leihbibliothek verschlang er dessen sämmtliche Romane und entnahm dem eindringlichen Vorbilde dieses Meisters unwillkürlich einen Fingerzeig zu modern-epischer Composition und Charakterzeichnung; Scotts Genie erregte noch in hohen Jahren bei gern wiederholtem Lesen seine Bewunderung. An eigene Nachahmung war freilich in der Schulzeit nicht zu denken; der Director Körner bethätigte sein Wohlwollen durch gesteigerte Anforderung an den fleißigen Primaner, und dieser fand nur etwa Muße zur landesüblichen Feiertagsreimerei, deren Werth er selber keineswegs überschätzte. – Mit gutem Zeugniß in den alten Sprachen versehen, verließ F. Ostern 1835 das Gymnasium als Primus, um in Breslau classische Philologie zu studiren. Allein die überwiegend grammatische Auslegung selbst des Plato durch Karl Schneider stieß ihn ab; mehr fühlte er sich zu römischen Alterthümern im anregenden Vortrag des jungen Ambrosch hingezogen. Von entscheidender Bedeutung aber wurde für ihn ein Privatissimum über Handschriftenkunde bei Hoffmann von Fallersleben; sah er sich doch nun in die deutsche Welt des Mittelalters eingeführt, in der eben freudig erblühenden Germanistik fand sein lebendiges Nationalgefühl die angemessene Wissenschaft. Zu ernstem Studium ließ ihm jedoch das Burschenleben im Corps der Borussen keine Zeit; zum Glück also ward ihm durch die strenge Ahndung eines unerlaubten Zobtencommerses der Aufenthalt in Breslau dergestalt verleidet, daß er nach drei Semestern auf die Berliner Universität hinüberzog. Denn erst hier weihte ihn Lachmanns genialer Scharfsinn in methodische Forschung und solides Wissen ein, während ihm aus den Tiefen der Schriften Jacob Grimms die romantische Grundansicht des Volksgeistes in der natürlichen Einheit seiner Schöpfungen entgegenstieg. Philosophie gewann ihm weder damals noch später inneren Antheil ab; allein auch von eigentlicher Geschichte [752] hielt er sich ungeachtet seines historischen Sinnes vor der Hand noch fern: gegen Ranke’s Universalität und vornehme Art der Betrachtung faßte er eine teutonisch-populäre Abneigung, die er niemals völlig überwunden hat; sein Liebling unter den Geschichtschreibern wurde dann Macaulay. Unschätzbar förderte ihn der geistige Verkehr mit fröhlichen Genossen. Der reifere Adalbert Kuhn erweiterte ihm den philologischen Gesichtskreis durch den Hinweis aufs Indogermanische. Die Söhne des thatkräftigen Amtsraths Koppe begleitete er wiederholt als Gast auf dessen Musterdomäne Wollup im Oderbruch, wo seiner realistischen Wißbegier der Einblick in eine durchdacht betriebene Landwirthschaft eröffnet ward; hierauf beruht die Anschaulichkeit der Schilderung des ländlichen Erwerbslebens in seinen Romanen. Litteratur und Theater wurden jetzt mit Begeisterung aufgenommen und besprochen: die Pickwickier von Dickens weckten den Sinn für launig charakteristische Auffassung der Alltagswelt; unsere deutschen Classiker, weit entschiedener noch Shakespeare, entfalteten ihre erobernde Macht. Verfrühte Anläufe zu eigenen Dramen – der Hussit, die Sühne der Falkensteiner – fielen freilich noch ganz formlos aus; doch verrieth sich die Liebe zur Gattung sogar in der Wahl des Themas für die Doctorarbeit. Auf Grund einer nicht besonders originellen, aber längere Zeit mit Achtung genannten Abhandlung „De initiis scenicae poësis apud Germanos“ wurde F. am 30. Juni 1838 promovirt. Nach der Heimkehr setzte er diese Studien fort und erwarb schon im März des folgenden Jahres mit einer Habilitationsschrift „De Hrosuitha poëtria“ die venia legendi für deutsche Philologie an der schlesischen Universität.

In Breslau hat F. bis zum Herbst 1846 achthalb Jahr verbracht, als junger Gelehrter, an- und abgehender Docent, daneben als werdender Dichter, der an der Lyrik vorüber seinen Weg zum Drama fand; eine lebendig bewegte, doch erst gegen Ende befriedigende Zeit der Auseinandersetzung mit dem äußeren Beruf, für den inneren im ganzen genommen immer noch Jahre bloßer Vorübung. An redlichem Bemühen um eine akademische Wirksamkeit ließ er es zunächst nicht fehlen. Nachdem die Hemmnisse des Anfangs, Militärdienst und Erkrankung, überstanden waren, versuchte er sich in mannigfachen Vorlesungen über Grammatik, zumal die mittelhochdeutsche, und Litteraturgeschichte, wobei er vornehmlich die Nibelungen eingehend würdigte; auch die Mythologie mit Rücksicht auf Alterthümer zog er in seinen Kreis. Ohne Zweifel nahm er die theoretische Seite seiner Aufgabe ernst, doch legt er den Ton auf den Wunsch nach anwendbarer Lehre, wenn er 1843 in einer Eingabe an die Facultät bekennt: „Ich habe mich bestrebt, den Sinn für unsere deutsche Nationalität, soweit diese in meiner Wissenschaft darstellbar ist, zu wecken und die Anfänge einer historischen und künstlerischen Kritik des vorhandenen Sprach- und Litteraturstoffes zu beleben“. In letzterer Hinsicht wählte er wiederholt, was derzeit noch beinah als dilettantische Abirrung galt, die moderne deutsche Poesie seit Goethe und Schiller zum Gegenstand, um an vorgetragenen Beispielen das ästhetische Urtheil der Zuhörer zu bilden; selbst „Poetik mit praktischen Uebungen“ hat er einmal angekündigt. Frisch beredt, wie er allzeit war, gewann er denn auch auf dem Katheder den Umständen nach ein nicht zahlreiches, aber dankbares Publicum. Trotzdem bewarb er sich, als Hoffmann von Fallersleben aus politischen Gründen entlassen worden, 1843 vergeblich um eine außerordentliche Professur. Vom Standpunkt der Universität aus nicht mit Unrecht, wurde ihm in Theodor Jacobi ein ausgesprochen linguistisches Talent vorgezogen, das streng wissenschaftliche Leistungen von Bedeutung aufzuweisen hatte. F. selbst ging in eigentlich gelehrter Richtung übrigens nicht müßig: während er für das Grimmsche Wörterbuch [753] ältere Dramatiker, namentlich Jakob Ayrer, durchsuchte, beschäftigte er sich weiter mit dem Plan einer Geschichte der deutschen dramatischen Dichtung überhaupt und forschte dazu auch auswärts, vorzüglich auf der Wiener Bibliothek. Allein er brachte das umfassende Unternehmen um so weniger recht vorwärts, als er sich daneben noch mit einem anderen vielsagenden Entwurfe trug, wofür er culturgeschichtliche Notizen aus den Monumenta Germaniae sammelte. Was ihm vorschwebt, bezeichnet er als „historische Entwicklung der deutschen Volksthümlichkeit“, – wie man sieht, ungefähr die Idee seines künftigen Meisterwerks, der „Bilder“. Seine Absicht, dies Thema fürerst in einer Vorlesung zu behandeln, stieß auf den Widerspruch des Fachhistorikers Stenzel; und da ihm ein erneutes Gesuch um Beförderung nichts als almosenartige Geldbelohnung eintrug, so stellte er im Herbst 1844 nach dem elften Semester seine Lectionen ein, – ohne Abschied verließ er die akademische Laufbahn. Schon als Docent hatte er sich beiher als Dichter gefühlt und gerührt: diesem Triebe gedachte er forthin mit ungetheilter Kraft zu folgen.

