ADB:Bismarck, Otto Fürst von

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Artikel „Bismarck, Otto Fürst von“ von Max Lenz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 571–775, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bismarck,_Otto_F%C3%BCrst_von&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 03:45 Uhr UTC)
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Bismarck: Otto Eduard Leopold Fürst von B., geboren am 1. April 1815 in Schönhausen, † am 30. Juli 1898 in Friedrichsruh.

Der Ort, von dem die Bismarcks den Namen tragen, liegt links der Elbe, auf altem Sachsenboden, jedoch schon nahe dem Strome, der einst die deutsche und die slavische Race von einander schied; und die Phantasie könnte uns wohl verlocken, die Ahnen des Vorkämpfers unserer Nation, des großen Polenfeindes unter den Colonisatoren zu suchen, die mit Schwert und Pflug gerüstet die deutschen Marken in die Wendengaue vorgeschoben haben. Doch treffen wir den ersten Vorfahren, den die Geschichte nennt, um 1270, Herbert von Bismarck, noch auf der deutschen Seite und unter den Stadtleuten, als wohlbegüterten Aldermann der Wandschneidergilde zu Stendal. Auch seine Söhne und Enkel blieben Städter, Rathsmannen und Mitglieder jener Gilde, und erst ein Urenkel, Claus der Aeltere, hat den Zweig der Familie, den er stiftete, aufs Land hinaus oder auch dahin zurückgeführt. Es geschah nicht freiwillig, sondern infolge des Aufruhrs der Zünfte, die 1345 in Stendal das Stadtregiment gewannen und jenen Bismarck mit anderen Patriciern zum Austritt zwangen. Er blieb darum doch zu seiner Stadt, in der seine Partei bald wieder obsiegte, in Beziehung und hat ihr mit Geld, vielleicht auch mit den Waffen, als Hauptmann des städtischen Heerbanns, gedient; sein Andenken haftet noch an dem Hospital St. Gertrud, das er auf eigenem Grunde vor den Thoren der Stadt erbaute. Als Besitzer der Herrschaft Burgstall, ein paar Meilen südlich von Stendal, mit der ihn Markgraf Ludwig der Aeltere belehnte, unter die „schloßgesessenen“ Familien der Altmark erhoben, gehörten er und sein Haus fortan mit den Knesebecks, Jagows, Alvenslebens dem besseren Landadel an. In der wirrenreichen märkischen Geschichte jener Zeit hat sich dieser Ahnherr des Fürsten einen Namen gemacht. Neffe und Freund des Erzbischofs Dietrich von Magdeburg, ward er Hauptmann in dessen Stift; von jeher ein Anhänger des bayrischen Hauses, erscheint er in seinen alten Tagen als Hofmeister des Markgrafen Otto, zu der Zeit, da Kaiser Karl IV. diesem die Marken abgewann. Bemerkenswerth ist die Stellung der Familie in dieser Zeit zur Kirche: Nicolaus ebenso wie sein Vater Rudolf der Aeltere sind ihrem Bann verfallen, letzterer vielleicht darin gestorben; auch gegen zwei Enkel des ersten Besitzers von Burgstall, Claus und Henning v. Bismarck, hat die Geistlichkeit die schon stumpf gewordene Waffe gebraucht. Die Gründe lagen natürlich wesentlich in materiellen Interessen, doch spielen auch Beziehungen hinein, die auf tiefere Conflicte zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt zurückgehen. Rudolf den Aelteren traf der Bann mit dem ganzen Rath seiner Stadt, weil sie eine Schule gegen den Willen des Domcapitels gegründet hatten; und wenn Claus der Aeltere nach dem Tode seines Oheims mit der Magdeburger Pfaffheit anfänglich auch nur um der Ansprüche willen aneinander gerieth, die er oder sie von seiner Haupmannsstellung her erhoben, so vergiftete sich der Streit für ihn doch dadurch, daß er als Anhänger seines Markgrafen den Pfaffenkaiser gegen sich hatte, der in seinem Feldzuge gegen Otto Roms Hülfe wider alle Bayrischgesinnten „als gegen Meineidige und Verächter der Römischen Kirche“ herbeirief.

Ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Hauses beginnt mit der Umsiedlung nach Schönhausen. Auch diese aber war nicht ganz freiwillig: erst wiederholtem Andrängen gaben die Bismarcks nach, als sie den wald- und wildreichen Besitz von Burgstall den Hohenzollern überließen und dafür die Güter Schönhausen mit Fischbeck, und Crevese mit Briest und Döbbelin eintauschten. In der Familie hat man sich mit dem Besitzwechsel niemals recht [572] ausgesöhnt; der Minister hat oft des Verlustes der schönen Forsten, in denen er selbst, denn es sind die um Letzlingen, nur noch als Gast seiner königlichen Herren hat jagen dürfen, mißbilligend und bedauernd gedacht; „rein aus Jagdneid“, sagte er einmal halbscherzend bei Tisch in Versailles, hätten die Hohenzollern seine Familie um die schöne Herrschaft gebracht. Ueberhaupt hielten sich die Bismarcks, die mit ihrer Landschaft verwachsen blieben, unter dem neuen Herrscherhause lange fern vom Fürstendienst, mehr wol noch als andere Familien der Altmark. Zwar gehörten sie nicht zu dem Anhang der Quitzows; von den beiden Brüdern Claus und Henning v. Bismarck hat der eine den neuen Markgrafen mit seinem Credit unterstützt, der andere 1414 in dem Lehenhof gesessen, der über Werner v. Holzendorf wegen Aufnahme des flüchtigen Dietrich v. Quitzow das Schuldig aussprach. Aber im Dienste der hohenzollernschen Kurfürsten finden wir durch mehrere Generationen hindurch nur zwei Brüder, und diese nur in geringer Stellung. Im 17. Jahrhundert stellte das Geschlecht manchen Officier, auch diese aber meist in den unteren Rängen. Das Landrathsamt der Altmark, das zwei von der Schönhauser, Einer von der Creveser Linie inne hatten, diente damals noch mehr den ständischen Interessen als denen der Centralregierung. Noch 1722 nennt Friedrich Wilhelm I. die Bismarcks unter den renitenten Adelsgeschlechtern, denen man den Kitzel der Opposition gegen ihren Landesherren austreiben müsse. Zwanzig Jahre später aber vergoß ein Sohn des Hauses sein Blut für die Krone der Hohenzollern. Es war August Friedrich, der Urgroßvater des Fürsten, derselbe, der die pommerschen Güter an sein Haus gebracht hat. Er ward als Oberst der Ansbach-Bayreuther Dragoner bei Chotusitz verwundet; auf dem Transport machten feindliche Husaren den Wehrlosen nieder. Seine Söhne und Enkel dienten sämmtlich in der Armee, auch Karl Wilhelm Ferdinand, der Vater des Fürsten, der noch unter dem großen König eintrat und unter dem Nachfolger den Krieg gegen Frankreich mitmachte. Während aber seine beiden Brüder Berufsofficiere blieben, nahm er nach dem Frieden von Basel als Rittmeister seinen Abschied und lebte fortan, fern vom Hof- und Staatsdienst, wie seine Vorfahren als Landedelmann auf Schönhausen. Auch der Wiederausbruch des Krieges gegen Frankreich bewog ihn nicht, die Waffen wieder zu ergreifen; gerade damals, im J. 1806, gründete er sich vielmehr den Frieden des Hauses; der Fünfunddreißigjährige führte eine um 18 Jahre jüngere Frau aus bürgerlichem Hause, die Tochter des königlichen Cabinetsrathes Mencken heim. Ein Schritt, der, so gefeiert die Schönheit der Demoiselle Mencken und so angesehen übrigens ihr Vater sein mochte, dennoch auffallen muß und wohl als ein Beweis dafür gelten kann, daß auch Herr v. Bismarck selbst bereits in den aufgeklärten Anschauungen aufgewachsen war, die in dem Hause der Braut heimisch waren.

Jugendjahre.

Diese Gesinnung beider Eltern, die ja der Fürst in seinen Denkwürdigkeiten selbst bezeugt hat, trat auch in der Erziehung der Söhne, zumal bei der Wahl ihrer Lehrer zu Tage, als sie den Knaben nach Berlin in das Plamann’sche Institut gaben, das im Sinne der Erziehungsgrundsätze Jahn’s und Pestalozzi’s seine Zöglinge zu mannhaften Deutschen heranbilden wollte, zu einer Zeit, da die Regierung bereits die Wege der Reaction beschritten hatte. Auch auf dem Gymnasium und in der Pension beim Professor Bonnell athmete Otto v. B. bürgerliche Luft, ja es ging durch diese Kreise, [573] als er in den höheren Classen war, schon etwas von dem scharfen Hauch, der sich von der Erhebung der Griechen und dem Umsturz des bourbonischen Königsthrones her erhob. In der Seele des Knaben und Jünglings hat sich zwar, wie es scheint, schon frühzeitig etwas wie ein Gegenstreben gegen die Anschauungen und Anordnungen der Eltern geregt, er wäre lieber zu dem Waffenhandwerk der Altvorderen erzogen worden; aber dem mächtigen Andrange der mit der nationalen Bewegung verbündeten liberalen Gedanken konnte er theoretisch nicht viel entgegensetzen, und waren es, wie er selbst erzählt, burschenschaftliche Empfindungen, mit denen er Ostern 1832 die Universität in Göttingen bezog; er hatte fast Lust, in die Burschenschaft einzutreten. Wenn er diese Absicht bald aufgab, so bewog ihn hierzu zunächst der Anstoß, den er an den Umgangsformen ihrer Mitglieder nahm, die sich mit den Gewohnheiten seiner Kreise wenig deckten. Daneben aber irritirte ihn bereits der unreife Radicalismus, der seit der Julirevolution in der Burschenschaft um sich gegriffen und sich gerade in Göttingen, nicht lange bevor B. dahin kam, in einem Studentencrawall Luft gemacht hatte. In sein erstes Semester fiel das Hambacher Fest, in sein drittes der Frankfurter Putsch, die Erstürmung der Hauptwache in der Bundesstadt durch Studenten, unter denen auch zwei Göttinger waren. Beide Ereignisse machten auf B., wie er in den Gedanken und Erinnerungen erzählt, einen abstoßenden Eindruck. Es waren die rheinbündlerischen, kleinstaatlichen Gebiete, in denen die nationale Bewegung besonders hohe Wellen schlug, und der antipreußische Charakter, den sie fast durchweg trug, verletzte den jungen Altmärker, dessen preußisch-monarchische Gefühle durch seine liberale Erziehung doch nicht ausgetilgt waren und sich auf der kleinstaatlichen Universität und in der ihm unsympathischen Umgebung um so stärker geltend machten. Auch das Leben im Corps, dem B. erst im Juli 1832 beitrat, hat, ein wie flotter Bursch er sein mochte, doch nicht tiefer auf seine Anschauungen eingewirkt; Freunde fürs Leben hat er nicht in ihm gewonnen. Den ihm zusagenden Umgang boten ihm mehrere junge Amerikaner, mit denen er sein Englisch übte, den Shakespeare las und den Tag der Unabhängigkeitserklärung ihres Landes feierte. Die nie ausgetragene Wette, die er mit dem Einen von ihnen, Amory Coffin, auf Deutschlands baldige Einigung abschloß, beweist, daß er den Freunden gegenüber sein Nationalgefühl nicht vergaß; andererseits wird man annehmen dürfen, daß sich an ihrem stolzen Vaterlandsempfinden gerade auch sein preußisches Staatsbewußtsein emporgerichtet hat. Mit ihnen blieb er, wie anzunehmen, auch als Corpsstudent im Verkehr, und den ihm liebsten, John Lotrop Motley, fand er in Berlin wieder, wohin er im Herbst 1833 zurückkehrte; er hat dort mit ihm und einem andern Göttinger Freunde, dem Esthländer Graf Keyserling, in demselben Hause, in der verengerten Friedrichsstraße, gewohnt; sie beide sind ihm fürs Leben verbunden geblieben.

Die Richtung, die seine Entwicklung in Göttingen genommen hatte, konnte durch die Eindrücke, die er in Berlin empfing, nur gefördert werden. Den einheimischen Kreisen, in die er dort eintrat, fehlten die bürgerlichen und liberalen Elemente, die ihn auf der Schule und der fremden Universität umgeben hatten. Seinen Umgang bildeten neben jenen Ausländern meist Söhne des preußischen Beamtenadels, wie Canitz, Savigny, Harry von Arnim, die ihm zum Theil von der Schulzeit her bekannt waren und gleich ihm sich dem diplomatischen Dienst widmen wollten. Bei Hof, wo er nach dem ersten Examen Zutritt erhielt, wehte, denn es war die Zeit der erneuten Demagogenverfolgung, eine scharf reactionäre Luft; die Regierung lehnte sich wieder eng an die Ostmächte an und stand den nationalen Hoffnungen [574] feindlich gegenüber. Aus dieser Atmosphäre trat B. auch in dem flotten Cavalierleben in Aachen, wo er als Referendar unter dem Oberpräsidium des Grafen Arnim von Boitzenburg arbeitete, nicht heraus, und sie umfing ihn wieder in Potsdam, wohin er sich im Herbst 1837 versetzen ließ, um dort zugleich von Ostern ab bei den Gardejägern sein Jahr abzudienen: Alles Eindrücke, welche die preußische Grundfarbe seiner Empfindung verstärken mußten. An der Absicht, in die Diplomatie einzutreten, hielt er noch fest, obgleich er sein diplomatisches Examen auf den Rath des Ministers Ancillon hinausschob, um sich zunächst die Assessorstellung zu sichern. Es geschah dies vielleicht schon mit im Hinblick auf die mißliche Wendung, welche in der Vermögenslage der Eltern eingetreten war, und die diese noch in demselben Jahre bewog, ihre Söhne aus der Laufbahn, für die sie bestimmt waren, herauszunehmen und sie mit der festgefahrenen Bewirthschaftung der pommerschen Güter zu betrauen. Otto v. B. hat ihren Wunsch gern erfüllt, ja er ist ihnen weiter entgegengekommen als sie verlangten. Sie wären wol bereit gewesen, die Güter dem ältesten Sohn, der es überdies wünschte, allein zu übertragen und den Jüngeren im Staatsdienst zu lassen. Aber die Schreibstubenluft war diesem von jeher zuwider gewesen, und er selbst wollte schon gar nichts anderes werden als Landmann. Vor den Verwandten, die ihn zurückzuhalten suchten, indem sie ihm eine glänzende Laufbahn prophezeiten, begründete er seinen Entschluß auch mit seinem politischen Glauben, der dem von dem Gouvernement anerkannten wesentlich zuwiderlaufe und ihn häufig in Conflicte mit seinen Vorgesetzten oder dem eigenen patriotischen Gewissen bringen würde, in Wendungen, die noch liberal genug lauten und wie ein Nachhall von Gesprächen mit seinen angelsächsischen Freunden klingen. Aber wir werden ihm kaum Unrecht thun, wenn wir sagen, daß es doch weniger die politische Doctrin war, die ihn bestimmte, als die Gefühle stolzer Unabhängigkeit und der angeborene Herrschersinn, dem die Fesseln, in die ihn der preußische Verwaltungsdienst schlug, unerträglich dünkten. Er selbst gesteht, daß er sich von dem Wunsche, ja der Leidenschaft, zu befehlen, bewundert und berühmt zu werden, nicht frei wisse, und daß manche Auszeichnungen, wie die eines Soldaten im Kriege, eines Staatsmannes bei freier Verfassung, wie Peel, O’Connel, Mirabeau, eines Mitarbeiters bei energischen politischen Bewegungen, auf ihn eine, jede Ueberlegung ausschließende Anziehungskraft ausüben würden, wie das Licht auf die Mücke. Aber auf dem breitgetretenen Wege der Beamtencarriere durch Examen und Connexionen wollte er keine Erfolge; in dem engen Gegitter der altpreußischen Bureaukratie konnte dieser junge Aar seine Fittige nicht frei entfalten, und so entriß er sich dem alten Staate, noch bevor dieser in sich selbst zusammenstürzte. Er glaubte damit den Staatsdienst auf immer quittirt zu haben; wie Luther die Einsamkeit des Klosters, so suchte B. die in der Jugend schmerzlich entbehrte Freiheit des Landlebens auf, auch er ohne Ahnung, zu wie großen Dingen ihn das Schicksal bestimmt hatte. „Auf dem Lande“, so schreibt er in seinen Erinnerungen, „dachte ich zu leben und zu sterben, nachdem ich Erfolge in der Landwirthschaft erreicht haben würde, vielleicht auch im Kriege, wenn es einen gäbe. Soweit mir auf dem Lande Ehrgeiz verblieb, war es der des Landwehr-Lieutenants“. Zunächst ließ er sich in das pommersche Jägerbataillon nach Greifswald versetzen, um dort sein Jahr auszudienen und zugleich etwas von der Theorie der Landwirthschaft auf der Akademie zu Eldena zu profitieren. Der Tod seiner längst kränkelnden Mutter zu Neujahr 1839 konnte den gefaßten Entschluß nur verstärken: der Vater siedelte mit der Tochter Malvine nach Schönhausen über, [575] die Söhne übernahmen zu Ostern die Güter im Naugarder Kreise und richteten zunächst in Kniephof einen gemeinsamen Haushalt ein.

Es war ein Jahr bevor durch den Tod Friedrich Wilhelm’s III. für Preußen die Wendung eintrat, vor der der alte König es mit ängstlicher Sorge, aber wachsendem Unvermögen zurückgehalten hatte: die deutsche Bewegung begann den patriarchalischen Staat der Hohenzollern zu überwältigen. Der neue König selbst gab den Anstoß; vom ersten Moment an erfaßte er seine Aufgabe im Sinne des nationalen Gedankens, der ihn seit Jahren, recht im Gegensatz zu seinem Vater, beherrscht hatte. Friedrich Wilhelm IV. glaubte darum nicht den Traditionen und den Rechten seines Hauses untreu zu werden oder die Freundschaft zu den alten Verbündeten Preußens, Rußland und Oesterreich aufgeben zu müssen; er meinte vielmehr Alles vereinigen zu können, die Erfüllung der deutschen Hoffnungen und die Ziele der heiligen Allianz, die Begründung freiheitlicher Institutionen und die Bekämpfung der Revolution, die Zerbrechung der Bureaukratie und die absolute Gewalt seiner Krone. Daß er damit Widersprüche weckte, die unversöhnlich waren und den Staat mit Zersetzung bedrohten, blieb ihm verborgen; es ist ihm selbst dann kaum bewußt geworden, als er von den Geistern, die er losgebunden, zu Boden geworfen war. Zunächst aber trug ihn sein nicht geringes Selbstgefühl und der starke, enthusiastische Glaube an seine Ideale über alle Anfechtung, die er von rechts und links erfuhr, hinweg; er glaubte noch an einen siegreichen Fortschritt seiner Ideen, als er bereits der römischen Curie und der constitutionellen Partei gegenüber in der Niederlage und im vollen Rückzuge war, und wähnte, die Leitung der Dinge noch in der Hand zu haben, als ihn die feindlichen Strömungen schon weit mit sich fortgerissen hatten.

Wie hat sich nun B. zu dem Ideenkreise des Königs, vor allem zu seinen ständischen Projecten gestellt, die ja das Verhältniß des Adels zu der Krone und dem Staate besonders nah berührten und es von Grund aus zu verwandeln drohten? Die wenigen Briefe, die wir von ihm aus diesen Jahren besitzen und die meist an den Vater und die Geschwister gerichtet sind, lassen uns darüber ganz im Stich. Wie lebhaft sie auch seine Persönlichkeit kennzeichnen, den kernigen, an die englischen Vorbilder eines Fielding und Dickens erinnernden Humor, die Männlichkeit und die weltmännisch-freie Art des Auftretens, das frische, urwüchsige Empfinden, die Freude am Landleben, das innige Verhältniß zu den Seinen, vor allem zu der geliebten Schwester, suchen wir doch in ihnen vergebens nach einer Aeußerung, die uns seine Auffassung der staatlichen Verhältnisse verriethe. In den „Gedanken und Erinnerungen“ hat B. seine Stimmung zu jener Zeit als eine ständisch-liberale bezeichnet; in Pommern habe er für dieselbe kaum Theilnahme und Verständniß gefunden, in Schönhausen aber die Zustimmung von Kreisgenossen wie Graf Wartensleben-Karow, Schierstädt-Dahlen und Anderen; erst die ihm unsympathische Opposition des Ersten Vereinigten Landtages habe ihn davon abgewandt. In der That macht er noch in einem seiner ersten Briefe vom Vereinigten Landtag einen Unterschied zwischen sich und den Ultra-Conservativen und bemerkt, daß er sich bemühe, sie soviel wie möglich vom Durchgehen und ungeschickten Seitensprüngen abzuhalten. Indessen jener Ausdruck ist zu unbestimmt, als daß damit viel anzufangen wäre. Richtig ist daran, daß der alte Widerwille Bismarck’s gegen die Bureaukratie auf dem Lande, z. Th. durch persönliche Erfahrungen, Conflicte, in die er als Stellvertreter seines Bruders als Landrath im Naugarder Kreise mit der Stettiner Regierung gerieth, noch gewachsen war, und daß er niemals ein Anhänger des Absolutismus gewesen ist. Aber Beides theilte er mit dem König und dessen Gesinnungsverwandten, [576] den Gerlachs; es gehörte zu den nicht wenigen Punkten, in denen sich die Romantiker und die Liberalen berührten. Vielleicht aber darf man sagen, daß sich die politische Auffassung Bismarck’s schon vor dem Vereinigten Landtage mehr nach rechts verschoben hat, und zwar etwa gleichzeitig mit der Abwandlung seiner religiösen Ueberzeugungen, über die uns seine Werbung um die Hand Johanna’s v. Puttkamer und die Briefe an die Geliebte jüngst so überraschenden Aufschluß gegeben haben. Den liberalen Anschauungen, in denen er aufgewachsen war, hatte auch die frühere Richtung seiner Religiosität entsprochen. Die Eltern waren beide Kinder der rationalistischen Epoche gewesen. Mit dem Vater hatte B. niemals über Glaubenssachen gesprochen: sein Glaube, schreibt er der Braut, sei wohl nicht der ‚christliche‘ gewesen; er habe so auf Gottes Liebe und Barmherzigkeit vertraut, daß ihm alles Andere als dieses Vertrauen überflüssig erschienen sei. Die Mutter erbaute sich gern an Zschokke’s „Stunden der Andacht“; dabei schwärmte sie, ein seltsamer Widerspruch, wie der Sohn sagt, zu ihrer sonstigen kalten Verstandesnatur, für Swedenborg, die Seherin von Prevorst und Mesmer’sche Theorien, wie auch für die Phantastik Schubert’s und Justinus Kerner’s; zur Kirche ging auch sie nicht. Den Confirmandenunterricht hatte B. durch Schleiermacher erhalten; aber an die Confession vermochte ihn der große Theologe nicht zu fesseln; vielmehr hat er sich gleich nach der Einsegnung mit bewußtem Entschluß von dem Glauben seiner Kindheit losgerissen, weiter, als es nun doch seiner Mutter recht war, die ihm ernste Vorstellungen über seinen Unglauben machte; bei Hegel und Spinoza, später, schon auf dem Lande, in Schriften von Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer suchte er die Klärung und Beruhigung, die ihm die überlieferte Religion nicht mehr bieten wollte.

Nun aber begannen auch die Illusionen, mit denen er anfangs die Freiheit des Landlebens begrüßt hatte, zu verblassen; weder die Berufsarbeit noch die Vergnügungen, in denen er Zerstreuung suchte, und er scheint es zu Zeiten arg genug getrieben zu haben, noch auch die Reisen, die ihn im Sommer 1842 nach England, Frankreich und der Schweiz, zwei Jahre später nach Norderney führten, vermochten ihn zu befriedigen; einen Versuch, den er 1844 noch einmal mit dem Staatsdienst machte, gab er nach einigen Monaten bei der Regierung in Potsdam wieder auf. So gerieth er in einen Zustand innerer Gährung, peinigender weltschmerzlicher Stimmungen, den er in den Brautbriefen mit sehr dunkeln, vielleicht allzu dunkeln Farben geschildert hat. Denn wenn wir daneben die Briefe halten, die er in den Jahren vor der Verlobung an den Vater und die Geschwister geschrieben, mit ihrer sprudelnden Lebenslust und Laune, der Innigkeit und dem Zartsinn, die jede Zeile athmet, so dürfen wir doch wol sagen, daß der Leidenschaft des Verliebten in dem sonnigen Glück der Brautzeit das frühere Dasein verlassener und friedloser erschien, als es in der That gewesen ist, und daß es mindestens ebenso sehr das Sehnen nach dem Glück des Hauses und der Liebe war, und der unbefriedigte Thatendrang des jungen Feuergeistes, was damals in Bismarck’s Seele stürmisch nach Licht und Luft rang, als das Verlangen nach religiöser Belebung.

Die erste Wendung brachte in sein Leben die Erneuerung der Bekanntschaft mit einem Freunde aus den Kinderjahren, Moritz v. Blanckenburg, der in Stettin bei dem Oberlandesgericht arbeitete und als Gutsherr auf Cardemin noch zu den Nachbarn von Kniephof gehörte. Durch ihn kam B. nach Trieglaff, dem Nachbargute von Cardemin, in das Haus Adolf’s v. Thadden, mit dessen Tochter Marie sich Blanckenburg im März 1842 verlobte. Thadden war das Haupt eines eng verbundenen Kreises, in dem die Orthodoxie [577] in Pommern zuerst Wurzel geschlagen hatte; er selbst hatte einen der Keime von Berlin her (denn er war ein Berliner, Sohn eines königlichen Flügeladjutanten, im Cadettenhause erzogen) dorthin übertragen. Es war schon vor mehr als zwanzig Jahren geschehen und eine Ausstrahlung der religiösen Erregung, welche die Epoche der Freiheitskämpfe entbunden hatte. Thadden, der selbst als blutjunger Officier mitgefochten und das Eiserne Kreuz erworben hatte, gehörte zu dem Kreise junger Officiere und Beamten, die wie die Gebrüder Gerlach, Plewe, Lancizolle, Christian Stolberg, theilweise von Schleiermacher angeregt waren, dann aber sich einem confessionell beengten, eifernden Pietismus ergeben hatten. So fromm Thadden übrigens sein mochte, war er doch keineswegs ein Kopfhänger, sondern heitern Sinnes, dem Leben zugewandt, von liebenswürdigem, etwas barockem Humor, wohl vertraut mit der schönen Litteratur; neben dem Neuen Testament hat er im Feldzuge auch Faust und Wallenstein im Tornister getragen; Clemens Brentano war sein Freund. Durch Heirath mit dem gesinnungsverwandten Fräulein v. Oertzen, deren Schwestern sich seinen Freunden Ludwig v. Gerlach und Ernst v. Senfft vermählten, kam er nach Pommern in den Besitz der Trieglaff’schen Güter. Auch die Brüder v. Below, die neben ihm den neuen Geist in Pommern heimisch machten, waren in Berlin erweckt worden. Diese brachten die sectirerischen Tendenzen, die der neuen Bewegung anhafteten, besonders zum Ausdruck; zwei von ihnen wurden Gichtelianer, der dritte hielt sich von jeder kirchlichen Gemeinschaft fern. Auch Thadden sonderte sich von der Kirche ab, so lange sie im Sinne der Aufklärung geleitet wurde: die Predigten seines Pfarrers vermied er; als ihm seine Tochter Marie geboren wurde, mußte sie ihm ein fremder Geistlicher taufen; auch die Sacramente ließ er sich und den Seinen nur von der Hand gläubiger, oft weither geholter Pastoren reichen; den Gottesdienst pflegte er lange ohne Geistlichen in seinem Hause zu feiern, oder er versammelte im Dorf und auf den Nachbargütern die Gläubigen zur Erbauung, mit lautem Singen und Beten; er oder einer seiner adligen Freunde hielten die Predigt. Anfangs geschah Alles unter heftigem Widerstreben des Kirchenregiments; Thadden hat manchen Thaler Strafe wegen unbefugten Gottesdienstes zahlen müssen. Aber er trat aus der Kirche nicht aus, sondern suchte sie von seinen pietistischen Conventikeln her zu erobern. Bald ergriff die Bewegung weitere Kreise; seine Bauern und Tagelöhner, denen er ein wohlwollender und stets hülfsbereiter Herr war, hielten ganz zu ihm; zahlreiche Pastoren schlossen sich an, als einer der ersten ein Pfarrer Dummert in Cammin, den Thadden nach dem Tode des rationalistischen Ortsgeistlichen in Trieglaff zu sich berief. Als B. mit ihm befreundet wurde, stand der gottselige Edelmann auf der Höhe seines Einflusses; zu den kirchlichen Conferenzen, die er Jahr um Jahr in seinem Hause abhielt, strömten Laien und Geistliche von nah und fern zusammen; sein Name war eine Macht geworden und weit über Pommerns Grenze genannt; die Zeit war nicht mehr fern, wo sich die pommersche Kirche in der That mit dem Geiste dieser pietistischen Orthodoxie erfüllen sollte. Dies also war der Kreis, in dem der junge Blanckenburg aufgewachsen war; er hatte sich niemals von ihm losgemacht und trat nun mit ungebrochener Weltanschauung dem zweifelnden, schwankenden Freunde entgegen, eifrig bemüht, ihn zu sich hinüberzuziehen. Zunächst doch ohne Erfolg. Wie wohl sich auch B. in dem nicht nur geistlich, sondern auch litterarisch und politisch angeregten Kreise fühlen mochte, und wie tief der Eindruck war, den das innige, von einer friedevollen Religiosität getragene Zusammenleben dieser Häuser auf sein [578] unruhvolles und einsames Herz machte, konnte er sich doch nicht entschließen, den stolzen Nacken unter das Joch dieses engen Christenthums zu beugen. Noch im April 1845 lernen wir ihn in seiner skeptisch-ablehnenden Haltung kennen; er sei, schreibt er da mit kühler Ironie an seine Schwester, nach Cardemin geladen zu einem ästhetischen Thee mit Lectüre, Gebet und Ananasbowle. Jedoch was die Freundschaft nicht vermochte, erreichte die Liebe. Zu den ältesten Freunden des Thadden’schen Hauses zählten Heinrich v. Puttkamer auf Reinfeld im Kreise Bütow und seine gestrenge Frau Liutgarde; sie gehörten zu den ganz Frommen, ihre Religiosität war vielleicht noch um einen Grad pietistischer, mehr zum Quietismus hinneigend als die der Thaddens. Wie die Eltern, so waren auch die Töchter eng befreundet; B. mag also Johanna v. Puttkamer in Trieglaff schon bald nachdem er dort eingeführt war gesehen haben, sicherlich aber an dem Tage, da Marie Thadden und Blanckenburg Hochzeit machten, im October 1844. Das hohe Fest endigte mit einem Schauspiel des Schreckens, das allen Theilnehmern unvergeßlich blieb: von dem Feuerwerk, das den Neuvermählten zu Ehren im Parke abgebrannt wurde, flogen Funken auf die vollen Scheuern hinüber, und die von dem Sturm entfachten Flammen legten Hof und Dorf ganz in Asche; kaum daß Wohnhaus und Kirche gerettet wurden. In diesen Stunden der Freude und angstvoller Verwirrung ist vielleicht auch der Funke der Liebe in Bismarck’s Herz gefallen. Aber recht gezündet hat er noch nicht; erst nach zwei Jahren ist die stille Gluth in mächtiger Flamme aufgelodert. Bei der weiten Entfernung Reinfelds von Trieglaff und Cardemin war ein häufiges Sehen ausgeschlossen, und im folgenden Herbst, nach dem Tode des Vaters, zog B. nach Schönhausen, wo ihn den größten Theil des Winters hindurch eine Fülle von Geschäften festhielt; unter anderem der Plan einer Reform der Patrimonialgerichte im ständischen Sinne, den er Ludwig v. Gerlach, damals Gerichtsspräsidenten in Magdeburg, vorlegte und für den er mit Feuereifer warb und wirkte. Das Amt eines Deichhauptmanns, zu dem man ihn wählte, die Aussicht, in den Provinziallandtag berufen zu werden, schienen ihn auf immer an die Altmark fesseln zu sollen; er fühlte sich in dem neuen arbeitsreichen Wirkungskreis so wohl, daß er bald ernstlich daran dachte, seinen Wohnsitz dauernd auf dem Stammsitz der Familie zu nehmen, und eine neue Gelegenheit, in den Staatsdienst zu gelangen, die ihm sein Freund Senfft-Pilsach verschaffte, er wollte ihn nach Ostpreußen als königlichen Commissarius bei den Meliorationsarbeiten schicken, ausschlug; das bescheidene Loos, das sich ihm in der Heimath bot, verbunden mit der ziemlich sicheren Aussicht, bald in das Landrathsamt seines Kreises zu gelangen, schien ihm mehr werth zu sein, als die Hoffnungen, die ihm sein Gönner und Freund auf eine rasche Beförderung im öffentlichen Dienst machte. Ende Mai kam er auf einige Wochen nach Pommern. Damals ist er, wie es scheint, zu Pfingsten in Cardemin mit dem Fräulein v. Puttkamer zusammengetroffen und ihr im ernsten Gespräch über die sie trennenden religiösen Fragen näher getreten. Entscheidend wurde für ihn der Ausflug, den er im Sommer, schon wieder von Schönhausen aus, mit den Freunden aus Pommern, Blanckenburgs, denen sich Johanna v. Puttkamer angeschlossen hatte, und Anderen (auch ein junger Geistlicher, der spätere Missionsdirector Wangemann, war dabei) in den Harz machte. Dem Glück dieser Tage, deren er noch oft in den Briefen an die Braut mit Worten des Entzückens gedenkt, folgten Wochen schweren Kummers. Der Typhus, der damals in Pommern grassirte und auf den Gütern der Freunde, wie unter den eigenen Leuten Bismarck’s in Kniephof schwere Opfer forderte, brach auch in Trieglaff aus; am 13. August erlag ihm der jüngste Sohn Thadden’s, der von Stettin, wo er das [579] Gymnasium besuchte, krank nach Hause gebracht war; bei seiner Pflege steckte sich die Mutter an, legte sich und starb im October; an ihrem Bette holte sich Frau v. Blanckenburg den Keim der Krankheit, und nach schwerem Kampf erlag auch sie der Seuche, am 10. November. Diese trüben Ereignisse, die B., der seit dem Herbst wieder in Pommern war, aufs tiefste erschütterten, haben den Entschluß, der über sein Leben entschied, zur Reife gebracht. Bei der Nachricht von der tödtlichen Erkrankung der geliebten Freundin entrang sich ihm nach langen Jahren wieder das erste Gebet; ihr Tod brach, indem er das Gefühl der Leere, an dem er längst gekrankt, in ihm verdoppelte, die Schranken nieder, die ihn noch von dem Empfinden seiner Freunde trennten. Es war Alles in Allem: tiefes Mitleid mit dem Freunde und der eigene Schmerz, Liebe und Religion, was seine Seele füllte, in einem allmächtigen, ihn ganz bezwingenden Gefühl zusammenfloß und ihm den Muth gab, die strenggläubigen Eltern um die Hand des frommen Mädchens zu bitten. Sehr bald nach dem Tode der Frau v. Blanckenburg, in Zimmerhausen, wohin Puttkamers, vielleicht aus Anlaß des Begräbnisses, gekommen waren, hat er sich der Geliebten offenbart und ist ihrer Liebe gewiß geworden. Dem Vater gegenüber schwieg er noch, jedoch, wie er in dem Werbebrief bekannte, nur weil er mehr zu sagen hatte als er mündlich zusammenfassen konnte. Der Entschluß, den er damals faßte, Kniephof zu verpachten und ganz aus Pommern fortzuziehen, trieb ihn nur umsomehr an, sich Gewißheit zu verschaffen. Schon auf der Rückreise in die Altmark, und doch noch auf pommerscher Erde, von Stettin aus eröffnete er auch ihm sein Herz. Die Antwort, die er nach Schönhausen erbeten hatte, war nicht ganz frei von Zweifeln über den Ernst seiner Bekehrung, erlaubte ihm jedoch zu kommen; es scheint fast, als ob der alte Puritaner mit dem Neophyten noch eine Art Examen habe anstellen wollen. Es muß aber kurz genug ausgefallen sein, denn noch in der Stunde, da B. in Reinfeld eintraf, Dienstag den 12. Januar 1847, hielt er sein Glück in Händen.

Die Revolution.

Diese Beziehungen weisen uns auf Bismarck’s Stellung zu den Fragen hin, welche damals das öffentliche Leben Preußens bewegten und in den ständischen Projecten Friedrich Wilhelm’s IV. ihre Lösung finden sollten. Von jeher hatte sich der hinterpommersche Adel durch seine Anhänglichkeit an die Krone ausgezeichnet; ja man kann sagen, daß der Gemeingeist in diesen Bezirken der Provinz, wo der Adel noch ganz die sociale Führung hatte, die specifisch preußische Grundfarbe trug; auch die bürgerlichen Kreise, auf dem Lande wie in den Städten, hatten die Traditionen des altprotestantischen, patriarchalischen Königthums fester bewahrt, als es in anderen Provinzen auch des Ostens der Fall war. Gerade die Freunde Bismarck’s waren auf dem Vereinigten Landtage die Führer dieser Richtung. Für die ständischen Reformen des Königs hatten sie nicht viel übrig; ihre localen Interessen sahen sie in ihrer Guts- und Kreisverfassung und in dem Stettiner Landtage genügend gewahrt, und ihr politischer Ehrgeiz ward in der Officiers- und Beamtenlaufbahn voll befriedigt. Noch weniger lagen ihnen die allgemein-deutschen Ideen Friedrich Wilhelm’s am Herzen; und selbst die separatistische Richtung ihrer Religiosität unterschied sich in ihrem strengen Bekenntnißglauben von dem gemeinchristlichen Ideal, welches die Romantik ihres königlichen Herren anstrebte. Immerhin fühlten sie sich kirchlich und [580] politisch diesem viel näher als dem auflösenden Liberalismus, der das alte Preußen bedrohte, und die gemeinsame Abneigung hiergegen fesselte sie an ihn und seine Pläne; sie waren bereit sie anzuerkennen, weil der König es wünschte, aber sie hofften, gerade durch ihren Gehorsam ihn von weiteren Concessionen an die vorwärtsdrängenden Parteien zurückzuhalten.