Für die poetische Production seiner späteren Zeit bot F. das Breslauer Leben gegenständliche Anregung in Fülle dar. Hier lernte er im Hause des Freundes Theodor Molinari Wesen und Werth der bürgerlich schaffenden Thätigkeit des Kaufmanns kennen, die er dann in „Soll und Haben“ so anziehend verherrlicht hat. Aber mehr, die gesammte Wirklichkeit dieses Romans, Physiognomie und Charakter der östlichen Großstadt und Provinz, die socialen Typen ihrer Bewohner, hat er damals bereits seinem Künstlerauge eingeprägt. Noch war er indessen nicht reif zu wahrhaft selbständigem Ergreifen und Gestalten; auch seine dichterische Entwicklung vollzog sich verhältnißmäßig langsam, ja unterm Einfluß der Zeit und Umgebung bestellte er anfangs auch ein Feld, das ihm innerlich fremd blieb. Unter dem Titel „In Breslau“ ließ er 1845 eine Sammlung von Gedichten erscheinen; fast zur Hälfte Gelegenheitspoesie, für die Feste und Schaustellungen der dortigen Geselligkeit bestimmt, in der er sich mit Jugendlust tummelte – leichte Waare von Temperament und mehr oder minder Geschmack, für eine ursprüngliche Ader zeugt sie kaum. Den vornehmsten Inhalt des Büchleins bilden Balladen und längere erzählende Gedichte, meist in modern geschmeidigtem, dennoch ermüdendem Nibelungenmaß; ein starkes Talent für Verskunst besaß der große Prosaiker all sein Lebtag nicht. Von ungleich höherem Schwung und Gehalt, als jene Tagesprogrammdichtung, verrathen diese rhapsodischen Ergüsse in Erfindung und Ausführung wol den Epiker oder auch Dramatiker; echt lyrisch empfundene Partien lassen sie dagegen ebenfalls vermissen. Auffallende Anklänge nach Dilettantenart enthält das Ganze nicht, jedoch auch andererseits keinen recht eigenthümlichen Ton; wie bei den Zeitgenossen spielen verblaßte Romantik – F. sah damals verehrend zu Tieck empor – und jungdeutsche Aufregung unerfreulich durcheinander. Einen Abweg bald zu bemerken und aufzugeben, lag in Freytags klarer, entschlossener Natur: so gut wie niemals hat er hernach auf lyrische Form zurückgegriffen. – Und in Wahrheit lag ihm von Haus aus einzig das Drama warm am Herzen; einer Lehrzeit bedurfte er auch in dieser schwierigen Kunst, doch er machte sie ausdauernd durch im beherzten Bewußtsein innerer Bestimmung. Schon 1841 vollendete er ein historisches Lustspiel in fünf Acten, „Die Brautfahrt oder Kunz von Rosen“, das im nächsten Jahre mit einem Berliner Theilpreise gekrönt auf einem Dutzend Bühnen zur Aufführung gelangte; in Breslau half der junge Dichter selbst beim Einstudiren. Nachhaltigen Erfolg aber vermochte das (1843 gedruckte) Stück nirgend zu erringen. Es ist eine hübsche Geschichte [754] in buntem Gewand, in lockerem Scenenbau untergebracht – hierdurch, wie in Ton und Farbe der Zeit an Goethe’s Götz gemahnend, während des Dichters Verzug, Maximilians Hofnarr Kunz, natürlich durch Shakespeare geschult erscheint – ein lustiges Spiel, aber kein dramatisch packendes Lustspiel. F. sann nach und schlug einen zwiefachen Weg zu besserer Erkenntntiß ein. Er verkehrte mit Schauspielern, unter denen vorzüglich August Wohlbrück, Komiker und Charakterdarsteller, praktisch anzudeuten wußte, was in den Bezirk des Theaters falle oder nicht; auch Holtei’s Erfahrung erwies sich liebenswürdig mittheilsam. Sodann ergab er sich, wie zur selben Zeit Gutzkow und Laube, dem Studium der französischen Bühnendichtung, um bei Scribe und Genossen scenische Oekonomie, Arrangement und dramatische Ausdrucksweise zu erlernen. Soviel ernste Bemühung fand den verdienten Lohn. Zwar gedieh noch 1844 ein ernstes Schauspiel in Jamben, „Der Gelehrte“, nicht über den ersten Act, der 1847 als Bruchstück veröffentlicht wurde – von F., der sonst Fragmente streng verwarf, zeitlebens geschätzt als früheste technisch gelungene Studie und zugleich als erster Versuch an einem Stoff aus der Gegenwart, wofür sich sein offener Weltblick nun für geraume Zeit entschied. Doch im Frühjahr 1846 wurde nach langer, von keiner Docentenpflicht mehr gestörter Sammlung in raschem Zuge „Die Valentine“ niedergeschrieben, die dem Dichter vollkommen bühnengerecht aus der Feder floß, weshalb sie sich lange als dankbares Spielstück in Ansehen behauptet hat. Das damalige Publicum begrüßte auch die Dichtung als solche rings mit Beifall; das etwas gesuchte Intriguengewebe der Handlung, die noch wenig freie und frohe Lösung der sittlich-gesellschaftlichen Probleme, woran auch „Der Gelehrte“ krankt, befremdeten nicht im Bereich unserer vorrevolutionären Litteratur. F. sah sich sofort in die vorderste Reihe der deutschen Dramatiker aufgenommen.

Mit dreißig Jahren glaubte er sich so endlich sicher auf rechter Bahn. Um an einem gut geleiteten Theater die Praxis der Inscenirung zu erfahren, brachte er Ende 1846 einige Monate heiter erregten Künstlerlebens in Leipzig zu; die Schauspieler nebst der Familie Laube bildeten seinen täglichen Umgang. Dann brach er sein Zelt in der schlesischen Heimath für immer ab und siedelte 1847 nach Dresden über, wo er sich im Herbst mit einer wohlhabenden Landsmännin Emilie Scholz, geschiedener Gräfin Dyhrn, vermählte, die ihm in kinderloser Ehe Jahrzehnte lang wohlgemuth zur Seite stand. Noch vor Ende des Jahres war ein neues Schauspiel, „Graf Waldemar“, vollendet, das bei virtuoser Technik auch an Gehalt einen Fortschritt gegen das vorige bedeutete: ein gesundes deutsch-bürgerliches Lebenselement triumphirt, obwohl noch nicht ganz überzeugend, zum Schluß über abenteuerlich geniale Zerrissenheit. Der Erfolg war auch diesmal überall groß und dauerhaft. Im schwungvollsten Alter, in bescheiden unabhängiger Lage, an schönem Wohnsitz, in ersprießlichem Verkehr mit Kennern wie Eduard Devrient, getraute sich F. jetzt, alljährlich ein gleich gutes, wo nicht besseres Stück für unser damals noch blühendes Theater zu schreiben, und begehrte gar kein anderes Loos. Das Bild eines modernen Dramatikers von Fach, eines deutschen Scribe von erheblich höherem geistigen Fluge stand ihm vor der Seele. Da bewirkte das Weltschicksal des Jahres 1848 einen gewaltigen Umschwung auch in seinem Dasein; in der That stammt der Klang seines Namens, wie er durch die Nachwelt zieht, in jeder Hinsicht erst von dieser Epoche. – von Politik hatte er sich bisher ziemlich fern gehalten, eine leidenschaftliche Anlage besaß er nicht für sie. Doch gehörte feste preußische Staatsgesinnung so gut zu den Grundlagen seines Wesens, wie sein inniges Nationalgefühl, und berührt ward er stets von der Strömung seiner Zeit. Lebhafte Gemüthsbewegung verspürte [755] er bei der That der Göttinger Sieben; nach 1840 traf ihn ein stärkerer Hauch von liberalen Ideen und Wünschen im Breslauer Freundekreis. In seinen Dichtungen nimmt der germanistischs geliebte Begriff des „Volks“ einen zart demokratischen Beischmack an, doch bleibt es bei dem Bekenntniß allgemeiner Zuversicht. Ehrgeiziges Verlangen flößte ihm nun auch der Völkerfrühling des März durchaus nicht ein. Aus leutseligem Mitleid stiftete und berieth er einen Handwerkerverein in Dresden; Laube’s Lockung mit einem böhmischen Mandat für Frankfurt wies er besonnen von der Hand. Wohl aber erschütterte ihn aufs tiefste Preußens Mißgeschick, Friedrich Wilhelms IV. geschichtliches Versagen. In dieser patriotischen Trauer kam er bei einer Begegnung in Leipzig mit Julian Schmidt überein, die „Grenzboten“, eine vom Oesterreicher Kuranda gegründete Wochenschrift, gemeinschaftlich zu erwerben und zu leiten. Es galt deren Verwandlung in ein preußisch-deutsch gesinntes Blatt, das die verirrte öffentliche Meinung zurechtweisen und zugleich die Litteratur von romantischen Träumen und jungdeutscher Verzerrung zur lebendigen Wahrheit des Zeitalters hinüberlenken sollte. So trat F. aus Pflichtgefüh1 in den Dienst der befreiten deutschen Presse, zum Glück nur im weiteren Sinne des Worts als Journalist. In beständiger, doch nicht aufreibender Fühlung mit Tag und Welt sollten all seine Kräfte zur Erscheimmg kommen.