So ungefähr war wol auch die Stimmung, in der B. dem Vereinigten Landtage entgegen ging. Es waren die glücklichen Monate, da er mit seiner Braut correspondirte oder, wie im März und April des Jahres, bei ihr verweilen durfte. Er hätte wol Lust gehabt, in der Versammlung mitzuthun, wohin sein Schwiegervater und mancher seiner Freunde berufen wurden, aber da er bei der Uebersiedlung nach Schönhausen aus dem pommerschen Landtage ausgeschieden und in Sachsen nur als Ersatzmann eines Herren v. Brauchitsch fungirte, war dazu wenig Aussicht vorhanden, und andererseits fühlte er sich in Reinfeld bei der Braut und in Schwiegermutters guter Pflege zu behaglich, um sich sonderlich nach den Aufregungen wider ständischen Debatten zu sehnen. So war es fast ein Zufall zu nennen, daß er, da Brauchitsch erkrankte, im Mai auf den Schauplatz berufen wurde, auf dem er zuerst die Augen der Welt auf sich lenken und in die Stürme seines Lebens hinaustreten sollte. Seine Stellung war von vornherein gegeben; er stand bei seinen Freunden und zögerte nicht, die gemeinsame Sache in aller Schärfe zu vertreten. Kein Geringerer als Leopold v. Gerlach hat die Disposition zu seiner ersten größeren Rede entworfen, in der er das Gottesgnadenthum der Krone und ihre Prärogative gegenüber den Ständen verfocht; und was er in einer späteren Debatte über Begriff und Aufgaben des christlichen Staates und die Stellung der Juden in ihm sagte, deckte sich fast mit den Erklärungen des pietistischen Ministers v. Thile und streifte nahe an die romantischen Vorstellungen seines königlichen Herren. So kann man den Gegnern nicht Unrecht geben, wenn sie B. mit Männern wie sein Schwiegervater und Thadden-Trieglaff auf eine Stufe stellten und ihn den Häuptern der Junkerpartei, den Ultraroyalisten zurechneten. Dennoch können wir in allen seinen Reden auf dem ersten Vereinigten Landtage schon einen ihm eigenthümlichen Ton wahrnehmen, und dieser kehrt so häufig wieder und wird von ihm so scharf und nachdrücklich angeschlagen, daß man in ihm leicht den Grundton seiner Empfindungen erkennt, neben dem die politische und kirchliche Orthodoxie, zu der er sich bekannte, fast als etwas Willkürliches, Angelerntes erscheinen will. Schon wenige Tage nach seiner Ankunft in Berlin, am 17. Mai, kam er damit hervor, in einem kurzen Wort, das er dem ostpteußischen Abgeordneten v. Saucken entgegenwarf, als dieser in der Erhebung von 1813 neben dem Haß gegen die Fremdherrschaft auch den Wunsch nach inneren Freiheiten, nach einer Verfassung als ein wirksames Motiv ansprach: „als ob“, rief B. dagegen aus, „die Bewegung von 1813 anderen Gründen zugeschrieben werden müßte, und es eines andern Motivs bedurft hätte, als der Schmach, daß Fremde in unserm Lande geboten. Es heißt meines Erachtens der Nationalehre einen schlechten Dienst erweisen, wenn man annimmt, daß die Mißhandlung und Erniedrigung, die die Preußen durch einen fremden Gewalthaber erlitten, nicht hinreichend gewesen seien, ihr Blut in Wallung zu bringen und durch den Haß gegen die Fremdlinge alle andern Gefühle übertäubt werden zu lassen“. Es war die Idee des Vaterlandes schlechthin, die er mit jenen Worten heraushob, als der Gemeinsamkeit, die alle Gegensätze in sich schließt, des Machtkreises, in dem alle Interessen und die Ideale der Parteien selbst sich vereinigen müssen. Seine Auffassung war, [581] ganz abgesehen von ihrem inneren Werth, auch unter dem historischen Gesichtspunkt ohne Frage berechtigter als diejenige, der sein Gegner Worte lieh, und in der sich nur die liberale Legende abspiegelte, die von den Alten wie den Jungen (Saucken selbst war ein Mitkämpfer gewesen) nachgesprochen wurde. Aber freilich bezog sie sich lediglich aufs Preußen, und deckte sich mit der allgemeinen Tendenz seiner Partei, den Liberalismus zurückzudrängen. Für ihn war Ausland Alles, was jenseits der schwarzweißen Grenzpfähle lag. Die Liberalen betonten das preußische Interesse vielleicht minder scharf als es sich mit ihrer Pflicht gegen das Wohl ihres Staates vertrug, aber um so stärker das deutsche, von dem sie doch das preußische umschlossen und getragen sahen. Sie knüpften ihre Bewilligung der Eisenbahnanleihe für Ostpreußen, welche nicht bloß für die Provinz, sondern für den Staat, auch unter dem Gesichtspunkt seiner europäischen Machtstellung, wie B. sofort hervorhob, ein dringendes Bedürfniß war, an die Gewährung ihrer vermeintlichen constitutionellen Rechtsansprüche; aber wenn B. dies Verhalten als den Versuch einer Erpressung brandmarken wollte, so übersah er, daß es für Preußen undenkbar war, die Führung der Nation zu übernehmen, ohne den liberalen Ideen bei sich selbst Raum zu geben. So zeichnet sich bereits in dem ersten Conflict, in den der junge Staatsmann mit der liberalen Majorität der preußischen Stände gerieth, der Kampf der Principien ab, in dem sein Leben aufgehen sollte, und den er in seiner Weise zur Lösung gebracht hat. Er hat ihn damals so wenig als Junker geführt wie jemals später; ausdrücklich berief er sich auf den Einklang seiner Ueberzeugungen mit der altpreußischen Volksmeinung, wie sie zumal in den mittleren Provinzen alle Classen der Bevölkerung beherrsche; nicht für die Privilegien seiner Kaste, sondern für die Macht der Krone, die den Sonderwillen der Junker zerbrochen hatte, trat er ein; aber immerhin war es der Staat, in dem der Adel der Krone zunächst gestanden und sich wenn nicht Vorrechte, so doch Vortheile genug conservirt hatte. Dem König selbst stand B. mit seinem schroffen preußischen Particularismus kaum weniger fern als den Liberalen, da ja auch Friedrich Wilhelm’s Politik, wie bemerkt, die deutsch-nationale Idee zum Angelpunkt hatte; und wenn B. sich den ständischen Intentionen des Monarchen anschloß, so leitete ihn dabei wol weniger die Sympathie für Haller’sche Staatslehren als der Wunsch, seinen Herrn vor weiterem Herabgleiten auf der Bahn liberaler Bewilligungen zu bewahren und das preußische Element in seiner Politik zu verstärken. Zunächst blieb diese Berechnung, wenn er sie gemacht hat, ohne Erfolg. Die einmal entfesselte Bewegung ließ sich nicht mehr hemmen und trieb unter dem mitwirkenden Druck der allgemeinen Erschütterung, die das europäische System ergriffen hatte, auch den Staat Friedrich’s des Großen der revolutionären Katastrophe zu.

B. war seit dem Schluß des Vereinigten Landtages dem öffentlichen Leben fern geblieben; am 24. Juli hatte er die Geliebte heimgeführt und nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise, auf der er in Venedig mit dem König zusammengetroffen und sehr gütig von ihm aufgenommen war, einen stillen Winter in Schönhausen verlebt. Wir wissen nur von einer kurzen Anwesenheit in der Hauptstadt bald nach Neujahr, wo er sich an Berathungen über die Gründung eines Organs seiner Partei betheiligte. „Von Berlin“, schreibt er noch am 10. Februar, „höre ich garnichts“. Aus dieser Einsamkeit schreckte ihn die Märzrevolution auf: nicht nur seine Partei, sondern die Krone und den Staat selbst, Alles, wofür er gestritten hatte und wofür er lebte, sah er mit einem Schlage im Wanken und vom Untergange bedroht. Oft genug ist die Frage aufgeworfen worden, ob schon damals, wenn nur ein Anderer als Friedrich [582] Wilhelm IV., wenn ein Staatsmann von Bismarck’s Art die Zügel in der Hand gehabt hätte, die Einigung der Nation unter der hohenzollernschen Krone möglich gewesen wäre; und B. selbst ist in seinen Memoiren geneigt, sie zu bejahen. Ohne hier das Für und Wider dieses Problems besprechen zu wollen, müssen wir dagegen doch soviel sagen, daß der Bismarck von 1848 einen solchen Versuch jedenfalls nicht mitgemacht haben würde. Was er in diesen Tagen empfand und wie er handelte, hat er selbst mit hinreißender Kraft geschildert: er hat seine Bauern nach Berlin führen wollen und ist selbst hinübergeeilt, um ihre Hülfe anzubieten, er hat die Gardegenerale, die er in Potsdam traf, Prittwitz und den alten Möllendorff, wie auch Prinz Karl zu bewegen gesucht, den König mit Gewalt aus Berlin fortzubringen, und ein preußisches Banner gegen die erzwungenen Einräumungen aufzupflanzen. In jenem Moment, da die Grundvesten der Monarchie erbebten, dachte B. an alles Andere eher, als Preußens Kraft an die Lösung der deutschen Frage zu setzen; er wollte es vielmehr diesem Schicksal, dem es der König in denselben Stunden auszuliefern drohte (denn es war der Tag des Umrittes durch Berlin) entreißen. Der Kampf gegen die Revolution, die Rettung der preußischen Selbständigkeit war das Ziel aller seiner Gedanken; niemals ist er ein schärferer Gegner der deutschen Bewegung gewesen als in den Wochen, da Preußen in ihren trüben Fluthen begraben zu werden drohte. Es wäre, wenn er die Generale und die Brüder des Königs (denn auch zu Prinz Wilhelm wollte er vordringen, ward aber durch die Prinzessin daran verhindert) mit sich fortgerissen hätte, die Gegenrevolution geworden, der Weg, auf den sich der französische Adel hatte drängen lassen, als die bourbonische Monarchie dem Stoß der Revolution erlegen war. Prinz Karl war von jeher ein Feind der Verfassungsprojecte seines königlichen Bruders gewesen und der starrste Vertheidiger des altpreußischen Systems: aber diesem Vorschlage, der ihm die Rolle eines Prinzen Artois zuschieben wollte, versagte er sich; weil, wie er bemerkte, die Hauptsache in Wahrheit freiwillig von dem Könige schon am Vormittag des 18. März, vor dem Ausbruch des Kampfes eingeräumt wäre. Der Unterschied bourbonischer und der hohenzollernschen Denkweise, altfranzösischer und preußischer Staatsgesinnung wird uns an diesem Worte deutlich. Auch in Preußen hatte der König seine Partei im Stich gelassen: aber statt wie die Privilegirten in Frankreich Vergeltung zu üben und die Krone, die sich der Revolution ergeben hatte, zu bekämpfen, folgten der preußische Adel und sein prinzlicher Führer der Wendung, die Friedrich Wilhelm dem Steuer seines Staates gab; sie fügten sich der Autorität der Krone auch dann noch, als dieselbe ihre Basis verrückte und sich Interessen verband, die sie vorher bekämpft hatte. Keinem ist diese härteste Probe der Königstreue, des Gehorsams bis zur Selbstverleugnung, schwerer geworden als B., und es hat nicht an ihm gelegen, wenn seine Partei einschwenkte und davon abließ, dem König ihren Willen aufzwingen zu wollen. Aber es war auch Niemand von dem Gefühl der Gefahr, die Preußens Krone bedrohte, tiefer durchdrungen als er, und es gab kein Herz, das heißer für Preußens Macht und Ehre schlug, als das seine. Da ihm die Partei nicht folgte, erkannte auch er in dem Willen des Königs seine Schranke. Seine Ansichten hatten nicht gewechselt. In seinem Herzen wohnte tiefe Trauer. Der Schmerz, der ihm Seele und Körper erschütterte, brach heraus, als er am 2. April in dem Vereinigten Landtag, der noch einmal zusammengekommen war, um die Ueberleitung in das constitutionelle System zu vollziehen, auftrat, um fast als Einziger, nur Thadden-Trieglaff und ein paar Nächststehende hielten noch zu ihm, gegen die Adresse zu stimmen, worin die Abgeordneten dem [583] König den Dank des Landes für die März-Errungenschaften aussprachen: er konnte seine Erklärung, die er unter dem Murren und Gelächter der Versammlung vorbrachte, nicht zu Ende bringen; ein Weinkrampf überfiel ihn und zwang ihn, von der Tribüne herabzusteigen. Den Inhalt der Adresse jedoch nahm er an: weil er, wie er sagte, sich nicht anders helfen konnte, nicht freiwillig, sondern durch den Drang der Umstände getrieben. Er stimmte gegen sie, weil er nicht danken konnte für das, was ihn mit Schmerz und Ingrimm erfüllte, aber er gab unumwunden zu, daß die Vergangenheit begraben und daß keine menschliche Macht im Stande sei, sie wieder zu erwecken, nachdem die Krone selbst die Erde auf ihren Sarg geworfen habe. Auch Deutschlands hat er damals gedacht, und gerade bei dem Satze, in dem er von der Zukunft des gemeinsamen Vaterlandes sprach, erstickte ihm die Stimme: „Wenn es wirklich gelingt“, so schloß er, „auf dem neuen Wege, der jetzt eingeschlagen ist, ein einiges deutsches Vaterland, einen glücklichen oder auch nur gesetzmäßigen Zustand zu erlangen, dann wird der Augenblick gekommen sein, wo ich dem Urheber der neuen Ordnung meinen Dank aussprechen kann; jetzt aber ist es mir nicht möglich!“ Es war der Gedanke seiner Jugend; er hatte ihn auch in der Revolution nicht vergessen. Aber er sah die Einheit Deutschlands doch nur in der Einigkeit seiner Fürsten, in der Selbständigkeit mindestens Preußens, und jeder Versuch, der den freien Flug des preußischen Adlers hemmte, fand in ihm einen unversöhnlichen Gegner.

So lange nun die Revolution im Fortschreiten blieb, sah sich B. bei Seite gedrängt. Er räumte nicht das Feld, sondern führte den Kampf mit dem Wort und der Feder, zumal in der Kreuzzeitung, die er jetzt mit seinen Gesinnungsgenossen ins Leben rief, weiter; aber so lange der König sich von der Bewegung treiben ließ, gab es für den starren Preußen keinen Boden, auf dem er hätte stehen können. Bei der Bewerbung um einen Sitz in der Berliner Nationalversammlung, die er mit Nachdruck betrieb, erlag er. Dem König selbst gegenüber verharrte er lange in der frondirenden Haltung, die er noch Ende Juni in jener Scene auf der Terrasse von Sanssouci zum Ausdruck brachte, als er dem Monarchen ins Gesicht hinein den Vorwurf der Schwäche, die er durch die Räumung Berlins bewiesen habe, zu machen wagte. Aber die große Fluth lief so rasch ab wie sie gekommen war. Schon im Sommer 1848 nahm der König den Kampf mit den beiden Parlamenten auf, und alsbald sehen wir B. wieder an seiner Seite. An den „Hof- und Kammerintriguen“, die im September zu der Ersetzung des Ministeriums Hansemann-Auerswald durch das des Generals Pfuel führten und, als dieses die Hoffnungen der Reaction täuschte, sofort von ihr wieder aufgenommen wurden, um Brandenburg an die Spitze zu bringen und den Gewaltstreich gegen die Nationalversammlung im November vorzubereiten, hatte er regen, wenn auch nicht den entscheidenden Antheil, der vielmehr dem General v. Gerlach gebührt. Mit diesem trat er in das intimste Verhältniß; er galt nicht bloß als sein Gesinnungsgenosse, sondern er war es. Sein Haß gegen die Bureaukratie war in der Revolution nur gewachsen und blieb Jahre lang in ihm lebendig; noch im Sommer 1850 hat er sie in einem Brief an Wagener als den Krebsschaden an dem Leibe Preußens bezeichnet, der den Staat umbringen werde, wenn er sich nicht durch einen heilsamen Gewittersturm davon befreie. In der Zweiten preußischen Kammer, in die er, ihm selbst unerwartet, im Februar 1849 gewählt wurde, sprach er fast noch schärfer als im Vereinigten Landtage für die eigentlich reactionären Forderungen, den Zunftzwang, die kirchliche Eheschließung und den christlichen Charakter des Staates. Aber sein Richtpol blieb dennoch auch in den Fragen der inneren [584] Politik der preußische Machtgedanke. Er stellte der constitutionellen Staatslehre nicht eine andere Theorie entgegen, wie Gerlach und der König, sondern die einfache Frage, ob sie für Preußen nützlich oder schädlich sei. Mit ihnen theilte er die Abneigung gegen den „Geheimrathsliberalismus“, der Alles nivelliren und centralisiren wolle; und wenn er einmal die französische Freiheit als die chimärische Tochter des Neides bezeichnete oder für das historische Recht der corporativen Verbände und der patriarchalischen Gewalten im Staatsleben eintrat, so wiederholte er damit die Schlagworte der politischen Romantik. Aber sein Haß gegen die Bureaukratie wurzelte tiefer als in den Ideen der Reaction und dem Trotz des Junkers; er bekämpfte in ihr den unpreußischen Geist, der an den eigenen Staat nicht mehr glaubte und darum in dem Moment der Gefahr untreu und verzagt geworden war. Er selbst war an der Stärke Preußens seinen inneren und äußeren Feinden gegenüber keinen Augenblick irre geworden, und er sah garnicht oder wollte nicht sehen, daß der nationalen Bewegung, welche den Staat Friedrich’s des Großen aus seinen Fundamenten zu reißen drohte, eine eigenthümliche Berechtigung und Bedeutung zukomme; nicht in den nationalen Principien, die er fast als die Phantasien weniger Ideologen behandelte, sondern in der Entfesselung der socialen Leidenschaften erblickte er die wirksamste Kraft der Revolution. Durch den Nebel der Phrasen, den Rausch der echten oder gemachten Begeisterung, durch alle tumultuarische Verwirrung, der sich Regierungen und Bevölkerungen unterwarfen, hindurch hatte er immer die Realitäten vor Augen, die materiellen Interessen und die socialen Differenzen, den Ehrgeiz der Parteiführer, den Neid und die Begehrlichkeiten der einflußlosen Masse, die historisch gewordenen, in der Gesellschaft und im Staat zusammengefaßten Machtverhältnisse. Gerlach stand er mit solchen Anschauungen immerhin noch näher als dem König, da auch der General die deutsche Politik Friedrich Wilhelm’s bekämpfte; Radowitz war ihrer beider Gegner. Und darin lag wol der tiefste Grund, weshalb der Monarch in der Herbstkrisis 1848 es ablehnte, den Mann, der nichts als Preuße sein wollte, in das Ministerium zu nehmen, für das er ihm, es scheint durch Senfft-Pilsach, in Vorschlag gebracht war. Aber die Tapferkeit, womit der altmärkische Junker für das Recht und die Selbständigkeit der Krone stritt, mußte doch Friedrich Wilhelm imponiren; er wußte, daß er sich auf diesen Mann in jedem Fall verlassen konnte.

Ein solcher Moment trat ein im April 1849, als Friedrich Wilhelm die Kaiserkrone von sich wies, die ihm aus dem Schooß des Frankfurter Parlamentes und im Namen der Nation dargeboten wurde. Aber gerade die Art, wie Beide damals die Ablehnung begründet haben, der König in der Ansprache an die Deputation des Reichstages, B. ein paar Wochen später in der preußischen Kammer, zeigt den schneidenden Gegensatz, in dem sie zu einander standen. Friedrich Wilhelm sagte weder Ja noch Nein, und leitete sogar aus dem Antrage der deutschen Volksvertretung ein Anrecht für sich ab, das er, so drückte er sich aus, zu schätzen wisse. B. dagegen schnitt das Tafeltuch mitten durch; mit aller Schärfe betonte er die Unvereinbarkeit des Anerbietens mit den Lebensinteressen Preußens. Beide waren einig in dem Widerspruch gegen eine Verfassung, die den Schwerpunkt der Souveränität in das aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangene Parlament legte und ihren revolutionären Ursprung nirgends verleugnete; aber während den König dennoch der Gedanke lockte, der Nation den Schutz, um den ihre Vertretung bat, gewähren zu können, wollte B. Preußens Schwert nur für Preußen geführt sehen. Er wies das Ziel, in dem sein königslicher Herr sich mit den Parteien der Revolution zusammenfand, die Einigkeit der Nation, nicht zurück, und [585] wandte seine Rede so, daß es schien, als stelle er sich ganz zum König: man werde, sagte er, die deutsche Frage nur noch mehr verwirren, wenn man in dem Augenblicke, da Europa anfange, sich von dem Taumel der Revolution zu erholen, den Frankfurter Souveränitätsgelüsten, die gerade um ein Jahr zu spät kämen, die Stütze seiner Zustimmung leihe; gerade dann, wenn man ihnen die Unterstützung verweigere, werde Preußen um so eher im Stande sein, die deutsche Einheit auf dem von der Regierung betretenen Wege herbeizuführen. Aber der Weg, den Friedrich Wilhelm zu gehen wünschte, war das nicht. Denn so wenig dieser sich auch zu einem Vasallen des Frankfurter Parlamentes machen und in die Wege Karl Albert’s von Sardinien drängen lassen wollte, trieb es ihn doch, und gerade jetzt mehr als je, den Ruhm eines Einigers und Schützers der Nation zu erwerben. Es war eine Politik, die, wie B. später gesagt hat, Stärke für Nimbus weggab, den europäischen Charakter Preußens, die Stellung als Großmacht seinen Verpflichtungen gegen die Nation unterordnete, und darum eben wie mit den eigenen so mit den fremden Interessen unversöhnliche Collisionen herbeiführen mußte. Er dagegen wollte, daß Preußen Preußen bleibe; denn nur dadurch werde es in der Lage sein, Deutschland Gesetze zu geben, statt sie von Andern zu empfangen.

Es versteht sich, daß er mit solchen Ueberzeugungen auch der Unionspolitik des Königs widerstreben mußte, wenn er es auch nach Möglichkeit vermied, sich vor der Oeffentlichkeit als ihren geschworenen Gegner, der er war, zu bekennen. Seinen Standpunkt hat er nirgends schärfer zur Geltung gebracht als in der Rede vom 6. September 1849, als in der Zweiten preußischen Kammer die Unionsverfassung und das Dreikönigsbündniß zur Berathung standen. Formell hielt sich B. auch hier nahe bei der Regierung; er erklärte sich mit dem Commissionsentwurf, soweit er den Vorlagen entspräche, im allgemeinen einverstanden, und betonte, daß er nur dem zweiten Theil, der darüber hinausgehe und die preußischen Kammern schon jetzt an den Beschluß einer zukünftigen Reichsversammlung binden wolle, durchaus widersprechen müsse; er machte sogar seine Verbeugung vor dem Minister, den er in seinem Herzen als des Königs bösen Rathgeber ansah, indem er sagte, daß eine Abweichung in Einzelheiten für ihn kein Grund sein werde, um einem Ministerium seine Unterstützung zu entziehen, in welchem er die Repräsentanten gesellschaftlicher und staatlicher Civilisation gegenüber der Demokratie anerkenne und ehre. Aber wenn er hinzufügte, daß man damit hoffentlich zum letzten Mal die Errungenschaften des preußischen Schwertes weggebe, um die nimmersatten Anforderungen eines Phantoms zu befriedigen, welches unter dem fingirten Namen von Zeitgeist oder öffentlicher Meinung die Vernunft der Fürsten und Völker mit seinem Geschrei betäube, bis jeder sich vor dem Schatten des andern fürchte und vergesse, daß unter der Löwenhaut des Gespenstes ein Wesen stecke von zwar lärmender, aber wenig furchtbarer Natur, und wenn er ferner die Gefahren, die Schwierigkeiten und die Nachtheile hervorhob, welche der Entwurf Preußen bringen müsse, so sieht man wol, daß die Politik, welche er bekämpfte, die des Generals v. Radowitz und thatsächlich die des Königs selbst war. In der Debatte war mehrfach Friedrich’s des Großen gedacht worden, und die Gegner hatten sich für ihr Vorgehen auf ihn berufen. B. bestritt ihnen das Recht zu dieser Gleichstellung und beanspruchte vielmehr seine Auffassung der Aufgabe Preußens mit dem Beispiel des großen Königs zu rechtfertigen. „Friedrich II.“, so sagte er, „hätte das Gutachten nicht gemacht; ich glaube vielmehr, daß er sich an die hervorragendste Eigenthümlichkeit preußischer Nationalität, an das [586] kriegerische Element in ihr gewandt hätte, und nicht ohne Erfolg. Er würde gewußt haben, daß noch heute, wie zu den Zeiten unserer Väter, der Ton der Trompete, die zu den Fahnen des Landesherrn ruft, seinen Reiz für ein preußisches Ohr nicht verloren hat, mag es sich nun um eine Vertheidigung unsrer Grenzen, mag es sich um Preußens Ruhm und Größe handeln. Er hätte die Wahl gehabt, sich nach dem Bruche mit Frankfurt an den alten Kampfgenossen, an Oesterreich anzuschließen, dort die glänzende Rolle zu übernehmen, welche der Kaiser von Rußland gespielt hat, im Bunde mit Oesterreich den gemeinsamen Feind, die Revolution, zu vernichten. Oder es hätte ihm freigestanden, mit demselben Recht, mit dem er Schlesien eroberte, nach Ablehnung der Frankfurter Kaiserkrone den Deutschen zu befehlen, welches ihre Verfassung sein solle, auf die Gefahr hin, das Schwert in die Wagschale zu werfen. Dies wäre eine nationale preußische Politik gewesen. Sie hätte Preußen im ersten Fall in Gemeinschaft mit Oesterreich, im andern Falle durch sich allein die richtige Stellung gegeben, um Deutschland zu der Macht zu verhelfen, die ihm in Europa gebührt“. In diesen Worten sehen wir bereits die Wege angedeutet, auf denen B. seinem Ziele nachgegangen ist. Er hat beide versucht, wechselweise hat er sie verfolgt; er hat den ersten auch dann nicht aus dem Auge verloren, als ihn der zweite gegen Oesterreich führte, ja er hat ihn gerade im Siege wieder aufgesucht und auf ihm erst die stärkste Sicherung für seine Schöpfung gefunden. Mit oder ohne Oesterreich – das ganze Programm seiner deutschen Politik liegt darin beschlossen. Nur daß er in jener großen Rede noch nicht die Consequenz zog, die sich mit Nothwendigkeit aus der zweiten Alternative ergab, daß nämlich der Weg ohne Oesterreich ein Weg gegen Oesterreich werden mußte. Sollen wir darum glauben, daß er noch nicht soweit gedacht, daß er wirklich nach Art des Königs und der Mittelparteien gewähnt hat, Preußen könne die deutsche Hegemonie gewinnen, ohne mit dem Träger der alten Kaiserkrone darüber kämpfen zu müssen? Dann hätte er schwerlich sich auf Friedrich den Großen berufen. Das Beispiel, das er citirt, die Eroberung Schlesiens, zeigt, wohin seine Gedanken zielten. Friedrich Wilhelm IV. hatte es direct abgelehnt, mit dem großen Vorfahr in Parallele gestellt zu werden; „ich bin kein Friedrich der Große“, hatte er gesagt. B. dagegen (und der ganze Unterschied der beiden Männer wird uns darin sichtbar) beschwor den Schatten des großen Königs herauf, um die Wege zu bezeichnen, auf denen Preußen zu neuer Größe, an die Spitze Deutschlands gelangen könnte. Jedoch durfte er diese Gedanken noch nicht bis an ihr letztes Ziel entwickeln; die Rücksicht auf seine Partei, auf den König, auf die augenblickliche Lage des Staates selbst gebot ihm, sie in seiner Brust zu verschließen und sie vor sich selbst zu verbergen; denn noch waren die Parteien der Revolution mehr als Preußens Krone die Gegner Oesterreichs, und die Gefahr lag zu nahe, daß man in ihre Wege gerissen würde, wenn man den stolzen Flug wagen wollte, den einst der Adler Friedrich’s des Großen genommen hatte. Die Revolution mußte erst besiegt sein, bevor der Boden bereitet war, auf dem sich Bismarck’s Politik frei entfalten konnte.

Wenig mehr als ein Jahr war vergangen, als er sich schon vor die Frage gestellt sah, die er im September 1849 noch umgangen hatte. Es war im November 1850, als die Unionspolitik Friedrich Wilhelm’s IV., durch die er das deutsche Problem ohne und doch nicht gegen Oesterreich hatte lösen wollen, zu Scheitern ging und Preußen vor die Entscheidung gestellt wurde, ob es vor dem Rivalen zurückweichen oder als Erbe der Revolution den Kampf mit ihm aufnehmen sollte. B., der seit dem Erfurter Parlament, an dem er als [587] Abgeordneter von Westhavelland theilgenommen, sich im Hintergrund gehalten hatte, war bei seinen Verwandten in Pommern, als er aus der Zeitung den Rücktritt Radowitz’, mit dem die Krisis acut wurde, erfuhr. Seine erstes Empfindung war heller Jubel: der Mann war fort, in dem er den bösen Genius Preußens erblickt hatte, und der Grund schien frei zu sein, auf dem sich Preußens Politik nach selbstgewählten Gesichtspunkten gestalten konnte. „Lassen Sie jetzt Krieg werden“, schrieb er an den befreundeten Redacteur der Kreuzzeitung, Hermann Wagener, „wo und mit wem man will, und alle preußischen Klingen werden hoch und freudig in der Sonne blitzen“. Aber nur zu bald stellte es sich herauss, daß mit dem Sturz des Ministers die Folgen seiner Politik noch nicht beseitigt waren: Preußens Ehre blieb verpfändet, und die Forderungen, welche Oesterreich in Warschau gestellt hatte und an denen es, da der Zar sie unterstützte, um so fester hielt, drohten sie völlig zu compromittiren. Bis dahin war Bismarck’s Standpunkt der Revolution gegenüber in sich gefestigt und klar gewesen; er hatte sich zu jeder Zeit sagen dürfen, daß er die Interessen Preußens am treuesten vertreten, und daß es die Gegner, die Deutsch-Nationalen aller Schattirungen waren, welche von ihnen abwichen. Jetzt aber sah er Preußens Fahne in ihren Händen; in der Gefahr, da es sich um das Ansehen und die Größe des Staates handelte, waren sie zur Stelle, während seine eigenen Gesinnungsgenossen gewillt schienen, das Vaterland der Partei zu opfern. Durfte er ihnen folgen und das Beispiel Friedrich’s des Großen bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, um die Kraft Preußens auf seinen Wegen zu bewähren, verleugnen? Schon war die Armee mobil gemacht, und mit jedem Tage verschärfte sich die Lage; von Wien und Petersburg kamen drohende Noten, denen die Meldungen von dem Anhäufen großer Truppenmassen in Böhmen und Polen Nachdruck gaben; in Hessen, wo die Preußen jubelnd empfangen waren, stießen ihre Vorposten mit den Oesterreichern und Bayern zusammen, bei Bronzell kam es zum ersten Gefecht. Unter dem Druck der Kriegsgefahr drohte sich die conservative Partei ganz zu zersetzen; bei den Officieren überwog weitaus die Stimmung, daß man den Fehdehandschuh aufnehmen müsse und die Ehre der Armee nicht abermals preisgeben dürfe. Prinz Wilhelm handelte im Sinne fast aller seiner Kameraden, als er sich dem Ministerium in den Weg warf; durch das ganze Land pflanzte sich die patriotische Erregung fort. B. suchte dennoch den Kopf kühl zu erhalten; schon am 7. November, in dem Brief an Wagener, bemerkte er mit Mißbilligung, wie stark „der deutsche Schwindel und die Wuth auf Oesterreich“ selbst in den conservativsten Schichten Pommerns um sich gegriffen habe. Am 14. November traf er in Berlin ein, wohin ihn die Berufung der Kammern und zugleich eine Ordre, sich bei seinem Regiment in Stendal zu stellen, brachten. Sein erster Gang war zu Stockhausen, dem Kriegsminister, der mit Manteuffel noch allein dem Drängen der Kriegspartei im Ministerium widerstand, wol in der Absicht, ihn zu fragen, ob er bleiben oder sich zu seiner Truppe verfügen solle; als er ihn nicht traf, ging er sogleich zu dem Ministerpräsidenten selbst. Dieser bewog ihn, die Fahrt nach Stendal aufzugeben, damit er seinen Einfluß bei den Parteien für den Frieden einsetzen könne. B. hatte anfangs den Eindruck, daß der Krieg noch im weiten Felde sei, und arbeitete unermüdlich daran, die Friedenspartei zu stärken. Aber eine bedingungslose Unterwerfung wollte auch er nicht; der Einmarsch der Oesterreicher und Bayern in Hessen, die Aufstellung von 100 000 Mann zwischen den Ost- und Westprovinzen der Monarchie erschien auch ihm zunächst unerträglich, als eine Forderung der Impertinenz, der man mit dem Appell an die Waffen begegnen müsse. Darüber gerieth [588] er am 21. November mit General Gerlach, dessen Legitimismus auch darin den Oesterreichern Recht geben wollte, hart aneinander; er erklärte, und mit ihm Kleist und Stahl, daß sie in der Kammer gegen die Räumung Hessens sprechen würden. „Ich wurde ganz heftig“, notirt der Genersal in sein Tagebuch, „da ich mich nun auf der Bresche von Allen verlassen sehe“. Jedoch gelang es Gerlach bald, den Freund wieder an sich heranzuziehen. Denn B. mußte sich nun doch sagen, daß der Krieg gegen Oesterreich, der jetzt drohender als je wurde, Preußen in die Wege zurückwerfen würde, die soeben erst durch den Sturz des verhaßten Ministers aufgegeben waren. Es war eine Situation, die gerade für seinen Preußenstolz demüthigend genug war; aber es ging nicht anders: nicht im Kriege, sondern in der Verhandlung von Macht zu Macht lag in diesem Moment die rechte Consequenz seiner Politik, wurden Preußens Interesse und die Unabhängigkeit der Krone am besten gewahrt: man war in eine Sackgasse gerathen, und es gab keinen andern Weg als die Umkehr: sollte der Staat Friedrich’s des Großen freie Bahn gewinnen, so mußte das Joch durchschritten werden. B. gewann es über sich, die Politik von Olmütz in der Zweiten Kammer zu vertheidigen. Die Gründe, die er ins Feld führte, beweisen, daß er seinen Boden auch in dieser Krisis behauptet hatte: nicht die Romantik, wie sie sich auch immer geben mochte, ob im reactionären oder liberalen Gewande, sondern ganz allein der staatliche Egoismus war es, an den er appellirte: das sei die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates, dadurch unterscheide er sich von einer kleinen Macht, und es sei seiner nicht würdig, für eine Sache zu streiten, die nicht seinem eigenen Interesse angehöre. Die Ziellosigkeit einer Politik, welche Preußen in den Krieg gegen eine übermächtige Coalition, in einen Kampf um Sein und Nichtsein hineinreißen wollte, um Fragen willen, die nicht sein Lebensinteresse berührten, griff er an. So entriß er den Gegnern wieder die Waffe, die sie ihm fast entwunden hatten, als sie den preußischen Patriotismus und das Ehrgefühl der Armee für ihre Ziele zu entflammen suchten. „Die preußische Ehre“, rief er aus, „besteht nach meiner Ueberzeugung nicht darin, daß Preußen überall in Deutschland den Don Quixote spiele für gekränkte Kammer-Celebritäten, welche ihre locale Verfassung für gefährdet halten. Ich suche die preußische Ehre darin, daß Preußen vor allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte, daß Preußen in der vorliegenden wie in allen andern Fragen nicht zugebe, daß in Deutschland etwas geschehe ohne Preußens Einwilligung, daß dasjenige, was Preußen und Oesterreich nach gemeinschaftlicher unabhängiger Erwägung für vernünftig und politisch richtig halten, durch die beiden gleichberechtigten Schutzmächte Deutschlands gemeinschaftlich ausgeführt werde“. Es war der „Weg mit Oesterreich“, den er schon ein Jahr zuvor ins Auge gefaßt hatte. Haarscharf war in jenen Worten die Linie gezogen, die in seinem Sinn Preußens und Oesterreichs Interessen band und trennte; sie umschlossen das Programm, mit dem er ein halbes Jahr später nach Frankfurt ging.

Die nationale Idee freilich war darin schlecht gewahrt. Wie sie der belebende Hauch der Revolution gewesen, so war sie mit ihr besiegt worden, und die Geschicke der Nation blieben den Dynastien überliefert, die sich in den alten Zeiten aus ihr erhoben und ihre Bruchtheile um sich gesammelt, mit politischem Sonderleben erfüllt hatten. Die Revolution hatte sie unterwerfen, aus dem Schooße der Nation, unmittelbar aus der Kraft des Volkes heraus die dominirende Gewalt bilden wollen, und war darin gescheitert: weder Worte noch Waffen hatten etwas vermocht, und das Werk von [589] Frankfurt, dessen Berechtigung die Geschichte von Jahrhunderten und mehr noch die Gegenwart mit ihren Aufgaben bestätigten, in dem die tiefsten und zukunftsreichsten politischen Gedanken Form gefunden, für das die besten Geister der Nation erglühten, konnte fast als ein Phantasiespiel von Doctrinären erscheinen; in die Gluth der Begeisterung war löschend das kalte Eisen der Macht gefahren. Sollte das erhabene Ziel der Patrioten, der deutsche Staat, dennoch gewonnen werden, so blieb nur noch der alte Weg offen, auf dem die Nation seit Jahrhunderten begriffen war, der Kampf der deutschen Mächte gegen einander: nicht auf den Wegen Gagern’s und seiner Freunde, mit einer Mischung von Gutwilligkeit und Zwang, sondern ganz allein durch die Waffen, im Kriege von Deutschen gegen Deutsche, durch die freie Entfaltung des staatlichen Egoismus konnte es erobert werden: dem stärksten mußte der Preis zufallen.

Wer das war, hatte die Revolution bereits an den Tag gebracht. Sie war mächtig genug gewesen, um nicht nur die Kleinstaaten zu beugen, zum Theil aus den Fugen zu reißen, sondern auch Oesterreich an den Rand des Verderbens zu führen: Preußen allein war in jedem Moment von ihrem ersten Anprall an stärker gewesen als sie. Nur durch die russische Hülfe und begünstigt durch die europäische Constellation, welche Frankreich und Preußen auf die conservative Seite geführt hatte, waren die Habsburger gerettet worden: während die preußische Regierung nicht nur mit leichter Mühe die eigenen Rebellen niedergeschlagen und die parlamentarischen Worthelden und Steuerverweigerer aus ihrem „Hause der Phrasen“ getrieben, sondern zugleich die kleinen Höfe, da ihnen der Boden unter den Füßen entwich und sie in den Wirbeln der Anarchie unterzugehen drohten, aufrecht erhalten hatte. Wenn Friedrich Wilhelm IV. dennoch dem Strome gefolgt war, so hatte er damit mehr den eigenen Wünschen und von außen herantretender Verlockung nachgegeben als der Gefahr, selbst überrannt zu werden: gerade die Macht Preußens war der Pfeiler gewesen, an den die gemäßigten Parteien in Frankfurt sich dem Radicalismus gegenüber angelehnt und um den herum sie ihren nationalen Bau errichtet hatten; und so hatte auch in dem Unionswerk des Königs Preußens Krongewalt der tragende Pfeiler für seinen deutschen Verfassungsbau werden sollen. Beide Pläne waren an derselben Klippe gescheitert, dem Egoismus der particularen Macht: weder hatte sich Friedrich Wilhelm den Frankfurtern noch die Mittelstaaten Preußen gutwillig unterwerfen wollen; wer ihm überhaupt folgte, that es im Angesichte der Noth; sowie der Zwang vorüber, war auch der patriotische Eifer, sogar bei den Kleinen und Kleinsten vergessen. Und so war Preußen isolirt worden; es konnte sich fortan nur noch auf sich selbst verlassen. Es hatte nichts gewonnen, aber auch nichts an Eigenem verloren. Wie B. in seiner Rede vom 3. December bemerkte: weder die materiellen Interessen noch die Integrität seiner Grenzen noch die Sicherheit seiner Verfassung waren angetastet worden. Eroberungen aber hatte ja der König mit der Union nicht machen wollen. B. seinerseits zögerte nicht, und nichts war von seinem Standpunkt aus consequenter, auf diese Möglichkeit hinzuweisen: er wolle, sagte er, nicht erörtern, inwiefern dies zu bedauern sei, und inwiefern jemand einen Krieg vielleicht gern führen könnte, der keinen anderen Grund habe, als daß sein König und Kriegsherr sage: „dies Land gefällt mir, ich will es besitzen“; aber die Frage beschäftige die Versammlung nicht, die Thronrede selbst weise die Möglichkeit von Eroberungen ab, die Adresse der Kammern spreche ihren Dank dafür aus, die Frage bleibe also für jetzt außer Spiel. So war es in der That vor Olmütz gewesen: Preußen hatte seine Bewegungsfreiheit verloren, als es sich statt zum Herren zum Beschützer der Kleinen aufwarf. [590] Wie demüthigend das Joch von Olmütz sein mochte, der Fesseln wurde der Staat Friedrich’s des Großen dadurch ledig, und der preußische Adler konnte seine Fittige wieder frei ausbreiten, dem Ziele zu, das B. ihm bereits im September 1849 gesetzt hatte: „schützend und herrschend von der Memel bis zum Donnersberge, nicht mehr gefesselt durch einen neuen Regensburger Reichstag und nicht gestutzt an den Flügeln von der gleichmachenden Heckenscheere aus Frankfurt“.

Schon im Winter, bei den Verhandlungen in Dresden, trat die Besserung der Lage hervor. Schwarzenberg hatte bereits alle Karten in der Hand zu halten geglaubt; mit dem Eintritt des gesammten habsburgischen Länderbesitzes in den Bund wie in den reorganisirten Zollverein, und mit einer Executivgewalt, von der die Kleinstaaten, die Schützlinge Preußens, ausgeschlossen, dieses selbst aber durch die Stimmen der Mittelstaaten, die zu Oesterreich hielten, majorisirt werden könnte, hoffte er den Rivalen niederhalten und die deutschen Kräfte den Interessen Oesterreichs dienstbar machen zu können. Es wäre in der That nicht viel anderes als die Mediatisirung Preußens gewesen; nicht bloß die Hoffnungen der deutschen Patrioten, sondern auch die Ziele des preußischen Ehrgeizes wären vereitelt worden. Indessen hatte der kühne Staatsmann den Bogen doch überspannt. Zunächst schrieen die Kleinen auf, die sich behandelt sahen als wären sie nicht vorhanden; sie drängten sich noch enger als in der Union an Preußen heran. In Berlin selbst setzte man dem vielleicht gefährlichsten Artikel, dem Eintritt Gesammtösterreichs in den Bund, dem man schon in Warschau zugestimmt hatte, keinen Widerstand entgegen, aber um so zäher hielt die Regierung an dem Anspruch auf die Parität im Präsidium des neuen Bundes, in der man ein Aequivalent zu sehen glaubte, fest; am 27. Februar, nachdem man schon in Dresden auseinander gegangen war, kündigte Manteuffel dem österreichischen Collegen an, daß seine Regierung die Gleichberechtigung als unerläßliche Bedingung betrachte und, falls man in Wien auf seinem Willen bestehe, auf den früher von Oesterreich selbst angerufenen Boden der alten Verträge zurücktrete. Dieser Schritt war jedoch vielleicht klüger als sich Friedrich Wilhelm und seine Räthe selbst sagen mochten. Denn die formelle Gleichberechtigung in einem nach Schwarzenberg’s Sinn reformirten Bunde hätte für Preußen wenig Werth gehabt gegenüber der Verpflichtung, Oesterreich gegen alle seine Feinde vertheidigen zu müssen; in dem alten Bunde dagegen war das Präsidium Oesterreichs wenig mehr als ein Ehrenrecht gewesen, das dem preußischen Einfluß kaum geschadet hatte. Es lag also jetzt im Vortheil Preußens, eine Vertretung der Nation hergestellt zu sehen, welche die außerdeutschen Länder Habsburgs ausschloß und ihm selbst die Unabhängigkeit seiner Politik einigermaßen gewährleistete. Um so mehr als Oesterreich mit dem Plan seines Siebzigmillionenreichs die anderen Großmächte entschieden gegen sich hatte: weder Zar Nicolaus noch der neue Bonaparte konnten es gern sehen, daß ihrem Ehrgeiz sei es an der Donau, sei es jenseits der Alpen und am Rhein eine so gewaltige Schranke gesetzt würde; und selbst für England konnte unter Palmerston’s ausgreifender Politik ein Oesterreich, das die Ziele der althabsburgischen Macht, wie zu den Zeiten des dreißigjährigen Krieges, anstrebte, kaum willkommen sein. Die europäische Constellation, die noch vor einem halben Jahre ganz gegen Preußen gestanden hatte und so lange ungünstig gewesen war, als es sich durch die deutsch-nationalen Bestrebungen hatte binden lassen, verschob sich also sofort zu seinen Gunsten, sobald es zu seinen alten Grundlagen zurückkehrte. Friedrich Wilhelm IV. selbst zog diese Consequenz nur ungern und fast wider Willen. Denn er hatte [591] niemals den deutschen Einfluß Oesterreichs völlig brechen wollen, und die Verbindung, die ihm Schwarzenberg anbot, erschien ihm eher wie ein Trost in seinem Unglück; sein Schmerz war weniger der Vertrag von Olmütz gewesen, in dem er vielmehr schon einen halben Sieg begrüßt hatte, als die Entlassung von Radowitz und der Bankerott seiner Politik, von der er die goldenen Saaten teutscher Herrlichkeit und wahrer Freiheit erhofft hatte. Den Krieg gegen den Kaiser hatte er immer verabscheut, und in der Freundschaft mit ihm sah er nach wie vor einen Damm gegen die Revolution und eine gewisse Gewähr für die nie aufgegebene Hoffnung, seine Ideale trotz alledem noch einmal ins Leben zu führen. So begrüßte er mit Freuden einen Ausweg, auf den Oesterreichs Botschafter in Berlin, Freiherr v. Prokesch gerieth, als die Verhandlung an dem Artikel der Parität zu scheitern drohte und ein scharfer Protest aus Paris und London den Wienern zeigte, wie bedenklich es für sie werden konnte, den Boden der Tractate von 1815 zu verlassen: nämlich durch ein Schutz- und Trutzbündniß zwischen Preußen und Oesterreich letzterem die Garantie für seine Stellung in Italien zu geben, die es auf dem von Schwarzenberg erstrebten Wege nicht erlangen konnte. Prokesch hatte darin eine Gegenleistung Preußens gegen die Bewilligung der Parität sehen wollen, zu der er Angesichts des zähen Widerspruches in Berlin schließlich hinneigte. Als aber Schwarzenberg auf seiner Forderung bestand, wandte Manteuffel den Gedanken des österreichischen Gesandten dahin, daß er gegen einfache Herstellung des alten Bundestages die Bereitwilligkeit Preußens zu einer solidarischen Vertretung des österreichischen Gesammtbesitzes aussprach. Es begreift sich, daß Schwarzenberg, da er nun einmal die Gefolgschaft von ganz Deutschland nicht erlangen konnte, gerne hierauf einging. Allerdings erlebte er noch einmal eine Enttäuschung, da sich der König am Ende doch nur auf drei Jahre binden wollte und in den österreichischen Entwurf gewisse Artikel hineinbrachte, die in Wien unbequem empfunden wurden: aber immerhin war der Bund, der geheim blieb, für Schwarzenberg’s Politik ein bedeutender Gewinn; denn seinen Hauptzweck, die Sicherung Italiens durch preußische Waffenhülfe sah er dadurch fürs erste erreicht; und da Oesterreich in dem alten Bunde die Präsidialgewalt verfassungsgemäß zustand, hoffte er, durch ihre stärkere Ausbildung den Bund allmählich gefügig machen und den Dualismus, den er in der Paritätsforderung gefürchtet hatte, vermeiden zu können. Für Preußen aber war die Allianz nur eine neue selbstgeschmiedete Fessel.

Frankfurt.

So war der Boden beschaffen, auf den B. von dem König, der dabei einem Vorschlage Gerlach’s folgte, im Mai 1851 gestellt wurde. Er kam zunächst nur an zweiter Stelle, mit dem Titel eines Geheimen Legationsrathes als Begleiter des Generals v. Rochow, der seit dem Herbst in Petersburg Gesandter war, aber auf den Wunsch des Königs sich bereit erklärte, die Wiedereinführung Preußens in den Rath Gesammtdeutschlands zu vollziehen; jedoch hatte B. vom König bereits die mündliche Zusage erhalten, daß er, sobald Rochow, was ganz in dessen Wünschen lag, an die Newa zurückkehren würde, die alleinige Vertretung der preußischen Politik in Frankfurt haben sollte. Friedrich Wilhelm glaubte in dem treuen und beredten Vertheidiger des Vertrages von Olmütz den rechten Interpreten seiner Politik gefunden zu [592] haben. Und in der That kam B. nicht mit der Absicht, alsbald Bresche in das Verhältniß zu Oesterreich zu legen, sondern war ehrlich bereit, die neue Freundschaft zu pflegen. Freilich nur soweit, als sich die Stellung Preußens dabei ungeschmälert behaupten ließ. Er war kühl bis ans Herz hinan, ohne eine Spur von Vertrauen, voll stolzer Zuversicht zu der eigenen Kraft und fest entschlossen, jede Gelegenheit, um das Recht seines Staates zu wahren und seinem Vortheil zu dienen, zu benutzen. So lange nun Rochow da war, der seine Stellung im Sinne des Königs ansah und überhaupt der Initiative entbehrte, hielt er sich zurück; kaum aber sah er sich allein, als er die Oesterreicher spüren ließ, wie er die Freundschaft mit ihnen aufzufassen gesonnen war. Gleich in der ersten Sitzung, an der er als Gesandter theilnahm (27. August 1851), hatte er Lust anzubinden. Der Anlaß war so geringfügig wie möglich. Der englische Gesandte Lord Cowley war von Sardinien beauftragt, bei dem Bunde anzufragen, ob die Person des Herrn v. Pralormo in Paris für die Stellung eines sardinischen Gesandten dem Bunde genehm sei; er hatte sich deshalb an den Präsidialgesandten Grafen Thun gewandt, und dieser ihm eine amtliche Antwort verweigert, da es unangemessen sei, daß Sardinien in dieser innerdeutschen Frage die Vermittlung Englands in Anspruch nehme. B. war sachlich mit dem Vorgehen Thun’s ganz einverstanden; aber er empfand es als ungehörig, daß derselbe den Lord zurückgewiesen hatte, ohne erst bei dem Bundestage Rückfrage zu geben; nur der Umstand, daß der Präsidialgesandte seine Mittheilung nach der Erledigung der Sitzungsgeschäfte machte und sie als eine vertrauliche bezeichnete, bewog ihn seine Bedenken zurückzuhalten. Es war, wie man sieht, lediglich eine Formfrage, aber sie traf genau den Punkt, an dem sich die Dresdner Verhandlungen zerstoßen hatten, und führte in den Kern des Gegensatzes ein: die Politik des Königs hatte diesen zu verschleiern gesucht, B. trieb ihn geflissentlich, sowie er nur auftrat, wieder hervor. Auch die Oesterreicher waren nicht gewillt, ihn zu umgehen, sondern es entsprach ganz der rücksichtslosen Art des Fürsten Schwarzenberg, wenn Graf Thun jede Gelegenheit benutzte, um die Leitung des Bundes durch Oesterreich zu markiren. Eben das war die Absicht, die der Präsidialgesandte, in jeder Hinsicht, wie B. einmal schreibt, das Daguerreotyp seines Chefs, mit den souveränen Verkehrsformen verfolgte, die er sich den Collegen gegenüber herausnahm; wenn er z. B. Bismarck auf dessen ersten Besuch im Mai eine Karte schickte, persönlich aber nicht bei ihm erschien und auf keinen weiteren Besuch, auch die officiellen, nicht, reagirte, oder wenn er ihn im Vorzimmer lange warten ließ, beim Empfang aber keinen Stuhl anbot, während er selbst mit der Cigarre im Munde sitzen blieb. Er machte es übrigens mit den Andern gerade so; selbst Rochow hatte einmal zwanzig Minuten antichambriren müssen. Bei B. jedoch kam er an den Unrechten. Amtlich machte dieser nichts daraus; nur „zur Erheiterung“ theilte er seinem Chef derartige kleine Erlebnisse mit; er beobachte, schrieb er ihm am 6. Septsember, dieses seltene Exemplar von Diplomat mit der Ruhe des Naturforschers und schmeichle sich, zu seiner gesellschaftlichen Glättung wenigstens ihm selbst gegenüber schon einiges beigetragen zu haben, ohne daß ihr gegenseitiges Verhältniß den freundschaftlichen und vertraulichen Charakter verloren habe. Als es ihm der College gar zu grob machte, wurde er deutlicher und führte eine Aussprache herbei, in der er sich unumwunden über den Mangel an Rücksicht und Höflichkeit beschwerte, den derselbe an den Tag legte. „Er war“, berichtet er darüber dem Minister, „für meine Offenheit auf das vollständigste und über mein Erwarten empfänglich, versprach Abstellung meiner Gravamina, und seitdem geht Alles zwischen uns besser, und er ist, für [593] mich wenigstens, sehr viel rücksichtsvoller.“ Es war der erste Sieg, den er über Oesterreich erfocht.

Auf sachlichem Gebiet freilich war Graf Thun nicht so leicht gewillt zu weichen, und da auch sein Gegner keinen Zollbreit des eigenen Besitzes aufgab, so war der Kriegszustand vom ersten Tage ab gegeben. Wenn B. selbst für ein loyales Zusammengehen mit Oesterreich war, so bestimmte ihn neben Gesichtspunkten der europäischen Politik vor allem die Gemeinsamkeit der Interessen gegen die Revolution; die Demokratie sollte niedergehalten werden. Dafür schien ihm auch der deutsche Bund dienlich zu sein, über dessen Nutzen für Preußen er im übrigen von vorn herein sehr gering dachte. Indessen gewahrte er bald, daß seine Regierung stark genug sei, um sich auch darin ganz auf sich selbst zu verlassen, ja daß sie unter Umständen sogar noch Vortheil von den Verlegenheiten der Andern haben könne. Er zögerte nicht lange, die Consequenzen daraus zu ziehen; bereits im December 1851 rieth er, finanzielle Nöthe, in welche die kurhessische Regierung durch die Verzögerung der Einführung ihrer neuen reactionären Verfassung zu gerathen drohte, als „Coercitiv“ zu benutzen, um sie in der Frage des Zollvereins von ihrer Neigung, zu Oesterreich abzuschwenken, zu curiren. Und auch in der Auffassung der inneren Politik begann sich eine Wandlung in ihm vorzubereiten. Seine ersten Briefe aus Frankfurt, an Gerlach und den Minister v. Manteuffel, lauteten noch ganz reactionär, im Sinne des Bruches mit der Constitution und des Kampfes mit der Bureaukratie; er tadelte die Lauheit der Regierung, die durch halbe Maßregeln die Opposition ermuthige und die Freunde enttäusche, statt sich auf die eigene Kraft zu verlassen und die Gegner niederzuwerfen. Aber schon im September sprach er gegen seinen Chef, „auf die Gefahr hin, von ihm für einen constitutionellen Renegaten gehalten zu werden“, die Meinung aus, daß ein Gewaltschritt zur Beseitigung der Verfassung, ein formeller Bruch derselben unter den jetzigen Umständen nicht einmal wünschenswerth, geschweige denn nothwendig wäre; die Verfassung habe durch die Art, wie sie sich in den letzten beiden Jahren ausgebildet und interpretirt habe, aufgehört, das Regime an sich zu hemmen und werde mehr und mehr das Gefäß, dem erst die Persönlichkeiten, welche regieren, den Inhalt verleihen. Der Gegensatz zwischen beiden Anschauungen, so schroff er auf den ersten Blick erscheinen mag, tritt dennoch fast zurück, wenn wir das Motiv ins Auge fassen, von dem B. sich in jedem Falle leiten ließ. Es war beide Mal das gleiche: im Juni rieth er zu rücksichtslosem Vorgehen, weil die Regierung stark genug sei, den Widerstand zu brechen, wenn sie nur wolle; im Herbst empfahl er ihr Toleranz, weil sie stark genug sei, ihren Willen auch mit der neuen Verfassung durchzusetzen – vorausgesetzt, wie er hinzufügte, daß sie aus dem angeblichen „Geist“ des constitutionellen Systems keine Verbindlichkeiten für sich selbst erwachsen lasse, vielmehr nur solche Veränderungen des Rechtszustandes anerkenne, welche nach stricter Auslegung der Verfassungsparagraphen, expressis verbis und zweifellos in letzteren ausgesprochen seien. Er näherte sich damit dem Wege der Gothaer, die auf ein zugleich mächtiges und liberales Preußen hinsteuerten, brauchte aber dennoch nicht seinen angestammten Boden zu verlassen. Jene sprachen viel von Preußens Größe, aber sie dachten dabei mehr noch an Deutschland; denn sie wollten Preußens Kraft den nationalen und liberalen Zielen dienstbar machen, mithin Interessen unterwerfen, die ihm ursprünglich und an sich fremd waren: B. hingegen stritt gerade für die Unabhängigkeit der preußischen Krone, und nur weil dieselbe von den liberalen Meinungen nichts zu fürchten habe, rteth er diese daheim zu toleriren und nach außen hin gelegentlich zu fördern; [594] weniger seine Ueberzeugung hatte sich geändert als seine Taktik. Zugleich bemerkte er, daß Preußen allein in der günstigen Lage sei, nach Belieben der öffentlichen Meinung zu trotzen oder sie für sich auszunutzen. Denn die kleinen Regierungen, die dem Sturm fast erlegen waren, hatten sein Wiedererwachen fast am meisten zu fürchten, sie hatten ein natürliches Interesse an der Reaction, und dies besonders trieb sie auf die Seite Oesterreichs. Und dabei waren sie nicht einmal fähig, die reactionäre Politik resolut durchzuführen; hatten sie sich doch selbst weit eher als die Großstaaten den liberalen Meinungen ergeben, sich in der Zeit, da Preußen und Oesterreich noch absolut regiert waren, damit gebrüstet und die Gunst der öffentlichen Meinung gewonnen; die Bewegung von 1848 hatte ihre Gebiete am frühesten ergriffen, und vor allem ihre Kammerredner waren die Wortführer in Frankfurt gewesen; noch zitterte überall unter ihnen der Boden, und nur die Hoffnung auf die Hülfe der Großmächte konnte ihnen Muth machen, gegen die Demokratie vorzugehen. Daß sie von Wien aus dabei im Stich gelassen würden, brauchten sie nicht zu besorgen, so lange wenigstens Schwarzenberg’s Programm intact blieb. Denn für Oesterreich war es von jeher eine Lebensfrage gewesen, die Demokratie zu fesseln, und seit der Revolution hatte es die Freundschaft der Kleinen noch nöthiger als sie die seine. Hier lag, wie B. sehr bald durchschaute, eine der Wurzeln des Zwiespaltes der deutschen Vormächte. Der Rückhalt, den das Donaureich in der vormärzlichen Epoche an dem Bunde mit Rußland und Preußen gehabt hatte, war durch die deutsche Bewegung zerbrochen worden, und die gemeinsame Reaction hatte nicht vermocht das alte Vertrauen wieder herzustellen, die Interessen der drei Mächte waren auseinander gewichen. Das war es, und nicht sowol persönliche Willkür und der Ehrgeiz seiner Staatsmänner, was Oesterreich antrieb, Metternich’s Traditionen aufzugeben.

B. war auch in Deutschland bereit mit Oesterreich zu gehen, aber so daß beide Mächte sich in ihren Einfluß theilten; vom europäischen Standpunkt aus, gleichberechtigt, als Großmächte sollten sie über die Geschicke der Nation entscheiden. Daß Oesterreich auch auf diesem Wege große Vortheile gewinnen konnte, lag auf der Hand. Der Bund beider Mächte stellte Deutschland unbedingt zu ihrer Verfügung; die Kleinen hätten es nicht wagen sollen, sich zwischen den beiden Großstaaten zu rühren; auch die revolutionären Elemente in Ungarn und Italien konnten, so lange Preußen treu blieb, niedergehalten werden; die europäische Stellung des von inneren Calamitäten erfüllten Kaiserstaates war mit einem Schlage gesichert, wenn es ihm gelang, sich mit der gesunden preußischen Kraft zu verkoppeln. Und nichts Anderes war es schließlich, was Schwarzenberg wollte. Aber Bedingung Preußens im Sinne Bismarck’s war, daß Oesterreich die Grundlagen seiner Politik aufgab, seine alten Traditionen und die neuen Hoffnungen, alle Sympathien und Freundschaften, die ihm in Deutschland daraus erwuchsen, und daß es sich auf den Boden hinüberziehen ließ, der für die Hohenzollern der angestammte war; es wäre in Abhängigkeit gerathen von dem Staat, der auf seine Kosten, im Kampf mit ihm groß geworden war. Und konnte es erwarten, daß die Freundschaft von Dauer sein würde? Doch nur, wenn Preußens Interessen, denn zunächst war dies der gebende und Oesterreich der empfangende Theil, befriedigt wurden. Wo aber konnte dies anders geschehen als in Deutschland, auf dem Felde der alten Rivalität, wo jede Vergrößerung des preußischen Einflusses ein Nachtheil für Oesterreich werden mußte? Und wer garantirte dafür, daß Preußen für alle Zeiten sich an ein Verhältniß fesseln lassen würde, an dem es kein specifisches Interesse hatte? Gerade das Wachsthum seiner Macht in Deutschland hätte seinen [595] Ehrgeiz und die Hoffnungen der Patrioten, die Alles von der protestantischen Großmacht erwarteten, aufs neue beleben müssen. Später hat sich Oesterreich ja in der That auf diesen Weg verlocken lassen: im Herbst 1863, in der dänischen Frage: es ist derjenige, auf dem es schließlich bis Nikolsburg gelangt ist. Wie hätte man aber diesen Schritt von seinen Staatsmännern unmittelbar nach Olmütz erwarten können, als Preußen besiegt war und die Revolution am Boden lag, Oesterreich aber der Majorität im Bunde, ja selbst noch der Freundschaft mit Rußland sicher zu sein glaubte! Wenn je, so schien jetzt die Zeit für Habsburg gekommen, um auf neuen Wegen dem alten Ziele nachzustreben.

Indessen sollte die Politik des Fürsten v. Schwarzenberg auch seitens der Kleinstaaten bald genug arge Enttäuschungen erleben. Denn wie sehr die deutschen Regierungen nach Wien incliniren mochten, gab es für sie doch Interessen, die sie wider Willen zu Preußen hintrieben. Sie lagen vor allem auf dem wirthschaftlichen Felde, und dies war fast die erste Erfahrung, die B. in Frankfurt machte. „Für sehr nützlich würde ich es halten“, so schreibt er in seinem ersten Brief an Gerlach, am 22. Juni, „wenn man sich bei Zeiten, mit den deutsch-materiellen Fragen befaßte. Diejenige Stelle, die darin die Initiative ergreift, sei es der Bundestag, der Zollverein oder Preußen allein, wird einen großen Vorsprung in den Sympathien der Betheiligten haben, denn die Sachen, quae numero et pondere dicuntur, sind der Mehrzahl der Deutschen wichtiger als Ihnen und mir, und wenn ich auch eine Gleichheit von Maß, Gewicht, Wechselrecht und anderen derartigen Schnurrpfeifereien nicht sehr hoch anschlage und für schwer ausführbar halte, so sollte man doch den guten Willen zeigen und zu Ehren des Handwerks etwas damit klappern, das heißt mehr von Preußischer als von Bundestäglicher Seite.“ Gleich die erste Kraftprobe, welche die österreichische Bundespolitik zu bestehen hatte, die Verhandlungen über die Neuordnung des deutschen Zollwesens, sollte zeigen, wie genau in jenen Worten die Verhältnisse charakterisirt waren. Der Plan des Wiener Cabinetts, mit dem es schon im December 1849 hervorgetreten war, ging gerade auf den Punkt los, in dem B. eine Aufgabe für die eigene Politik erkannt hatte: es forderte, daß die Zollgesetzgebung und Zollpolitik zur Bundessache gemacht werde. Im Besitz der Präsidialgewalt hoffte Schwarzenberg so die materielle Grundlage für sein Siebzigmillionenreich zu erreichen; er meinte, dadurch den alten Zollverein mattsetzen und Preußen aus einer seiner sichersten Positionen verdrängen zu können. Die Verhandlungen, die in Dresden fortgeführt und in Frankfurt alsbald wieder aufgenommen waren, verwickelten sich durch den Abschluß eines Handelsvertrags zwischen Preußen und Hannover am 7. September 1851, worin letzteres sich verpflichtete, am 1. Januar 1854 dem alten Zollverein beitreten zu wollen. An sich ein Erfolg der Berliner Regierung, bedeutete dies doch für sie insofern eine Gefahr, als sie zunächst den Zollverein kündigen mußte und dadurch den Intriguen der Oesterreicher Thür und Thor öffnete; was ihnen am Bundestage nicht sogleich gelang, hofften dieselben jetzt auf Sonderwegen zu erreichen: sie machten den Versuch, durch eine Zolleinigung mit den Mittelstaaten ohne Preußen dies auf seinem eigenen Felde zu schlagen. Aber eben da zeigte es sich, wie viel stärker die Position Preußens war. Die deutschen Regierungen mochten so österreichisch gesinnt sein wie sie wollten, die Interessen ihrer Bevölkerungen zeigten sich stärker als ihre Wünsche: in Sachsen dachte kein Mensch an Trennung von Preußen, und die Sympathien, welche die Wiener Vorschläge in Süddeutschland fanden, waren künstlich geschürt und fielen vor dem Gegenfeuer, das B. in der dortigen Presse anrichtete und aufs geschickteste nährte, bald in sich zusammen.

[596] Im Mai 1852 wurden die Verhandlungen nach Wien übertragen, wohin B. als Stellvertreter des Grafen Heinrich v. Arnim auf einige Monate ging; er hatte den Auftrag, statt des Zollvereins einen Handelsvertrag mit Oesterreich zu vereinbaren. Das Feld war dort, dem Ministerium und dem Kaiser selbst gegenüber, viel schwieriger zu halten; B. mußte leiser auftreten als in Frankfurt, zumal da der König mit seiner Mission die Absicht verfolgte, die Schwierigkeiten zu glätten und in freundlichere Verhältnisse zu dem Kaiserhof zu gelangen; aber es gelang dem Gesandten, Offenheit und Entgegenkommen in der Form mit unerschütterlicher Festigkeit in der Sache zu vereinigen; er ließ sich schlechterdings nichts von den Oesterreichern abhandeln. Seine Taktik war, den Conflict lediglich als einen solchen der materiellen Interessen hinzustellen, der das politische System nicht berühre und ein loyales Zusammengehen der beiden Großmächte sehr wohl ermögliche. Umgekehrt verfuhren die habsburgischen Diplomaten; sie verhehlten keinen Augenblick, daß sie sich bei den Verhandlungen ganz von politischen Rücksichten leiten ließen. So schon Thun in Frankfurt, und so der Nachfolger Schwarzenberg’s, der im März gestorben war, Graf Buol, in einer Unterredung, die er mit dem preußischen Gesandten am 15. Juni in Wien hatte. Wenn Oesterreich, erklärte der neue Minister, den Handelsvertrag annähme, so würde es sich dadurch selbst inbezug auf Deutschland als Ausland bezeichnen; es sei aber nicht möglich, die Frage lediglich als eine materielle zu betrachten, sie habe ihre unzertrennbare, wenn nicht vorwiegend politische Seite; Oesterreich kämpfe dabei um seinen legitimen politischen Einfluß in Deutschland, und wenn Preußen allein an der Spitze eines ganz Deutschland umfassenden Zollvereins stehe, so werde eine Wiederaufnahme der Unionsbestrebungen der letzten Jahre von Vielen gefürchtet werden. Auch die nationale Saite versuchte Buol anzuschlagen: Preußen trage die Zersetzung in Deutschland hinein, seine Unfreundlichkeit habe ihm bereits die stammverwandten Staaten entfremdet, welche die Zollunion begehrten; aber sie würden sie auch ohne Preußen behaupten, denn Oesterreich würde sich ihren gemeinsamen Interessen nicht entziehen, froh darüber, daß es nicht die Schuld an dem Unglück trage, welches dadurch über Deutschland gebracht würde. B. erwiderte kühl, Preußen habe in den letzten Jahren das Geschäft, Pflichten für Deutschland zu erfüllen, als ein undankbares kennen gelernt, es sei entschlossen, seinen finanziellen und volkswirthschaftlichen Haushalt bürgerlich und praktisch zu regeln; es werde sehr gern denjenigen seiner Bundesgenossen, welche durch die Gleichheit der Interessen dahin getrieben würden, die Thür offen halten, keinesfalls aber um ihren Zutritt durch Concessionen werben, welche außerhalb der für nützlich erkannten Richtung lägen; die königliche Regierung sei weit davon entfernt, denjenigen deutschen Staaten, welchen die handelspolitischen Vorschläge Oesterreichs vortheilhaft erschienen, auch nur den Rath zu deren Nichtannahme zu ertheilen oder dem Verhältniß Oesterreichs zu diesen Staaten „irgendwie eine Richtung zu geben auch nur zu versuchen“, welche der Auffassung des kaiserlichen Cabinetts von seinen Bundespflichten nicht entspräche. Er konnte so sprechen, weil er wußte, daß die Kleinstaaten es sich drei Mal überlegen würden, bevor sie sich ohne Preußen mit Oesterreich wirthschaftlich liirten; Buol mußte die Worte wie hellen Spott auf seine Drohungen empfinden. Aber sie entsprachen genau dem Sinn der Bismarckischen Politik. Er wollte in der That nichts als die materiellen Interessen gelten lassen, weil er wußte, daß sie die Kleinstaaten am sichersten heranbrachten; es bedurfte dazu keiner Ueberredung und keines Zwanges; Preußen brauchte nur auf dem Wege zu bleiben, den es längst vor der Revolution beschritten hatte, um in Deutschland vorwärts zu kommen, nur seine eigenen Interessen zu Rathe [597] ziehen, um die der Kleinstaaten an sich zu fesseln. Für Oesterreich hätte der Handelsvertrag, den das Berliner Cabinett ihm hinhielt, wenn es nichts als die materiellen Interessen ansehen wollte, dieselben oder vielleicht gar bessere Verhältnisse geschaffen als die Zollunion mit den industriell so viel stärkeren deutschen Ländern; aber es gab damit eine der stärksten Waffen preis, um die politische Macht im Bunde zu behaupten; es schied wirklich auf einem der wichtigsten Lebensgebiete aus Deutschland aus; es sanctionirte wirthschaftlich die Trennung, auf welche die Revolution in ihrer ganzen Entwicklung hingesteuert hatte, und die es gerade jetzt rückgängig zu machen suchte. Von außen angesehen, war das österreichische Project das national gefärbtere, und so konnte Buol und Alles was zu Oesterreich hielt in vaterländischen Hochgefühlen schwelgen: B. hatte nichts dagegen einzusetzen, selbst wenn er es gewollt hätte; aber er vermied es sogar solche Intentionen hervorzukehren, denn er konnte sich sagen, daß die kleinen Regierungen den Weg nach Berlin um so eher finden würden, je weniger sie preußische Unionsgelüste zu fürchten hätten.

So war es nun bei allen Fragen, vor die sich unser Held in Frankfurt gestellt sah, von der Höhe der europäischen Politik her bis in das nie abbrechende häusliche Gezänk am Bundestage hinein: eine jede entwickelte sich unter seinen Händen zu einem Kampf um die Macht mit Oesterreich und trieb den althistorischen Gegensatz zwischen den beiden Staaten, den der König zu verwischen bemüht war, von neuem hervor. Viel schärfer als es die Erbkaiserlichen in Frankfurt, geschweige denn Friedrich Wilhelm IV. mit seinen Unionsplänen jemals gewollt hatten. Sie Alle hatten noch immer gehofft die nationale Reform in friedlichem Ausgleich mit Oesterreichs Ansprüchen vollziehen zu können, und das war auch jetzt noch die überwiegende Stimmung des liberalen Deutschlands. Für B. hingegen ergab sich aus jedem dieser Conflicte, daß dies im Rahmen der deutschen Politik unmöglich sei, daß es hier nur galt zu weichen oder „gewichen zu werden“. Er war nach wie vor zu einer Verständigung bereit, im Sinne einer Theilung der Beute; aber niemand sah genauer als er, daß dieser Weg für Oesterreich kaum beschreitbar war, gleichbedeutend mit dem Rückzug aus kaum gewonnenen Positionen, mit dem Aufgeben aller seiner Ueberlieferungen, und daß der Kampf, auf den Alles hindrängte, in der Geschichte der beiden Monarchien gegeben war. Daß Preußens Krone dadurch in Gegensatz mit den nationalen Wünschen und den liberalen Tendenzen gerathen mußte, konnte den alten Gegner der Revolution nicht irre machen; um so weniger, da sich ihm bei jeder Gelegenheit zeigte, daß Preußen trotz alledem mehr auf die Sympathien der Patrioten oder auch auf die Wünsche der Regierungen rechnen konnte als der Staat Metternich’s und Schwarzenberg’s, und daß es schlimmsten Falls stark genug war, um sich auf sich selbst zurückzuziehen. Es war die Politik der Macht, die er vertrat, gegenüber der Politik des Scheines und der Schwäche. Und selbst den Schein konnte Oesterreich oft nicht behaupten. So in den Verhandlungen über die deutsche Flotte, worin die Sympathien der Patrioten ungewollt den Vorschlägen Preußens zufielen, das von der Revolution her ein sehr ernstes, nur wieder durch den eigenen Vortheil gebotenes Interesse an der deutschen Seewehr genommen, seine Beiträge entrichtet hatte, und auch jetzt für den Schutz der deutschen Küste bereit war; während von Oesterreich nichts eingelaufen noch irgend ein Vorschlag zu erlangen war, der etwas anderes als sein Unvermögen und seinen Widerwillen gegen eine Schöpfung, die in Preußens Machtsphäre fiel, an den Tag gebracht hätte.

[598] Auch den kirchlichen Conflicten, die seit der Revolution wieder breiteren Raum in dem Leben der deutschen Parteien einzunehmen begonnen hatten, schenkte B. frühzeitig seine Aufmerksamkeit. Er war ein zu guter Protestant, um nicht zu wissen, daß ein Staat wie Preußen, der auf dem Grunde der Reformation ruhte, niemals zu einem innern Ausgleich mit dem römischen Geiste gelangen würde, und es konnte ihm nur lieb sein, in der öffentlichen Meinung oder auch an den protestantischen Höfen Hülfe zu finden gegen eine Diplomatie, die im katholischen Lager ihre eifrigsten Parteigänger besaß; bei mehr als einer Gelegenheit, am nachdrücklichsten im badischen Kirchenstreit, trat er auch auf diesem Felde dem Rivalen entgegen. Aber einen maßgebenden Einfluß auf seine Politik räumte er dem religiösen Moment dennoch nicht ein. Es gehörte seiner Natur nach nicht zu den Factoren, mit denen seine Politik rechnete, die nur consolidirte Kräfte anerkannte und die Berührung mit den Schwingungen der öffentlichen Meinung eher vermied als aufsuchte; und er hatte um so weniger Lust dazu, confessionelle Politik zu machen, als er damit in die Wege der Gothaer zu gerathen drohte, deren Hauptstärke sonst doch nicht gerade die Bekenntnißtreue war; ihre Diatriben gegen den Ultramontanismus waren ihm zu nahe verwandt mit ihrem politischen Programm. Vor allem aber, die kirchliche Parteinahme entsprach nicht den Interessen Preußens wie er sie verstand. Die Zeiten, da der confessionelle Hader die Kämpfe der deutschen Fürsten gegen Habsburg beherrscht hatte, waren vorüber, und nur das Princip der „Libertät“, wie es in der Diplomatensprache des alten Reiches genannt war, das Machtinteresse der Territorialpolitik war, wenigstens für B., in Geltung geblieben. Wie er darin die alleinige Richtschnur für Preußen sah, so beurtheilte er auch jede andere Macht nach dem Maaße ihrer Kraft und der Bedeutung, die sie dadurch für Preußen gewinnen konnte. Die confessionelle Politik wäre das sicherste Mittel gewesen, um Bayern auf die Seite Oesterreichs zu treiben: B. aber suchte sofort Fühlung mit dem größten der deutschen Mittelstaaten zu gewinnen; er rechnete, wie auch der große König gethan hatte, auf die alte Rivalität zwischen den Häusern Habsburg und Wittelsbach und zog bereits gelegentlich in Erwägung, ob nicht die Theilung Deutschlands in eine norddeutsche und süddeutsche Sphäre, wenn es nicht mit Oesterreich ginge, zwischen Berlin und München vereinbart werden könnte. Schon im ersten Jahr bemerkte er mit Genugthuung, daß die Bayern gar nicht unempfänglich für seine Freundlichkeiten waren.