Am 1. Juli des stürmischen Jahrs begannen die „grünen Blätter“ ihr verjüngtes Leben; im Herbst schlug F. den eigenen Wohnsitz in Leipzig auf, dessen geistig bewegter Verkehr ihm, auch abgesehen von den journalistischen Gefährten, gleich anfangs werthvolle Beziehungen darbot. Politische wie persönliche Sympathie führte ihm Männer von innerem Adel als Freunde zu: so Salomon Hirzel, der dann als treuer Verleger ein Lebensbündniß mit ihm einging; so die großen, leider nur bald vertriebenen Alterthumsforscher Haupt, Jahn, Mommsen – besonders der erste wuchs ihm als Ideal eines deutschen Professors eng ans Herz. Seine Thätigkeit aber gehörte für einige Jahre ganz dem neu erkorenen Beruf. Es war wahrlich nicht leicht, bei Fluth– und Ebbe der revolutionären Zeitgeschicke die Wochenschrift über die Krisis des Verlusts der bisher meist österreichischen Abnehmer ins deutsche Publicum hineinzusteuern; allein es gelang dem vereinten Bemühen des tapferen Westpreußen und des sonnig gestimmten Schlesiers: die „Grenzboten“ wurden ein hochgeachtetes Blatt, weil sie in Sachen des Staates wie der Cultur gleich sehr Charakter zeigten. F. selbst nahm in jener Richtung vorzüglich die Absonderung des deutschen Einheitsstrebens vom fremden Oesterreich in die Hand, in dieser vielseitige Kritik der poetischen Litteratur, Theater, sinniges Allerlei. Als Schriftsteller fand er der Forderung des Tages gegenüber zwischen Keckheit und Lehrhaftigkeit hindurch den eigenen harmonischen Stil: jene männlich beredsame, anschaulich klare, gegenstandreiche Prosa, die im Lauf der Jahre wol noch zu ruhigerer Wärme, nie jedoch zu bedächtiger Kühle überging; ein paar eigenwillige Manieren in Wortwahl und Syntax befestigten sich mit der Zeit infolge der früh beliebten Gewohnheit, mündlich zu dictiren. Vom ersten Moment aber trat er als Redacteur von Gottes Gnaden auf: unternehmend mit Umsicht, gewandt auch im äußeren Handwerk und Geschäft, nie verzagt noch verdrossen, höchstens einmal humoristisch seufzend oder knurrend, im heiteren Besitz souveräner Geistesgegenwart, genau wie er sie seinem Konrad Bolz poetisch eingehaucht hat. – 1851 erstand er auf ärztlichen Rath im Dorfe Siebleben nahe bei Gotha ein einfach behagliches Landhaus mit ausgedehntem Garten, das funfzig Jahr früher im gastfreien Besitz des Ministers v. Frankenberg im Goethe’schen Kreise den Namen der „guten Schmiede“ [756] geführt. Seitdem wechselte F. in der Leitung der „Grenzboten“ halbjährig ab mit Julian Schmidt, seit dessen Abgang nach Berlin 1861 mit dem öffentlich bestellten Redacteur – bis 1866 Moritz Busch, bis 1870 Julius Eckardt. Freundwillige Theilnahme vergönnte er indeß den geliebten Grünen auch in der Sommerfrische unablässig; schon von 1857 an ist er, da Schmidt sich mehr und mehr anderen Aufgaben widmete, allein als die Seele der Zeitschrift zu betrachten. Der Siebleber Aufenthalt war dazu angethan, Freytags Leipziger Dasein sogar im Hinblick auf menschliche Verhältnisse lehrreich zu ergänzen. Vertiefte er dort seine Kunde des bürgerlichen Wesens in Gewerb und Wissenschaft, so schaute er hier im Umgang mit Dorfgenossen dem Bauer ins Gemüth, und die Gothaer Nachbarschaft zeigte ihm das Geberdenspiel des Fürstenhofes. Herzog Ernst II. nahm ihn entgegenkommend unter seine Vertrauten auf. Eifrig betheiligte sich der Dichter 1853–54 an allen Bestrebungen des Litterarisch-politischen Vereins, den der Herzog gegründet, um eine Wiederbelebung der liberalen Partei durch die Presse anzubahnen. Er zog sich dabei als Beförderer der Autographirten Correspondenz einen Haftbefehl von seiten der reactionären preußischen Regierung zu, wogegen ihn Herzog Ernst durch Ernennung zum Vorleser mit dem Hofrathstitel sichern mußte. Das Amt blieb ein Vorwand, F. in jedem Sinne sein eigener Herr. Freimüthig hat er die Seitensprünge des ehrgeizigen Fürsten in der deutschen Politik gerügt, dessen sonstige Untugenden wenigstens nie beschönigt; dennoch hielten sie, liberal und weltbewandert, in wohlwollender Kameradschaft lebenslang zusammen. Doch der wahrste Gewinn, den F. aus seiner Thüringer Scholle zog, bestand im Gegensatz zu jeder äußeren Anregung vielmehr in der Freiheit, in reiner Friedensluft einsam zu sinnen und zu bilden: unter Vogelgesang und Blüthenduft sind ihm all seine dauernden Werke dort erwachsen.

Gleich die nächsten Jahre bezeichnen die Höhe seiner Dichtung: im Sommer 1852 schrieb er das Lustspiel „Die Journalisten“, unstreitig schlechthin die ruhmwürdigste Leistung seiner Feder, von 1853–55 den Roman „Soll und Haben“, Jahrzehnte hindurch das meistgelesene Buch im Bereiche des edleren deutschen Schriftthums überhaupt; beide zusammen litterarhistorisch von hervorstechender Bedeutung als poetischer Ausdruck des allgemeinen Charakters ihrer Zeit. „Die Journalisten“ erreichten dies Ziel mühelos genial ohne überlegte Absicht. Noch im vollen Besitze der sorgsam erlernten scenischen Kunst, griff F. einfach hinein in die jüngst persönlich erlebte Wirklichkeit des halb ernsten, halb komischen Treibens der deutschen Parteien und der damals vom anmuthigen Leichtsinn der Jugend erfüllten Presse. Ohne die eigene liberale Gesinnung ängstlich zu verhüllen, wußte er doch in unbefangenem Humor den zeitgetränkten Gegenstand in eine so menschlich gemeingültige Höhe zu erheben, daß das Ganze nach Art aller echten Poesie vor der Gefahr behütet ward, innerlich zu veralten. Gleich die Zeitgenossen begrüßten das Stück als unser bestes Lustspiel nach der Minna Lessings; und wenigstens darin kommt es dieser gleich, daß, wie dort die Epoche des siebenjährigen Krieges, so hier die der deutschen Revolution im Spiegel des heiteren Dramas treu verewigt worden. Eine köstliche Seltenheit gerade in unserer Litteratur; auch hernach sollten „Die Journalisten“ in ihrer Gattung den Jahrhundertpreis ohne ernstlichen Wettbewerb behaupten. – Auch einmal im Romane sein nun auf der Bühne so glänzend bewährtes Talent zu offenbaren, wurde F. zuerst von außen, durch freundliche Zurede Haupts, bestimmt. Daß er hier dann sogleich beim ersten Versuch sein Bestes zu leisten vermochte, nimmt nicht Wunder. Bereits als Dramatiker hatte er sich ganz allgemein an planvoll bewußte Kunstarbeit gewöhnt; [757] wie dort bei Franzosen, war er für den Roman längst still bei Engländern in die Schule gegangen. Den wohlgefügten Aufbau der Handlung verdankt er, wie er selber einräumt, Scott, die humoristische Zeichnung und Beleuchtung der Menschen und Dinge sichtlich vielfach Dickens; besonders an Copperfield fühlen wir uns durch „Soll und Haben“ angenehm erinnert. Es versteht sich von selbst, daß er nicht nur das Muster der Form nachschaffend in deutsche Empfindung übertrug, sondern Stoff und Gehalt durchweg aus äußerer und innerer Lebenserfahrung schöpfte. Ja, er kündigte geradezu ein neues Programm an mit den Worten Julian Schmidts: „Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit“. Es war, was die Grenzboten stets den nichtigen Phantasien der romantisch-jungdeutschen Epigonen entgegengehalten: das Gebot poetischer Wahrheit gegenüber den lebendigen Interessen des Zeitalters. Poetischer allerdings –, denn keineswegs kam es F. bei seinem Handels- und Landwirthschaftsroman allein auf die Treue der Schilderung des Realen an, worauf der jüngere Naturalismus höchst äußerlich den Accent der Kunstthätigkeit zu verlegen suchte. Er glaubte vielmehr an die innere Hoheit der Güter erzeugenden Arbeit, die er deshalb der Idealisirung für ebenso fähig wie würdig hielt. Man mag ferner, um den Abstand der Zeiten culturhistorisch zu ermessen, ganz recht auf den Gegensatz zwischen dem bürgerlich-sittlichen Erziehungsideal in „Soll und Haben“ und dem ästhetisch-individuellen in Wilhelm Meisters Lehrjahren hinweisen; nur beachte man wohl, daß schon der greise Goethe selbst, in den Wanderjahren wie am Schlusse seines Faust, dem Gedanken einer poetischen Verherrlichung der gemeinnützigen Arbeit weit entgegenkam. Jedenfalls that F. mit seiner neuen Leistung abermals auch den Besten seiner Zeit genug; mochte der beispiellose Erfolg beim großen Publicum zum Theil auf der Sympathie mit dem zeitgemäßen Gegenstande beruhen, seine tiefe und anhaltende Wirkung verdankt ohne Zweifel auch dieses Dichtwerk dem künstlerischen Verdienst. F. selber lag bei der Ausführung nichts so sehr am Herzen, als daß es wirklich „schön“ werde.