Immerhin war in der ersten Zeit die Position des Präsidialgesandten am Bunde stärker als diejenige seines Rivalen; die Furcht vor neuen Erschütterungen, das Mißtrauen gegen Preußen hielt die Majorität an Oesterreich gefesselt. Aber gleich die erste Krisis der europäischen Politik, der Ausbruch des Krimkrieges, bewies den Kleinen, wie unbequem es für sie werden konnte, sich stets im Fahrwasser der slavisch-magyarischen Großmacht zu halten, und drängte sie näher an den Staat der Hohenzollern heran. Das Interesse, daß sie mit diesem gemein hatten, war der Friede, den Oesterreichs Verhalten zu stören drohte. Freilich beschritt auch das Wiener Cabinett nur mit Zagen den Weg, auf den die Westmächte es zu schieben versuchten. Der Bund mit dem Zaren hatte Oesterreich das Uebergewicht in Deutschland verschafft, und es war klar, daß das ganze System Schwarzenberg’s erschüttert werden mußte, wenn man jetzt dem Freunde, dem man die Rettung verdankte, den Weg verlegen wollte. Durfte man es wagen, sich auf die liberalen Kräfte, die zum Kriege gegen Rußland drängten, zu stützen, den Zaren schwächen, um den neuen Bonaparte zu stärken, der in jedem Augenblick die „Pandorabüchse von [599] Italien“, wie B. schrieb, zu öffnen in der Lage war? Konnte man überhaupt den inneren Schwierigkeiten, vor allem dem verwirrten Stande der Finanzen gegenüber die Wechselfälle des Krieges auf sich nehmen? Aber auch der Vormarsch der Russen gegen die Donau stellte Oesterreich vor eine Frage der Existenz; unmöglich konnte es mit ansehen, daß der Zar ihm die Lebensader unterbinde, allen Einfluß auf der Balkanhalbinsel an sich reiße. Dieser grausame Zwang seiner Lage, viel mehr als die ungeschickte Hand des Grafen Buol, hat den Donaustaat in die gewundenen Wege, die er im Kriege einhielt, hineingeführt; von übermächtigen Einflüssen umgeben, gerieth er bei der ersten allgemeinen Erschütterung ins Schwanken; er war nicht mächtig genug, um eine feste Bahn zu verfolgen. B. seinerseits übersah die Situation vollkommen, und vom ersten Tage ab war ihm der Weg klar, den er zu gehen hatte. Sein Staat ward durch den Krieg nicht berührt und war stark genug, sich aus der Affaire zu halten, also war Neutralität im Moment für ihn die rechte Politik: so die Summe der Rathschläge, die er seiner Regierung während des Krimkrieges gegeben hat. Es war der Weg, den Preußen schließlich gegangen ist, und der Erfolg war so, wie B. ihn hundert Mal vorausgesagt hatte: das Schwergewicht des kleineren Deutschlands reichte aus, um Oesterreich von dem Kriege zurückzuhalten; zum ersten Mal seit Jahrhunderten blieb Mitteleuropa von einer europäischen Conflagration unberührt und genoß die Segnungen des Friedens, während der Osten und Westen des Erdtheils in wildem Kampfe verstrickt waren. Heute ist Jedermann davon überzeugt, daß es die beste Politik war, die Preußen und die deutschen Kleinstaaten machen konnten; keine andere hat B. in dem letzten russisch-türkischen Kriege verfolgt. Zu jener Zeit aber hat sie die stärksten Anfeindungen erfahren und zwar nicht bloß von Seite der Liberalen, sondern gerade auch in den der Krone näherstehenden Kreisen, und der Kampf in dem eigenen Lager ist für den großen Staatsmann schon damals, wie später so oft, ermüdender und aufreibender gewesen als der mit seinen eigentlichen Gegnern. Denn Friedrich Wilhelm vermochte niemals im Sturme fest zu stehen, und Manteuffel war nicht der Mann, um ihm das Steuer aus den losen Händen zu nehmen; König und Minister ließen sich von den auf sie eindringenden Strömungen bald hierhin, bald dorthin treiben. Die Krisis erreichte ihren Höhepunkt in den ersten Märztagen 1854, als die Westmächte in Petersburg ihr Ultimatum gestellt hatten und im Verein mit Oesterreich die preußische Regierung zum Beitritt aufforderten. Um seinen Freunden zu Hülfe zu kommen, eilte B., der der unheilvollen Entwicklung mit wachsender Angst gefolgt war, selbst nach Berlin; er hatte sich die Einladung durch Gerlach zu verschaffen gewußt. Als er eintraf, war seine Partei fast erlegen, Manteuffel hatte bereits eingewilligt, die Sommation der Mächte in Petersburg unterstützen zu wollen. Nicht am wenigsten den Bemühungen Bismarck’s, der mehrere Wochen am Hof blieb, gelang es, die Gefahr abzuwenden; aber schon im April hatten die Gegner im Rath des Königs, an deren Spitze sein eigener Bruder Wilhelm stand, wieder die Oberhand, und das Bündniß mit Oesterreich am 20. jenes Monats drohte ein erster Schritt zu der Vasallenpolitik hin zu sein, in der B. das Unheil Preußens erblickte. Anfang Mai eilte er von neuem hinüber, und wieder war es Gerlach, der seine Berufung, dies Mal mit Umgehung des Ministers, bei dem König durchgesetzt hatte. Doch fand B. das Feld bereits frei, Bunsen und Bonin nicht mehr im Amt und den Prinzen von Preußen nicht mehr bei Hof; an dem Tage, da er eintraf, reiste Wilhelm, fast im erklärten Bruch mit seinem Bruder, nach Baden ab.

[600] Es war die Politik von Olmütz, welche Wilhelm damals fürchtete und bekämpfte. Er war kein Gegner Rußlands, wie die Liberalen, und dachte nicht daran, seinem Schwager, dem er die alte Freundschaft treu bewahrte, den Krieg ins Land zu tragen, wollte ihn vielmehr davor schützen. Aber er fürchtete, daß die Kreuzzeitungspartei den Staat auf die russische Seite hinüberführen und ihn dem Hasse der Nation und der Feindschaft Europas preisgeben würde. Solcher Uebermacht, meinte er, müßten Beide erliegen; Napoleon werde den Krieg über den Rhein tragen, und Preußen verlassen und verachtet seine in einer glorreichen Vergangenheit erworbene Stellung als Vormacht in Deutschland einbüßen. Nur durch den Beitritt zu der Convention könne die Gefahr beschworen werden; man müsse Rußland mit Krieg bedrohen, dann werde es Frieden halten; vor dem vereinigten Willen Europas werde es auf dem Wege, der ihm sonst selbst verderblich werden müsse, einhalten und sich zu einem ehrenvollen Rückzuge entschließen, um dann erst die rechte Frontstellung, mit Oesterreich und Preußen gegen Frankreich, einnehmen zu können. So hoffte also auch er, wie sein Bruder zur Zeit der Union, beides vereinigen zu können, die Freundschaft mit den Ostmächten und Preußens nationale Mission, und übersah ganz, daß er seinen Schwager zunächst doch in dieselbe Lage versetzen wollte, die sich Preußen in Olmütz hatte gefallen lassen müssen. Auch sonst waren seine Ansichten widerspruchsvoll genug; denn im November 1850 hatten doch nicht die Anhänger der Kreuzzeitung, sondern Radowitz und seine Freunde den Staat isolirt, und gerade der Widerstand des Zaren gegen Preußens nationale Politik hatte die Niederlage herbeigeführt: aber sie paßten in ihrem Gemisch von Antipathie gegen russischen und französischen Despotismus mit nationalen Tendenzen zu der Majorität der öffentlichen Gefühle, deren liberale Färbung der Hof von Coblenz angenommen hatte, und trafen andererseits wieder mit dem stärksten Empfinden des Prinzen, seinem preußisch-soldatischen Ehrgefühl, das durch Olmütz tief gedemüthigt war, zusammen. Das war es auch, was ihn bisher von B., mit dem er von Coblenz aus und auf seinen Reisen nach Baden mehrfach zusammengekommen war, ferngehalten hatte. Zwar hatte er den ersten Eindruck, den die Ernennung des Vertheidigers der Politik von Olmütz auf ihn machte, daß sie eine Mediatisirung Preußens unter Oesterreich bedeute, bald fallen lassen müssen, aber viel intimer war das Verhältniß zwischen Beiden kaum geworden. Jetzt, in der Krisis der preußischen Politik, geriethen sie aufs härteste aneinander. Am 4. März, einen Tag nachdem B. in Berlin eingetroffen war, befahl ihn der Prinz zu sich und entwickelte ihm sein System. Der Gesandte zögerte nicht, offen und rückhaltlos seine Gegenansicht vorzutragen. Er wies darauf hin, daß Preußen absolut keinen Kriegsgrund gegen Rußland habe, und kein Interesse an der orientalischen Frage, durch das sich der Bruch mit ihm rechtfertigen lasse; daß ein siegreicher Krieg, zu dem man durch nichts provocirt sei, Preußen nicht nur mit dem dauernden Revanchegefühl des bisherigen Freundes und immerwährenden Nachbarn belade, sondern es auch zwingen werde, die polnische Frage in einer mit den eigenen Interessen erträglichen Form zu lösen; daß man den Krieg überhaupt nur aus Furcht vor Frankreich oder im Liebesdienste Englands und Oesterreichs führen und sich in die Rolle eines indischen Vasallenfürsten oder des York’schen Corps beim Ausbruch des Krieges von 1812 herabdrücken lassen werde. Ja es scheint sogar, daß B. in der denkwürdigen Unterredung, die auf ihn selbst einen tiefen Eindruck gemacht hat, so daß er in den Memoiren ausführlich darüber berichtet, dem Prinzen schon das Gegenbild einer andern Allianz gezeichnet hat: einen Revanchebund des gedemüthigten Rußland mit dem kaiserlichen Frankreich, [601] in dem Preußen, wenn es sich jetzt frei halte, der Dritte sein könne; oder daß er doch auf die Vortheile hingewiesen hat, die Preußen, wenn es, nur von seinen eigenen Interessen geleitet, furchtlos seiner Macht vertraue, aus solcher Combination gewinnen könne, sei es auch nur, um damit zu drohen und Oesterreich oder die Kleinstaaten von ähnlichen Gelüsten abzuhalten. Es waren die Grundelemente der Politik, die Wilhelm als König, sobald er sich der Leitung des großen Staatsmannes überlassen, durchgeführt und die ihn auf die Höhe seiner historischen Stellung getragen hat. Damals aber konnte sich der hohe Herr in so außerordentliche Gedankengänge nicht finden. Bei dem Wort von der Furcht und dem Vasallendienst brauste er auf; sein soldatisches Ehrgefühl fand sich verletzt; „von Vasallen und Furcht“, so unterbrach er den Gesandten, „ist hier gar keine Rede“; in einem sehr aufgeregten Billet, das er gleich nach der Unterredung an den Chef Bismarck’s richtete, nannte er dessen Politik die Politik eines Gymnasiasten. Und doch ist in den Denkschriften und Briefen, die während des Krieges der nimmermüden Feder Bismarck’s entflossen, bereits das ganze System seiner Politik in fast lückenloser Vollständigkeit enthalten. Ihr Eckstein war in der That die Freundschaft mit Rußland, und da er darin der Ueberlieferung seiner Partei folgte, konnte er wol den Außenstehenden als ein Führer der Camarilla, als der schroffste der Russenfreunde erscheinen. Niemals war er mit Gerlach enger liirt gewesen; über jede Wendung der königlichen Entschlüsse, die auch nach dem Mai, und so lange der Krieg währte, jedem Lufthauch in der europäischen Politik nachgaben, ward er durch den Freund unterrichtet; und sobald sie die Gefahr witterten, fanden sie einen Vorwand, um ihn an das Hoflager zu bringen, und war er zur Stelle. In der Märzkrisis, als Manteuffel’s Tage gezählt schienen, tauchte bei den Heißspornen der Partei der Gedanke auf, ihn zum Nachfolger des Ministers zu machen; wieder war es sein alter Freund Senfft-Pilsach, der ihn dem König in Vorschlag brachte; selbst Gerlach, den der Monarch darum fragte, schien das Mittel zu scharf zu sein, und er rieth davon ab. In Wahrheit jedoch war B. seiner Partei längst entwachsen. Für Gerlach und seine Leute war die Freundschaft mit Rußland ein Glaubenssatz, ein Stück der Parteidoctrin geblieben: es galt ihnen die Bekämpfung der Revolution, so im Innern wie in den Beziehungen der Staatsgewalten zu einander; sie lebten immer noch in den Anschauungen der heiligen Allianz. B. aber hatte jeden Glauben an diese verloren; daß sie nicht mehr existire, war der Punkt, von dem alle seine Berechnungen ausgingen. Seine Sympathie für Rußland trat nirgends über den Kreis der preußischen Interessen hinaus, und er war fern davon, dieselben mit denen der zarischen Politik zu identificiren: „im Gegentheil“, schrieb er an Manteuffel während des Krieges, „Rußland hat viel an uns verschuldet“; gegen die Revolution aber brauche Preußen die Hülfe des Zaren nicht, es werde allein mit der eigenen wie mit der deutschen fertig werden. Er wäre auch vor einem Kriege mit Rußland nicht zurückgeschreckt, hätte sich nur für Preußen ein Kampfpreis gezeigt, der ihn lohnte. Aber statt dessen sah er, daß alle Vortheile eines Sieges über das graeco-slavische Kaiserreich den alten Schildhaltern Roms, Oesterreich und den Polen zufallen würden. Diese Ansichten hatte er bereits in den preußischen Revolutionstagen verfochten. Auch damals hatte er darin alle Parteien, von dem äußersten radicalen Flügel her bis in das Ministerium gegen sich gehabt; der König selbst hatte damals die allgemeinen polnischen Sympathien getheilt, und sie hatten seine ersten Schritte in der Revolution geleitet. Die Rebellion in den Ostprovinzen hatte zwar dieselben in Friedrich Wilhelm gedämpft, und selbst die Liberalen waren seither von ihrer Polenschwärmerei einigermaßen geheilt worden, [602] aber die Tendenzen dieser Politik gingen immer noch in der alten Richtung. Es war das Verhängniß, das von jeher über dem Liberalismus geschwebt hatte: er, der in der nationalen Idee seine eigentliche Basis besaß, seine Rechtfertigung vor Gott und der Welt gefunden hatte, sah sich, sobald er praktisch zu werden versuchte, von ihr abgedrängt und gezwungen, sie zu verleugnen. Was konnte berechtigter sein als der Haß der Patrioten gegen den russischen Despoten, der überall die Saaten der Freiheit niedertrat und sich als der Schutzherr jeder Reaction geberdete: aber der Kampf gegen ihn förderte mit Nothwendigkeit die Mächte, welche Deutschland von jeher die Wege zur nationalen Einheit und Größe verstellt hatten. Der Mann aber, der die deutsche Idee, wo er ihr noch begegnet war, bekämpft hatte, der „verlorene Sohn Deutschlands“, wie ihn der alte Führer der Liberalen genannt hatte, er, der nichts als Preußens Macht vor Augen sah, mußte die Nation auf den Weg zurückweisen, auf dem sie in einer tausendjährigen Geschichte, die auf jedem ihrer Blätter von deutscher Kraft und Arbeit redete, Reichthum und Größe erworben hatte. Abermals tritt uns an dieser Stelle die Verwandtschaft zwischen der Politik des Königs und der seiner liberalen Gegner vor Augen: sie waren beide noch Kinder desselben von schwärmerischen Stimmungen beherrschten Zeitalters: erst in B. war die politische Romantik völlig überwunden. Seine Realpolitik, welche die politischen Ideen überall und durchaus den Zwecken der Macht unterwarf, konnte freilich nicht das Ideal seiner Generation zur vollen Entfaltung bringen, aber indem sie Alles an die Größe desjenigen Staates setzte, in welchem die besten Kräfte des deutschen Wesens Macht gewonnen hatten, rettete sie wenigstens einen Theil der nationalen Güter und vermied die Wege, auf denen jene erhabenen, aber die Grenzen der Macht überfliegenden Gedanken zu blendenden Irrlichtern zu werden drohten.

Noch immer wies B. den Gedanken an eine Verständigung mit Oesterreich nicht völlig von sich; aber vor der mathematischen Logik der Thatsachen, um eines seiner Worte zu gebrauchen, schwand ihm mehr und mehr der Glaube an ihre Möglichkeit. „Bei der Bahn“, schreibt er an Gerlach zur Zeit des Pariser Congresses, „auf welche die Oestreichische Monarchie gesetzt ist, kann es für Oestreich nur eine Frage der Zeit und der Opportunität sein, wann es den entscheidenden Versuch machen will, uns die Sehnen zu durchschneiden; daß es den Willen dazu hat, ist eine politische Naturnothwendigkeit“. Darin liegt die Bedeutung des großen Kriegsfeuers, das im Osten entbrannt war, für die Entwicklung unseres Helden, daß es ihm die Unabwendbarkeit der Geschicke voll zum Bewußtsein brachte; einem Scheinwerfer gleich wies es ihm die Richtung in der Nacht der Zukunft. So galt es denn, sich auf das große Naturereigniß vorzubereiten und Preußen bei Zeiten einen Platz in der Neubildung der europäischen Constellation, die nach dem Kriege erfolgen mußte, zu sichern. Daß die Allianz der Westmächte den Frieden nicht überdauern würde, lag auf der Hand, denn England, das überhaupt mehr aus Rivalität als aus positivem Interesse, um Frankreich nicht allein bei der Schüssel zu lassen, in die orientalische Krisis eingegriffen hatte, konnte nicht wünschen, länger als Complice bei den gefährlichen Absichten des Emporkömmlings zu gelten. Auch Napoleon war darum genöthigt, sich auf dem Festlande nach Bundesgenossen umzusehen. Seine Gedanken waren jetzt auf Italien gerichtet, die Wiege seines Hauses und seiner Pläne, den Machtbereich Oesterreichs, das der Gegner seines großen Vorfahrs gewesen war. Und auf welcher Seite konnte er in diesem Moment auf mehr Theilnahme und Nachsicht rechnen als bei der Macht, die durch Oesterreich zum Lohn dafür, daß sie dasselbe gerettet, verrathen war und in dem alten Alliirten fast den Urheber seiner Niederlage [603] erblickte! Dies waren nun die allgemeinen Erwägungen, der Gegenstand der öffentlichen Discussion; alle Welt sprach von der Aussicht, daß die beiden Gewaltherrscher an der Seine und der Newa sich verbinden und[WS 1] die Freiheit Europas knechten könnten. Der besondere Gedanke Bismarck’s war, daß er unter Umständen daran dachte, seinem Könige die Stelle als Dritter in diesem Bunde der Mächte des Absolutismus zu verschaffen. Schon vor dem Krimkriege hat er die Möglichkeit solcher Politik erwogen; und dürften wir eine Aeußerung, die er im Herbst 1854 dem russischen Gesandten am Bundestage machte, unbedenklich übernehmen, so hätte er dieselbe schon lange vorher als das eigentliche Ziel und Ideal seiner Politik ins Auge gefaßt. Indessen lag ihm in jenem Moment daran, die Haltung seines Hofes in Petersburg furchtloser und stetiger erscheinen zu lassen als sie war; und wir können wol seinen oft wiederholten Versicherungen gegen Gerlach Glauben schenken, daß ihm der Bund mit dem französischen Thronräuber von Haus aus unsympathisch war. Andrerseits war er nicht gewohnt, Gefühlsgründen, von welcher Seite sie auch kommen mochten, tieferen Einfluß auf seine Erwägungen einzuräumen, und auch die Briefe an Gerlach entbehrten nicht der Tendenz; er kannte den Abscheu des Freundes gegen den neuen Bonaparte, der jenem als die Incarnation aller Mächte der Hölle erschien, und mußte daher, wollte er ihn zu einer Politik bekehren, die den General fast an Haugwitz erinnern wollte, auf seinen Standpunkt eingehen und den harten Realismus der eigenen Pläne schonend verhüllen. Die Bedenken, die ihm selbst gegen eine so außerordentliche Politik aufstiegen, kamen von anderer Seite. Auch er konnte sich die Gefahr nicht verhehlen, die Preußen lief, wenn es sich an die unklare Politik des gekrönten Abenteurers ketten ließ, den das Geschick in die Wege seines Oheims, auch wenn er sie vermeiden wollte, drängen mußte. Nun dachte B. ja auch nicht gerade an einen Zweibund mit dem neuen Cäsar, sondern zunächst nur an die Möglichkeit, daß Rußland, Preußens bester Freund, mit dem napoleonischen Frankreich sich alliiren könnte. In diesem Falle, darin war er fest, durfte Preußen keinem Dritten den Platz an ihrer Seite lassen. Denn dann war die Gefahr da, daß Oesterreich, und daß die deutschen Kleinstaaten sich in den Bund hineindrängten, jenes, um Italien zu sichern, diese, um ihre Existenz, wenn auch in einem neuen Rheinbunde, zu erretten; die deutsche Politik, der einzige Schauplatz, auf dem Preußen auftreten und sich voll zur Geltung bringen konnte, wäre ihm verschlossen, der Weg zur Größe versperrt worden. Es war die Richtung, in welche Graf Cavour in jenen Jahren die Politik seines Staates lenkte. Aber so weit wie der sardinische Staatsmann wäre B. niemals gegangen. Ihre Wege liefen parallel, aber sie fielen nicht zusammen. Viel zu schwach war das Haus Savoyen, um das Ziel, das ihm sein großer Minister stellte, durch sich selbst zu erreichen: es mußte dem Fremden dienstbar werden und ein Stück des nationalen, des eigensten Bodens opfern, um seine Mission zu erfüllen, und es mußte sich selbst aufgeben, um die Krone des geeinten Italiens zu gewinnen. Bismarck’s Politik aber gipfelte gerade in der Erhaltung und der Erhöhung der Krone Hohenzollern. Sein König konnte mit Frankreich nur vrhandeln wie einst Friedrich der Große, ebenbürtig, als Macht mit der Macht; er konnte Napoleon wol gebrauchen, jedoch niemals seiner Führung sich unterwerfen. Hier aber lag eine Klippe, die zu vermeiden es des geschicktesten Steuermanns und einer Verbindung von Kühnheit und Vorsicht ohne Gleichen bedurfte: es galt, kurz gesagt, den Kaiser um den Lohn zu betrügen, der ihm das Bündniß mit Preußen werth gemacht, um deswillen er demselben wol auch die vergrößerte Macht in Deutschland gegönnt hätte: um das Stück des deutschen Bodens, das Napoleon für seine Hülfe fordern [604] würde und das er haben mußte, wäre es auch nur, um seinen Thron der eigenen Nation gegenüber zu sichern. Das hatte Friedrich der Große nicht nöthig gehabt; mit vollen Händen hatte er Stücke des Reichs und des eigenen Besitzes am Rhein an die Franzosen wegwerfen oder doch versprechen können, um seinem Staate Schlesien zu gewinnen. Woran aber im 18. Jahrhundert Niemand Anstoß genommen hatte, wäre im Jahrhundert der Nationalitätskämpfe eine Politik des Verrathes geworden; sie hätte nicht nur alle Hoffnungen, die von den Patrioten auf Preußen gesetzt wurden, aufs bitterste enttäuscht, sondern bereits den eigenen Traditionen, die es seit den Befreiungskriegen verfolgte, widersprochen; selbst wenn B. sich persönlich kein Gewissen daraus gemacht hätte, um des Ganzen willen ein Stück zu opfern, er hätte es nicht gedurft: er würde damit erst recht Preußen den Weg zur Macht versperrt, alles Wasser auf die Mühlen der Gegner geleitet, alle deutschen Sympathien ihnen zugewandt, und ihnen die Rolle als Beschützer der nationalen Ehre geradezu aufgedrängt haben. So also ward er doch gezwungen, die Macht der Idee anzuerkennen, in deren Bekämpfung er emporgekommen war und die er so gering einzuschätzen pflegte – noch immer nicht um ihrer selbst willen, sondern weil Preußens Macht nicht gegen sie entwickelt werden konnte.

Zwei Mal hat B. von Frankfurt aus Gelegenheit gehabt, Napoleon zu sprechen, im August 1855 auf einer Besuchsreise zum Grafen Hatzfeld, dem Pariser Gesandten, und im April 1857, als er mit einem amtlichen Auftrag an die Seine geschickt war. Napoleon III. war damals auf der Höhe seines Einflusses; gefürchtet oder umworben von den Mächten und den Parteien Europas, konnte er sich fast als den Schiedsrichter des Erdtheils fühlen. Um so bemerkenswerther war, zumal bei der zweiten Reife, die Zuvorkommenheit, mit der der preußische Gesandte aufgenommen wurde. Hof und Gesellschaft arrangirten ihm glänzende Feste; der Kaiser empfing ihn mehrfach in Audienz und zog ihn in die intimsten Gespräche, deutete ihm seine Absichten auf Italien an und erklärte, daß er an die Rheingrenze (vielleicht eine kleine Grenzberichtigung abgerechnet) nicht denke; das Mittelmeer müsse vielmehr der Schauplatz für Frankreichs Ehrgeiz werden; er erkannte für Preußen die Nothwendigkeit an, sich im Norden und zumal auf der See stärker zu machen: kurz, er gab dem Gesandten auf jede Weise zu verstehen, wie sehr ihm an der Freundschaft mit Preußen liege. In glänzend geschriebenen Memoires und später persönlich berichtete B. über die Pariser Beobachtungen, welche mit seinen eigenen Wünschen so trefflich harmonirten, an seine Regierung. Auch blieb er wirklich mit seinen Vorstellungen nicht ganz ohne Eindruck; sein Chef neigte ihm zu, ebenso dessen Vetter Edwin, der Flügeladjutant, und selbst der König hatte Momente, wo er die verwegenen Rathschläge seines Frankfurter Gesandten den österreichischen Persidien gegenüber fast als Nothwendigkeit anerkannte; Gerlach bezeichnet sogar einmal den neuen Dreibund als die Ansicht der meisten Personen bei Hof. Er selbst wich nicht von seinen Anschauungen, und vergebens suchte B. ihn zu bekehren. Aber auch der König und der Minister ließen sich an diese Politik nicht fesseln: sie duldeten es, daß der Prinz Jérome, der im Mai 1857 nach Berlin kam, und der Kaiser selbst in der Kreuzzeitung respectlos behandelt wurden, und der Rath, den B. von Paris her gegeben hatte, Napoleon zu einem Besuch in Berlin zu ermuthigen, blieb vollends unberücksichtigt.

Für die Fragen, die bei seinen alten Freunden dominirten, die inneren Verhältnisse, fühlte B. überhaupt nicht mehr Beruf noch Neigung; die Schlagworte der Partei verschwinden ganz aus seinen späteren Briefen; [605] sie fielen von ihm ab ohne inneren Kampf, ein Beweis, wie wenig sie von jeher sein Wesen ausmachten. Die Verhandlungen in der Zweiten Kammer, in der er zunächst noch geblieben, waren ihm längst langweilig geworden, und die parlamentarischen Intriguen, in denen er einst ganz aufgegangen war, erschienen ihm nun über die Maaßen schaal und unwürdig. Er suchte die Theilnahme an den Sitzungen zu umgehen, indem er sich auf seine Amtsgeschäfte und die Pflichtenconflicte, in die er gerathe, berief; doch war es in Wahrheit die Gleichgültigkeit, die ihn fernhielt, und die Empfindung, daß er mit seinen jetzigen Zielen nicht mehr in die Partei und ihre Interessen hineinpasse. Eine Neuwahl, die ihm seine Wähler angeboten hatten, lehnte er ab. Der König nahm ihm das übel, denn es entsprach sehr wenig den Vorstellungen und Wünschen, die er von B. hegte, er hatte in ihm vorzugsweise den loyalen Vasallen, den Champion seines Systems, seiner inneren Politik erblickt; hierauf weit mehr als auf die Vertretung nach außen war er bedacht, wenn er sich in dem stets bereiten Vertheidiger seiner Kronrechte einen zukünftigen Minister zu erziehen hoffte. Seine Gunst entzog er dem jungen Staatsmann darum noch nicht, dessen Königstreue über jeden Zweifel erhaben war und dessen Klarheit und Energie dem ewig Schwankenden imponirte; er zog ihn bei der Reorganisation der Ersten Kammer zu Rathe und nahm ihn dann ins Herrenhaus, wie auch in den Staatsrath auf; aber schließlich konnte es doch nicht fehlen, daß auch bei Friedrich Wilhelm Argwohn und Verstimmung gegen diese aus den Schranken seiner Politik brechende Genialität Platz griffen. B. glaubte im Herbst 1855 die ersten Anzeichen verminderter königlicher Gunst wahrzunehmen, als er bald nach der Rückkehr von seiner ersten Pariser Reise, die er ohne Rückfrage bei Hof gemacht hatte, dem König in Stolzenfels seine Aufwartung machte und dieser im Gespräch mit ihm es vermied oder vergaß die Politik zu berühren. Er fühlte sich umso mehr verletzt, als er zu bemerken glaubte, daß auch seine Gemahlin von Seiten der königlichen Damen, zumal der Prinzessin von Preußen, und der Hofgesellschaft absichtlich vernachlässigt worden sei. Gerlach, dem er sich darüber alsbald anvertraute, suchte ihn zu beruhigen und den Vorfall auf ein Mißverständniß zu schieben, aber die Differenz lag doch eben tiefer, und der General selbst fühlte nur allzusehr, daß sein Freund und Schüler die alten Gesinnungen nicht mehr theilte und in Wege abwich, auf denen auch er ihm nicht mehr zu folgen vermochte.

Die Erkrankung des Königs konnte das Verhältniß Bismarck’s zu seinen Parteifreunden nicht bessern. Ihre Versuche, den Einfluß der Camarilla durch die Verlängerung der Stellvertretung seitens des Prinzen von Preußen und die Vermeidung der Regentschaft zu retten, unterstützte er schon deshalb nicht, weil er ihre Nutzlosigkeit einsah; von dem Prinzen, so schrieb er Gerlach bereits im December 1857, könne ein lebendiges Eingreifen nicht erwartet werden, so lange er nicht sicher sei definitiv zu regieren; nicht der Rechtstitel sei es, welcher die Action der Krone gegenwärtig neutralisire, sondern die Nothwendigkeit, dem König, wenn er die Regierung wieder ergretfe, das Concept nicht verdorben zu haben, und ihm nicht Anlaß zu Desavouirungen dessen, was der Prinz inzwischen gethan, zu geben; diese Rücksicht bleibe aber dieselbe, möge der Prinz als Regent oder als Bevollmächtigter die Geschäfte führen. Er sah also auch diese Frage nicht vom Standpunkt der Partei, sondern des Staatsinteresses an: die Neutralisirung der Action der Krone, der Zustand allgemeiner Stagnation und Verknöcherung, den die Unsicherheit der obersten Leitung herbeiführen mußte, war es was er fürchtete; während der Camarilla daran lag, die Verhältnisse so lange als möglich in der Schwebe [606] zu erhalten. Darum rieth er, als sich die Lage im Sommer verschärfte, dem Prinzen, der ihn mehrmals zu sich nach Baden berief, dazu, die Regentschaft zu übernehmen, die immerhin festere Verhältnisse schaffen mußte und von seiner Partei gerade deshalb bekämpft wurde. Prinz Wilhelm war trotz jenes harten Zusammenstoßes im März 1854 dem Manne, in dem die besten Traditionen seiner eigenen Jugend wieder lebendig geworden waren, nicht gram geblieben. Schon während des Krimkrieges hatte er mehr als einmal Berichte von B. über die politische Lage eingefordert; oder ihn zum Vortrag nach Baden befohlen, auch sonst, auf den Durchreisen durch Frankfurt oder am königlichen Hoflager, bei Manövern und Jagden oft genug Gelegenheit gehabt, sich über die Ansichten des Gesandten zu unterrichten. Daß sie mit denen der Camarilla nicht mehr harmonirten, konnte ihm nicht verborgen bleiben, aber ein rechtes Vertrauen stellte sich damals zwischen Beiden dennoch nicht her. Auch bei den Conferenzen in Baden-Baden im Juli 1858 scheint der Prinz sich mehr über die auswärtige Politik als über die innere Lage des Staates Bismarck’s Rath geholt zu haben; und der Systemwechsel, der sich an die Uebernahme der Regentschaft anschloß, wird diesem wol kaum unerwarteter gekommen sein als seinen alten Freunden. Letztere glaubten allgemein, der Schlag sei auch gegen ihn gerichtet; selbst Frau v. B., die mit den Kindern in Pommern gewesen war und nun auf der Rückreise in Berlin, im Brennpunkt der Politik, die Katastrophe der Partei miterlebte, kam ganz niedergedrückt in Frankfurt an, in dem Glauben, ihr Gemahl würde alsbald den Abschied fordern. B. nahm die Sache von Anfang an weniger tragisch; die Ernennung des Fürsten von Hohenzollern zum leitenden Minister schien ihm gleich eine Gewähr dafür zu sein, daß der Prinz Fühlung mit der conservativen Partei halten wolle, und eine schärfere Accentuirung der auswärtigen Politik konnte ihm nur willkommen sein, nachdem gerade in den letzten Jahren die schwächliche Politik des Herrn v. Manteuffel, auf dem Pariser Congreß wie in der Neuenburger Frage, den Staat in tief demüthigende Lagen gebracht hatte. Er hatte fast geringere Besorgniß vor den liberalen Gegnern, als vor diplomatischen Stellenjägern, unter denen ihm Usedom als enragirter Freimaurer und gothaisirender Politiker besonders gefährlich zu sein schien. Ich will nicht entscheiden, ob diese persönlichen Ambitionen, bei denen auch weiblicher Einfluß und Ehrgeiz mitspielten, oder doch mehr Erwägungen politischer Natur den Ausschlag für die Versetzung Bismarck’s nach Petersburg gegeben haben; der Gegensatz zwischen seinen und den in Berlin maßgebenden Ansichten über die auswärtige Politik war größer als man sich dort vielleicht bewußt war: aber auch so dürfen wir wohl annehmen, daß es dem Prinzregenten unerwünscht war, den Mann, der bei Olmütz und im Krimkriege so ausgesprochen auf der Gegenseite gestanden hatte, als seinen Vertreter am Bundestage zu haben. Der Erhebung Bismarck’s auf den neuen Posten gingen noch einige Wochen der Unruhe voran, die für seine Gemahlin, welche überhaupt nicht aus dem ihr lieb gewordenen Frankfurt fort wollte, schwerer zu ertragen waren, als für ihn selbst. B. hätte minderwerthige Posten, wie Madrid und Brüssel, von denen auch die Rede war, nicht angenommen, denn eine Zurücksetzung wollte er sich nicht gefallen lassen, in solchem Falle war er entschlossen „sich unter die Kanonen von Schönhausen zurückzuziehen“; nicht ohne ein gewisses Behagen dachte er an die Aussicht, wieder den Landjunker spielen und einen durch amtliche Fesseln nicht genirten Kampf gegen die alten Gegner führen zu können. Aber der Gedanke, zu den Freunden an der Newa zu kommen, war ihm von vornherein nicht so ganz unlieb; wenn man ihn im Vordertreffen nicht lassen und überhaupt eine andere Richtung als die seine einschlagen wollte, [607] so war die Reservestellung in St. Petersburg für ihn selbst wie für die officielle Politik noch immer das Beste. Vielleicht sind es solche Erwägungen gewesen, welche den Prinzen nach langem Schwanken, er war ja kein Mann fester Entschlüsse, dazu brachten, den Petersburger Posten an B. zu übertragen. Der liberale Wind hatte bereits in den obersten Regionen merklich nachgelassen; so sehr, daß sogar Gerlach wieder Zuversicht faßte und Lust bekam, B. als den „Mann des prinzlichen Vertrauens“ an die Regierung zu bringen. Er machte sich, als dieser im Januar nach Berlin kam, sogleich daran, mit ihm und Eberhard Stolberg den Plan einzufädeln: B. selbst sollte mit Karl Goltz, dem Flügeladjutanten, der dem Prinzen immer nahe gestanden hatte, die persönliche Unterhandlung führen; in der Ministerliste, die sie aufsetzten, bekam B. den ersten Platz, als Kriegsminister ward neben Manteuffel und Konstantin Alvensleben Roon, und als Handelsminister, wol auf Bismarck’s Vorschlag, Delbrück ins Auge gefaßt. Das war nun freilich doch zu früh gepfiffen, es sollte noch manches Wasser bergab laufen, ehe es zu einem Ministerium Bismarck-Roon kam; als der Prinzregent kurz darauf den Gesandten empfing, schalt er auf die Frondeurs im Herrenhaus und drohte, wie die Liberalen pflegten, mit seiner Abschaffung. Aber zugleich beklagte er sich doch bitter darüber, daß man sein Ministerium für ein anticonservatives halte; das käme nur daher, weil Patow darin sei; der aber sei wider seinen Willen, durch Manteuffel hineingebracht worden.

Bei solcher Gesinnung des regierenden Herrn war natürlich an die Entlassung eines so überzeugten Monarchisten wie B. nicht mehr zu denken. Wenige Tage nach jener Audienz, am 23. Januar, erhielt er seine Bestallung für Petersburg. Die Abreise verzögerte sich noch um mehrere Wochen; da er zunächst nach Frankfurt zurück mußte, um die Uebergabe der Geschäfte an Usedom, der nun wirklich das Ziel seines Ehrgeizes erreichte, zu vollziehen, und überdies durch die Influenza, die ihn und die ganze Familie heimsuchte, zurückgehalten wurde; erst Anfang März, und zwar noch allein, brach er auf, am 29. traf er an seinem neuen Bestimmungsort ein. Die Seinen blieben zunächst in Frankfurt; er dachte sie im Herbst aus Pommern, wohin sie im Sommer zogen, nachzuholen, doch sollte es noch lange dauern, bis er sie Alle in Petersburg bei sich hatte.

Petersburg und Paris. Eintritt ins Ministerium.