F. dachte im Feuer der Productivität schon an einen zweiten Roman, doch ließ ihn vermehrte journalistische Arbeit nicht so bald dazu gelangen. Da politisch bei der matten Stimmung der funfziger Jahre wenig Stoff vorhanden war – nur die Entwicklung Napoleons III. verfolgte er mit psychologisch eingehender Theilnahme –, so mußte die Wochenschrift mit anderen Materien gespeist werden, die F. auf wissenschaftlichem Wege zu beschaffen suchte. So ließ er in den „Grenzboten“ eine Anzahl einzelner Skizzen aus der deutschen Culturgeschichte erscheinen, wofür er mit Hülfe Hirzels, dem er seinerseits bei der Jagd nach Goethereliquien nicht ohne drolligen Spott an die Hand ging, nach und nach eine ansehnliche Menge seltener Flugschriften zusammenbrachte. Da trat 1854–56 Mommsens Römische Geschichte ans Licht, und F. ergab sich als Freund mit doppelter Bewunderung ihrem litterarischen Zauber. Er faßte den kühnen Entschluß, sich an ein Trauerspiel zu wagen, das den Untergang des fabischen Adelsgeschlechts im Ständekampfe zum Vorwurf nahm. Zwei Jahre, bis zum Frühling 1859, nahm das Werk in Anspruch; denn wieder erwog er dabei die besondere Technik der tragischen Dichtung mit dem größten Ernst. Beim Schaffen empfand er selber den höchsten poetischen Genuß, und noch 1893, kurz vor seinem Ende, sprach er die Meinung aus, daß „Die Fabier“ wohl das Stärkste seien, was er je geschrieben. Trotzdem errang das in Jamben verfaßte Stück seinerzeit auf und außer der Bühne nur einen stattlichen Achtungserfolg. Selbst die Schillerpreiscommission wollte es 1860 nur zur Hälfte neben einem anderen Drama krönen, was den Dichter stolz [758] auf jegliche Anerkennung verzichten ließ. F. suchte, wie es zu gehen pflegt, hinterdrein die Schuld im Niedergang des Theaters und der Verweichlichung des Publicums. Wie auch immer, unleugbar ist, daß die tragische Kunst seiner heiteren Natur im Grunde ferner lag. Dazu kommt, daß der realistische Wahrheitsdrang, der seiner modernen Dichtung überaus förderlich war, im historisch-poetischen Fach ihm umgekehrt eher im Wege stand. War ihm schon die Idee doch eigentlich aus wissenschaftlichem Interesse an der uralten Geschlechterverfassung entsprungen, so hatte er sich auch bei der Ausführung nicht ganz von gelehrt antiquarischem Anempfinden frei gehalten. Was der warme Freund Baudissin, der Shakespeareübersetzer, ihm begeistert schrieb: im Coriolan sehe man englische Römer, in den „Fabiern“ echte, das enthielt unwillkürlich eine den schwachen ästhetischen Beifall mit erklärende Kritik. Das übelste war, daß F. fortan sich vom ganzen dramatischen Felde zurückzog; er hat wol noch öfters, namentlich zum Lustspiel, selbst in Versen, Neigung verspürt, in der That jedoch nie mehr die Hand an ein Bühnenwerk gelegt. – Blieb ihm als Tragiker so ein gleicher Triumph wie als Komiker und Phantasieerzähler versagt, so sollte er unmittelbar darauf statt dessen den eines nationalen Geschichtschreibers feiern. In den Jahren 1859–61 vereinigte und ergänzte er jene in den „Grenzboten“ zerstreuten culturhistorischen Skizzen zu einem Buche, den „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“, dem dritten seiner Meisterwerke. Es waren zunächst nur drei Bände, die neuere Zeit vom Beginne des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. umfassend. Nicht allein lag ihm selbst die moderne Entwicklung seines Volks auch historisch vorzüglich am Herzen: vor allem flossen die Quellen, wie er sie brauchte, persönliche Geständnisse Einzelner, hier erst in reich1icher Fülle. Der Reiz der ganzen Betrachtungsweise ließ sich indeß schon in solcher Einschränkung entfalten und genießen. Was F. gab, war nach seiner vorlängst ergriffenen eigensten Idee ein großes Stück Geschichte der von Grimms Romantik wesentlich wandellos gedachten deutschen Volksseele in ihrem wirklichen Werdegang durch äußerlich zu sondernde, innerlich zusammenhangende Epochen. In der Kunst des historischen Querschnitts hat er dabei offenbar von Macaulay’s berühmtem Capitel über das England von 1685 gelernt. Desto entschiedener gehören ihm selbst die in der Längsrichtung angestellten Beobachtungen des Steigens und Sinkens der individuell vertheilten Volkskraft bei erhebenden und niederdrückenden Phasen des Gesammtgeschicks, wie des stetigen Fortgangs von gemeinschaftlicher Gebundenheit zur Befreiung des Einzelnen im Fühlen, Denken und Wollen. Eine innere Culturgeschichte, der die äußere keineswegs fehlt; denn im Gemüthe der Menschen weist uns F. zugleich das Spiegelbild der umgebenden Welt und der Schicksalsläufte. Individuelles und Typisches wird dabei umsichtig abgegrenzt; aus der Masse ragen die Helden – wie Luther und Friedrich der Große – einsam auf, auch sie als großes Erlebniß der Nation gedacht, das ihr geheimnißvoll aus den eigenen Säften zubereitet wird. Alles dies bietet uns die anmuthige Erzählung und Schilderung als Ertrag echt wissenschaftlicher Forschung dar; Poesie ist nur soviel darin, als sie zum Geschäft der historischen Muse an sich gehört, – von einem Uebergriff aus der einen in die andere Sphäre kann in dieser Richtung bei F. nicht die Rede sein.

Mit der Ursprünglichkeit und Bedeutung der Schöpfungen Freytags im Jahrzehnt von 1852–61 – es umspannte die eigene Lebenszeit von der Mitte der Dreißig bis zu der der Vierzig – hält sein emsiges Thun im entsprechenden folgenden Zeitraume bis zur Reichsgründung den Vergleich nicht aus; es handelt sich meist um Abrundung des Gebiets seiner schriftstellerischen Herrschaft, geeignet, Achtung und Liebe des Publicums, nicht sowohl mehr zu [759] steigern, als hie und da zu befestigen oder zu erweitern. 1862 wurde, gleichfalls durch Grenzbotenartikel vorbereitet, die „Technik des Dramas“ im Zusammenhang verfaßt, ein Lehrbuch der Bühnendichtkunst ernster Gattung, gestützt auf eindringende Untersuchung der Praxis des Sophokles, Shakespeare und der deutschen Classiker. Weit mehr als die „Bilder“ erinnert dies Werk daran, daß F. beinah Gelehrter und Lehrer von Profession geworden; es sind gleichsam verhaltene Vorlesungen über einen Abschnitt der Poetik, mit all der umständlichen Herablassung ausgeführt, die sich für solche ziemt. Wirklich wünschte der Dichter dadurch rathlosen Talenten behülflich zu sein, Unberufene abzuschrecken und sich selbst vor der oft erfahrenen directen Zudringlichkeit der einen wie der anderen besser zu schützen, welches letzte ihm leider herzlich schlecht gelang. Das Buch hat, wie alles Theoretische unter Deutschen, bei wirklichen und vermeinten Sachverständigen vielfach Widerspruch erregt; nichtsdestominder stellt es die triftigste Ueberlegung dar, die seit Lessings Dramaturgie dem schwierigen Gegenstande gewidmet ist, und hat mit dazu beigetragen, die moderne Litteraturwissenschaft, was bei anderen Künsten längst in Uebung war, von unbestimmt ästhetischen Wegen auf technologische hinzuleiten. – Gleichzeitig hatte F. seinen lange begehrten zweiten Roman begonnen, der, aufgehalten durch das dringende Interesse an der Sache Schleswig-Holsteins, erst Ende 1864 fertig ward. „Die verlorene Handschrift“ bildet ein fühlbar schwächeres Gegenstück zu „Soll und Haben“. Neben dem Landleben, das hier mehr beiläufig idyllisch zur Verwendung kommt, steht diesmal im Mittelpunkt statt der kaufmännischen die gelehrte Arbeit. Mit der hellen Erscheinung des Professorenthums in seinen Stärken und Schwächen contrastirt außerdem höchst wirksam die Sonderwelt der Fürstlichkeiten, fast so düster gemalt wie im ersten Roman die der jüdischen Kreise. Zum Motiv der Fabel gab zufällig wiederum Haupt die Anregung, für die Gestalt des Helden war er das vornehmste Modell; einen Fürstenroman hatte schon vor Jahren Herzog Ernst empfohlen. Und so sind auch sonst die jüngeren Eindrücke von Leipzig und Gotha nun an die Stelle der älteren, schlesischen getreten. Die neue Dichtung ist sicher entworfen und wohlgeformt, aber nicht mehr so deutlich aus einem Guß, minder einfach und häufiger subjectiv, der Humor bereits etwas künstlich übertrieben. Die Figur der Ilse bezeichnet Freytags, vielleicht zu erhaben gerathenes, weibliches Ideal. Der Erfolg des Werkes hielt sich natürlich enger an akademisch gebildete Cirkel, immerhin war der Absatz mindestens halb so groß