In Frankfurt hatte B. auf der Wacht gegen Oesterreich gestanden, in den Jahren, da der Gegensatz zwischen den beiden deutschen Vormächten, der sich in der Revolution fast bis zur Entscheidung durch die Waffen verschärft hatte, wieder halb geschlossen war. Jetzt, wo die aufgeschobenen Fragen aufs neue zur Entscheidung drängten, sah er sich aus dem Brennpunkt der deutschen Politik hinweggeholt und „an der Newa kaltgestellt“. Da uns seine Gesandtschaftsberichte aus Petersburg noch nicht vorliegen, können wir uns nur ein ungefähres Bild von der Politik machen, die er damals seiner Regierung gerathen hat. Immerhin ist soviel deutlich, daß er seine alte Grundlage, die Autonomie der preußischen Politik, auch der neuen Krisis gegenüber behauptete, und daß er sich damit wieder in Gegensatz zu allen Strömungen stellte, welche die öffentliche Meinung in Deutschland beherrschten. Denn wie sich auch immer die deutschen Parteien das Ziel setzen mochten, waren sie doch sämmtlich, auch die Kleindeutschen, mit der Front gegen den Rhein [608] statt gegen die Donau gerichtet. Das Besondere in B. war wiederum, daß er auch in der italienischen Frage den Feind, dem es galt, ganz allein in Oesterreich erblickte, und daß er nichts mehr fürchtete als daß Preußen sich in den Krieg gegen Frankreich verwickeln lassen könnte. Er wünschte keineswegs die völlige Niederwerfung der habsburgischen Macht, glaubte vielmehr das Mittel in der Hand zu haben, um ihren Besitz nördlich der Alpen zu sichern: aber in Italien sollte sie erliegen; die ganze Wucht des französischen Angriffes wollte er dahin gelenkt sehen. Am weitesten schied ihn diese Ansicht natürlich von seinen alten Freunden, die in den „blödsinnigen Elukubrationen“ der Kreuzzeitung, wie er zornig schrieb, zu Worte kamen. Diese sprachen von nichts anderem als von der Pflicht Preußens, die legitimen Rechte Oesterreichs zu vertheidigen und den neuen Bonaparte, der jetzt endlich sein wahres Antlitz enthüllt habe, zu stürzen. Auch in dem preußischen Officiercorps waren solche Stimmungen weit verbreitet. Moltke gab ihnen Anfang Juni gegen Theodor v. Bernhardi Ausdruck: man müsse, sagte er, unbedingt gegen Frankreich losschlagen und dürfe seine Theilnahme an dem Kampfe so wenig von bestimmten Forderungen und Bedingungen abhängig machen als von Eventualitäten; denn man thue, wenn man Frankreich bekämpfe, lediglich, was das eigene Interesse gebiete, und habe folglich garnicht das Recht, von Oesterreich etwas dafür zu fordern. So weit gingen die Gothaer freilich nicht; denn sie sahen wol, daß man dadurch nur Oesterreichs Geschäfte und die der Reaction besorgen werde. Aber anderseits fürchteten sie durch eine Politik der Entschlußlosigkeit und des Hinhaltens es mit dem nationalen Geist zu verderben: um diesem Dilemma zu entgehen, müsse Preußen handeln, in den Krieg gegen Napoleon mit eintreten, seine Hülfe aber von der Bewilligung nationaler Reformen zu Gunsten der preußischen Hegemonie abhängig machen. So dachten, B. selbst nannte sie so, die ehrgeizigsten unter den preußischen Patrioten. Sie nahmen an, wie er noch von Frankfurt aus, im Februar, spottend schrieb, Oesterreich bitte uns dermalen mit der Beredsamkeit eines verschuldeten Cavaliers am Verfalltage um unsern Beistand, und wir brauchten uns nur ein Pfand, auf das wir die Armee herliehen, unter den Schätzen, auf welchen der Bundesdrache liege, auszusuchen. Er meinte schon damals, diese Vorstellungen sanguinischer Borussen wichen sehr von der Wirklichkeit ab und die Ereignisse gaben seinen Zweifeln bald genug Recht. Aber selbst wenn jene momentanen Erfolg gehabt und Oesterreich sich auf Concessionen in Deutschland gegen preußische Waffenhülfe eingelassen hätte, würde eine solche Politik den Knoten doch nicht gelöst, sondern nur fester geschürzt haben. Es war dieselbe, für die der Liberalismus Preußen im Krimkriege hatte verpflichten wollen, und mit der er in der Revolution so oft Fiasco gemacht hatte: die Politik der halben Entschlüsse, diejenige, mit der schon das Frankfurter Parlament und alle Gothaer von jeher Eindruck zu machen gesucht hatten. Diese Herren wollten Alles zugleich erreichen, die nationale Reform für Deutschland und Italien, und die Schilderhebung gegen Frankreich, und sie dachten sogar noch darüber hinaus an die Abwehr eines russischen Angriffes; „man muß“, so erklärte einer ihrer Führer, Max Duncker, in einer Fractionssitzung Anfang Mai, „die Sache mit Frankreich ausfechten, ehe der Kampf mit Rußland heranrückt“. Aber damit versperrten sie den Italienern ebensowol den Weg wie sich selbst. Denn ohne Napoleon, das war selbst Garibaldi klar geworden, ließ sich Italiens Einheit nicht erreichen, ihn bekämpfen hieß also Cavour’s Werk durchkreuzen; und sobald Oesterreich in der Lombardei Luft bekam, konnte es hoffen, auch nördlich der Alpen wieder freier und fester auftreten zukönnen, ebensowol seinen Alliirten wie dem Kaiser der Franzosen gegenüber: [609] aus diesem Cirkel gab es keinen Ausweg. Bismarck’s Programm theilte die Arbeit, aber es versprach, jedes Stück um so gründlicher zu erledigen. Indem er es Oesterreich überließ, sein Duell mit Frankreich-Sardinien allein auszufechten, war den Italienern am sichersten geholfen; denn von Rußland bedroht und von England, das unmöglich reactionäre Politik treiben konnte, im Stich gelassen, mußte das Haus Habsburg aller Voraussicht nach erliegen; nur in der Verbindung mit Deutschland konnte es, wie in den alten Jahrhunderten, hoffen südlich der Alpen mächtig zu bleiben. Freilich schien auch B. die Stunde nahe zu sein, wo Preußen zum Hammer werden müsse, um nicht Ambos zu werden; er wollte nicht mehr, wie noch im Krimkriege, die Dinge in der Schwebe lassen; die Haltung der Kleinen, die nationale Erregung, die Wendung in der Politik Napoleon’s, vor allem die schlimme Lage Oesterreichs selbst sprachen dagegen. Aber er faßte das Problem an dem umgekehrten Ende an wie die Liberalen. Den ersten Schritt erblickte er in dem Protest gegen jeden Versuch Oesterreichs, Preußen die Schlinge der Bundesrechte um den Nacken zu werfen und es durch Majoritätsbeschlüsse hinter sich her zu ziehen. Weit entfernt, in der Isolirung Preußens eine Gefahr zu sehen, sehnte er vielmehr einen Beschluß des Bundestages herbei, in dem die Berliner Regierung eine Ueberschreitung der Competenz, eine willkürliche Aenderung des Bundeszweckes, einen Bruch der Bundesverträge sehen könnte: „Je zweideutiger die Verletzung zu Tage tritt, desto besser“, schrieb er an den Minister v. Schleinitz auf die Nachricht, daß die Präsidialmacht in Frankfurt wirklich dahin arbeite. Doch wollte er darum noch nicht die Liberalen um Preußen sammeln, sondern vielmehr zunächst gegen die Ueberhebungen der deutschen Bundesgenossen die Saite selbständiger, preußischer Politik anschlagen. Darin unterschied er sich auch von seinem Nachfolger in Frankfurt, Herrn v. Usedom, der ihm im übrigen recht nahe kam und gleich ihm gegen den Krieg mit Frankreich sprach, dabei aber doch die nationalen und liberalen Stimmungen in Deutschland für Preußen sofort ins Feld zu bringen rieth. B. dagegen dachte in diesem Moment nicht an die Reform, sondern an die Zersprengung des Bundes, nicht an Zusammenfassung, sondern an Zertheilung der deutschen Kräfte. Diesen Sinn hat das oft citirte Wort in dem Brief an den Minister v. Schleinitz: „Das Wort ‚Deutsch‘ für ‚Preußisch‘ möchte ich gern erst dann auf unsre Fahne geschrieben sehn, wenn wir enger und zweckmäßiger mit unsern übrigen Landsleuten verbunden wären als bisher; es verliert von seinem Zauber, wenn man es schon jetzt, in Anwendung auf den bundestäglichen Nexus, abnützt“. Es war die Politik, die er schon der Revolution gegenüber vertreten hatte, der Kraft und des Kraftbewußtseins, des unbedingten Vertrauens auf Preußens Stärke. Er konnte auch in der Richtung der neuen Aera nichts anderes erblicken, als die alte, die er immer bekämpft hatte. Ihr Stichwort von den „moralischen Eroberungen“ war für ihn nicht geschrieben; noch in den „Gedanken und Erinnerungen“ hat er es dem Grundirrthum der Unionspolitik gleichgesetzt, Erfolge, die nur durch Kampf oder durch Bereitschaft dazu gewonnen werden konnten, durch publicistische, parlamentarische und diplomatische Heucheleien, als den Lohn oratorischer Bethätigung unserer „deutschen Gesinnung“ anstreben zu wollen. Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß B. mit manchen Maßregeln, zu denen die Regierung des Prinzregenten griff, harmonirte, daß er z. B. die Rüstungen im Frühjahr und später das Reformproject für die Kriegsverfassung des Bundes lobte und auch die Idee, mit liberalen Institutionen um die deutschen Sympathien zu werben, billigte: über Zweck und [610] Anwendung dieser Mittel dachte er durchaus verschieden, und der Gegensatz seiner Anschauungen zu denen Wilhelm’s war im Grunde noch ganz so unausgeglichen wie zur Zeit jener Audienz vom 4. März 1854. Sofern Beide Preußens Ansehen in Deutschland erhalten und erhöhen wollten, kann man natürlich von der Einheit ihres Zieles sprechen. Aber wer in Deutschland, der zu Preußen hielt, wollte das nicht? Die Tiefe und die Unabwendbarkeit des Conflictes erkannte auch der Prinzregent so wenig oder noch weniger als die Andern außer B., und ebenso war Wilhelm weit entfernt von der Zuversicht zu Preußenes Kraft, welche jedes Wort des großen Staatsmannes athmete. Die Furcht, durch eine Politik der Neutralität die Sympathten der Nation zu verlieren und am Ende, wie einst sein Vater, allein der französischen Uebermacht gegenüberstehen zu müssen, war für ihn fast das Hauptmotiv zu den Rüstungen; und wenn er sich dem Liberalismus zugewendet hatte, so war es ebenfalls vor allem in der Meinung geschehen, daß Preußen durch „moralische“ Kräfte ersetzen müsse, was ihm an materiellen fehle. Noch kurz bevor er zur Regierung gekommen war, hatte er es gegen einen alten Freund ausgesprochen, daß die Verfassung das einzige Werbemittel sei, welches Preußen in Deutschsland besitze; in allen andern Richtungen, Zollverein, materielle Vortheile u. s. w., würde ihm Oesterreich den Rang ablaufen. Wir wissen, daß B. genau umgekehrt dachte und gerade in der materiellen Kraft, in den „Fleischtöpfen“ Preußens, in der Ueberlegenheit, die es in den Sachen, „quae numero et pondere dicuntur“, über Oesterreich besitze, von jeher das stärkste Lockmittel für die kleinen Regierungen und ihre Bevölkerungen selbst erblickt hatte. Es ist wahr, auch er hatte begonnen, der öffentlichen Meinung mehr Beachtung zu schenken als früher; es war doch ein Factor, mit dem man rechnen mußte, schon damit ihn nicht die Gegner, wie sie bereits wieder versuchten, für sich ausnützten. Aber mehr als eine Hülfskraft sah er in den liberalen Ideen auch jetzt nicht; das meiste davon war ihm doch Mache, Beeinflussung von Oben, Politik und Interesse, der Rest unpraktische Vorschläge gutgesinnter Doctrinäre, das Ganze von zu geringer Eigenmacht, um wirklich gefürchtet zu werden. Er war noch immer bereit, diesen Tendenzen zu trotzen oder, wenn es sein müßte, sie zu verleugnen. Wenn er sie nicht verschmähte, so leitete ihn auch der Gedanke (wir sahen, wie er schon im ersten Jahre seiner Frankfurter Gesandtschaft in ihm auftauchte), daß Preußen unter allen deutschen Staaten am wenigsten von ihnen zu befahren habe, daß es allein in der Lage sei, die Stürme zugleich zu fesseln und zu lösen. Eben weil es stark war, konnte es den Bund mit ihnen eingehen: aber niemals hätte B. geduldet, daß die popularen Leidenschaften seinen Staat aus der Bahn verdrängten, die ihm durch die eingeborenen Interessen vorgezeichnet war. Auch der nationalen Bewegung gegenüber verlor er zu keiner Zeit das Interesse Preußens, seine Stellung als europäische Großmacht aus den Augen, nur von da aus konnte er sich die Lösung der deutschen Frage denken. Eben darum, weil die europäische Constellation günstiger als je zuvor sei, glaubte er den Moment gekommen, um Preußens Lage in Deutschland zu verbessern: in Oesterreich, Frankreich, Rußland, schreibt er, werde man die Bedingungen nicht leicht wieder so günstig finden, und die Bundesgenossen seien auf dem besten Wege, Preußen vollkommen gerechten Boden dafür zu bieten, ohne daß man ihrem Uebermuthe nachzuhelfen brauche. Stärker kann der Gegensatz, in dem B. zu der herrschenden Richtung stand, gar nicht ausgedrückt werden: wo die Andern lauter Gefahren sahen, erblickte er nichts als Vortheile. Wer war ein größerer Gegner des souveränen Rechts der Nation gewesen als er! Dennoch kam jetzt den Zielen der Partei, die jenes Wort auf ihre Fahne geschrieben und bis auf die Barrikade dafür eingetreten [611] war, Niemand näher. Die Einheit Italiens, die auf seinen Wegen lag, war von jeher ein Programmpunkt der Radicalen gewesen, Cavour und Garibaldi bereits Männer, auf die er zählte. Der Prinzregent entrüstete sich bei dem Gedanken an eine Politik, die auf den Umsturz der Throne hinauslief; der Hülfsvertrag, über den er vor und während des Krieges mit dem Wiener Hof verhandeln ließ, sollte eine Garantie für die italienischen Provinzen und Vasallenstaaten Oesterreichs schaffen; er wünschte, wie in Deutschland, so auch in Italien nur die Reform der bestehenden Verhältnisse, und viel weiter hatten sich in diesem Augenblicke ihr Ziel auch die vorwärtsdrängenden Gruppen des deutschen Liberalismus, selbst die Männer des Nationalvereins noch nicht gesteckt. Auch darin war Bismarck’s Politik der der alten Radicalen analog, daß er Frankreichs Freundschaft, auf die in der Revolution auch jene gebaut hatten, nicht verschmähte, und daß auch er vor dem inneren Kriege nicht zurückschreckte. Es ist dies aber nicht bloß ein zufälliges Sichberühren der Gegensätze, sondern eine wirkliche Verwandtschaft, insofern als auch B., gleich den Vorkämpfern der Nationalsouveränität, ein Verächter der Legitimitätsidee war. Die Mittelparteien dagegen verloren sich in lauter Halbheiten und Unmöglichkeiten: ihr Gedanke, die Nation im Kampf gegen den alten Erbfeind am Rhein zu vereinigen, schloß die Waffenerhebung zwischen den deutschen Parteien selbst aus; der Krieg Deutscher gegen Deutsche mußte ihnen als der Frevel aller Frevel erscheinen; sie konnten gar nicht daran denken, einen Staat auf Kosten der andern zu vergrößern; sie mußten wider Willen die Schleppträger des Legitimismus werden. Kein Wunder darum, daß ihre Partei vor allem in den kleinen und kleinsten Staaten Boden fand, und daß sie bei dem ersten Acte des deutschen Einheitskampfes unter der Regie Bismarck’s dahinten geblieben sind und sich für die Schaffung eines neuen deutschen Kleinstaates begeistert haben. Nur auf Bismarck’s Wegen waren Annexionen möglich, konnte Preußen auf eine Verstärkung seines schmalen Leibes hoffen, und nur seine Politik der Macht und des Schwertes gewährte noch die Aussicht auf das Ziel, welches die Revolutionäre im J. 1848 der Zukunft des Vaterlandes gestellt hatten: die Kraft der Nation in einem Centrum zusammenzufassen. So ist es denn auch kein Zufall gewesen, daß gerade aus den Reihen der extremen Parteien die glühendsten Anhänger und die ersten Propheten des großen Staatsmannes hervorgegangen sind.

Auch dem Prinzregenten lag die Macht der angestammten Krone sehr viel mehr am Herzen als die deutsche Idee, der er sich nur um Preußens willen unterworfen hatte: die Mediatisirung der Monarchie wollte er nicht dulden. Aber er wollte auch die anderen Dynastien nicht schädigen: „die Welt muß wissen, daß Preußen überall das Recht zu schützen bereit ist“, heißt es auch mit Bezug auf sie in dem Programm, das, von seiner Hand geschrieben, die neue Aera eröffnete. Er empfand darin noch ganz legitimistisch, als der Vetter, Freund und Throngenosse, und meinte übrigens, wie gesagt, daß Preußen nicht einmal die genügende Macht besitze, um einen anderen Weg gehen zu können. Und so wollte auch er, nicht viel anders als sein Bruder, den Bund nur reformirend verstärken, Deutschland beschützen, aber nicht erobern.

Eben jetzt schien ihm dieser Moment gekommen zu sein. Mit der Gefahr, die er von Frankreich her wieder im Anzug glaubte, erwachten in ihm die Stimmungen seiner Jugend. Wie damals fühlte er sich und sein Haus getragen von einer nationalen Bewegung, in der sich die verschiedensten Richtungen zusammenfanden; das Herz wurde ihm weit, wenn er daran dachte, in seinem Alter noch das Schwert ziehen und die Armee, der er ein Leben [612] treuer Pflichterfüllung geweiht hatte, für Deutschlands Recht und Ehre in den Kampf führen zu dürfen; schon im März erklärte er gegen einen Vertrauten, man müsse Oesterreich beistehen, wenn es wirklich angegriffen würde. Er hoffte dabei noch Rußland auf seiner Seite zu haben, und sprach sogar von der Wiederherstellung der heiligen Allianz unter einem andern Namen. Es ist bezeichnend, daß Leopold v. Gerlach mit dieser Politik sympathisirte, und daß die beiden alten Waffengefährten nach so langer Trennung sich in dem Gedanken des Krieges gegen den deutschen Erbfeind, den Unterdrücker des Staates ihrer Jugend wiederfanden. Noch im Mai, nachdem bereits die Oesterreicher ihr Ultimatum gestellt und die Offensive gegen Sardinien ergriffen hatten, sprach sich der Prinz zu jenem dahin aus, daß, sobald die Franzosen die österreichische Grenze überschritten, der Krieg gegeben wäre; der alte General hoffte noch selbst mitgehen zu können, und bot dem Regenten seinen Degen an.

Angesichts solcher Stimmungen an der leitenden Stelle des Staates begreift man die Besorgnisse, von denen B. in dem fernen Petersburg ergriffen wurde. Er fürchtete alles Ernstes, daß man sich in Berlin, wie er Anfang Mai seinem Bruder ingrimmig schrieb, mit dem nachgemachten 1813er von Oesterreich besoffen machen lassen und Thorheiten begehen werde. Ihm war es zweifellos, daß dann der deutsche Krieg für Napoleon die Hauptsache und die Parteinahme Rußlands für Frankreich unvermeidlich werden, der Sieg aber an Oesterreichs Seite diesem eine Stellung verschaffen würde, wie es sie in Italien nie und in Deutschland seit dem Restitutionsedict im dreißigjährigen Kriege nicht gehabt habe: „dann brauchen wir einen neuen Gustav Adolph oder Friedrich II., um uns erst wieder zu emancipiren“.

Es lag nicht an der Berliner Regierung, wenn sich diese Aengste Bismarck’s schließlich als grundlos herausstellten. Denn gerade im Mai trat sie aus ihrer Zurückhaltung hervor und bewies durch Kriegsbereitschaft und Mobilmachung, wie ernstlich sie gewillt war, die von ihm so gefürchtete Politik durchzuführen. Aber Oesterreichs Haltung, das jede Zumuthung nationaler Concessionen an Preußen abwehrte und lieber die Lombardei aufgeben wollte, als seinen deutschen Einfluß, dazu die unerwartet schnellen Siege der Franzosen kamen ihm zu Hülfe: der Krieg blieb auf Italien beschränkt. In Berlin mußte man den Vertrag von Villafranca als einen Fehlschlag, eine neue Demüthigung empfinden: man hatte sich in schwere Kosten gestürzt, sich zu kriegerischer Erregung und weitgehenden nationalen Hoffnungen erhoben, und schließlich war Alles verpufft wie ein Feuerwerk. B. dagegen fühlte sich wie von einem Alp befreit: der Kampfplatz in Deutschland war wieder frei, die Frontstellung Preußens gegen Oesterreich verstärkt, und die europäische Constellation so geblieben, wie sie das Ziel, das er der Politik seines Staates setzte, erheischte.

Schon im Herbst schien es, als könnte die Regierung auf eine Politik eingehen, die bei Rußland und Frankreich Anlehnung suchte. B. war im Juli nach Deutschland gekommen, um dort seinen Urlaub zu verleben und noch bei guter Jahreszeit seine Familie an die Newa zu bringen. Statt aber die erhoffte Erholung zu finden, war er an einem rheumatischen Leiden, zu dem er vor Jahren auf einer Jagd in Schweden den Grund gelegt, und das ärztliches Ungeschick noch in Petersburg arg verschlimmert hatte, schwer erkrankt. Durch Bäder in Nauheim und eine Nachcur in Baden-Baden leidlich hergestellt, war er im Begriff, von Reinfeld, wo er Ende September die Seinen wiedergefunden, aufzubrechen, als ihn ein Telegramm des Prinzregenten nach Berlin zurückrief. Es handelte sich um eine Zusammenkunft des Regenten [613] mit Kaiser Alexander; als Vertreter Preußens am russischen Hoflager erhielt B. den Auftrag, dem Zaren bis Warschau entgegenzufahren und ihn nach Breslau zu geleiten, wo Prinz Wilhelm seinen kaiserlichen Neffen erwartete. Nach den Vorgängen im Sommer konnte die Begegnung wol als Demonstration gegen Oesterreich aufgefaßt werden, und vor allem die Russen bemühten sich sie in dieses Licht zu stellen; Gerlach sah bereits sein altes Schreckgespenst, mit dem ihn B. seit Jahren geängstigt, die Allianz Preußens mit den beiden absolutistischen Kaiserhöfen, vor Augen. B. selbst wußte wol, wie weit seine Regierung von dem Punkt, wo er sie haben wollte, entfernt war, aber die Richtung dahin war eingeschlagen, und so war er denn mit der Verzögerung seiner Reise, so unbequem sie ihm persönlich war, nicht unzufrieden. Noch vor Ende October war er wieder in Reinfeld, am 2. November brach er mit der Familie auf; in 6 bis 7 Tagen, denn von Tauroggen aus war nur mit Wagen oder Schlitten vorwärts zu kommen, hofften sie das Petersburger Winterquartier zu erreichen. Da überfiel ihn unterwegs, in Hohendorf, wo die Reisenden bei den alten Freunden des Puttkamer’schen Hauses, v. Belows, eingekehrt waren, aufs neue schwere Krankheit; eine Lungenentzündung, vielleicht directe Folge des alten Leidens oder eines brutalen Eingriffes des Petersburger Arztes, ergriff ihn mit so heftiger Gewalt, daß er Tage lang fast aufgegeben war. Seine kräftige Natur überwand, aber Monate schweren Siechthums folgten; erst im Februar war er wieder reisefertig. Während er nun nach Petersburg drängte, sprachen die Aerzte von einem Aufenthalt in dem Süden. Zunächst ging B., während die Familie in dem gastlichen Hause blieb, nach Berlin zurück, um weiteren ärztlichen und zugleich ministeriellen Rath zu hören; er meinte nur auf acht Tage, aber wiederum wurden daraus Wochen und Monate. Diesmal waren es noch weniger die Aerzte, die ihn zurückhielten, obgleich auch diese von einer Reise in den Norden nichts wissen wollten und Karlsbad oder Kissingen anriethen, als der Prinz von Preußen, der den wiederholten Bitten des Gesandten, ihn fortzulassen, ein beharrliches und am Ende fast ungnädiges Nein entgegensetzte.

Es waren die Wochen hoher Spannung, in welche die politische Welt Preußens versetzt war, seitdem die Regierung in dem neuen Landtage den Entwurf der Armeereorganisation vorgelegt hatte. Schon war es in der Commission zu heftigen Erklärungen gegen den neuen Kriegsminister gekommen, der mit vorbedachter Schroffheit die Pläne, die er mit dem Prinzregenten entworfen hatte, vertheidigte; auch die Gemäßigtsten unter den Liberalen, die alle Bänke der Kammer füllten, waren erschrocken über die Höhe der Forderungen und den militaristischen Geist, der aus der Vorlage sprach; selbst ein Bernhardi, der sonst in Wort und Schrift für sie eintrat, meinte, daß sie sowol über das Maaß des Nothwendigen als über die disponiblen Mittel des Landes hinausgehe: das Wetterglas der Politik deutete auf Sturm, und die Rathgeber des Regenten, die wie Roon und der Oberst v. Manteuffel die Reform als einen Keil zwischen die Krone und den Liberalismus schieben zu können hofften, lenkten seine Blicke auf den Mann, von dem sie glaubten, daß er mit seiner festen Faust ihren Curs halten würde. Auch Wilhelm wollte den Gedanken, B. ins Ministerium zu ziehen, dem er bisher immer abhold gewesen, nicht mehr ganz von der Hand weisen; denn auch er konnte sich sagen, daß er Niemand finden würde, auf den er sich in der Frage der Reform und allen inneren Stürmen gegenüber unbedingter verlassen könnte. Jedoch scheint von der Candidatur Bismarck’s ernstlich nur Ende März die Rede gewesen zu sein, als die Militärcommission den verhängnißvollen Beschluß gefaßt hatte, die [614] Beibehaltung des alten Systems und die Einführung der zweijährigen Dienstzeit zu fordern, und zugleich die Haltung Napoleon’s in der italienischen Frage, das Wort von den natürlichen Grenzen, das er in einer Erklärung über die Annexion Nizzas und Savoyens äußerte, tiefe Beunruhigung erweckt hatte. B. selbst hatte wenig Lust, in die „Galeere“ einzutreten. Petersburg war ihm lieb geworden, er wünschte sich keinen besseren Gesandtschaftsposten, und die politische Lage war zu verworren, um ihn sonderlich locken zu können. Andererseits war er nicht der Mann, um vor der Gefahr zurückzuweichen; es erschien ihm als eine Feigheit, einer so schwierigen und verantwortlichen Situation gegenüber „Nein“ zu sagen, wenn man ihm die Pistole mit ja und nein auf die Brust setzen würde: „Kurz, ich thue ehrlich, was ich kann, um unbehelligt nach Petersburg zu gelangen und von dort der Entwicklung in Ergebenheit zuzusehen; wird mir aber der ministerielle Gaul dennoch vorgeführt, so kann mich die Sorge über den Zustand seiner Beine nicht abhalten aufzusitzen“. Schließlich liefen die Dinge so, daß ihm die Entscheidung erspart blieb. Im Innern gab der Compromiß in der Militärfrage, die provisorische Bewilligung von 9 Millionen Thalern, dem Prinzen die Hoffnung, ohne einen Bruch mit der Volksvertretung, vor dem er zurückscheute, zum Ziel zu gelangen, und von der Seine her wehte nach der rauhen Luft der Märztage bald wieder milder Frühlingsodem; statt mit der Rheingrenze zu drohen, bemühte sich Napoleon um eine Unterredung mit dem Regenten auf deutschem Boden. Damit fiel aber für Wilhelm der Anlaß, an B. zu denken, fort; denn obschon dieser den Minister des Auswärtigen, v. Schleinitz, ersetzen sollte, hatte der Prinz in ihm doch weniger den Rathgeber für seine äußere Politik als den Kampfminister gegen die Opposition erblicken wollen, die ihm auch die Sicherung des Staates nach außen zu bedrohen schien. Inbezug auf das Ausland und die deutsche Frage fühlte er sich immer noch den Liberalen näher, insofern sie gleich ihm ihre nationalen Ziele mit der Gegnerschaft gegen Napoleon combinirten; er fürchtete, durch B. aus den moralischen Eroberungen verdrängt zu werden und damit die Macht Preußens selbst zu gefährden. Auch B. redete nicht einer Verbindung mit Frankreich das Wort; wenn er, wie es heißt, früher einen Moment an ein Zusammengehen mit Piemont gedacht hatte, so schien ihm dies nach der neusten Entwicklung in Italien und Napoleon’s Stellungsnahme dazu unthunlich zu sein, und er war bemüht, den Prinzen über seine deutschen Gesinnungen zu beruhigen. Er suchte ihm nur immer Muth einzusprechen: man müsse still halten, gegen einen Angriff aber sich wehren und sich auf die eigene sowie auf die im Nothfall aufzubietende Gesammtkraft Deutschlands verlassen. Aber gerade darum mißfiel ihm der feindselige Ton, in dem sich die der Regierung nahe stehenden Kreise gegen den französischen Kaiser ergingen, sowie die Annäherungsversuche an England, die von Lord Russell sofort zu einer Demonstration im Parlament ausgenutzt und in Petersburg sogleich als eine Verletzung der in Breslau getroffenen Verabredungen empfunden wurden; er hätte viel lieber gesehen, daß man das Anerbieten Napoleon’s zu einer Besprechung mit dem Prinzen, das in Berlin unter dem Beifall der Liberalen zwei Mal kühler Ablehnung begegnete, angenommen hätte. Unter diesen Umständen lag seiner Abreise bald nichts mehr im Wege, zumal da auch Schleinitz, der in den kritischen Tagen recht gerne mit ihm getauscht hätte, jetzt, da sich das Gewitter verzogen, es auf seinem Ministersessel wieder ganz behaglich fand.

Froh, der unbequemen Aufgabe ledig geworden zu sein, kehrte B. Berlin den Rücken; am 5. Juni kam er mit den Seinen in Petersburg an. Nach den persönlichen und politischen Krisen des abgelaufenen Jahres thaten ihm [615] die Ruhe des Familienlebens, das Gefühl fortschreitender Genesung und die herzliche Aufnahme, die er an dem befreundeten Hofe fand, sehr wohl; daß man ihn von Berlin aus in Ruhe ließ und ihm nur amtliche Mittheilungen zuschickte, die den Untergrund der Dinge nicht bloßlegten, war ihm sehr willkommen, da er sich sagte, daß die dort beliebte Politik eine Richtung einhielt, die ihm schwer geworden wäre zu vertreten. „Weit davon, sei es auch bei den blauen Füchsen, hat sein Beruhigendes“, schrieb er seinem alten Collegen in Frankfurt, dem Geheimen Legationsrath v. Wentzel auf die Nachricht, daß der Regent den französischen Kaiser statt, wie dieser gebeten und B. gewünscht hatte, allein, an der Spitze der deutschen Fürsten empfangen und damit aus einer Annäherung Preußens eine deutsch-nationale Demonstration gegen Frankreich gemacht habe. Noch bedenklicher erschien ihm, was ihm über die Zusammenkunft des Prinzen mit Kaiser Franz Josef gemeldet wurde; er konnte in der Zusage an Oesterreich, die preußischen Truppen an die Vertheidigung der italienischen Besitzungen des Kaiserhofes zu setzen, nur wieder die unfruchtbare und gefährliche Politik sehen, die er im Jahre vorher und allezeit bekämpft hatte. Seine aufsteigende Besorgniß wurde dies Mal gemildert durch die legitimistische Wendung, welche die Politik der continentalen Höfe im Herbst nahm, als Garibaldi in Neapel eingezogen war und die Revolution in den Kirchenstaat und Venetien zu tragen drohte. Die Russen, welche besonders die Rückwirkung auf Polen fürchten mußten, geriethen in Unruhe, und selbst Napoleon schreckte vor dem stürmischen Fortgang der von ihm entfesselten Bewegung zurück, die ihn mit seinem clerikalen Anhang zu verfeinden und den Ostmächten gegenüber zu isoliren drohte. Die Lage fand ihren Ausdruck in der Zusammenkunft der drei Herrscher des Ostens zu Warschau Ende October, wo Alexander Vorschläge Napoleon’s für einen Congreß zur Ordnung der italienischen Verhältnisse vorlegte, ohne übrigens damit Anklang zu finden. B., der daran theilnahm, wird diese Schwenkung, welche die bestehenden Differenzen verhüllte statt sie zu lösen, nur mit halbem Herzen mitgemacht haben; immerhin konnte ihm die Annäherung an Rußland und die freundlichere Stellung zu Frankreich mehr gefallen als die Isolirung Preußens im Frühjahr neben England, und die schroffe Haltung, die der Regent der nationalen Bewegung und den Interessen seiner Mitfürsten zu Liebe im Sommer gegen Napoleon eingenommen hatte. Seine Mitwirkung war vermuthlich nur secundär, und so blieb er auch im Winter ohne festere Fühlung mit der Berliner Politik; seit Monaten, schreibt er im März 1861, habe er keine couriermäßigen Mittheilungen vom Ministerium erhalten.

Unterdessen aber nahm der Conflict zwischen Regierung und Volksvertretung in Preußen schärfere Formen an. Die reactionäre Wendung in der auswärtigen Politik, mit der die trotz des provisorischen Charakters der Kammerbeschlüsse rasch und rücksichtslos durchgeführten Neuformationen in der Armee wie überhaupt die Haltung der höfischen und militärischen Kreise nur zu gut harmonirten, wirkte auf die nationale Bewegung aufstachelnd zurück, und das Beispiel des großen italienischen Ministers, der die Revolution zu benutzen wußte, ohne sich ihr zu unterwerfen, seinem Könige neue Provinzen gewann, ohne doch von den europäischen Cabinetten mehr zu ernten als harte Worte und Proteste, und mit dem nationalen Programm die Ideen des Liberalismus vereinigt hochhielt, wies auch den preußischen Patrioten die Richtung. Die Zurückhaltung, welche sie noch im Sommer 1859 der Erhebung Italiens gegenüber beobachtet hatten, ließ in demselben Maaße nach, je kühler sich die Regierung gegen den Turiner Hof bezeigte, und die Erklärung, welche das neue Haus der Abgeordneten, das im Januar 1861, [616] gleich nach Wilhelm’s I. Thronbesteigung, zusammengetreten war, auf Vincke’s Antrag abgab, Preußen habe kein Interesse, sich der Consolidation Italiens zu widersetzen, war bereits die Antwort auf die schroffe Note, die im October von Berlin nach Turin geschickt war. In der deutschen Frage sprach das Haus seinen Dank aus für die Bemühungen des Königs um die Reform der Bundeskriegsverfassung: aber das nationale Bedürfniß fordere mehr, das Hervortreten Preußens und die Gesammtreform der Bundesverfassung. Vergebens suchten die Gemäßigten auf beiden Seiten zu vermitteln: viel zu tief, nicht in den Personen, sondern in den sich bekämpfenden Systemen waren die Gegensätze begründet; von der Spitze her, denn in der Brust Wilhelm’s selbst kreuzten sich die feindlichen Strömungen, durchdrangen sie die königliche Familie, das Ministerium und die Kammern, Diplomatie und Verwaltung, Regierende und Regierte. Es waren dieselben, die in der Revolution zu Tage getreten waren, und wie damals umspannten sie die deutschen ebensowol wie die preußischen Verhältnisse, die auswärtige wie die innere Politik. Der Streit über die Heeresverfassung in Preußen war nur ein Theil des allgemeinen Kampfes, eine seiner Erscheinungsformen, allerdings der Punkt, in dem er am heftigsten entbrannt war, bis dann B. unter Nichtachtung der inneren Gegner König und Staat in die Bahnen des Sieges und der Größe hinausriß; nur von der Höhe der deutschen Frage her läßt sich eine objektive Anschauung des Conflictes, in den die preußische Monarchie mit ihrer Volksvertretung gerieth, gewinnen. Von neuem sah sich Preußens Krone vor die Aufgabe gestellt, die in den Tagen von Frankfurt, Erfurt und Olmütz an sie herangetreten, und vor der sie noch immer zurückgewichen war; alle Hoffnungen und Ansprüche, in denen sich die Nation einst berauscht hatte, waren wieder erwacht, die alten Parteien und ihre Programme tauchten auf, und gebieterischer als je zuvor trat an den Staat Friedrich’s des Großen die Forderung heran, seine Mission in der Vollendung der deutschen Einheit, in der Schöpfung des nationalen Staates zu erfüllen. Die Zeitgenossen haben den neu entbrannten Streit wohl unter die Formel gebracht, ob Deutschland durch die Freiheit zur Einheit oder durch die Einheit zur Freiheit gelangen müsse; uns aber will er so erscheinen, wie B. ihn schon in der Revolution angesehen hatte: die Frage war es, ob Preußen sein Selbst behaupten oder sich von der Bewegung überwältigen lassen, ob es im Stande sein werde, den Deutschen das Gesetz aufzulegen, oder ob es dasselbe von Andern empfangen werde. Daß der Augenblick zur Action gekommen sei und daß Preußen die Führung in Deutschland gebühre, darüber waren die Parteien bis hoch in die regierenden Kreise hinauf und weit über Preußens Grenzen hinweg einig; auch die conservativen Elemente waren, so wenig ihnen die neue Aera behagte, doch zu gut disciplinirt und ihr preußisches Empfinden zu lebhaft, als daß sie dem Träger der Krone in dem Streben nach Macht hätten in den Weg treten mögen; und selbst die Polen und die Ultramontanen hielten zunächst an sich, da auch sie noch eine Weile mit dem allgemeinen Strome zu gehen hoffen konnten und sich noch nicht zur Seite gedrängt sahen. Aber sobald die Bewegung an den Kern und Charakter der Monarchie, an das specifische Preußenthum rührte und den Staat aus den angeborenen Bahnen verdrängen wollte, begannen die Collisionen. Wo aber gab es ein Organ, in dem sich das Wesen der altpreußischen Monarchie stärker offenbart hätte, als in der Armee? Dort lag der Hebel der Macht, die es zu behaupten oder zu erobern galt. Es war die Institution, der die Krone ihre europäische Stellung verdankte, die ihr auch gegen ihre inneren Gegner von jeher den Sieg gegeben hatte und noch in der Revolution [617] ihr stärkstes Bollwerk gewesen war. Sie mußte dem Liberalismus unterworfen werden, wenn er die deutschen Ziele, wie sie ihm vorschwebten, erreichen wollte. Statt dessen sah er sich vor einen Reformentwurf gestellt, der das Heer dem populären Andrang und dem Getriebe des Parteilebens noch viel weiter als bisher entrücken und es durchweg und unmittelbar an die Person des Herrschers, an die Krone Preußens binden wollte. Die Nothwendigkeit einer Heeresorganisation, welche Geld und Menschenkräfte in höherem Grade als bisher heranzöge, sahen die Liberalen ebensogut ein wie der Regent und seine militärischen Rathgeber; es war fast der Hauptpunkt ihres Programms; sie forderten die Verstärkung der kriegerischen Kraft Preußens, gerade damit sie diesem die Centralgewalt sichern, die Einheit der Nation vollenden und alle ihre Feinde in die Schranken weisen könnten. Mit vollem Recht hatte darum der neue Kriegsminister in der Rede, mit der er den Entwurf in dem Abgeordnetenhaus einbrachte, darauf hinweisen können, daß das Bedürfniß nach einer Reform gleichmäßig von der Regierung wie von der Nation anerkannt werde, und daß damit der politischen Bedeutung des Staates ein größeres, das gebührende Gewicht gegeben werden solle. Wenn die Liberalen gleich anfangs die finanziellen Schwierigkeiten klagend hervorhoben, so wiederholten sie damit nur, was auch die nächsten Freunde der Regierung und die Vertheidiger der Reform selbst empfanden; und wenn sie später ihren Widerstand ganz besonders auf die angeblich unerschwingliche Höhe der Kosten basirten, so war das für sie ein Strategem, das freilich der Regierung gegenüber sich stumpf genug erweisen sollte, ihnen selbst aber zunächst weiten Raum gewann; es war ein Agitationsmittel, so wirksam wie kein anderes, um ihnen die von banausischen Interessen beherrschten Massen zuzutreiben; hätte die Majorität in Preußen wirklich etwas bedeutet, so wäre der Sieg der Linken damit entschieden gewesen. Uebrigens machte gerade die Geldfrage anfangs gar nicht so große Schwierigkeiten; denn gleich nach dem ersten Waffengange bewilligte ja die Kammer der Regierung auf das erste Entgegenkommen hin alles, was sie haben wollte, in einem Compromiß, bei dem der Löwenantheil wahrlich nicht auf der Seite des Liberalismus lag. Damals wollten Männer wie Heinrich v. Sybel, der schon nach einem Jahr zur Opposition übergetreten war und bald unter ihren Führern erschien, noch hoffen, daß die Krone, wenn man ihr nur in der Militärfrage zu Willen sei, alle Erwartungen der Patrioten wahr machen würde. Und daß der Regent, sobald ihm sein Herzenswunsch erfüllt wäre, sich weiter in die liberale Bahn drängen lassen könnte, fürchteten auch die Reactionäre: wie froh war Leopold v. Gerlach, als die Vorlage nicht anstandslos bewilligt war; so habe doch nicht das liberale Ministerium die Gloriole, sie durchgebracht zu haben. Aber zunächst war es die Krone, die den Hauptgewinn davontrug; und indem sie sofort die neuen Regimenter bildete und die Reorganisation in ihrem Sinne begann, schuf sie sich eine Position, aus der sie, wie der Erfolg bald lehrte, nicht wieder zu vertreiben war.