wie bei „Soll und Haben“. – Auf Wunsch des Verlegers wurden sodann die nächsten Jahre bis Ende 1867 dem mühsamen Unternehmen geweiht, die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ durch zwei weitere Bände, von der germanischen Frühzeit bis zum Ausgang des Mittelalters reichend, rückwärts zu ergänzen. Beim empfindlichen Mangel an ausdrücklichen Selbstbekenntnissen unserer früheren Vorfahren sah sich F. genöthigt, hier viel entschiedener den Weg combinirender Alterthumsforschung zu beschreiten, was deren fortwährender Ausbildung gegenüber an einzelnen Stellen zu nicht unbedingt haltbaren Ergebnissen führen mochte. An anderen wieder war gerade poetische Ahnung dazu angethan, einleuchtende Wahrheit historischer Auffassung zu erreichen: das Bild Karls des Großen gibt dem der neueren Helden nichts an monumentaler Gemüthsdarstellung nach. Das vollendete Ganze ward so zu einem der schönsten Denkmäler des historisch gestimmten Jahrhunderts. „Ein solches Werk besitzen weder die Franzosen noch die Engländer, und wir können stolz darauf sein“, urtheilte Baudissin mit Recht; „eines der seltenen Geschichtswerke, welche von Frauen verstanden und mit Freude gelesen werden können“, betonte Treitschke –, hat es doch dann gerade auf dessen Geschichtschreibung in [760] ihrer seelenvoll farbenreichen Art unberechenbar großen Einfluß ausgeübt. – F. hatte sich längst aus den Fesseln der Forscherarbeit zur „Poeterei“ zurückgesehnt, doch von neuem sperrte ihn ein dringendes Pflichtgefühl des Herzens von der freien Luft der Dichtung ab. Von 1857–62 hatte er in Gotha und Leipzig mit Karl Mathy trauten Verkehr gepflogen; zu diesem Charakter von naiver Größe, dem durchs Leben beispiellos geschulten Patrioten blickte er liebevoll empor. Nach seinem Hingang beschloß er, ihm ein Denkmal zu setzen: „der Freund dem Freunde, ein Journalist dem anderen, der Preuße dankbar dem Badenser.“ Das 1869 geschriebene Buch wurde zum glänzenden Meisterstück biographischer Kunst, die F. sonst nur in kleinen Charakterbildern der Freunde früher und später zierlich ausgeübt. Es schließt sich zudem insofern den „Bildern“ hochwillkommen an, als uns hier das süddeutsche Volksleben des 19. Jahrhunderts in seiner eigenthümlichen nationalen Bedeutung erst in voller Anschaulichkeit entgegentritt.

Von der Mitte der funfziger Jahre, nachdem „Soll und Haben“ dem Autor die breiteste Popularität erworben, bis gegen Ende der sechziger, wo die Anzeichen eines fortschreitenden körperlich-geistigen Leidens seiner Gattin Sorge in sein Haus einführten, stand F. hochbeglückt, in der Vollkraft männlichen Alters schaffend und hoffend da. Seinen Ruhm genoß er mit fröhlicher Bescheidenheit. Mißgünstige Gegner, unter denen nur Gutzkow früher von Bedeutung gewesen, ließ er ihres Weges ziehen, übertriebene Verehrung beschwichtigte er durch Humor. Joviale Liebenswürdigkeit und sichere Selbstbeherrschung hielten sich in seinem Betragen das Gleichgewicht. Sein Gespräch war munter und gründlich zugleich, seine fleißige Correspondenz auch in scherzhafter Laune gediegen. Sein ganzes Wesen athmete geistige Gesundheit, die er sich, ebenso wie die leibliche, durch sein Zugvogelleben zwischen Stadt und Land, einen geregelten Wechsel von Aufnehmen und Darbieten frisch bewahrte. Was der junge Docent vergeblich angestrebt, die gleichmäßig fruchtbare Verbindung von Poesie und Denkarbeit, war dem gereiften Schriftsteller wundervoll gelungen. Eine reichgebildete Persönlichkeit von anspruchsloser Originalität, unermüdlich lernbegierig noch nach allen Seiten, warmherzig, dienstfertig, gastfrei, ehrenfest – so stand er den Seinen unwandelbar gegenüber. So vielseitig übrigens seine Beziehungen schon um der journalistischen Zwecke willen waren, so blieb doch selbst da ein näheres Verhältniß auf die politisch wesentlich Einverstandenen beschränkt, und das gleiche gilt von Freytags persönlichem Umgangskreis in Leipzig. Was sich dort mit ihm und dem Stabe der „Grenzboten“ zum Glase Bier „am runden Tisch bei Kitzing“ abendlich susammenfand, waren Gelehrte, Männer aus der Verwaltung oder dem Geschäft, die der Blick auf das Vaterland vereinigte; darunter im Winter 1862 neben Mathy auch der junge Treitschke. Da dachte man preußisch-deutsch und grundsätzlich liberal und erblickte das wahre Heil in der Unzertrennlichkeit beider Ideale. Freytags ganze politische Stimmung, Bestrebung und Wirksamkeit läßt sich aus diesem einfachen, seiner Generation so angemessenen Gesichtspunkt begreifen. – In den funfziger Jahren während der Manteuffelschen Reaction erwarb sich sein Blatt das Verdienst, durch stärkenden Zuspruch viele der deutschen Gebildeten in der einen wie der anderen Hinsicht bei unverzagter Gesinnung festzuhalten; es begrüßte sodann die neue Aera hoffnungsvoll, F. selbst betheiligte sich am Nationalverein als dem Anfang einer gesunden deutschen Parteibildung. Dann kam der Conflict und das Ministerium Bismarck: die preußische Machtpolitik, die für Deutschland die Zukunft im Schoße trug, schlug nicht ohne Schuld des Liberalismus diesem entgegengesetzte Wege ein. Kein Wunder, daß F. in solchem Zwiespalt mit Tausenden [761] fest auf der liberalen Seite stand. Zwar den Gegnern Preußens schloß er sich niemals treulos an. Auf die Sache Augustenburgs, der er im ersten Moment in Gotha mit Hingebung persönlich diente, ließ er sich, da er dessen engherzige Schwäche rasch durchschaute, doch nicht tiefer ein. Viel langsamer aber, nicht etwa bloß als einem Treitschke, sondern als der Mehrzahl befreundeter Patrioten, stieg ihm eine Ahnung von dem gewaltigen Ernst der weltgeschichtlichen Sendung Bismarcks auf. Mit dem Coburger Hof, mit dem Kreise des preußischen Kronprinzen, den er 1860 durch seinen Herzog kennen gelernt und dessen englischer Gemahlin er weitgehende Bewunderung widmete, hielt er wahren Erfolg einer der öffentlichen Meinung hohnsprechenden Staatskunst für unmöglich. Krieg und Sieg von 1866 überführten ihn vom Gegentheil; hoch erfreut bewillkommnete er die Resultate. Ja, er ließ sich verleiten, in einer anonymen Flugschrift „Was wird aus Sachsen?“ die Annexion auch dieses Staates zu empfehlen, der ihm einst wie Gotha Schutz gegen preußische Verfolgung gewährt hatte. Freunde fanden die Schrift „nicht so ehrlich im Ausdruck wie sonst alles von Gustav F.“; er selbst hat nach Jahren die Weissagung, Sachsen werde sich nie in den Bundesstaat schicken, reuig als falsch erkannt. Im Februar 1867 ließ er sich von einem Thüringer Wahlkreis in den Norddeutschen Reichstag senden. Dort trat er den Nationalliberalen bei, aber sprach nur einmal, unglücklich, der Tagesordnung zuwider; nach Schluß der Session verzichtete er für immer auf ein parlamentarisches Mandat, im Gefühl, daß praktische Politik in dieser Gestalt nicht seines Amtes sei. Sie war und blieb es wol eigentlich auch in jeder anderen nicht, wenn man absieht von jenem schönen journalistischen Beruf, wie er ihn faßte und im gegebenen Moment so glücklich ausübte: dem Beruf eines Predigers bürgerlich-politischer Moral, eines vaterländischen Seelsorgers und Gewissensraths im allgemeinen. Wo es galt, ein Geschick, eine Aufgabe der Zeit seinen lieben Deutschen eindringlich zu Gemüthe zu führen, da war niemand besser am publicistischen Platz, als er. Allein er täuschte sich, wenn er nach seiner Vorstellung von der Volksseele für selbstverständlich hielt, daß nun diese aus sich heraus die Welt von unten her gestalte. Eben darum blieb ihm auch später der obere Lenker des deutschen Schicksals unheimlich. Trübe Kunde aus höfischen Quellen hat sichtlich dazu mitgewirkt, aber er setzte hinter jede große Eigenschaft, die er an Bismarck anerkannte, doch auch seinerseits ein widerstrebendes Fragezeichen; und wenn er sich auch zuletzt „in constantem Verhältniß stiller Dankbarkeit zu ihm“ befand, so erschien ihm doch die heroische Größe des Einzelnen im allgemeinen Interesse verhängnißvoll: „wir werden noch lange daran zu tragen haben, daß die politische Kraft der Nation sich durch Jahrzehnte in Einem Mann personificirt hat.“ In die historisch-poetische Beschaulichkeit, in der er die gleichfalls dämonischen Helden der „deutschen Vergangenheit“ gewürdigt hatte, mochte F. sich gegenüber der Gegenwart nicht versenken.