Nichts ist einseitiger, als wenn man den großen Kampf nur nach den technischen Fragen, die dabei zur Sprache kamen, beurtheilen will und ihn als einen Meinungszwist zwischen Fachmännern und Dilettanten auffassen möchte. Daß die Armee durch die Reform schlagfertiger, jünger und selbst wohlfeiler für das Land wurde, braucht nicht mehr gesagt zu werden, nachdem auf hundert Schlachtfeldern der Beweis dafür erbracht worden ist; aber ein Volksheer im Sinne der Opposition oder auch nur der alten Reformer ist sie dadurch nicht geworden, mit wie gutem Recht man sie auch sonst das Volk in Waffen nennen mag; man könnte die Reorganisation [618] viel eher eine Rückbildung, als eine Fortentwicklung der Principien nennen, von denen Scharnhorst und Boyen ausgegangen waren, und es ist bezeichnend, daß in dem schriftlichen Disput, den Boyen während seines zweiten Ministeriums mit dem Prinzen von Preußen hatte, von beiden Seiten dieselben Motive einander entgegengestellt wurden, welche uns in dem Streit Wilhelm’s mit dem Abgeordnetenhause begegnen. Die Macht der Krone erfuhr durch die Reorganisation eine gewaltige Steigerung; die Verschmelzung der Landwehr mit dem stehenden Heer, die Verstärkung des Officiercorps in Linie und Garde, die Vermehrung der Kasernen, die Ausdehnung der Cadettenhäuser und der Unterofficierschulen waren ebensoviele Hebel für die unmittelbare Gewalt des Herrschers, Klammern für den preußischen Particularstaat und, wenigstens im Sinne der Frankfurter und aller liberalen Ideale, Hemmschuhe auf dem Wege zur Einigung der Nation. In dieser Tendenz hat Roon sein Werk von Anfang an betrieben; er faßte dabei nicht bloß die äußeren, sondern gerade auch die inneren Ziele ins Auge: die Landwehr schaffe, daß man im eigenen Hause nicht Herr sei; daß man bei jedem Conflict der Meinungen, in den die Regierung mit den Regierten oder einem Theil derselben gerathe, den Effect berechnen und veranschlagen müsse, den angefochtene Regierungsmaßregeln der äußeren wie der inneren Politik auf den bewaffneten Theil des Volkes, auf die Landwehr, äußern möchten; ihre Existenz binde also der Regierung die Hände, gebe sie den Hetzereien der Parteischreiber preis, mache sie abhängig von dem Winde der öffentlichen Meinung und jedes freie politische Handeln unmöglich – so heißt es gleich in der ersten Denkschrift, die der General im Juli 1858 dem Regenten einreichen mußte, und die ihm den Weg ins Ministerium gebahnt hat. Er war ein Mann recht nach Wilhelm’s Herzen, gehorsam, so lange der Regent im liberalen Fahrwasser war, aber mehr noch geeignet und gewillt, ihn im Conflict aufrecht zu erhalten; mit Verachtung und Ingrimm sah er auf die „Demokraten“; als Reactionär bezeichnete er sich selbst gegen Gerlach bei ihrer ersten Begegnung; von der ersten Stunde ab war er der Keil in dem liberalen Ministerium. Wilhelm selbst war niemals bloß von militärischen Zweckmäßigkeitsgründen geleitet gewesen; auch er war ganz davon durchdrungen, daß die Armee, die Schöpfung seiner Vorfahren, in der Hand des Herrschers ruhen, zu seiner unbedingten Verfügung stehen müsse, daß nur so die Freiheit, das heißt doch eben die Souveränität der Krone gewährleistet sei; ja, diese Ueberzeugung war, so darf man sagen, die Basis, auf der sich die Idee der Reform, die er stets mit Recht als seine eigenste bezeichnet hat, in ihm entwickelt hatte. War nun zu erwarten, daß der Fürst, wenn er dies unvergleichliche Instrument der Macht in die Hände bekam, es nach dem Winke der liberalen Partei gebrauchen würde? Daß er die ihr widerstrebenden Elemente, die Kreise, die ihm von jeher die nächsten gewesen, zurückdrängen oder sie zwingen würde, sich den Tendenzen einzufügen, denen er selbst nur widerstrebend folgte? Schon waren dieselben an der Arbeit, um sich die Vortheile, die ihnen die Pläne des Herrschers boten, zu sichern. Sie sahen sofort, daß ihre Stunde gekommen war, und trachteten die Stellung einzunehmen, die die Liberalen zu verscherzen im Begriff standen. Gleich bei den ersten Verhandlungen hatten sie dem Regenten in einer Adresse versichert, daß sie ihn bedingungslos unterstützen würden, nicht ohne die Opponenten zu verdächtigen. Der deutschen Politik Wilhelm’s widersprachen sie nicht, wenigstens nicht offen heraus; und nur in Beziehung auf die Grundsteuer, die ihre wirthschaftlichen Interessen störte, war das Herrenhaus, in dem sie herrschten, aufsässig. Als sie aber sahen, daß Wilhelm auch darin keinen Spaß verstand, gaben sie [619] nach und verpflichteten ihn sich damit um so mehr. Es war die Classe, die seit Jahrhunderten der Dynastie verbunden gewesen war und noch immer im Staate den Vorrang behauptete, meist Familien des kleinen Adels, zumal in den altpreußischen, agrarischen Provinzen. Jedoch waren es viel weniger die wirthschaftlichen Interessen (wählte doch auch das platte Land oppositionell) als eben die sociale Structur des alten Staates, welche durch den politischen Conflict zersetzt wurde. Eine Entwicklung, die schon in der Revolution eingesetzt hatte. Der alte Staat hatte durch seine Stellung über den Parteien die socialen Unterschiede mildern können; er war allmählich stark genug geworden, um sich nicht mehr auf einen besonderen Stand stützen zu brauchen; und so war gerade in seiner letzten Generation, als die bürgerlichen Elemente auch in die höheren Aemter, wenigstens der Verwaltung, mehr und mehr eindrangen, eine Abschwächung des Classenbewußtseins erfolgt, welche bis weit in die Kreise des Adels hinaufreichte. Der Stoß der Revolution, der die Monarchie zwang, sich wieder auf ihre Grundkräfte zu verlassen, hatte Krone und Adel wieder enger zusammengeführt; denn zu welchen Elementen hätte jene eher greifen sollen, als zu denjenigen, mit denen sie das alte Preußen gebaut und regiert, Glanz und Macht von jeher getheilt hatte! So konnte die Partei, welche die Conservirung des alten Preußens auf ihre Fahne schrieb, von den Gegnern mit einem gewissen Recht als die Partei der Junker verschrieen werden; indem sich der Adel zum Schutze des Thrones aufstellte, vertheidigte er zugleich seine eigenen Vorrechte und Ueberlieferungen. Die Diplomatie war ja stets, sowol in der Centralinstanz wie in ihrer Vertretung im Auslande, seine Domäne geblieben. In der inneren Verwaltung war er durch das Ministerium Manteuffel auf jede Weise gefördert worden, die Präsidien und Landrathsämter waren meist in seinen Händen. Noch mehr beherrschte er das Officiercorps, und die Armeereform wurde ganz zu seinen Gunsten durchgeführt: geflissentlich wurden die Landwehrofficiere und die bürgerlichen Officiersaspiranten zurückgesetzt oder abgewiesen, und die obersten Classen der Cadettenhäuser geleert, um den Söhnen der Militärfamilien die neuen Stellen zu sichern; darin dachte einer wie der andere, Moltke geradeso wie Roon und Edwin Manteuffel, wie rücksichtslos letzterer auch als Chef des Militärcabinetts die untauglichen Elemente ausmerzen mochte. So waren also die drei wichtigsten Organe des Staates in den Händen einer Classe, die in ihrer Mehrheit der liberalen Tendenz, der das Ministerium und fast alle Abgeordneten verpflichtet waren, aufs stärkste widerstrebte. Konnten die Liberalen, die nicht einmal den unteren Verwaltungsorganen ihren Willen aufzudrängen vermochten, obschon ihr alter Führer Minister des Innern war, hoffen, diese compacte Macht mit allen ihren Ansprüchen zurückzudrängen und die Krone von ihr loszulösen? Mußten sie nicht vielmehr fürchten, daß die feindliche Partei den Herrscher, sobald er in den Vollbesitz des neuen Bollwerks seiner Krone gelangt war, erst recht mit sich fortziehen würde? Durften sie die legitimste Waffe, die sie besaßen, und die ihnen die Verfassung, auf die doch auch die Krone eingeschworen war, in die Hand gab, fortlegen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu gebrauchen? Sie würden die Durchführung ihres Programms in das Belieben des Herrschers gestellt haben: es wäre die Capitulation vor der Schlacht gewesen. Wie weit waren sie doch schon im Mai 1860 von den hochfliegenden Hoffnungen zurückgekommen, mit denen auch die Gemäßigtsten unter ihnen die neue Aera begrüßt hatten! Und was nützte es ihnen, als sie im Compromiß ihre besten Trümpfe von sich gaben? Nur um so stärker stellte sich die Krone auf, nur um so fester verband sie sich mit ihrem conservativen Gefolge.

[620] Noch immer war Wilhelm gewillt, das Programm vom November 1858 so wie er es auslegte zu erfüllen, wahrlich nicht aus besonderer Neigung für die liberale Verfassung, sondern aus Rücksicht auf Preußens Stellung in Deutschland; von der auswärtigen Politik ließ er seine innere beeinflussen. Nun aber hatte das Zusammengehen mit der liberalen Partei in der deutschen Frage Preußen nur in schiefe und gefahrvolle Situationen gebracht; nirgends war man vorwärts gekommen, weder in der Reform der Bundesverfassung noch in der hessischen und holsteinischen Angelegenheit; halbe Anläufe und unausgeführte Entwürfe, Opposition, Isolirung, Enttäuschung drinnen und draußen, das war das Resultat einer Politik, die sich aus den Grenzen des reinpreußischen Interesses entfernt hatte. In Warschau hoffte Wilhelm endlich eine festere Basis gewonnen zu haben: Franz Josef machte Miene den Weg der Reform, auf den der Regent selbst ihn in Teplitz hingewiesen hatte, einzuschlagen, und die humane und friedfertige Persönlichkeit Alexander’s II. schien dafür zu bürgen, daß auch in Rußland die reactionäre Politik des alten Zaren keine Stätte mehr finden werde; es mochte scheinen, als würde das Ideal Wilhelm’s, die Erneuerung des Bundes der drei Ostmächte in einer moderneren Form, realisirt werden können. Gerade da aber traten ihm die Liberalen schroff entgegen; statt mit den Höfen, sympathisirten sie mit den aufsässigen Unterthanen, den Polen und den Italienern; sie suchten die Regierung vorwärts zu stoßen, ohne ihr doch die Mittel, die sie forderte, zu gewähren. Um so heftiger warf sich Wilhelm, nun von außen leidlich gedeckt, in die entgegengesetzte Richtung. Die ersten Monate seines Königthums waren ganz von den inneren Fragen absorbirt. Es waren, von der Militärreform abgesehen, Conflicte meist dürftigsten Inhaltes, Lappalien nannte sie B., wie der Streit über die Entlassung des Polizeipräsidenten v. Zedlitz, der Proceß des Polizeiraths Stieber, das Duell zwischen Manteuffel und Twesten; aber gerade die Hartnäckigkeit und Verbitterung, womit der König die wenigstens in diesen Fragen sehr berechtigten Anschauungen und Forderungen der Opposition aufnahm, bewiesen, wie weit er von einer Verständigung entfernt war. Daß er nachgeben würde, brauchten die Conservativen kaum noch zu besorgen. Wol aber sahen sie die Gefahr vor Augen, daß der König, alt und leidend wie er war, des Kampfes müde werden und die Flinte ganz ins Korn werfen, die Regierung seinem Sohne abtreten könnte. Denn dann stand zu befürchten, daß die Abgeordneten dem Sohne, der zwar für die Militärreform eintrat, sonst aber mit der Majorität ging, für liberale Concessionen bewilligen würden, was sie jetzt dem Vater versagten. Hiervor die Krone und die eigene Partei zu behüten, sah vor allem Roon als seine Aufgabe an. Mehr als je faßte er sein Werk unter dem Gesichtspunkt der inneren Politik, der Behauptung des alten Königthums gegen den Ansturm der „Demokraten“ auf. Um dies Ziel zu erreichen, benutzte er nicht bloß den Militärconflict, sondern jeden Zwist, in den die öffentliche Meinung mit dem Willen des Monarchen gerieth; auf alle Weise suchte er die Kluft zu vertiefen. Er stritt nicht nur in der Kammer und im Rath der Minister, mit offenem Visir, sondern auch hinter dem Rücken seiner Collegen, in Immediatvorstellungen, die ja wol den Freimuth athmen mögen, der ihnen nachgerühmt wird und zu dem er selbst sich darin bekennt, und jedenfalls die volle und echte Leidenschaft einer geschlossenen und willensstarken Persönlichkeit, die aber auch, wie gar nicht zu verkennen ist, in jedem Satze voll kluger Berechnung auf das Herz und die Eigenart des Königs waren. Roon wollte nicht bloß seinen Herrn in dem Kampfe aufrechterhalten, sondern auch die liberalen Minister stürzen und den Bruch mit den Grundsätzen der neuen Aera herbeiführen: die Vollgewalt des [621] königlichen Willens, der in der Armee sein stärkstes Fundament hatte, sollte behauptet und fester gegründet werden. Als Officier sprach er zu seinem Kriegsherrn, und den Officiersgehorsam, die Dienertreue, zu der er selbst sich bekannte, forderte er von den Ministern und von Jedermann, der der Krone verpflichtet wäre. Er wußte wohl, wohin er zielte, wenn er den König an seine absoluten Vorfahren, an „Friedrich den Einzigen“ und an seinen Vater, „Friedrich Wilhelm den Gerechten“, in dem der Sohn das Vorbild aller königlichen Tugenden verehrte, erinnerte, und daß er ihn nicht tiefer treffen und nicht stärker an sich fesseln konnte, als indem er ihn bei seinem Officiersempfinden anfaßte und ihn geradezu vor einer Politik zu warnen wagte, die in der Armee Aergerniß erregen, das Standesgefühl des Officiercorps beleidigen und dadurch die festeste Säule, den ‚rocher de bronze‘ des Thrones untergraben könnte.

Im Juni 1861, in den Tagen, da sich aus der liberalen, innerlich längst zersetzten Majorität die kleine Gruppe der „Litthauer“ loslöste und das Programm der deutschen Fortschrittspartei herausbrachte, schien die Krisis da zu sein, an deren Heraufführung der Minister so lange gearbeitet hatte. Der Anlaß, den er ergriff, war wieder eine an sich untergeordnete Angelegenheit, der Anspruch des Königs, der ihm vielleicht erst von außen inspirirt war, den Antritt seiner Regierung durch eine Huldigung in den alten ständischen Formen, wie sie 1840 sein Bruder vorgenommen hatte, zu feiern. In dem Verfassungsstaat bedeutete dies offenbar eine Anomalie, und im Zusammenhang mit den Parteikämpfen, in denen man begriffen war, einen Affront, den die Conservativen ihren constitutionellen Gegnern zu bieten wagten. Es war daher den liberalen Ministern kaum zu verdenken, daß sie sich gegen den Vorstoß, der sie mit ihren eigenen Parteifreunden zu compromittiren drohte, wehrten. Hier setzte Roon den Hebel an. Er selbst gesteht es zu, daß der König, wenn er ihm dazu riethe, nachgeben würde, zumal da die Königin längst bemüht war, ihren Gemahl zu bewegen, sich mit der Krönung zu begnügen: „aber“, so schreibt der Leidenschaftliche, „ich hoffe zu Gott, daß er meine Zunge lähme, bevor sie zustimmt“. Er setzte vielmehr alles daran, seinen königlichen Herren aufzustacheln, indem er ihm die Forderung der Majorität im Ministerium als einen neuen Versuch, die Rechte der Krone einzuschränken, darstellte. Am 26. Juni entriß er ihm nach langem Sträuben den Auftrag, nach andern Ministern Umschau zu halten; sofort schrieb er an Präsident v. Möller und Herrn v. Selchow, am nächsten Tage auch an Bismarck. Ob an letzteren direct auf Befehl des Königs, läßt sich nicht ausmachen; doch scheint von ihm gesprochen worden zu sein, und Wilhelm die Erlaubniß, bei ihm anzufragen, gegeben zu haben. An eine völlige Erneuerung des Ministeriums und seine Auslieferung an die Kreuzzeitungspartei dachte der König noch nicht; und so richtete der Kriegsminister seine Hoffnung zunächst nur darauf, die eigene Stellung im Ministerium, in dem er ganz isolirt war, zu verstärken: man müsse, schreibt er an B., den König überzeugen, daß er ohne affichirten Systemwechsel ein Ministerium finden könne, wie er es brauche. Ihm kam es vor allem darauf an, Graf Schwerin als den eigentlichen Träger der liberalen Politik aus dem Rathe des Königs fortzubringen. Da Schleinitz unter allen Umständen, auch abgesehen von der Huldigungsfrage, zum Rücktritt entschlossen schien, so war auch das Auswärtige zu besetzen. Aber dafür war B. nicht der Candidat des Königs; dieser wollte den Gesandten, wenn überhaupt, nur im Innern verwenden, zum Nachfolger Schwerin’s machen; und auch Roon wünschte den alten Führer seiner Partei gerade als Kampfgenossen gegen die inneren Gegner zur Seite zu haben. B. war im Begriff, auf Urlaub [622] nach Pommern zu gehen, wo seine Familie seit dem Frühjahr weilte, als ihn der Hülferuf erreichte. Die Aussicht, statt in die Ferien, die er in Reinfeld mit Kissinger und demnächst im Seebade Stolpmünde zu verbringen hoffte, in den Kampf zu gehen, war ihm garnicht behaglich; mit schrillem Mißklang, schreibt er dem Freunde zurück, töne sein Commando „an die Pferde“ in den Streit wohlthuender Gefühle für junge Auerhühner einerseits und Wiedersehen mit Frau und Kindern andererseits hinein; er sei geistesträge, matt und kleinmüthig geworden, seit ihm das Fundament der Gesundheit abhanden gekommen sei. Doch waren es mehr noch die sachlichen Gründe, die sein Bedenken erregten. Der Anlaß schien ihm zu geringfügig zu sein, um deshalb einen Bruch mit der Kammer herbeizuführen, und er konnte sich überhaupt nicht von der praktischen Wichtigkeit des Anspruchs auf die Huldigung überzeugen. Dennoch war er bereit sich auf die gewählte Basis zu stellen, weil daraus nun einmal eine Machtfrage geworden war und er die Krongewalt unter allen Umständen aufrecht erhalten wollte: drücken werde er sich nicht, denn einer Feigheit wolle er sich nicht bewußt sein; er erklärte, auch Schwerin’s Posten übernehmen zu wollen. Aber das Programm, auf das fortan die Geschäfte des Ministeriums geführt werden sollten, wollte er wissen, und nicht ohne Bedingungen eintreten; er unterließ nicht, dem Freunde die Differenz, die ihn von dem König trennte, in aller Schärfe zu bezeichnen. Es ist die alte, die wir kennen, die gegensätzliche Auffassung der auswärtigen Politik. Für sie forderte B. eine volle Schwenkung, das Aufgeben der legitimistischen Richtung, die ihr der persönliche Wille Sr. Majestät im Widerspruch zu der constitutionellen Haltung im Innern gegeben habe; denn nur dadurch könne die Stellung der Krone im Innern von dem Andrang degagirt werden, dem sie, obschon er an der Zulänglichkeit der Mittel an sich nicht zweifle, sonst auf die Dauer thatsächlich nicht widerstehen werde. Er faßte also auch die innere Politik nur wieder unter dem Gesichtspunkt der auswärtigen Verhältnisse, der Machtstellung Preußens auf, und wollte mit einem Worte die deutsche Frage statt der kümmerlichen Querelen, in denen sich Kraft und Ansehen der Krone verzehrte, in den Mittelpunkt der Action gestellt sehen: man müsse, schreibt er, in der Militärfrage stramm halten, darüber mit der Kammer brechen, sie auflösen, und der Nation dann zeigen, wie der König zu den Leuten stehe. Es war bereits das Programm, mit dem er im September 1862 vor Wilhelm I. getreten ist. „Geht der König“, so schreibt er in einem Postscript, das er dem in später Nachtstunde hingeworfenen Brief am folgenden Morgen hinzufügte, „einigermaßen auf meine Meinung ein, dann greife ich das Werk mit Freuden an“.

Auch dies Mal ward aus dem Plane nichts, da die Krisis noch einmal in einem Vergleich endigte; der König nahm es schließlich hin, daß statt der Huldigung eine feierliche Krönung erfolge, und die liberalen Minister behielten ihre Plätze. Als B. nach Berlin kam, fand er Roon nicht vor. Er wollte auf dessen Rückkehr warten, aber seine Absicht ward von Schleinitz durchkreuzt, der ihm den Befehl gab, sobald als möglich nach Baden-Baden zum König zu reisen. Dort war er in den Tagen vom 11. bis 16. Juli, und erlebte so das Attentat jenes überspannten deutschen Studenten, der als ein deutscher Orsini den greisen Herrscher tödten wollte, weil er nicht genug für die deutsche Einheit thäte. Es war das Ziel, dem B. seinen Herrn im Kampf gegen die Demokratie, die in Baden zum Verbrechen griff, entgegenführen wollte. Eben dort und in dieser Zeit, vielleicht mit unter dem Eindruck jener Frevelthat, hat er es ihm gewiesen, in einer Denkschrift, die er im Entwurf sogleich einreichte und im Herbst ausgearbeitet hat.

[623] Bei der Veurtheilung dieses Schriftstückes, eines der merkwürdigsten, das aus der Feder des großen Staatsmannes geflossen ist, müssen wir im Auge behalten, daß B. dem Monarchen nicht alles so sagen konnte, wie er es fühlte und gethan wissen wollte. Gegen seine Freunde, Roon und v. Below-Hohendorf, ist er schon in dieser Zeit viel weiter herausgegangen; ihnen gegenüber sprach er von der Donquixoterie eines Systems der Solidarität der conservativen Interessen aller Länder, von dem ganz unhistorischen gott- und rechtlosen Souveränitätsschwindel der deutschen Fürsten, und daß er, der seinem Fürsten treu bis in die Vendée sei, gegen alle anderen in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit fühle, den Finger für sie aufzuheben: der Radicalismus hätte sich kaum stärker ausdrücken können. Was aber B. hier verwarf, waren gerade die Anschauungen des Königs, denen er seit dem Herbst mehr als je folgte. Von ihnen galt es ihn hinwegzubringen. Nur schonend, unter möglichster Verhüllung des Zwiespaltes, der zwischen beiden Denkweisen klaffte, konnte es geschehen: nicht bloß der Staatsmann, sondern auch der Diplomat hat in der Denkschrift die Feder geführt. Dennoch hat B. darin den Zielen seiner Politik nichts vergeben; sie sind im Kern bereits darin enthalten; es lassen sich auch in ihr, wie schon in den Frankfurter Berichten, die Linien verfolgen, die zur Reichsverfassung hinüberführen, und mehr als ein Gedanke derselben läßt sich aus ihr herausschälen. Wie in seinen Frankfurter Memoires geht B. aus von der Abwandlung der europäischen Constellation durch die Auflösung der heiligen Allianz, an deren Wiederaufbau Wilhelm in seiner Weise arbeitete; die Thatsache, daß sie zerstört sei, bleibt der Satz, der Alles trägt. In der Anlehnung des Bundes an das Defensivsystem der drei östlichen Mächte habe Deutschland Bürgschaften des Friedens und der Sicherheit gefunden, über welche manche drückenden Folgen der Zerrissenheit seines Gebietes hätten vergessen werden können; seit ihrer Zertrennung aber machen sich der Bevölkerung in verstärktem Maaße alle die Uebelstände fühlbar, welche aus der unnatürlichen Mannichfaltigkeit der Landesgrenze im Innern Deutschlands hervorgehn und verstärkt werden durch die in früheren Zeiten unbekannte Höhe, auf welche das Souveränitätsbewußtsein der Einzelstaaten sich heut zu Tage gesteigert habe. B. stellt sich also in seiner Betrachtung auf die Seite der Bevölkerungen, nicht der Regierungen, und wendet sich eher gegen diese; der Nation in ihrer Gesammtheit billigt er das Recht zu, Garantien für ihre Sicherheit, und mehr als das, eine Verfassung zu verlangen, die ihr die ihrer Größe und Kraft gebührende Geltung in Europa verschaffe; den Willen zur Macht in ihr erkennt er an. Jedoch unterscheidet er dabei zwischen den Bevölkerungen Preußens und der kleinen Staaten. In letzteren sei das demüthigende Gefühl des Mangels an Würde und Sicherheit nach außen und die Empfindung des Druckes vorherrschend, welchen die Beschränktheit der politischen Lebenskreise auf die Strebsamen und Befähigteren ausübe; das preußische Volk dagegen fühle die Ungerechtigkeit, die darin liege, daß Preußen, da auf Oesterreich kein Verlaß sei, mit seinen 18 Millionen unter höchster Anspannung aller Kräfte für die Vertheidigung eines Gebiets von mehr als 40 Millionen der Hauptsache nach einstehen solle, ohne daß es ein stärkeres Recht am Bunde habe als die kleinen Nachbarstaaten, die es schütze, durch die es aber im Frieden seine materielle Entwicklung beschränkt, seinen Verkehr eingeengt sehe, und von denen es im Kriege, sobald er glücklich verliefe, verlassen werden würde. Aus diesem doppelten Anspruch, der ganzen Nation und der Bevölkerung Preußens, die in diesem Falle mit ihrer Regierung das gleiche Interesse besitze, leitet B. die politischen Rathschläge ab, die er seinem König vorträgt. Der deutsche Bund ist nicht im Stande, den Schutz [624] und die Macht zu sichern, deren die Nation bedarf und auf die sie ein Recht hat, und jeder Versuch, denselben durch Erweiterung der Befugnisse der Majorität, durch eine andere Vertheilung der Stimmrechte straffer zu gestalten, muß Preußens Lebensinteresse schädigen; es würde niemals dabei seine Rechnung finden; selbst wenn es seiner Bevölkerungsziffer gemäß allein mehr Stimmen erhielte als die Gesammtheit der übrigen rein deutschen Staaten (18 Millionen gegen 171/2), so würde durch die mechanische Operation der Zählung eine lebensfähige und am Tage der Gefahr haltbare Einigung schwerlich erreicht werden: „Um einem solchen Ziele näher zu treten, ist vielleicht eine nationale Vertretung des deutschen Volkes bei der Bundes-Centralbehörde das einzige Bindemittel, welches den divergirenden Tendenzen dynastischer Landespolitik ein ausreichendes Gegengewicht zu geben vermag“. So fügte B. seinem System das Organ ein, das in der Revolution eine Weile Deutschland beherrscht hatte, und dessen schroffster Gegner er selbst gewesen war. Aber auf der Hand liegt, wie sehr es sich in seinen Händen verwandelte, und daß er dem Grundgedanken, von dem er damals geleitet gewesen, nicht untreu geworden war. In dem Wahlsystem, das er vorschlägt, einer Delegirtenversammlung aus den Landtagen, liegt der Unterschied nicht; denn B. ist sehr bald, schon im Januar 1863, am Bundestage für directe Wahlen eingetreten, und schon jetzt scheint ihm, wie die Worte lauten, einiger Zweifel über die Zweckmäßigkeit jenes Wahlmodus, den er um seines conservativen Charakters willen, vielleicht um die Idee dem König vertrauter zu machen, vorschlägt, aufgetaucht zu sein. Nicht in der Form, sondern in dem Zweck und der Competenz seiner Reichsgewalt ist ihr Gegensatz gegen die von 1849 begründet. Die Männer von Frankfurt hatten eine Centralinstanz, einen einheitlich geordneten Willen schaffen wollen, dem jede Einzelmacht, wie groß oder klein sie wäre, unterthan sein sollte. Daran hatten auch die Gothaer und alle Parteien, die jenes Programm annahmen oder fortentwickelten, festgehalten, wie gern sie auch im übrigen dem Hause Hohenzollern die Herrschaft über Deutschland gönnen mochten: das alte Preußen sollte doch nicht mehr bestehen bleiben, sondern in dem neuen Reich mehr oder weniger aufgehen, der gemeinsamen Verfassung sich von innen her unterwerfen. B. dagegen schränkt die Competenz der Vertretung des Volkes auf den Zweck ein, den er ihr gesetzt hat: „die weitesten Grenzen ihrer Wirksamkeit würden immer nur die Bestimmungen über die Wehrkraft des Bundes und die Zoll- und Handelsgesetzgebung mit dem Gebiete der verwandten materiellen Interessen umfassen“; „sodaß“, fügt er hinzu, „die Regierungsgewalt im Innern jedem Staate unverkümmert bliebe“. Nur soweit die Sicherung der nationalen Macht in Frage steht, soll die Selbständigkeit der Staaten im Bunde beeinträchtigt werden, im übrigen ihr Gefüge unberührt bleiben. Nicht in einer den Staaten gegenüber souveränen, aber ihrerseits wieder durch die Nationalvertretung controlirten Centralgewalt sieht B. den tragenden Pfeiler der deutschen Einheit, sondern in einer aus den Regierungen selbst delegirten Centralbehörde, der aber eine Nationalvertretung als Strebe und Stütze an die Seite gestellt sei; als Hülfskraft: nach außen, um die Macht des Ganzen zu sichern, nach innen, um das Auseinanderfallen der Theile zu verhüten, will er die Institution verwenden, welche in der Revolution zur Basis des gesammten Reichsbaus erhoben war. In beiden Organen soll jeder deutsche Staat nach dem Maaße seiner Macht vertreten sein, Regierung und Volk Preußens also den stärksten, den historisch und thatsächlich berechtigten Einfluß ausüben können. Wie die neue Bundescentralbehörde einzurichten, wie sie und die Nationalvertretung auch nur zu erlangen sei, sagt [625] er nicht, wol aber, daß der Bundestag in seiner jetzigen Einrichtung kaum geeignet sei, um mit parlamentarischen Körperschaften zu verhandeln, und daß weder von Oesterreich noch den übrigen Bundesstaaten die Zustimmung mit der verfassungsmäßigen Stimmeneinhelligkeit zu erwarten wäre; die ehrliche Betheiligung Oesterreichs an derartigen Einrichtungen, heißt es mit einem Seitenblick auf das Werk des Frankfurter Parlaments, würde selbst dann noch kaum ausführbar werden, wenn zwischen den deutschen und den nichtdeutschen Provinzen des Kaiserstaates das Verhältniß einer bloßen Personalunion herzustellen wäre. „Die practische Verwirklichung einer deutschen Nationalvertretung“, so wird weiter gefolgert, „hat demnach auf dem bundesverfassungsmäßigen Wege bisher wenig Wahrscheinlichkeit und könnte nur mit einer Umgestaltung der Centralbehörde Hand in Hand gehen“. Wir wissen, welchen Weg B. für gangbar und fast schon für den einzig möglichen hielt; seinen Freunden hatte er ihn oft genug, und zuweilen auch den Gegnern offen gezeigt. Aber den Stimmungen und Einflüssen gegenüber, von denen König Wilhelm sich noch beherrschen ließ, hätte er nicht gleich so mit der Thür ins Haus fallen dürfen. In dem ganzen Schriftstück kommt kein Wort von Krieg oder Gewalt vor; alles wird auf Verhandlung oder Verständigung gestellt. Bismarck’s Vorschlag läuft auf eine bloße Erklärung am Bunde hinaus, die aber offen und ehrlich abgegeben werden müsse: daß die Verfassung des Bundes sich nicht bewährt habe, einer Reform bedürfe, und daß Preußen entschlossen sei, Vorschläge für eine solche Reform zu machen, durch welche die Mitwirkung einer nationalen Vertretung in Aussicht genommen werde; daß es die freie Einwilligung seiner Mitverbündeten in seine Anträge durch Verhandlungen erstreben, und wenn es sie nicht sofort erlangen, sie von der Zeit erwarten wolle, in der Hoffnung, daß richtigere Ansichten sich allmählich Bahn brechen würden; daß es, bis dieses Ziel erreicht sein werde, in freiwilligen und kündbaren Vereinigungen neben dem Bunde Surrogate für die fehlenden Bundesinstitutionen herzustellen suchen werde. Als ein solches Surrogat schlägt er ein Zollparlament vor, ein Gedanke, den er seit Jahren hegte. Es galt zunächst den König von dem Boden der „moralischen Eroberungen“ auf den der Macht- und Interessenpolitik hinüberzuführen, ihn die ersten Schritte machen zu lassen in der neuen Richtung; Zeit und Umstände mochten das Weitere ergeben. Ausdrücklich lehnt B. es ab, eine fertige Vorlage von Reformplänen, den ausgearbeiteten Entwurf einer neuen Bundesverfassung einzubringen, bevor sich daß Maaß des Erreichbaren aus den Verhandlungen mit den anderen Bundesregierungen erkennen lasse. Immer wieder betont er das historische und verfassungsmäßige Recht Preußens zu dem Antrag, sowie den friedlichen Zweck, den conservativen Charakter seiner Vorschläge, nicht bloß im Sinne Preußens, sondern der Bundesstaaten selbst, die dadurch erst Sicherung nach außen und innen erlangen würden, und daß diese Pläne nicht über das Bedürfniß, das heißt nicht über das Gebiet der Militäreinrichtungen und der materiellen Interessen hinausgreifen und ihre allmähliche Verwirklichung nur von der freien Entschließung der Bundesstaaten erwartet werden solle. Das Alles war, von Oesterreich abgesehen, durchaus so gemeint wie es geschrieben war; in diesem Sinne sind norddeutsche Bundes- und Reichsverfassung entworfen, und so haben sie sich bewährt. Aber daß dies alles friedlich erlangt werden könnte und von der Erfüllung der Zeiten abgewartet werden sollte, war freilich nicht Bismarck’s Meinung.

Ueber die Aufnahme, die er mit seinen Anschauungen in Baden-Baden fand, können wir kaum etwas sagen, nicht einmal, ob Vortrag und Entwurf [626] vor oder nach dem Attentat Becker’s fallen; auch nicht, ob noch von der Uebernahme des Ministeriums des Innern die Rede gewesen ist. Daß die Vorschläge des Gesandten nicht ganz ohne Eindruck blieben, zeigt seine Berufung an das Hoflager nach Coblenz, Ende September; eben dort erhielt er den Befehl, den in Baden überreichten Entwurf auszuarbeiten: offenbar in Parallele mit Conferenzen, die Wilhelm kurz vorher in Ostende mit dem Großherzog von Baden und seinem jungen Minister Freiherrn v. Roggenbach über die deutsche Frage gehabt, und die zu dem Auftrage an den letzteren geführt hatten, seine Ansichten, die auf eine Wiederaufnahme der Unionsverfassung hinausliefen, ebenfalls niederzuschreiben und einzureichen. Wir werden annehmen dürfen, daß B. die Denkschrift, die er in Reinfeld Anfang October ausarbeitete, von dort nach Königsberg gebracht hat, wo er der Krönung beiwohnte. Auch der Gedanke, B. nach Paris zu versetzen, der schon im Juli besprochen wurde, zeigt, daß Wilhelm sich einer Politik, die in dem Verhältnis zu Frankreich ihren Angelpunkt finden mußte, nicht mehr ganz versagte; und wenn er sich von Coblenz aus entschloß, den Besuch, den Napoleon ihm im Sommer zuvor gemacht hatte, spät genug, am 2. October in Compiègne zu erwidern, so können wir auch darin wohl den mitwirkenden Einfluß Bismarck’s wahrnehmen.