In den letzten sechziger Jahren zeichneten Kronprinz und Kronprinzeß von Preußen F. offenkundig aus; mancher glaubte, daß sie ihm einen hervorragenden Platz in dem liberalen Culturregiment zudächten, wie es ihnen für die Zukunft vorschwebte. F. war zu klug, um sich je in solchem Sinne auszulassen; „je älter man wird“, schreibt er gerade im Herbst 1868, „um so mehr lernt man das Glück bescheidener Erdenstellung kennen“. Dagegen schloß er sich gern im französischen Feldzug von 1870 auf Wunsch des Kronprinzen dessen Hauptquartier an und hat dies über Wörth und Sedan bis nach Reims begleitet, wo er, des müßigen Umherziehens müde, Urlaub nahm. Der Begebenheit sah er nicht ganz ohne technisches Sachverständniß zu; hatte er doch [762] seit einigen Jahren in Thüringen Freundschaft mit Albrecht v. Stosch, dem späteren General und Admiral, geschlossen und nach seiner Gewohnheit seitdem auch dem Heeres- und Kriegswesen eingehendes Interesse zugewandt. Zu officieller Schreibarbeit, auf die er gerechnet hatte, fand sich keine Gelegenheit, zu journalistischer Berichterstattung wenig Zeit; aber was er erlebte, der Krieg und die aus ihm hervorgehende politische Schöpfung, machte in seinem Dasein als Autor noch einmal Epoche. Es bezeichnet ihn, daß er dem Kronprinzen statt des Kaisertitels den eines Herzogs von Deutschland anrieth, weil er in jenem Verführung der Hohenzollern zu Prunk und Hoffahrt witterte, – daß ihm die geringste Zuchtlosigkeit des siegreichen Heeres und somit die Gefahr einer Sittenverwilderung seines Volks weit tiefer zu Herzen ging, als die Eindrücke der leiblichen Verwundung und des Todes. Es bezeichnet ihn ferner, wie er nunmehr war, daß die furchtbare Wirklichkeit des heutigen Kriegs das Andenken älterer deutscher Kämpfe in ihm wachrief: noch einmal fühlte er sich als Poet realistisch angeregt, doch es war der Autor der Bilder aus der Vergangenheit, der auf dem Schlachtfeld den Plan zu einem historischen Romancyklus faßte. – Nach der Heimkehr traf ihn zunächst ein überraschender Schlag. Der Verleger der „Grenzboten“, Grunow, durch einen kirchlich polemischen Artikel aus seiner sonstigen Gleichgültigkeit aufgeschreckt, ersteigerte Ende 1870 meistbietend dem Vertrage gemäß den Eigenthumsantheil Freytags an dem Blatte und legte dessen Redaction in fremde Hände. Sofort jedoch gründete Hirzel unter dem von F. erdachten Namen „Im neuen Reich“ eine ähnliche Wochenschrift, deren Herausgabe dieser allerdings, durch Versprechen gebunden, nicht übernehmen durfte, der er indeß als überlegener Berather und vornehmster Mitarbeiter anfangs den Stempel seines Wesens aufdrückte. Der große Moment und die Freude des deutschen Publicums, den Zuruf des alten Begleiters auf hindernißreicher Bahn auch am Ziele der nationalen Bewegung schwungvoll zu vernehmen, verschaffte dem Blatte sogleich erstaunlichen Erfolg, dessen Höhe freilich nur kurze Zeit zu behaupten war. F. selber, von wachsender häuslicher Sorge bedrängt, hielt es, um seine Kraft auf die neue poetische Arbeit zu concentriren, im Sommer 1873 für gerathen, sich nach einem Vierteljahrhundert treu geliebter Thätigkeit als Veteran der Journalistik still auf sich zurückzuziehen. Auch hier machte er wol zu rechter Stunde Halt: im wirklichen neuen Reich kamen andere, politische wie litterarische, Richtungen empor, die nach eigener Gefühls- und Ausdrucksweise verlangten. – Unterdeß war Ende 1872 der erste Band der „Ahnen“ erschienen, dem in je einjährigem Abstand der zweite und dritte, sodann in je zweijährigem bis 1880 noch drei weitere folgten; da der erste und fünfte für sich aus zwei gleichmäßig abgerundeten Geschichten bestehen, sind es im ganzen acht, mit dem angehängten Schlusse sogar neun erdichtete Erzählungen, in denen das Schicksal einer deutschen Familie von der Mitte des 4. bis zu der des 19. Jahrhunderts, vom vandalischen Königsohn bis zum schlesischen[WS 1] Journalisten herab, in culturhistorisch gesonderten Epochen vorgetragen wird. Ein großartiges Unternehmen, werth, daß ein gefeierter, völlig ausgereifter Dichter sich entschloß, ihm die Abschiedsflüge geschäftiger Phantasie um die Zeit seines sechzigsten Lebensjahres zu weihen. Auch das Publicum jener Tage hat sich solcher Erscheinung würdig gezeigt: gerade die ersten, durch ihre Form befremdenden Weihnachtsgeschenke aus dem Ahnenschatze nahm es aus Freytags Händen herzlich dankbar, hie und da mit Jubel an; daß der Beifall allmählich nachließ, lag im Laufe der Dinge. Denn im einzelnen nahm man schon damals von „Ingo und Ingraban“ über das „Nest der Zaunkönige“ zu den „Brüdern aus dem deutschen Hause“ hin ein leises Sinken der hervorbringenden [763] Kräfte wahr, das sich nach neuem Aufschwung im „Marcus König“ durch die „Geschwister“ bis zur „kleinen Stadt“ in empfindlich verstärktem Maße wiederholte; und die Betrachtung des Ganzen vermochte am Ende über diese Thatsache, die sich zum Theil aus persönlich lähmenden Umständen des Dichters erklärt, keineswegs hinwegzutrösten. Heute sehen wir über die wesentlichen Gründe klar, welche dieser letzten und umfangreichsten Schöpfung Freytags eine dauernde Geltung im Rang seiner früheren Meisterwerke entzogen haben. Was bei den „Fabiern“ beiläufig zu bemerken war, das hat bei den „Ahnen“ in jeder Hinsicht statt: eine Störung der Kunst durch die Wissenschaft des Autors. Nicht als hätte F. irgend bewußt didaktische Zwecke verfolgt, wie vor und nach ihm die Verfasser sogenannter Professorenromane; er wünschte und glaubte vielmehr, alles an und in den Geschichten der „Ahnen“ nach rein künstlerischen Principien zu erfinden und zu gestalten, und poetische Composition, Motive, Figuren trifft man darin zur Genüge. Eben zu seinen Kunstprincipien gehörte jedoch der Grundsatz der Wahrheit im Sinne realer Möglichkeit, und so gab er denn hier, wo er um diese für jede Epoche nur allzu gut Bescheid wußte, seiner Einbildungskraft in Bezug auf Handlung, Farbe und Ton die strengsten Verhaltungsmaßregeln auf den Weg. Er glaubte, den Gehalt seiner Bilder aus der deutschen Vergangenheit in Poesie umschmelzen zu können, ohne ihn zuvor seines wissenschaftlichen Charakters zu entkleiden; selbst das innerlich Künstlerische gewann dadurch oft den äußeren Anschein bloßer Künstlichkeit. So im einzelnen; mehr noch litt die an sich ein souveränes Verfahren der Poesie geradezu herausfordernde Idee des Ganzen. Auch hier war F. zu schüchtern oder zu nüchtern, um die geheimnißvolle Abhängigkeit des individuellen Menschendaseins und -geschicks von den geschichtlich angestammten Elementen, an der er in den Bildern als Forscher mit Recht nur hindeutend vorbeiging, als freier Künstler in idealer Glaubwürdigkeit zu erdichten. Und so läßt sich das Werk litterarhistorisch mehr als merkwürdiges Nebenproduct bezeichnen und schätzen; Freytags unvergänglicher Name, der auf den Bildern so wesentlich mit beruht, konnte durch die „Ahnen“ keinen volleren Klang gewinnen.

„Mit großer Selbstüberwindung und geringer Freude an der Arbeit“ hatte F. die Ahnen abgeschlossen; ob er „jetzt noch im Stande sein werde, irgend etwas anderes zu machen“, schien ihm äußerst ungewiß. Hatte er doch schon Jahre daher unter schwerem Drucke häuslichen Ungemachs gelebt. Nachdem die langsame Auflösung seiner ersten Gattin im Herbst 1875 ihr trauriges Ziel erreicht, ging der Sechziger mit Marie Dietrich, einer Gehülfin seiner Hauswirthschaft, eine zweite Verbindung ein, aus der ihm zwei Söhne geboren wurden. Die Mutter verfiel jedoch ebenfalls einem unheilbar anschwellenden nervösen Leiden, das im Sommer 1884 ihre dauernde Ueberführung in eine Pfleganstalt erforderte. Kurz zuvor war der jüngere Knabe der Diphtheritis erlegen, während der ältere von den erlebten Schreckensscenen eine heftige Erschütterung seiner Gesundheit davontrug, sodaß er dem Vater Jahrelang ein schonungsbedürftiges Angstkind blieb. Der alternde Mann, auch am eigenen Leibe durch Nieskrampf und Athembeschwerden lästig heimgesucht, brauchte seine ganze Seelenstärke, um diesem gehäuften Jammer still zu widerstehen. Schon 1876 hatte er anstatt Leipzigs das wärmere Wiesbaden aufgesucht; 1878 verlegte er seinen Winterwohnsitz ganz dorthin, wo er 1881 sein letztes Heim, Haus und Garten in der später nach ihm benannten Straße, zueigen erwarb. Die gewünschte körperliche Erquickung fand er bald, die Erfrischung geistiger Ansprache mußte er entbehren; einzig der altvertraute Stosch, der sich 1883 aus dem Staatsdienst scheidend im nahen Oestrich ankaufte, bot zuweilen Gelegenheit [764] zu ebenbürtigem Verkehr. Die in dieser Zeit immer nur kurzen Sommeraufenthalte in Siebleben gewährten nichts, als einsame Erholung; auch der Briefwechsel mit der zusammensterbenden Schaar auswärtiger Freunde wurde selten und inhaltsärmer. Den Weltlauf sah F. auch jetzt mit gewohnter Aufmerksamkeit, aber ohne starke Gemüthsbewegung vorüberziehen. Die schöne Litteratur des Tages ließ er fast unberührt, nur von Konrad Ferdinand Meyer fühlte er sich angezogen; Treitschke’s deutsche Geschichte genoß er mit tiefem persönlichen Antheil, wenn auch stets mit liberalem Vorbehalt. Am liebsten kehrte er in ruhigen Stunden „zu den alten Bekannten, fast sämmtlich Engländern“ zurück: Scott, Dickens, Macaulay, selbst Cooper nicht ausgeschlossen. Realistische Nahrung bot ihm neben der kriegsgeschichtlichen Lectüre besonders die der modernen Reisebeschreibungen dar, ungeachtet der „großen Einförmigkeit der afrikanischen Verhältnisse“. Es war, wie man sieht, keine todte, jedoch eine überaus matte Zeit: aus dem fröhlichsten Geist in Deutschland war einer der traurigsten geworden – woher sollte er den Muth schöpfen, andere noch wie einst durch neue schriftstellerische Leistungen zu erheben? Das im Herbst 1883 ausgegebene Büchlein „Doctor Luther, eine Schilderung“, war nur ein wenig überarbeiteter Ausschnitt aus den Bildern, den F. auf Wunsch von Geistlichen und Lehrern als Beisteuer zum Jubiläum des Reformators darbrachte. Sonst kam wol einmal ein Nachruf auf einen geschiedenen Freund zu Stande; die Vorbereitung zur Sammlung der Werke, die einzeln noch unaufhörlich neue Auflagen erlebten, rückte mühsam fort. Erst das Jahr 1886, sein siebzigstes, sollte einen erlösenden Umschwung in Freytags Stimmung herbeiführen. Eine Feier des Jubelgeburtstags verbat er sich öffentlich mit bescheidenem Humor und flüchtete vor persönlicher Huldigung in sein Thüringer Landasyl; aber zahllose Beweise nationaler Erkenntlichkeit erreichten ihn auch dort und dienten dazu, sein Herz mit getrostem Selbstgefühl zu erfüllen. Noch wichtiger ward eine Freundschaft, die er kurz zuvor mit einer Wienerin geschlossen: Frau Anna Strakosch, geborener Götzel, Gattin des Declamators. Diese Dame erwarb sich um F. das doppelte Verdienst, seinem Knaben das Wohlsein, ihm selber die volle Zuversicht zurückzugeben. Er vergalt ihr mit überschwänglicher Dankbarkeit, machte sie alsbald auch in litterarischen Dingen zur Vertrauten und führte sie endlich im März 1891 in dritter Ehe heim, in der ihm ein langentbehrtes Glückgefühl zutheil ward.

Ende 1886 trat F. mit dem ersten Bande seiner „Gesammelten Werke“ ans Licht, die schon 1888 in zweiundzwanzig Bänden vollendet vorlagen. Er verfuhr dabei gegen sich selbst mit männlich kritischer Strenge. Nicht allein schloß er unter den Jugendgedichten eine große Anzahl aus, auch von seinen journalistischen Arbeiten versagte er neun Zehnteln den Zutritt; darunter nicht wenigen trefflichen, durchaus nicht veralteten Aufsätzen, sodaß man neuerdings (1901–1903) eine willkommene Nachlese anstellen konnte. Daß hingegen etwa ein sogenannter Nachlaß auch von ungedruckten Schriften seiner Hand nach seinem Tode der Welt zur Last falle, wußte er mit gleicher Selbstbeherrschung letztwillig zu verhüten. Im übrigen brachte die Gesammtausgabe die einzelnen Werke weislich in unveränderter Gestalt; nur auf die Austilgung unnöthiger Fremdwörter war Bedacht genommen. Wohl aber eröffnete F. das Ganze durch eine neue Gabe: die „Erinnerungen aus seinem Leben“, Denkwürdigkeiten höchst ausgezeichnet in ihrer Art, denen niemand anmerkt, daß sie dem Verfasser „die peinlichste Arbeit“ gekostet hatten. Ebenso ehrlich in dem, was sie mittheilt, wie tactvoll in dem, was sie übergeht, bescheiden und besonnen im Urtheil, im Vortrag anmuthig belebt, reiht sich diese kleine Autobiographie durch ihre erzählenden Partien aufs beste dem Schlusse der Bilder wie dem [765] Mathy an, während die mannigfachen Aufschlüsse, die sie über des Dichters Arbeitsweise und sein poetisches Glaubensbekenntniß gibt, der Technik des Dramas und den verwandten Aufsätzen zur Theorie und Geschichte der Litteratur die Hand reichen. Wie der reichliche Absatz der Werke überhaupt noch einmal Zeugniß ablegte für das fortlebende Ansehen des Autors, so wurden insbesondere die „Erinnerungen“ von all seinen Kennern und Verehrern mit Freuden entgegengenommen, sodaß man wohl wünschen dürfte, sie wären sein letztes Wort ans deutsche Publicum geblieben. Ein betrübendes Ereigniß, der Tod Kaiser Friedrichs III., gestaltete den litterarischen Abschied Freytags leider minder vortheilhaft. – F. hat klarer als andere erkannt und ausgesprochen, daß der frühe Hingang seines hochfürstlichen Gönners den geschichtlichen Ausfall der Herrschaft einer Ideenrichtung bedeute, die mit einer bestimmten Generation verknüpft war und zwar mit seiner eigenen. „Mein Band wird geschlossen, wozu einen neuen anfangen?“ – diese Empfindung wandelte ihn bei dem herzbrechenden Ereigniß des Sommers 1888 an; die rechte Consequenz hat er jedoch hieraus nicht gezogen. Es erfolgte der Unfug der Geffckenschen Publication aus dem Tagebuche Kaiser Friedrichs, Bismarcks Gegenschlag. Kaiserin Friedrich stellte im Mai 1889 in Homburg an F. mit Bezug darauf eine litterarische Zumuthung, die er am einfachsten durch die Bemerkung ablehnen zu können meinte: er selbst gehe mit dem Plan einer Veröffentlichung von Erinnerungen an den Entschlafenen um. So erwuchs ihm aus bloßer Verlegenheit die im October herausgegebene „kleine, aber unangenehme Arbeit“, wie er sie selber nennt: „Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone“. Es ist in der Composition das unvollkommenste Erzeugniß seiner Feder, dem Inhalt nach der entschiedenste Mißgriff, den er je öffentlich beging. Mancherlei Reminiscenzen, darunter solche an seine eigene Stellung zur Kaiserfrage von 1870, wonach kein Mensch Verlangen trug, sind mit einer psychologisch erklügelten Charakteristik des Verstorbenen verbunden, die selbst da, wo sie in einzelnen Zügen das Richtige treffen mochte, doch im Munde eines Freundes in diesem Augenblick überaus lieblos klang. Kaiser Wilhelm II. hatte vorm Druck an dem Wortlaut der Schrift allerdings keinen Anstoß genommen; im Publicum gab sich dagegen nun überwiegend schmerzliche Verstimmung kund, die F., welcher die Fühlung mit der Volksseele verloren zu haben schien, höchlich überraschte. „So groß und so unwiderstehlich“, schreibt er nachträglich, „ist der deutsche Trieb, zu lieben und zu verehren, daß viele lieber auf die Wahrheit verzichten wollen, als auf ihr Ideal – das ist unsere Art.“ Wenn er indeß zu seiner Rechtfertigung hinzusetzt: „Leider drohte diese Traumgestalt gegen die Gegenwart ungerecht zu machen und den Liberalismus in falsche politische Stellung zu bringen“, so verwandelt sich gar der scheinbar so rücksichtslos aufrichtige Wahrheitsdrang in kaltblütige Berechnung eines Parteipolitikers. Freunde Freytags bedauerten, daß er mit diesem Mißton von seinem Volke schied; das letzte, was er als Schriftsteller verfaßt hat, ein hübscher Aufsatz über „Anton Springer als Historiker und Journalist“, der 1892 im Anhang zu dessen Selbstbiographie erschien, ist nicht in weitere Leserkreise gedrungen.