Ueberhaupt aber kam mit dem Eintritt Bernstorff’s in das auswärtige Ministerium, der schon in Baden beschlossen war, in die preußische Politik ein frischerer Zug. Die Art, wie der neue Minister die dänische, die italienische und selbst die deutsche Frage in die Hand nahm, hatte etwas von Bismarck’s Art und fand bei diesem, mochten ihm auch Bedenken genug über das richtige Augenmaß seines neuen Chefs kommen, dennoch, wenigstens in seinen Briefen an ihn, Lob und Zustimmung. Der Minister versuchte immerhin eine festere Haltung gegen die Opposition mit schärferer Accentuirung der auswärtigen Politik zu verbinden. Er trat für die Anerkennung Italiens ein und fürchtete sich nicht vor einer Annäherung an Napoleon, die zunächst auf handelspolitischem Gebiet, durch den Handelsvertrag, der im Sommer 1862 perfect wurde, sich fruchtbar erwies, jedoch auch in der dänischen und deutschen Frage für Preußen günstig wirkte. Auf die Dauer war freilich auch Graf Bernstorff den Schwierigkeiten, die sich von allen Seiten häuften, nicht gewachsen. Sein Auftreten in dem Abgeordnetenhause, wo er von der durch die Wahlen radical gewordenen Opposition Stärkung in seinem Widerstand gegen Oesterreich und die Mittelstaaten erbat, während er in allen inneren Fragen zu den Conservativen hielt, und die Art, wie er gegenüber dem Reformvorschlag des Freiherrn v. Beust und den großdeutschen Tendenzen der Hofburg Bismarck’sche und Unionsideen combinirte, konnte die Verwirrung nur vermehren und war schwerlich nach Bismarck’s Herzen.

Mit der Erneuerung und Verschärfung des Conflictes, in den sich vielerlei persönliche Schiebungen und Irrungen mischten, denn Alles war von Intrigue durchsetzt, hängt es offenbar zusammen, daß der Gedanke, B. von Petersburg abzuberufen, endlich festere Form annahm. Auf eine vertrauliche Anfrage, die er am 15. Januar an den Minister richtete, antwortete dieser am 8. Februar, daß er in der That an seine Versetzung denke, zu seinem Bedauern aber noch keine Entscheidung habe herbeiführen können und nicht im Stande sei, ihm Gewißheit zu geben, da die verschiedenartigsten und theilweise sehr starken Einflüsse und Bedenken sich hierbei geltend machten. Kaum war die Krisis eingetreten, als B. den telegraphischen Befehl erhielt, sich sofort zur Abreise bereit zu machen. Die Eilfertigkeit, mit der er citirt wurde, könnte fast darauf deuten, daß man schon wieder damit umging, ihn in das neue Ministerium zu nehmen, wie die [627] Russen gleich vermutheten; jedoch war das Cabinett nach wenigen Tagen gebildet, und in dem Telegramm war ausdrücklich bemerkt worden, daß Seine Majestät den Gesandten zu anderen diplomatischen Functionen bestimmt habe. Bernstorff entschuldigte die Plötzlichkeit des Entschlusses durch die Nothwendigkeit, den längst vacanten Posten in Constantinopel zu besetzen und Goltz dafür die Petersburger Stelle zu übertragen; für B. selbst konnte er auch jetzt noch nichts weiter in Aussicht stellen, als daß ihm Paris oder London sicher seien, gewährte ihm aber nun doch, was in der That auffallen muß, bereitwilligst die Bitte, seinen Umzug in Ruhe bewerkstelligen zu dürfen; möglich, daß, wie B. und Goltz argwöhnten, in alledem der Wunsch des Ministers mitspielte, sich selbst eine der beiden Stellen vorzubehalten für den Fall, daß ihm der Sitz im Cabinett zu heiß werden würde. Bismarck’s Zukunft blieb also bis zu seiner Abreise völlig unklar, und auch nach seiner Ankunft in Berlin (10. Mai) dauerte es noch Wochen, bevor er Gewißheit erhielt. Denn schon hatte auch das neue Ministerium wieder abgewirthschaftet. Die Wahlen hatten die Opposition in überwältigender Majorität zurückgeführt und die Stimmung war auf beiden Seiten gereizter denn je. Zugleich drohte die deutsche Frage an dem hessischen Conflict zu entbrennen; die Verfügung des Kurfürsten vom 26. April, die jede Theilnahme an den Landtagswahlen von der ausdrücklichen Anerkennung der Verfassung von 1860 abhängig machen wollte, ein Bruch nicht nur des Landesrechts, sondern ein Hohn auf Preußen und den Bundestag selbst, hatte dem Faß den Boden ausgeschlagen. Am 11. Mai, wenige Stunden nach Bismarck’s Ankunft, ging der Generaladjutant v. Willisen mit dem Brief des Königs, der den widerspenstigen Herrn zur Beobachtung der Verfassung von 1831 auffordern sollte, nach Kassel ab, um dort, wie bekannt, eine höchst brüske Abfertigung zu erfahren; am 13. nahm der Bundestag das von Wien her beantragte Inhibitorium gegen die Ausführung der hessischen Wahlverordnung an; am 18. forderte Sydow, Preußens Vertreter in Kassel, unter Drohung des Bruchs, die sofortige Entlassung der hessischen Minister, und verließ, als diese verweigert wurde, den kurfürstlichen Hof; dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen folgte in Berlin der Befehl zur Marschbereitschaft zweier Armeecorps. Es war eine Situation ähnlich wie 1850: während die Regierung in Preußen gegen die eigenen Kammern im Felde lag, trat sie für die liberale Opposition in Hessen ein; sie mußte wieder, wie Roon klagte, zugleich für und gegen die „Revolution“ streiten; nur daß dies Mal Oesterreich und der Bund selbst wohl oder übel, um die öffentliche Meinung in Deutschland nicht zu verlieren, mit den Ständen gehen oder doch den Schein davon aufrecht erhalten mußten.

So lagen die Dinge, als an B. abermals der Antrag herankam, in das Ministerium einzutreten, dies Mal ernstlicher als je, in directer Verhandlung mit dem König und mit dem Ziel, den Vorsitz selbst zu übernehmen. Er stellte sich dazu nicht viel anders als vor einem Jahr. Noch immer war die Leitung der Politik weder im Innern noch nach Außen nach seinem Herzen: die Auflösung der Kammer schien ihm zu früh erfolgt, und weder die dänische noch die hessische Frage am rechten Ende angegriffen zu sein; die Situation war verschoben, und wir können es ihm wol glauben, seine Briefe an die Schwester und die Gemahlin lassen keinen Zweifel darüber, daß er auch jetzt mit Unbehagen an die Aussicht dachte, helfend einspringen zu müssen. Aber andrerseits stand zuviel auf dem Spiel, als daß er den Antrag kurzer Hand hätte abweisen dürfen, zumal da er den Weg zu wissen glaubte, auf dem man vorwärts kommen konnte, und die Kraft in sich fühlte, den Wagen in das rechte Geleis zu bringen; daß es ihm warm wurde bei dem Gedanken, [628] auszuführen was den Andern mißlungen war, braucht bei einem Manne seines Temperaments nicht weiter gesagt zu werden. Es stieß sich bei ihm überhaupt weniger an dem Ministeramt selbst als an dem Ressort, das er vertreten sollte. Denn König Wilhelm konnte sich auch jetzt noch nicht entschließen, ihm die auswärtige Politik anzuvertrauen. B. erklärte ihm zwar, daß er eventuell den Vorsitz auch ohne ein bestimmtes Portefeuille übernehmen, und daß er einem directen Befehl Sr. Majestät sich niemals entziehen werde, aber seinem Chef verhehlte er nicht, daß er die Stellung, ohne das Ministerium des Auswärtigen zu erhalten, nicht antreten könne; denn er fürchtete, daß es dann, wie er an Roon schrieb, drei Minister des Auswärtigen geben würde, ihn selbst, Bernstorff und – Schleinitz: um den Einflüssen zu begegnen, denen der König von Seiten seiner nächsten Angehörigen ausgesetzt war, mußte B. auch das Amt besitzen, das ihn zur directen Führung der auswärtigen Geschäfte und zum persönlichen Vortrag darüber bei Sr. Majestät berechtigte. Seine Ungewißheit, die durch die Unentschlossenheit des Grafen Bernstorff und durch Ambitionen aller Art (auch Herr v. d. Heydt schielte nach dem Präsidium) vermehrt wurde, dauerte wieder fast bis zum letzten Moment; erst als B. den Minister vor die Alternative stellte, ihm eine Anstellung zu geben oder den Abschied, am 21. Mai, erreichte er seinen Willen. Drei Stunden später konnte ihm Bernstorff die Mittheilung machen, daß Se. Majestät sich für Paris entschieden habe; am nächsten Morgen, auf der Frühlingsparade, bei der B. als Major mitritt, theilte ihm der König die Ernennung persönlich mit.

Ein Definitivum war es dennoch nicht; noch in der Abschiedsaudienz mußte B. dem König versprechen „au qui vive“ zu bleiben; er rechnete darauf, in 8 bis 14 Tagen wieder in Berlin zu sein, und reiste, um nur nicht wieder aufgehalten zu werden, ab, ohne die Seinen, die in Pommern geblieben waren, noch einmal zu sehen. König Wilhelm behielt den Plan unausgesetzt im Auge, aber zum Entschluß vermochte er nicht zu gelangen, obgleich die Kammerverhandlungen immer wilder wurden und der kammerscheue Ministerpräsident definitiv resignirte; nicht einmal den Badeurlaub, um den B. Anfang Juli einkam, wollte er ihm, trotz Bernstorff’s warmer Befürwortung, anstandslos bewilligen. Als der Minister dabei abermals von dem Wechsel im Auswärtigen Ministerium anfing, meinte der König, daran habe er nicht gedacht, auch zu dem Gesandten garnicht darüber gesprochen, da er es Bernstorff schuldig zu sein glaube, ihn die schwebenden wichtigen Angelegenheiten erst abmachen zu lassen; er werde überhaupt nur dann an einen Wechsel denken, wenn der Minister selbst es wünsche. Bernstorff wiederholte, daß dies in der That sein bestimmter Wunsch sei, und daß er jedenfalls im Herbst Ruhe haben müsse. Worauf der König: wenn der Minister noch den Handelsvertrag mit Frankreich unterzeichnet habe, so schwebe ja allerdings keine große auswärtige Frage mehr, die überhaupt voraussichtlich in kurzer Zeit gelöst werden könnte. Offenbar war es dem hohen Herrn ein beruhigender Gedanke, Bismarck’s Eintritt so lange hinausschieben zu können, bis draußen alles in Ordnung gekommen sei, so daß sich also der neue Minister ganz den inneren Fragen widmen könne. Er war so weit wie je von den politischen Anschauungen und Zielen Bismarck’s entfernt. Dafür ist noch eine andere Aeußerung charakteristisch, die er bei jener Gelegenheit that. Bernstorff hatte ihm zwei Schreiben Bismarck’s vorgelesen, in denen dieser über eine Unterredung mit Napoleon berichtete, die ihm der Kaiser in Fontainebleau am 27. Juni gewährt habe: er sei dabei etwas in die Lage Joseph’s bei der Frau von Potiphar gerathen, da der Kaiser die unzüchtigsten Bündnißvorschläge auf der Zunge gehabt und nur durch Bismarck’s Zurückhaltung veranlaßt sei, sich nicht noch deutlicher auszusprechen. Napoleon hatte [629] nicht geradezu ein Bündniß gegen Oesterreich angeboten, aber sich als einen guten Freund Preußens, einen Liebhaber deutscher, d. h. kleindeutscher Einheitsbestrebungen, mit Ausschluß Oesterreichs, offenbart, und ungefähr dieselben Wünsche geäußert, die B. schon im April 1857 von ihm gehört hatte; und er hatte seine Vorschläge, die auf eine „diplomatische Allianz“, ein dauerndes und intimes Freundschaftsverhältniß, unter Abweisung aller Vorurtheile, hinausliefen, durch die Mittheilung gewürzt, daß ihm von Wien her, wo Bismarck’s Ernennung eine förmliche Panik hervorgerufen zu haben scheine, die weitgehendsten Anerbietungen durch den Botschafter Fürst Metternich selbst gemacht wären. Er sei dadurch, hatte er hinzugefügt, in arge Verlegenheit gerathen, da Metternich sich zum Abschluß mit unbeschränkter Vollmacht autorisirt genannt habe: aber bei der Unvereinbarkeit der Interessen beider Länder habe er eine fast abergläubische Abneigung, sich mit den Geschicken Oesterreichs zu verbinden. B. hatte auf diese Lockungen zwar mit unverbindlichen, aber doch anklingenden Wendungen geantwortet; er hatte in seinem Bericht keineswegs gerathen, daß man darauf eingehen müsse, daß Preußen sich um ein Bündniß mit Frankreich auf bestimmte Artikel bemühen solle, aber allerdings darauf hingewiesen, daß Preußen keine Politik treiben dürfe, bei der es auf treue Bundesgenossenschaft Oesterreichs gegen Frankreich zu zählen habe, und daß es sich nicht der Hoffnung überlassen dürfe, als werde Oesterreich jemals freiwillig einer Verbesserung der Stellung Preußens in Deutschland zustimmen; der Wiener Politik werde unter Rechberg’s Leitung vielmehr jede Combination annehmbar und kein Opfer zu schwer sein, wenn dafür auf Preußens Kosten Entschädigung gewonnen werden könne. König Wilhelm aber hatte auf diese Ansichten nur wieder die eine Antwort: das müsse dem Gesandten gesagt werden, daß er, der König, sich zu einer Allianz mit Frankreich nicht verstehen werde.

Am 17. Juli erhielt B. den Urlaub, der ihn nach Biarritz führte. Während er hier und in den Pyrenäen die Erholung, die er suchte, in vollem Maaße fand, seit Jahren hatte er sich nicht so wohl gefühlt, erreichte der Conflict in Berlin endlich den Punkt, wo es auf Biegen oder Brechen stand und Wilhelm keinen Ausgang vor sich sah als die Rückkehr zur budgetlosen Regierung oder die Niederlegung der Krone. Dies Mal schien Alles sich so gefügt zu haben, wie B. immer gewünscht hatte. Es handelte sich jetzt wirklich um die Militärfrage, den Brennpunkt des Conflictes; das Budget war völlig durchberathen, das Object des Kampfes, durch Nebenfragen unverwirrt, war frei herausgetreten. Längst hatte der Kriegsminister wieder alle Mittel versucht, um den Freund, den Helfer in der Noth herbeizubringen. Ueberzeugt, daß persönliche Rücksichten bei Serenissimus mehr verfingen als politische Erwägungen, hatte er seine Vorstellungen dahin gerichtet, daß B. doch das Recht habe, endlich einmal Gewißheit zu erlangen; er hatte fingirt, dazu von ihm selbst beauftragt zu sein. An die Frage des Ressorts hatte Roon nicht weiter gerührt, zumal da Bernstorff wieder einmal in seinen Entschlüssen schwankend geworden zu sein schien; er hatte nur darauf gedrungen, B. einstweilen zum Ministerpräsidenten ohne Portefeuille zu ernennen. Der König aber war auch in diesem Moment, da der Bruch mit der Kammer vor der Thür stand, zu keinem Entschluß zu bringen.

B. war in den Pyrenäen außerhalb aller Politik gewesen. Als er nun am 12. September nach Toulouse kam, noch ungewiß, ob er über Paris oder direct durch die Schweiz heimkehren sollte, fand er neben Briefen Bernstorff’s und seiner Gemahlin den Roon’s vom 31. August vor, der jene Mittheilungen enthielt. Es stand also Alles noch beim Alten, und sein Schicksal war so ungewiß wie früher. Er aber war des Harrens müde geworden. Paris blieb [630] ihm nach wie vor das Liebste; doch war er bereit, zu kommen. Aber Gewißheit wollte er haben: „sonst nehme ich Knall und Fall meinen Abschied“. Zunächst entschloß er sich, mit einem Umweg über Avignon, wohin er seine russischen Reisegefährten, die Orlows, die nach Genf gingen, begleitete, nach Paris zurückzukehren. Hier erhielt er, sehr bald nach seiner Ankunft, am 18. September, zwei Telegramme, darunter eins vom Kriegsminister, die ihn eiligst herbeiriefen. Ihr Wortlaut zeigte an, daß jedes Zögern verderblich werden könnte. In der Frühe des folgenden Tages saß B. im Eilzuge, der ihn in 25-stündiger Fahrt nach Berlin brachte. Hier war sein erster Gang zum Kriegsminister, mit dem er die Lage besprach.

Noch war nichts entschieden. Der König zwar fest entschlossen, auf seiner Ansicht zu bestehen, jedoch vor dem Kampf zurückschreckend und mehr als je geneigt, lieber die Krone niederzulegen. So hatte er es noch am Morgen des 19. zu dem Kronprinzen gesagt, der am Abend vorher von Reinhardsbrunn, um zu vermitteln, herüber gekommen war. Die Abdankungsurkunde sei schon ausgefertigt, es fehle nur die Unterschrift; er hatte den Sohn aufgefordert sie einzusehen. Das hätte ja nun geheißen, den Kampfplatz vollends dem Gegner überlassen: was wäre dem Thronfolger denn noch anders übrig geblieben, als sich dem Willen der Majorität zu unterwerfen! Friedrich Wilhelm hatte gehofft, den König zur Nachgiebigkeit zu bewegen; daß er selbst den Wagen hebe, war niemals sein Wunsch gewesen. Zwar war bei der Stimmung im Lande und der Kammer nicht zu erwarten, daß die Radicalen das Heft in die Hand bekommen würden; wenn die Majorität schon dem alten Cabinet, wie Simson auf der Tribüne sagte, die Compensationen entgegengetragen, auf die erste Andeutung des Kriegsministers mit beiden Händen zugegriffen hatte, so würde sie dem liberalen Träger der Krone und einem neuen Ministerium Schwerin ihre Unterstützung noch viel weniger verweigert haben. Aber die Abdankung des Königs erschwerte dem Nachfolger dennoch die Aufgabe und drohte den Riß, der durch Dynastie und Land ging und viel tiefer war, als es in den Kammerparteien zum Ausdruck kam, nur zu erweitern. Was unter Wilhelm eine Concession gewesen wäre, hätte sich nach dem Thronwechsel als eine Niederlage der Krone dargestellt, zumal da Friedrich Wilhelm selbst in der Militärfrage immer dem Vater zur Seite gestanden hatte; die Conservativen aber würden ohne Zweifel ihre Anstrengungen gegen die liberale Politik verdoppelt haben, wenn sie sich dafür auf den alten König hätten stützen oder doch berufen können. Eine Natur von härterem Stoff als der preußische Thronfolger hätte vielleicht den Moment benutzt. Aber in Friedrich Wilhelm war nichts von dem Blute jenes Salierprinzen, der seinem Vater die Krone stahl, um den Frieden im Reich herzustellen, den der alte Kaiser verspielt hatte: Beides, die Pietät des Sohnes und die Scheu vor der That selbst und ihren Folgen, hielt den jungen Hohenzollern zurück, nach der Krone zu langen, obgleich der König selbst sie ihm zuschob. Er weigerte sich, jenes Schriftstück auch nur zu lesen. Aber einen Ausweg, der für seinen Vater gangbar gewesen wäre, wußten weder er anzugeben noch auch die Minister. Schleinitz, Graf Bernstorff, v. d. Heydt, mit denen er nach der Rückkehr von Babelsberg conferirte, sprachen sich sämtlich dahin aus, daß das Zugeständniß der zweijährigen Dienstzeit unerläßlich sei; letztere Beiden hatten diese Ansicht schon am Morgen des Tages Sr. Majestät schriftlich entwickelt und im Falle, daß der König sie nicht billige, um ihre Entlassung gebeten; es war zu erwarten, daß noch andere Collegen ihrem Beispiele folgen würden. Am folgenden Tage, in der Frühe, begab sich der Kronprinz, der am Abend vorher noch einem Ministerrath präsidirt hatte, wieder nach Potsdam; als er Nachmittags um [631] 6 Uhr nach Berlin zurück kam, stand Alles auf dem alten Fleck. Er war es jetzt müde geworden, Gegensätze, die unversöhnlich schienen, zu verkleistern, und beschloß seinerseits den Kampfplatz zu verlassen; noch mit dem Abendzuge, 81/2 Uhr, fuhr er nach Reinhardsbrunn zurück, wo die Seinen und die Coburger Verwandten, auch die Königin Victoria, auf ihn harrten. Vor der Abreise aber hat er noch B. empfangen. Dieser war, nachdem er einige ministerielle und diplomatische Besuche gemacht, besonders mit Bernstorff hatte er lange Zeit conferirt, wieder zu Roon zurückgekehrt, der ihn mit Blanckenburg um 5 Uhr zu Tisch geladen hatte. Hier, so werden wir annehmen dürfen, erhielt er unvermuthet den Befehl, zum Thronfolger zu kommen. Ueber den Verlauf der Unterredung läßt sich kaum etwas sagen, obgleich B. selbst davon in seinen Memoiren erzählt hat. Er verlegt sie irrthümlich auf den Morgen des Tages, gleich nach seiner Ankunft, und sein Bericht erscheint nicht gesichert genug, um ihn ohne weiteres hinübernehmen zu können. Jedenfalls hat er sich, wie er übrigens selbst sagt, sehr zurückhaltend benommen. Er habe, schreibt er, sich nicht für berechtigt gehalten, sich gegen den Thronfolger früher auszusprechen als gegen den König. Wir werden hinzufügen dürfen, daß er es überhaupt nicht für richtig hielt, sich vor dem prinzlichen Führer des Liberalismus zu demaskiren.

Auch am folgenden Tage blieb ihm die Situation zunächst noch unklar. Sie sei, schrieb er seiner Frau, nicht anders als im Mai; er werde Se. Majestät einfach bitten, ihm zu erlauben, daß er nach Reinfeld gehe, um die Seinigen nach Paris abzuholen. In dieser Stunde aber entschied sich sein Schicksal, in der Audienz, die Roon, während B. an jenem Briefe schrieb, in Babelsberg hatte. Noch zu dem Kronprinzen hatte sich Wilhelm dahin ausgesprochen, daß er nicht geneigt sei, B. ins Ministerium zu nehmen; und er hatte, von seinem Sohn darauf geführt, als Grund wiederum die Differenz in der auswärtigen Politik angegeben. „Er ist ein Parteigänger Frankreichs“, hatte der Prinz gesagt. Worauf der König: „Um so weniger möchte ich ihn zum Minister: aber man drängt mich, einen Ministerpräsidenten zu ernennen“. Man sieht, wie furchtbar schwer es Wilhelm geworden ist, den Entschluß des Heils zu fassen. Ihm graute vor dem Mann, dessen Politik ihn mit seinen nächsten Angehörigen entzweien, seinem Volke und der ganzen Nation gegenüber isoliren und die schwersten Conflicte des Gewissens und der Ueberzeugungen für ihn herbeiführen mußte. Jedoch hatte er sich bereits halb gebunden, und fühlte sich jedenfalls verpflichtet, dem Gesandten Gewißheit über die eigene Zukunft zu geben; der Kriegsminister wird nicht unterlassen haben, von neuem darauf hinzuweisen, daß B. hierauf ein persönliches Anrecht habe. Roon selbst hatte nicht viel weniger als die Andern vor dem Conflict zurückgebebt, der auch ihm nicht bloß die innere Zerrüttung, sondern auch die Schwächung des äußeren Ansehens seines geliebten Preußens zu bedeuten schien; und daß das Recht des Landtages auf die Geldbewilligung unzweideutig sei, hatte er noch am 20. September, nachdem er bereits B. gesprochen, in einem Brief an Professor Perthes in Bonn unumwunden eingeräumt. Seitdem aber hatte ihn die harte Entschlossenheit des Freundes fest gemacht; und daß auch andere Minister, wie Jagow und Itzenplitz, bleiben würden, war zu hoffen. So entschloß sich König Wilhelm, den Gesandten zu berufen; am 22. September erfolgte die ewig denkwürdige Audienz im Schloß und Park zu Babelsberg, von der die neue Epoche Preußens und Deutschlands datirt. B. dachte über den Punkt, der dem König besonders am Herzen lag, die dreijährige Dienstzeit, im Grunde sehr gleichmüthig; zwei Jahre mit Capitulanten schienen ihm, bei der Infanterie wenigstens, zu genügen, und er [632] wäre von sich aus wohl geneigt gewesen, hierin Concessionen zu machen. Aber er wäre, so schrieb er in der Folge an Bernstorff, auch für eine zehnjährige Dienstzeit eingetreten, wenn der König es so hätte haben wollen. Denn auf einen dauernden Frieden mit den Abgeordneten war, wie er die Dinge ansah, zunächst doch nicht zu rechnen, und nur wenn er die Krone auf seiner Seite hatte, konnte er hoffen, seine Ziele zu erreichen. Er stellte sich also, wie im Mai, dem König, der auch ihn damit empfmg, daß er abdanken wolle, da er nur so regieren wolle, wie er es verantworten könne und keinen Minister gegen die parlamentarische Majorität finde, unbedingt zur Verfügung, erklärte, daß er die Militärvorlage vertheidigen, und sie auch gegen die Majorität des Landtages aufrecht erhalten werde. Dasselbe konnte er von Roon versprechen; er fügte hinzu, daß er auch auf die weitere Vervollständigung des Cabinets hoffe. Dann sei es, erwiderte der König, seine Pflicht, mit B. die Weiterführung des Kampfes zu versuchen, und er abdicire nicht. Wilhelm hatte sich ein ausführliches Programm entworfen, das alle Eventualitäten der inneren Politik umfaßte: wahrscheinlich doch, wie auch B. in seinen Memoiren annimmt, mit der Absicht, nicht bloß sich, sondern auch den neuen Minister daran zu binden. Im Park, wohin sie aus dem Schloß ihre Schritte lenkten, gab er es B. zu lesen. Aber B., wie er keine Bedingungen stellte, nahm auch keine an. Er stellte die Frage lediglich unter den Gesichtspunkt des Conflictes, der sich im Innern herausgebildet hatte. Er legte dem König dar, daß es sich gar nicht mehr um conservativ oder liberal in dieser oder jener Schattirung handle, sondern um königliches Regiment oder Parlamentsherrschaft, und daß letztere unbedingt und auch durch eine Periode der Dictatur abzuwenden sei. Er zeigte sich bereit, die Befehle des Königs auch dann auszuführen, wenn er selbst sie nicht für richtig halte: in solchem Falle werde er zwar seine Meinung offen darlegen, aber, wenn der König auf der seinigen beharre, lieber mit demselben untergehen, als ihn im Kampf gegen die Parlamentsherrschaft im Stich lassen. Für Wilhelm eröffnete sich dadurch die Aussicht, seinen Willen eventuell auch gegen den Minister zu behaupten; er mochte meinen, Herr seiner Entschlüsse zu bleiben. Er zerriß das Programm. Aber in der That capitulirte er vor B. Denn der Punkt, an dem die noch ganz unausgeglichene Differenz zwischen Beiden lag, und wo B. den Hebel ansetzen wollte, um die Maschine in den rechten Gang zu bringen, das Gebtet der auswärtigen Politik, war nun ebenfalls ausgeschaltet und blieb für B. frei: indem der König auch darüber hinweg ging und dem neuen Minister nicht bloß das Präsidium, sondern gerade auch das auswärtige Ministerium übertrug, räumte er das Feld, auf dem B. die Lösung der ihm gestellten Aufgabe suchte.

Die Anfänge des Ministeriums. Hessische und deutsche Frage. Polnische Revolution.

Gleich die ersten Schritte des neuen Ministerpräsidenten schienen anzudeuten, daß die Gegensätze Conservativ und Liberal wirklich für ihn überwunden seien. Er bot den Führern der Opposition Plätze im Ministerium an und suchte, als diese ablehnten, den Kampf zu vertagen, indem er den Etat für 1863 vorläufig zurückzog. In der Budgetcommission erläuterte er diese Maßregel als eine Art von Waffenstillstand mit Zwecken des Friedens und der Versöhnung; und als die Gegner darauf nur feindselige Worte hatten, ging er soweit heraus, die Ziele seiner Politik anzudeuten. Indem er die [633] Nachrede in der Presse, daß er durch Hervorrufung äußerer Conflicte den inneren zu beseitigen wünsche, als eine frivole Verdächtigung zurückwies, gab er doch zu, daß er an ihr Kommen glaube: wir würden, sagte er, ihnen nicht entgehen, auch ohne daß wir sie suchten. Nicht auf Preußens Liberalismus sehe Deutschland, sondern auf seine Macht; Baiern, Württemberg, Baden möchten dem Liberalismus indulgiren, darum werde ihnen doch Keiner Preußens Rolle anweisen; Preußen müsse seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt sei; Preußens Grenzen seien nach den Wiener Verträgen für ein gesundes Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse würden die großen Fragen der Zeit entschieden – daß sei der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut. Der Ton, den er gegen die Abgeordneten anschlug, war in hohem Grade verbindlich; wie sich denn überhaupt die Debatte in sehr rücksichtsvollen Formen bewegte; auch die Opposition trat gemäßigt auf. Aber Eindruck konnte der Minister nicht machen, und man war innerlich weiter von einander entfernt als je; wie einer der liberalen Redner treffend sagte, man verstand sich nicht mehr, man sprach verschiedene Sprachen. Kein Zweifel, daß es dem großen Staatsmann mit dem Anerbieten der Versöhnung Ernst gewesen ist. An den Umsturz der Constitution dachte er längst nicht mehr, und für die Aufgabe, die er Preußen stellte, konnte es ihm nur erwünscht sein, die Parteien des Landes einmüthig hinter sich zu haben. Aber freilich, den Platz am Steuer wollte er mit Keinem theilen. Er trat im Landtag auf wie jener Römer im Senate von Karthago, der der Rivalin Roms Krieg oder Frieden in den Falten seiner Toga entgegentrug. So bot auch B. den parlamentarischen Rivalen der Krone den Frieden an: aber die Bedingungen wollte er dictiren. Und er zögerte nicht mit der Erklärung, daß er auch vor dem Kampfe nicht zurückschrecken, und ihn dann ohne Rücksicht führen würde. Er warnte sie davor, die Rechtsfrage zur Machtfrage werden zu lassen, und wiederholte, was er schon dem König im Park von Babelsberg gesagt hatte, daß es sich bei dem Conflict um die Grenze zwischen Krongewalt und Parlamentsgewalt handle. Er ließ keinen Zweifel darüber zu, daß die Regierung ihren Willen in den Formen der Verfassung zu bethätigen wünsche; aber so sehr er betonte, daß das constitutionelle Leben sich nur auf dem Wege des Compromisses entwickeln könne, verhehlte er doch nicht, daß sich die Regierung in dem vorliegenden Falle nicht auf einen Compromiß einlassen werde und ihre Auffassung der strittigen Verfassungsparagraphen auch gegen die Auslegung der Kammermajorität durchzudrücken entschlossen sei. Kurz, er zeigte sich zwar bereit, die Dienste der Liberalen anzunehmen, aber muthete ihnen zu, den Weg zu verlassen, den sie bisher gegangen waren, die Interessen zu verrathen, die sie vertreten, und das Gefolge aufzugeben, auf das sie sich gestützt hatten: sie wären, wie Simson ganz richtig sagte, Officiere geworden ohne Soldaten, und hätten selbst nur wieder die Befehle ihres Commandeurs ausführen können.

Das Auftreten des Ministers erschien um so verwegener, als schon in seinem eigenen Lager mißtrauische und murrende Stimmen laut wurden. Sein alter Gönner Ludwig von Gerlach warnte ihn in der Kreuzzeitung vor einer Va banque-Politik, und als B. mit Roon aus der Commissionssitzung am 30. September nach Hause ging, sprach selbst dieser unwirsch von „geistreichen Excursen“, welche der conservativen Sache nur Schaden brächten. Der König war am 28. September nach Baden gefahren, um den Geburtstag seiner Gemahlin im Kreise der Familie zu feiern; auch das kronprinzliche Paar, das sich auf dem Wege nach Italien befand, war dazu herbeigekommen. Wilhelm hörte hier [634] aus den Zeitungen und ihren Commentaren, wie gefährliche Reden sein neuer Minister geführt hatte. Wie anders klang das, als was er zu Babelsberg von ihm vernommen hatte. Unter dem Einfluß seiner Umgebung kamen ihm wieder die alten Scrupel und Beklemmungen; Erinnerungen an Könige und Minister, die im Kampf mit ihrem Parlamente untergegangen waren, an Karl I. Stuart und Ludwig XVI., an Strafford und die Polignacs, wurden in ihm wach oder von seiner Umgebung erweckt; in tiefer Niedergeschlagenheit fuhr er heimwärts. B. mochte von diesem Umschlag der Stimmung des Königs gehört haben oder etwas davon ahnen, als er am 4. October ihm bis Jüterbogk entgegenfuhr. Da ist es ihm nun geglückt, während der Abendfahrt zur Hauptstadt hin, in dem halbdunkeln Coupé, seinen gebeugten Herrn wieder aufzurichten. Dem Hinweis Wilhelm’s auf ein blutiges Ende – „da, vor dem Opernplatz, unter meinen Fenstern, wird man Ihnen den Kopf abschlagen, und später mir“ – wich der Minister nicht aus; er begegnete ihm mit der Frage, ob man denn rühmlicher sterben könne als in der Vertheidigung der von Gottes Gnaden verliehenen Rechte? Ob auf dem Schafott oder auf dem Schlachtfelde, bleibe sich gleich. Er lenkte den Blick des Königs von der schwächlichen Gestalt Ludwig’s XVI. hinweg auf die vornehme Erscheinung Karl’s I., der, nachdem er für sein Recht das Schwert gezogen und die Schlacht verloren habe, ungebeugt seine königliche Gesinnung mit seinem Blute bekräftigt habe: „Eure Majestät sind in der Nothwendigkeit zu fechten, Sie können nicht capituliren, Sie müssen, und wenn es mit körperlicher Gefahr wäre, der Vergewaltigung entgegentreten“. Es war das Argument, mit dem er Wilhelm’s Bedenken schon in Babelsberg besiegt hatte, dasselbe, das er dem Andrang der Opposition wie einen Schild entgegengehalten hatte: der Satz, daß es hier kein Zurück gebe, und daß es um das Recht und die Macht der Krone gehe. Um keine Linie wich er von seiner früheren Haltung ab, zog vielmehr ihre letzte Consequenz. Gerade dadurch aber traf er die Saite in des Königs Brust, die am leichtesten anzuschlagen war und am kräftigsten widertönte: das Pflichtgefühl des preußischen Officiers, der nach der Gefahr nicht fragt, wenn es gilt, das Leben für König und Vaterland einzusetzen. An der Entschlossenheit seines Ministers richtete sich Wilhelm’s eigene, ihm angeborene Furchtlosigkeit empor. Er fühlte sich, wie B. später so oft erzählt hat, bei dem Portepee gefaßt, ganz in der Aufgabe des ersten Officiers der preußischen Monarchie, und gerieth schon vor der Ankunft in Berlin in eine frischere, fast fröhliche und kampflustige Stimmung, die sich den empfangenden Ministern und Beamten gegenüber auf das unzweideutigste erkennbar machte.


Seines Königs gewiß geworden und seit dem Schluß des Landtags (13. October) auch durch parlamentarische Debatten ungestört, schritt der Minister muthig die steile Bahn hinan. Das erste größere Hinderniß, das er aus dem Wege zu räumen hatte, bot ihm die hessische Frage. Im Grunde kaum ein anderer Conflict als derjenige, in dem er selbst in Preußen stand. Denn auch in Hessen stritt die Regierung gegen die Stände, und wenn der Kurfürst diesen ihre verfassungsmäßigen Rechte verkümmern wollte, so rechnete er gewiß mit der neuen Wendung in Berlin; daß der reactionäre Minister sich für die Opposition, die mit dem Liberalismus von ganz Deutschland verbündet war, aufwerfen würde, schien kaum zu erwarten. In der That hütete sich B., den Fehler Bernstorff’s zu wiederholen und die äußere Politik mit der inneren in Widerspruch zu setzen. Auf die Rechtsfrage ließ er sich nicht weiter ein; er betonte nur; daß die Stände die Nachgiebigen gewesen seien, die kurfürstliche [635] Regierung aber, entgegen den Erwartungen und Ratschlägen, die ihr von Berlin her geworden, es an dem nöthigen Entgegenkommen habe fehlen lassen: damit wahrte er den Standpunkt, den er der preußischen Opposition gegenüber so scharf betont hatte; denn daß das constitutionelle Leben eine Reihe von Compromissen zwischen Regierung und Volksvertretung darstellen müsse, hatte er ja selbst soeben vor der eigenen Kammer erklärt. Das Hauptgewicht aber legte er auf das Interesse Preußens, welches nicht zwischen seinen Provinzen, inmitten von Deutschland, einen Heerd sich stets erneuernder Aufregung und Unruhe fortbestehen lassen dürfe. Es war das Motiv, das er bereits im November 1850 dem General v. Gerlach entgegengehalten, und das ihn damals für einen Moment der Lösung durch das Schwert geneigt gemacht hatte. Aber wenn er in den Tagen von Olmütz vor der Uebermacht der Gegner Preußens hatte zurückweichen müssen, so war die Lage jetzt völlig verändert. Oesterreich und die Mittelstaaten waren liberal geworden und konnten sich darum garnicht dem Eintreten Preußens für die Stände widersetzen. B. unterließ nicht, die kurfürstliche Regierung auf das völlige Einverständniß des Königs mit seinen deutschen Bundesgenossen hinzuweisen. Im übrigen ließ er den Bund aus dem Spiel. Er bemerkte wol, daß seine Regierung, falls sich diese Aufforderung wider Verhoffen als erfolglos erweisen sollte, die Abhülfe zunächst in Frankfurt suchen werde, setzte aber sogleich hinzu, daß Se. Majestät der König nicht lange darauf warten, sondern das eigene Interesse durch eigene Mittel wahren werde; eine Aussicht, die für den Kurfürsten dadurch noch ungemüthlicher wurde, daß der Minister einen Hinweis auf die jenem verhaßten hessischen Agnaten einfließen ließ, unter deren Zuziehung Preußen versuchen werde, dauernde Bürgschaften gegen die Wiederkehr ähnlicher Mißstände zu gewinnen. So isolirte er den Gegner vollständig und umging zugleich alle Klippen, die sich ihm auf dem Wege des Bundesrechts oder durch Aufrührung der deutschen Frage entgegenstellen konnten. Sein Vorgänger hatte mit den stärksten Mitteln doch nur einen halben Erfolg erreicht, der Kurfürst war schließlich mehr vor dem Bundestage als vor den preußischen Drohungen zu Kreuz gekrochen. B. hingegen zähmte den Widerspenstigen durch einen einzigen Brief, den er, da ja der diplomatische Verkehr abgebrochen war, seinem Ministerpräsidenten durch einen Feldjäger zustellen ließ. Zwei Tage später nahm der Kurfürst die Entlassung seiner Kronräthe zurück, berief die vertagten Stände aufs neue, und von der Einführung des reactionären Wahlgesetzes war in Kassel ferner nicht mehr die Rede.