Diesen leichten Schatten hinweggedacht, darf man Freytags Lebensabend hell und heiter nennen. Friedliches Behagen kehrte an seinen Herd zurück; er unternahm wieder Reisen, sah Menschen und blieb immer guter Dinge. Der Fleiß seiner Feder hatte einen vermögenden Mann aus ihm gemacht, auch die Ehren des Alters sammelten sich um seinen Scheitel. Nach Geibels Tode räumten ihm die Ritter des Ordens pour le mérite für Wissenschaft und Kunst den Platz des deutschen Poeten in ihrer Mitte ein, Herzog Ernst versetzte [766] ihn scheidend unter die Excellenzen. Das neu emporkommende Geschlecht der Talente ließ ihn nicht nur ungekränkt, es trat pietätvoll huldigend mit ihm in Berührung. Auch er aber blickte frei von Vorurtheil und nicht ohne Hoffnung auf ihr Suchen und Streben. In der Schillerpreiscommission, der er regelmäßig angehörte, fanden die jungen Dramatiker, Sudermann, Hauptmann, Fulda, nicht selten den wärmsten Fürsprecher just an ihm. In der Stille vermißte er wohl an den Jüngst-, wie einst an den Jungdeutschen „Freudigkeit“; mancher schien ihm „ein Sklave, wo er ein Gebieter sein sollte“. Er selber lebte sich aus in ironisch freiem Humor, beschaulich, zufrieden, dankbar für sein Dasein. Im März 1895 zog er sich durch eine Reise nach Gotha zur Conferenz für ein seinem Herzog bestimmtes Denkmal eine Erkältung zu, die daheim in tödtliche Lungenentzündung ausschlug. In Siebleben fand er seine Ruhestatt. – Gustav F. wird unvergeßlich bleiben, so lange es unter uns ein selbstbewußtes Volksthum gibt. Die Geschichte der Poesie braucht ihn nicht zu überschätzen. Seine Dichtung ist weder besonders reich an Phantasie, noch verräth sie erstaunliche Tiefe des Gemüths, geschweige dämonische Macht der Leidenschaften. Aber nie vielleicht hat ein Dichter aus seinem Talente mehr gemacht; er war stets seiner Waffen Herr und fast immer seiner Ziele sicher. Wie er äußerlich quer durch Mitteldeutschland wanderte, von Schlesien durch Sachsen und Thüringen bis zum Rheingau, gleich fern von der elementaren Gewalt des Meeres und des Hochgebirgs, so war er auch innerlich eine Erscheinung jener rechten Mitte: gegen die hohe Vorzeit gehalten Realist, von moderner Niederung aus betrachtet voller Ideale; ein gesunder Mann von besonnen ermäßigtem Schwung, freier Heiterkeit, fröhlich mittheilsamer Laune; ein Wortführer alles Echten, Gediegenen, Tüchtigen – kurzum ein Poet nach dem Herzen jenes ehrlich schaffenden Bürgerthums, in dem er nicht mit Unrecht die maßgebende Kraft seines Volks in seinen Jugendtagen sah und das er mit warmem Eifer bei Tugend und Glück, in eigenem und fremdem Ansehen zu erhalten trachtete. Wenn man will, gleich Hans Sachs in der Periode der Reformation, der geborene Poet eines Zeitalters von prosaischer Größe. Allein dieser neue Meistersinger und Liebhaber technischer Tabulatur trieb die edelste Hantirung bürgerlich höchstcultivirter Zeit, die Wissenschaft, und erkundete darin für sich und andere das deutsche Wesen. Vergangenheit und Gegenwart, Ideen Jacob Grimms und Impulse Ernst Moritz Arndts, wußte er zu lebendigster Einheit zu verbinden; unablässig bestrebt, nationale Gedanken als solche, sei es in poetischer oder historischer Fassung, in ruhiger Erörterung oder bewegter Ansprache, dem sittlichen und politischen Dasein seines Volkes zuzuführen. Eben hierauf beruht seine breite und nachhaltige Wirkung in einer Epoche, deren wichtigste Aufgabe weit über alles geistige Eigenleben der Litteratur hinaus im durchdachten Zusammennehmen unserer Volkskräfte zur Gründung eines nationalen Staatslebens bestand. –

Hauptquelle Freytags Autobiographie: „Erinnerungen aus meinem Leben“ (Gesammelte Werke Bd. I, 1887); ergänzende Notizen im „Karl Mathy“ (W. Bd. XXII) und in einzelnen der Aufsätze (Bd. XV u. XVI), sowie in der Schrift „Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone“, Leipzig 1889. Daneben ist der Artikel „G. F.“, den der Unterzeichnete 1879 in „Nord und Süd“ veröffentlichte (wiederholt: „Ausgewählte Schriftchen“ von A. D., Leipzig 1898), insofern zu nennen, als F. selbst das noch im Manuscript bewahrte Material dafür zusammengestellt hatte. – Von Correspondenzen liegen gedruckt vor: „G. F. u. Heinrich v. Treitschke im Briefwechsel“, Leipzig 1900, und „G. F. an Salomon Hirzel und die Seinen“, ebd. 1903, leider nicht im Handel; beide Ausgaben vom Unterzeichneten [767] besorgt und eingeleitet. Mehrere andere Briefwechsel, so besonders der umfangreiche mit Wolf Grafen Baudissin und Gemahlin, sind neben persönlichen Erinnerungen und Erkundigungen für den vorstehenden Versuch handschriftlich benutzt worden. Auf die Correspondenz mit Herzog Ernst gründet sich dessen Bericht in seinen Memoiren („Aus meinem Leben und aus meiner Zeit“, Berlin 1887–89, Bd. II u. III) und der Aufsatz von Ottokar Lorenz: „G. F.’s politische Thätigkeit“ (Beil. z. Allg. Zeitung 1896, Nr. 69–71, wiederholt: „Staatsmänner u. Geschichtschreiber d. 19. Jhdts.“, Berlin 1896). Wichtige Briefe auch in den „Denkwürdigkeiten des Generals und Admirals Albrecht v. Stosch“, Stuttgart 1903; einiges Interessante in „Schleswig-Holsteins Befreiung“ von Jansen und Samwer, Wiesbaden 1897. Einen urkundlichen Beitrag lieferte Erich Schmidt: „G. F. als Privatdocent“ (Euphorion, Zeitschr. f. Literaturgesch. IV, 1; 1897). – Unter den Nachrufen zeichnen sich aus: „Dem Andenken Gustav Freytags“, Gedächtnißrede v. Erich Schmidt (Deutsche Rundschau XXI, 9, 1895); „Gustav Freytag als Dramatiker“, von Ludwig Fulda (Deutsche Revue 1896); „Gustav Freytag“, von Ernst Elster („Biogr. Blätter“ hrsg. v. A. Bettelheim Bd. II, Berlin 1896); vgl. von demselben das Vorwort zu den „Vermischten Aufsätzen von G. F.“, Bd. I, Leipzig 1901. Am Schlusse des II. Bds. (1903) ein Verzeichniß der sämmtlichen journalistischen Aufsätze Freytags, aus dessen Nachlaß gedruckt.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schesischen