Wie hier, so blieb B. auch in der Frage der Bundesreform sich selbst treu, welche, seitdem Beust sie im October 1861 von neuem zur Discussion gestellt hatte, nicht wieder zur Ruhe gekommen war. Im Sommer hatte Graf Rechberg in Wien eine von den Mittelstaaten beschickte Conferenz eröffnet, in der er einen für Oesterreich unschädlichen Punkt des sonst von ihm und allerseits herb abgelehnten sächsischen Programms zur Berathung gestellt hatte: die Einführung eines deutschen Civil- und Criminalgesetzes unter Heranziehung einer Versammlung von Delegirten aus den deutschen Kammern, wofür ebenfalls bereits ein Vorschlag des Herrn v. Beust vorlag. Für die Wiener Politik war das nur eine Nebenaction; ihr Hauptziel war damals der Umsturz des Zollvereins, der durch den bevorstehenden Handelsvertrag mit Frankreich in eine neue Krisis zu gerathen drohte; gestützt auf die schutzzöllnerisch gesinnten Süddeutschen suchte sie den Verein zu sprengen oder durch den Eintritt Oesterreichs im eigenen Interesse umzugestalten. Graf Bernstorff hatte sich gegen alle diese Projecte stets abwehrend verhalten: dem Reformplan [636] des Freiherrn v. Beust hatte er den Plan einer engeren Gemeinschaft innerhalb des großen Bundes entgegengestellt, dadurch aber einen Sturm des Unwillens gegen Preußen entfesselt. Die Einladung, nach Wien zu kommen, hatte er abgelehnt und das Verlangen Oesterreichs, in den Zollverein auf Grund des alten Tarifs aufgenommen zu werden, mit dem Abschluß des französischen Handelsvertrages beantwortet (2. August). Eine Haltung, die im allgemeinen Bismarck’s Billigung fand, wie er es auch selbst dem Minister ausgesprochen hatte. Indessen hatte das Auftreten Bernstorff’s eine Tendenz gehabt, die seinem Nachfolger widerstrebte; um der liberalen Opposition in der Kammer und der nationalen Strömung zu imponiren, hatte der Graf seinen Noten und Reden eine unionistische Färbung verliehen, die, zumal in ihrem Widerspruch zu der inneren Politik, der öffentlichen Meinung in Preußen doch nicht genug that und die Mittelstaaten umsomehr an Oesterreich herantrieb. Als der Vorschlag einer Delegirtenversammlung auf der Wiener Conferenz angenommen und am 14. August als Antrag der acht betheiligten Staaten an den Bundestag gebracht war, hatte sich Bernstorff nicht mit einem Protest begnügt, sondern fast im Stil des Nationalvereins erklärt, die Nation begehre eine gekräftigte Executivgewalt und eine wahre National-Repräsentation.

B. folgte ihm hierin nicht. Er wandte fürs erste keine andere Sprache an als diejenige, die er diesen Gegnern gegenüber in Frankfurt stets geführt hatte, die Sprache des preußischen Interesses. Zuerst bekam sie der junge Fürst Metternich, Oesterreichs Botschafter in Paris, zu hören, wohin sich B. Ende October begab, um sein Abberufungsschreiben dem Kaiser Napoleon persönlich zu überreichen. Es gäbe, erklärte er dem österreichischen Collegen, Bedingungen, unter denen Preußen der treueste Bundesgenosse seines Hofes sein würde, doch lehne er es ab, in Erinnerung an frühere üble Erfahrungen, sich über dieselben auszusprechen: die Reihe, praktische Vorschläge zu machen, sei an Oesterreich, und geriethen wir ohne solche Vorschläge und Verständigungen in europäische Krisen, so sehe er keinen Grund, warum Preußen in Oesterreich etwas anders als eine fremde Macht sehn sollte; gegen die Phrasen vom „Bruderkrieg“ sei er stichfest, er kenne keine andere als ungemüthliche Interessenpolitik, Zug um Zug und bar. In Wien glaubte man dennoch an dem Einspruch des unbequemen Gegners vorübergehen zu können, offenbar im Hinblick auf den wachsenden Zwiespalt in Preußen wie auf die Sympathien, die der Reformgedanke überall in Deutschland für sich hatte: am 4. December ward der Ausschußbericht am Bundestage zum Abschluß gebracht. Aber noch an demselben Tage lud der preußische Ministerpräsident den Grafen Karoly zu sich, um ihm jene Erklärungen in der officiellsten Form zu wiederholen. Was er ihm in dieser und in einer zweiten, wenig späteren Unterredung sagte, deckt sich mit der Einleitung zu der Denkschrift, die er im Sommer 1861 seinem König eingereicht hatte. Er erinnerte den Grafen an das Einvernehmen Preußens und Oesterreichs in der vormärzlichen Epoche, kraft dessen letzteres der preußischen Unterstützung in europäischen Fragen sicher gewesen und dafür Preußen in Deutschland einen durch Oesterreichs Opposition unverkümmerten Einfluß überlassen habe. Daß dies Verhältniß wiederhergestellt werde, sei sein aufrichtiger Wunsch; wenn Oesterreich aber seine antipreußische Politik mit dem Stützpunkte einer mittelstaatlichen Coalition fortsetze, so mache es dies unmöglich. Wie in jener Denkschrift, bezeichnete er das Wiener Reformproject als einen Versuch, die Competenz des Bundes durch Majoritätsbeschlüsse zu erweitern, und nannte das Vorgehen einen Bruch des Bundes, auf den Preußen mit der Abberufung seines Gesandten ohne Substitution antworten werde. Vergebens versuchte Karoly der Alternative, die B. ihm [637] stellte, auszuweichen: in der Gefahr, meinte er, würde Oesterreich doch wol auf Preußens Beistand zählen können. Darin liege, erwiderte der Minister, ein gefährlicher Irrthum, über welchen vielleicht erst im entscheidenden Augenblicke eine für beide Cabinette verhängnißvolle Klarheit gewonnen werden würde; er bitte den Botschafter dringend, demselben nach Kräften in Wien entgegenzutreten zu wollen. Wenn in der Stellung Preußens während des italienischen Krieges noch eine Nachwirkung des alten guten Verhältnisses zu Tage getreten sei, so würde unter ähnlichen Verhältnissen ein Bündniß Preußens mit einem Gegner Oesterreichs eben so wenig ausgeschlossen sein, als im entgegengesetzten Falle eine treue und feste Verbindung beider deutscher Großmächte gegen gemeinschaftliche Feinde. Das war die Drohung mit Frankreich. Und als nun Karoly mit den traditionellen Einflüssen des Kaiserhauses auf die deutschen Regierungen herauskam, die es sich nicht rauben lassen werde, warf ihm B. das schneidende Wort entgegen, Oesterreich müsse vielmehr seinen Schwerpunkt nach Ofen verlegen.

Hierauf machten die Oesterreicher Miene einzulenken. Graf Thun, Bismarck’s College von Frankfurt her und jetzt Vertreter Oesterreichs am russischen Hof, wohin er eben vom Urlaub zurückkehrte, kam nach Berlin, um den Versuch einer Verständigung zu machen. B. zögerte nicht, dem alten Bekannten seine volle Bereitwilligkeit auszusprechen; aber wie entgegenkommend er auch in der Form war, ließ er sich doch sachlich nichts abgewinnen. Andererseits hatte die Wiener Politik sich zu weit vorgewagt, um noch den Rückzug gewinnen zu können. Am 18. December wurde am Bundestage über das Delegirtenproject verhandelt, und die Majorität verharrte bei ihrem Beschluß. B. aber hatte Alles für den Gegenschlag vorbereitet. Sein Vertreter in Frankfurt, Herr v. Sydow, der soeben Graf Usedom dort abgelöst hatte, übergab eine Erklärung, welche die Erzwingung der Bundesreform gegen das Votum einer Minderheit als dem Charakter des Bundes, dem Geiste und Wortlaut der Bundessgesetze völlig zuwiderlaufend bezeichnete. Die Kritik, die darin an den Vorschlägen der Majorität geübt wurde, bewegte sich wieder in dem Gedankengange der Denkschrift von 1861. Sie hob hervor, daß der Plan der Majorität eine große Mehrheit an Volkszahl und staatlicher Kraft einer Combination von Stimmen unterwerfen würde, welche thatsächlich eine Minderheit an Zahl und an Macht besage, und daß er daher das alte Gebrechen des Bundes, den Widerspruch zwischen Stimmrecht und Machtgewicht, nur noch stärker hervortreiben werde. Daß sich in ein solches Mißverhältniß keine der beiden Großmächte fügen würde, sei als selbstverständlich anzusehen; die Beseitigung, nicht die Vergrößerung des angedeuteten Gebrechens wäre zu erstreben. Das Correctiv, mit dem B. dies Mißverhältniß zwischen Recht und Macht im deutschen Bunde zu beseitigen dachte, war noch nicht genannt, aber es wird schon darauf hingewiesen, daß die Anträge der Majorität dem allgemeinen Verlangen niemals Genüge tragen würden: die Nation würde darin keine Annäherung an die höheren Ziele staatlicher Einheit und Stärke sehen, keinen Fortschritt der nationalen Bewegung, sondern eine Ablenkung von derselben, sie würde nicht einmal eine Abschlagszahlung darin erblicken. Der Reformentwurf entspreche der Höhe der Anforderungen so wenig, daß man vorziehen würde, nicht durch eine Annahme des Gebotenen das Geforderte ganz zu verlieren. Der Gegensatz zwischen den Regierungen und dem nationalen Willen war damit nur eben angedeutet; die Erklärung sprach sogar in dem am Bunde üblichen, schwungvoll patriotischen Stil unterschiedslos von der Opferwilligkeit der Regierungen, der Volksvertretungen und der Bevölkerungen für große nationale Ziele. Auch war nichts über Inhalt, Zweck und Competenz der Reichsverfassung, die der [638] Minister im Sinne hatte, gesagt, und nur darauf hingewiesen, daß der vorliegende Entwurf die Gegenstände einer wahren und wesenhaften Reform und die tieferen Gründe des Strebens nach einer solchen unberücksichtigt lasse. Um so schärfer aber ward die Gefahr des Conflictes hervorgehoben, der sich aus dem Vorgehen der Majorität gegen das Recht und den Willen einer Minderheit am Bunde ergeben würde; man könnte, so schließt das merkwürdige Schriftstück, dabei zu einem Punkte gelangen, wo die dissentirende Regierung außer Stand gesetzt wäre, in einer im Widerspruch mit den Bundesgrundgesetzen verfahrenden Versammlung noch das Organ des Bundes zu erkennen, an dessen Schließung sie sich betheiligt habe. B. war entschlossen, mit seinen Worten Ernst zu machen. „Wenn die Herren vom Bunde“, so schrieb er in diesen Tagen an Graf Bernstorff, „gegen unsre rechtlich durchaus begründete Protestation dennoch mit Majoritätsbeschlüssen vorgehen, so sind wir an die Wand gedrängt, und der Bruch ist unvermeidlich“. Er hätte nicht nur den Gesandten und den Militärbevollmächtigten Preußens von Frankfurt abberufen, sondern dem Bunde auch die Disposition über das Bundeseigenthum, Festungen u. s. w. streitig gemacht. Denn an die Wegführung der preußischen Truppen aus den Bundesfestungen, wie die Gegner erwarten mochten, dachte er nicht; ausdrücklich machte er den Grafen Karoly bei der zweiten Unterredung, am 12. December, auf die Conflicte aufmerksam, die sich sofort daraus ergeben würden, wenn die Befehlshaber der preußischen Contingente die Weisung erhielten, der Autorität der Bundesversammlung die Anerkennung zu versagen. „Wir können“, schreibt er an Bernstorff, „unmöglich passiv und geduldig zusehn, daß man unsern Widerspruch ignorirt und tambour battant vorrückt auf dem Wege, welcher dahin führt, den völkerrechtlichen Defensivbund in eine Regierungsmaschine für Deutschland inclusive Preußen zu verwandeln“.

Dem Ernst dieser Auffassung entsprach es, wenn der Minister für die Abstimmung in der Plenarversammlung, die auf den 22. Januar angesetzt war, ein Votum vorbereitete, das seine Ziele noch weiter enthüllen sollte. Hatte er im Sommer 1861 nur erst eine Delegirtenversammlung in Aussicht genommen, so konnte er daran nicht mehr festhalten, seitdem sich die Gegner diesen Gedanken angeeignet hatten. Und nun zögerte er keinen Augenblick, mit der Forderung directer Wahlen hervorzutreten: nur in einer Vertretung, welche nach Maßgabe der Bevölkerung jedes Bundesstaates aus letzterer durch unmittelbare Wahl hervorgehe, könne die deutsche Nation das berechtigte Organ ihrer Einwirkung auf die gemeinsamen Angelegenheiten finden. Noch vermied er es, auf die Competenz einer so gewählten Nationalversammlung einzugehen, aber er hob bereits hervor, daß sie mit Rechten ausgestattet werden müsse, welche sie befähigten, der die Bundesregierungen vertretenden Centralbehörde als Gleichgewicht an die Seite zu treten; daher müsse der Bund selbst umgestaltet, und seinem bisher „neutralen Organismus“ durch Abänderung und Erneuerung der Bundesverträge die dem jetzigen Bundestage fehlende gesetzgebende Gewalt für das Bundesgebiet beigelegt und deren Umfang in einer der Thätigkeit eines deutschen Parlaments würdigen Ausdehnung bemessen werden. Damit war die deutsche Frage in aller Schärfe gestellt. Es war im Grundriß bereits die Verfassung, die B. dem Norddeutschen Bunde gegeben und nach dem Siege über Frankreich auf das Deutsche Reich übertragen hat. Daß in ihr für Oesterreich kein Platz mehr sein werde, verhehlte er gar nicht, während Preußen, wie er bemerkt, einer so umgestalteten Bundesgewalt ausgedehntere Befugnisse einräumen könne, ohne seine Interessen zu gefährden. Noch immer nicht sprach er von einer Lösung des Conflicts durch die Waffen, aber betonte doch schon, daß alle auf die Gesammtheit des Bundes berechneten [639] Einrichtungen vor der Klippe dieses Zwiespaltes ständen, sobald dieselben eine wirklich eingreifende und fruchtbare Mitwirkung des deutschen Volkes bei den gemeinsamen Angelegenheiten sich zur Aufgabe stellten, und ferner, daß das Institut der Delegirtenversammlung nur insoweit nicht darunter leiden würde, als es zu einer praktischen Bedeutung überhaupt nicht gelange. Als Ausweg und eine Annäherung an das Ziel, das Reformbedürfniß wirklich zu befriedigen, schlug er, wie in der Denkschrift an den König, freie Vereinbarungen und kündbare Verträge unter den einzelnen Bundesgliedern vor, ohne jedoch über die Form etwas auszusagen; die königliche Regierung gebe die Hoffnung nicht auf, daß der Ueberzeugung von der Richtigkeit dieses Weges auch die Anerkennung der übrigen Bundesregierungen auf die Dauer nicht fehlen werde.

Der Conflict, der damit unvermeidlich schien, denn Oesterreich und die Mittelstaaten bestanden auf ihrem Votum, wurde diesmal noch durch die Kleinstaaten hintangehalten, die bei der Abstimmung zu Preußen hielten; mit 9 gegen 7 Stimmen wurde der Antrag verworfen und so den Oesterreichern ein ihnen in diesem Moment wohl nicht unwillkommener Rückzug gesichert.


Schon aber war eine neue Frage aufgetaucht, die Bismarck’s Staatskunst, welche bisher ihrer Gegner mit so leichter Mühe Herr geworden war, auf eine härtere Probe stellte: die polnische Revolution, welche in denselben Tagen nach langem Glühen in offene Flammen ausbrach. In ihr complicirte sich der deutsche Conflict mit einer für Preußen ungünstigen Abwandlung der europäischen Constellation. Napoleon folgte nur den Traditionen seines Landes wie seines eigenen Hauses, wenn er sich den Polen günstig erwies. „Man muß“, hatte er schon in Paris zu B. gesagt, „für Polen etwas thun“, worauf dieser mit voller Offenheit die Unmöglichkeit preußischer Concessionen auf dieser Seite hervorgehoben hatte. Um so lebhafter waren die Sympathien, denen der französische Kaiser anfänglich in Petersburg selbst begegnete. Kein Geringerer als Gortschakow, der führende russische Minister, begünstigte eine Combination, welche, indem sie den Polen Erleichterungen gewährte, die Höfe von Petersburg und Paris zusammenzuführen verhieß; panslavistische Neigungen und mehr noch die Ziele seiner orientalischen Politik bestimmten ihn dabei. Es war die Verbindung, die B. schon in Frankfurt immer gefürchtet hatte. Auch in Petersburg hatte er die dahin zielenden Tendenzen zu bekämpfen gehabt. Mochte die Gefahr, vor der er früher Sorge getragen, daß Oesterreich sich als dritter in den Bund eindrängen würde, momentan nicht so groß sein – denn in Wien hatte man noch mehr Grund als in Berlin, vor solchen Plänen des russischen Vicekanzlers auf der Hut zu sein – so wurde doch die Actionsfähigkeit Preußens dadurch gelähmt; ja es wäre auch dann noch von den beiden mächtigen Nachbarn abhängig geblieben, wenn es, wie Bismarck’s alter Gedanke gewesen, selbst in die russisch-französische Allianz eingetreten wäre. Der preußische Minister aber, entschlossen, keine Fessel zu dulden, ging der Gefahr kühn entgegen. Die Sendung General Alvensleben’s nach Petersburg und die Convention vom 8. Februar, wodurch Preußen sich dem Zaren zur Unterdrückung der polnischen Rebellen als der gemeinsamen Feinde zur Verfügung stellte, verdrängten den Einfluß der polonisirenden Partei am russischen Hof: militärisch von geringer Bedeutung, denn die vier preußischen Armeecorps, die an der Grenze Aufstellung nahmen, fanden, da die Russen der Empörung bald allein mächtig wurden, keine Gelegenheit einzugreifen, war es auf dem diplomatischen Feld ein Schachzug, der, wie B. schreibt, die Partie entschied. Zunächst allerdings nur innerhalb des Petersburger Cabinetts: der Zar nahm fortan seine Stellung neben Preußen und gab den Gedanken an eine Versöhnung [640] mit den Empörern auf. Umgekehrt freilich drohte anfangs die Wirkung auf das übrige Europa zu werden. Die Pariser Diplomatie, die sich durch den überraschenden Eingriff Bismarck’s von Rußland abgedrängt sah, war über den Urheber in begreiflicher Entrüstung. Der Kaiser selbst sprach sich darüber gegen den Grafen Robert von der Goltz, der jetzt Preußen am französischen Hofe vertrat, in sehr ungnädigen Worten aus; sein Minister, Drouyn de l’Huys, clerical gesinnt und von jeher ein Gegner des preußischen Einflusses, schärfte den Ton bis zu der Drohung, daß nur die Entlassung Bismarck’s das kaiserliche Cabinet zufrieden stellen werde. In Wien hielt man noch an sich; die Sorge, daß die polnische Rebellion auf den eigenen kranken Staatskörper ansteckend wirken könnte, und mehr noch vielleicht die Leerheit der öffentlichen Cassen und die militärische Ohnmacht mahnten zur Vorsicht. Aber der scharfe Ton, der von allen Seiten gegen Preußen laut wurde, mußte wohl in der Hofburg gefallen: der plötzlich angefachte Zwiespalt zwischen Frankreich und Rußland minderte die panslavistische Gefahr, und die Hoffnung, sich auf die Westmächte stützen zu können, gab, zumal bei der clericalisierenden Richtung der französischen Regierung, immer noch die beste Gewähr, den italienischen und den ungarischen Brandheerd in Ruhe zu erhalten, sowie den russischen Ehrgeiz an den Donaumündungen zu unterbinden. Die Clericalen und die Liberalen fanden dabei gleicherweise ihre Rechnung, und der Einfluß des Herrn v. Schmerling, der sich von jeher auf beide Strömungen gestützt hatte, begann die conservativeren Tendenzen des Grafen Rechberg zu überflügeln. Es war durchaus und in Allem, nur in abgeschwächter Form, eine Wiederholung der Situation von 1854. Wie sich versteht, marschirte England auch jetzt wieder an der Spitze des liberalen Europas. So trat der britische Botschafter am Berliner Hof, Sir Andrew Buchanan gegen Bismarck auf: Europa, sagte er, werde es nicht dulden, daß die Convention zur Ausführung gelange und preußische Truppen die Grenzen überschreiten würden, um den Russen zu helfen. B. bewahrte dem hitzigen Lord gegenüber seine volle Ruhe. Seine Antwort war die kurze Frage: „Wer ist Europa?“ Und als der Engländer, schon etwas abgekühlt, erwiderte: „Verschiedene große Nationen“, replicirte der Minister: „Sind sie bereits darüber einig?“ Das tapfere Wort traf ins Schwarze. Niemand wußte besser als B., wie es bei der letzten großen Krisis im Orient mit der gerühmten Einigkeit Europas ausgesehen hatte. Seitdem aber hatten Italiens Erhebung und die deutsche Bewegung die Gegensätze, welche im Krimkriege halb verdeckt geblieben waren, vollends herausgetrieben. Der preußische Minister besaß Napoleon’s eigenes Zeugniß dafür, alle ihre Gespräche hatten sich darum gedreht, daß der Kaiser garnicht daran dachte und nicht daran denken konnte, sich selbst die Wege in Italien und in Deutschland zu verbauen, und daß er, mochten auch seine polnischen Interessen ihn im Moment an England heranbringen, im Mittelmeer und Orient viel eher mit demselben zusammenstoßen mußte. B. brauchte also nur wieder die Linie einzuhalten, auf der er sich 1854 bewegt hatte. Wenn Preußens Neutralität schon damals hingereicht hatte, um Oesterreich von den Westmächten fern zu halten, so war daran jetzt um so weniger zu zweifeln, da B. nicht nur die Politik, zu der er damals fort und fort gerathen, selber machte, sondern auch die Krone hinter sich hatte. Darin kam die Wendung im Innern so recht zum Ausdruck: sie gab dem König auch für seine Haltung nach außen das Richtmaß, das ihm unter dem Druck der liberalen Strömung verloren gegangen war; mit wachsender Ueberzeugung unterstützte er seinen Minister in der Politik, welche im März 1854 Beide auseinander gebracht hatte. So konnte B. über die Opposition, wie hitzig sie sich gebärdete, hinwegsehen: die Leidenschaftlichkeit ihrer Angriffe, ihre Vorwürfe [641] über die Ehr- und Rechtlosigkeit, ja über die „Donquixoterie“ seiner Politik, und die Verknüpfung ihrer Anklagen mit ihren conftitutionellen Forderungen dienten nur dazu, seine Stellung beim König zu befestigen.

Unterdessen aber hatte sich in Rußland der altmoskowitische Geist gegen die Abtrünnigen mit der ihm eingeborenen Energie erhoben. Die diplomatische Intervention, die im April von den Westmächten und Oesterreich, nicht in identischen Noten, wie Napoleon gewünscht, sondern von jedem Cabinet gesondert versucht, und noch zwei Mal, im Juni und August, wiederholt wurde, führte nur dazu, die nationale Entrüstung zu steigern und Volk und Regierung enger zusammenzuschließen; Niemand durfte noch von Versöhnung mit den Rebellen sprechen. Im Felde hatten diese von Anfang an Niederlagen erlitten; dem Terrorismus ihrer geheimen Nationalregierung aber setzten die Russen das Schreckensregiment Murawiew’s und des Grafen Berg entgegen, und unter dem eisernen Druck erstickten bald auf dem eigenen Herde die Flammen, welche ganz Europa in Brand zu setzen gedroht hatten.

Auch darin erneuerte sich die Lage von 1854, daß der Verlauf der gemeinsamen Action Frankreich und England nur weiter auseinander brachte, während in Rußland der noch nicht erloschene Groll über Oesterreich sich in allen Kreisen der Nation um so tiefer einfraß. Die Spannung zwischen den Cabinetten in Wien und Petersburg wurde im Sommer so stark, daß der Zar in einem persönlichen Schreiben den Antrag an König Wilhelm richten konnte, den Bund vom Februar noch fester zu schließen und ihm eine directe Spitze gegen Oesterreich und seinen französischen Alliirten zu geben. In seinen Erinnerungen hat B. die Gründe entwickelt, die ihn bewogen hätten, dem zu rathen, das Anerbieten abzuweisen; zwar nur aus dem Gedächtniß, aber, wie es scheint, im wesentlichen doch wohl so, wie er sie damals erwogen und seinem königlichen Herren vorgetragen haben wird. Die Versuchung, die in den russischen Anträgen lag, war nicht gering. Denn Oesterreich, ungerüstet und kaum der eigenen Unterthanen mächtig, hätte dem Doppelstoß seiner nordischen Nachbarn, von denen Rußland jetzt völlig kriegsbereit war, während Preußen vermöge seiner militärischen Organisation viel rascher als der Gegner im Felde stehen konnte, erliegen müssen, bevor irgend einer seiner Freunde zur Stelle war. Und wer wäre dem Angegriffenen überhaupt noch beigesprungen? Die deutschen Kleinstaaten hätten sich nicht weniger vor solcher Stoßkraft beugen, oder das Schicksal des Kaiserstaates theilen müssen. Oder läßt sich glauben, daß sie sich am Ende Napoleon in die Arme geworfen, in einem neuen Rheinbund Zuflucht gesucht haben würden, wenn Preußen mit Rußland im Rücken, wie 1813, die Einigung Deutschlands proclamirt und die Kräfte der Nation zum Kampf an den Rhein entboten hätte? Würde Italien in solchem Falle ruhig geblieben sein oder nicht vielmehr Alles daran gesetzt haben, um die letzten österreichischen Positionen südlich der Alpen zu zerbrechen und die nationale Einheit mit einem Schlage zu gewinnen? Und hätte Napoleon mit seiner durch das mexicanische Abenteuer bereits geschwächten Macht es dann überhaupt noch wagen können, in einen Kampf auf Leben und Tod einzutreten, der, selbst wenn er siegreich war, alle Grundlagen seiner Politik verschoben und, mochte er nun England zum Gegner oder zum Freunde haben, viel mehr dessen als seinen eigenen und Frankreichs Interessen gedient haben würde? B. war vorurtheilslos genug, um die Vortheile solcher Politik, die ihn zugleich von seinen inneren Gegnern zu entlasten versprach, zu würdigen; er hatte alle ihre Chancen seit Jahren, schon während des Krimkrieges, wohl überlegt. Wenn er sie dennoch vermied, so geschah es [642] weniger im Hinblick auf die Gegner als auf den Freund, der sie ihm anbot. Denn obschon die Interessen Rußlands, wie die Dinge lagen, mit denen Preußens verwandt waren, liefen sie ihnen doch nicht für immer parallel, und es gab Punkte, an denen sie bald genug sich mit ihnen zu kreuzen drohten. Man hätte in Petersburg momentan vielleicht gern die Hand geboten, um Oesterreich niederzuschlagen, tiefer noch als es B. selbst lieb sein mochte; aber es konnte dem Zaren nichts daran liegen, der preußischen Krone die deutsche Hegemonie zu verschaffen und sich selbst dadurch der Rolle eines väterlichen Beschützers der kleinen Höfe in Deutschland zu berauben, die in seinem Hause seit Generationen erblich geworden war. Hatte doch auch die Freundschaft mit dem preußischen Königshause auf russischer Seite immer etwas von dem Charakter des Protectorats an sich getragen. Und wenn man von dort den Berliner Hof gegen die Revolution unterstützt hatte, so war man auch darin nicht bloß von conservativen Interessen und reactionären Doctrinen geleitet gewesen, sondern ebenso sehr von dem Wunsch, die Zersplitterung Deutschlands zu conserviren: ein nationaler Staat, eine Zwischenmacht, welche die Chancen einer russisch-französischen Verbrüderung erschweren und der dominirenden Stellung Rußlands in den baltischen Gewässern ein Ende zu machen drohte, bot Aussichten dar, die in Petersburg ebensowenig genehm waren, wie in Paris oder irgendwo in Europa. Nichts konnte freilich der russischen Politik erwünschter sein, als wenn ihr der Alliirte den Gegner im Westen vom Leibe hielt, und nur um so lieber, je weiter entfernt es von der russischen Grenze geschah; desto ungestörter konnte Rußland dort schalten, wo seine stärksten Interessen und seine eigentlichen Gegensätze gegen Oesterreich und die Westmächte lagen, im Osten. Es konnte so, wenn die Dinge trotz allem schief gingen, um so leichter für sich günstige Verträge erlangen, oder im Falle des Sieges zu hoch erscheinende Forderungen des Freundes, der die Hauptlast getragen, sich selbst zum Vortheil auf ein bescheidenes Maß herabdrücken. Kurz, Rußland saß, wie B. in dem Antwortschreiben an den Zaren, das er für den König entwarf, es zum offenen Ausdruck brachte, an dem längeren Arm des Hebels und konnte Preußen in jedem Fall die Bedingungen des Friedens vorschreiben.

B. bemerkt in seinen Erinnerungen, er habe in dem Vortrage, den er dem König darüber durch mehrere Tage gehalten, es vermieden, die Seite der Sache zu betonen, welche für Preußens innere Politik von Gewicht gewesen wäre, und zwar, wie er ausführt, mit Rücksicht auf die Stimmung der Nation, der die russische Assistenz, „unklugerweise“ setzt er freilich hinzu, verhaßt gewesen sei, sowie auf das nationale Ziel seiner Politik überhaupt. Ein solcher Krieg habe nicht in der Linie der nationalen Entwicklung gelegen. Die deutsche Einheit, schreibt er, mußte ohne fremde Einflüsse zu Stande kommen, aus eigner nationaler Kraft. Der König habe die Frage nicht in dem gleichen Maße unter den deutschen Gesichtspunkt gezogen, und die Versuchung, die in dem Petersburger Antrage gelegen habe, sei daher für ihn groß gewesen, gegenüber den maßlosen Angriffen der Fortschrittspartei und dem diplomatischen Druck Oesterreichs und der ihm verbündeten Westmächte: aber auch in ihm habe das nationale Ehrgefühl und der gesunde Menschenverstand seine schwer gekränkte Empfindung als Monarch und als Preuße überwunden. Ich weiß nicht, ob der greise Fürst hier nicht unter der deutsch-nationalen Tendenz geschrieben hat, die er seit 1866 seiner Politik gegeben hat, und die ja auch sonst vielfach seine Erinnerungen gefärbt hat. Gerade dem König, möchte man meinen, konnte es nicht schwer fallen, das russische Anerbieten, wenn dasselbe, woran ich übrigens zweifeln [643] möchte, wirklich bis zu einem Kriegsbündniß gegen Oesterreich gegangen ist, abzulehnen. Denn wie sympathisch Wilhelm die Verbindung mit den russischen Verwandten sein mochte, hätte er ihr doch gewiß höchst ungern die Wendung gegen Oesterreich gegeben. Er dachte ja noch gar nicht an Krieg gegen Kaiser Franz Joseph, oder überhaupt an eine Lösung der deutschen Frage durch das Schwert, am wenigsten durch einen Angriff auf die deutschen Bundesgenossen, dem seine legitimen Grundsätze und Empfindungen ganz widerstrebten. Für B. aber genügten bereits die Differenzen, die wir betonten, um ihm eine solche Politik zu verleiden. Hätte er sein Ziel mit Rußland erreichen können, so würde er sich schwerlich durch den Russenhaß der Liberalen und aller Polnischgesinnten haben zurückschrecken lassen; wie gering er solche Stimmungen einschätzte, hatte er soeben erst mit der Februar-Convention bewiesen. Scheute er doch auch nicht vor der Anknüpfung intimer Beziehungen mit Napoleon zurück, den die deutschen Patrioten nicht weniger haßten und noch viel mehr fürchteten als den Zaren. B. hielt zu Rußland, so lange und so weit Preußens Interessen dadurch gefördert wurden, d. h. in der polnischen Frage, wo sie beiderseits identisch waren oder es eigentlich erst seit seinem Schachzug im Februar geworden waren: so eng wie möglich war er an Rußland herangerückt, gerade um damit ein Abschwenken des Freundes nach der feindlichen Seite zu verhüten. Weiter aber als bis zur Neutralisirung der europäischen Gegensätze reichte der Nutzen der russischen Allianz für Preußen nicht. Jeder Schritt darüber hinaus hätte die allgemeine Constellation, die Stellung der Großmächte, auf die es B. allein ankam, zu Ungunsten Preußens verschoben. Auch er dachte noch nicht unbedingt an den Kampf mit Oesterreich, hatte überhaupt sein Ziel noch nicht mit Bestimmtheit ins Auge gefaßt. Aber wie es sich auch gestalten mochte, lag es doch immer in Deutschland: dort, nicht, wie für Rußland in der slavischen und griechischen Welt, war der „Exercierplatz“ der preußischen Politik. So war es gerade der Sieg an der Seite des nordischen Freundes, den B. fürchtete: er drohte ihm die Differenz in den politischen Zielen beider Mächte zu enthüllen und Preußen in Abhängigkeit von seinem Alliirten zu bringen: der Politik, die Deutschland das Gesetz geben wollte, wäre das Ziel verstellt und die Freiheit der Bewegung genommen worden.

Es war die Bedingung und Voraussetzung seines Handelns, der Boden, auf dem er allein stehen, die Luft, in der er allein athmen konnte, es war das Grundelement seiner Politik und seines Wesens selbst, was mit dem russischen Antrag zusammenstieß. So wenig wie er im Krimkriege und in der italienischen Krisis Preußens schmucke Fregatte an das wurmstichige Orlogsschiff Oesterreich hatte koppeln wollen, konnte er jetzt in Rußlands Kielwasser fahren; er ließ sich von Niemand ins Schlepptau nehmen. Da er die Führung nicht erhalten, das Steuer nicht stellen konnte, wie er wollte, lenkte er aus dem Curs der Andern heraus. Hier, wie überall in seinem gewaltigen Lebensgange, galt für ihn der Satz, den der Dreiundzwanzigjährige niedergeschrieben hatte, als er sich von dem Staate seiner Jugend losriß und die Unabhängigkeit des Landlebens erwählte: „Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine.“

Der Kampf mit dem Liberalismus.

So suchte B. freiwillig die Stellung auf, in der die Liberalen das Verderben des Staates zu erblicken glaubten: ein Spieler, wie sie sagten, der [644] die Existenz Preußens, die Existenz der Dynastie ohne Bedenken einsetze, dessen tollkühne und zusammenhangslose Politik es dahin gebracht habe, daß Preußen vor der Welt mehr und mehr als Rußlands Verbündeter erscheine, ohne daß es ein Bündniß mit Rußland habe; unbeweglich inmitten drängender Gefahren lasse er den Staat stehen, dessen beste Wurzeln er durch seine Attentate auf Recht und Verfassung untergrabe: sie prophezeiten ihm ein Ende mit Schrecken. Denn ihr Blick war wie immer gebannt durch die „Sphinx an der Seine“, die ihre Klauen nach dem Rheine ausgestreckt habe. Nur auf Oesterreich und England gelehnt, in einer die deutschen Kräfte einmüthig verbindenden Defensivstellung glaubten sie dieser Gefahr begegnen zu können. Daß sie dadurch die Polen, die Schützlinge nicht bloß der Cabinette von London und Wien, sondern auch Napoleon, hoch brachten, den Clericalen und allen Freunden Oesterreichs die Wege öffneten, übersahen sie oder glaubten sie mit in den Kauf nehmen zu müssen. Es war die alte Quadratur des Zirkels, mit der sie sich alle die Jahre daher abgemüht hatten. Sie, die die Lehre vom kleinen Deutschland und der preußischen Hegemonie auf allen Gassen predigten, wußten dennoch im Moment nichts besseres zu rathen, als sich auf den Boden der Wiener Verträge zu stellen, die im Gegensatz zu allen fortschreitenden Ideen des Jahrhunderts geschaffen und aufrecht erhalten waren; und es entging ihnen, die sich jetzt in der Masse mit Stolz die Partei des deutschen Fortschritts nannten, daß sie damit die Politik Metternich’s, eine Politik der Defensive und des Stillstandes anempfahlen.

Ihre Furcht vor den unberechenbaren Schritten des junkerhaften Ministers war um so größer, als sie trotz ihrer parlamentarischen Siege und der ungetheilten Sympathien in und außer Deutschland eine sehr deutliche Vorstellung davon hatten, daß sie die Entscheidung nicht in den Händen hielten, und daß die brausende Hochfluth der öffentlichen Meinung vor den Bollwerken der Krone, die der herrische Minister vertheidigte, kraftlos verlaufen würde; denn daß eine neue Revolution, der Andrang des vereinigten Volkswillens dieselben über den Haufen werfen könnte, wagten wohl kaum die Radicalsten unter ihnen ernstlich zu hoffen. So kam es, daß sich bei ihnen bereits ein lebhaftes Friedensbedürfniß geltend machte. Keiner unter ihnen hatte jemals, auch in der Septemberkrisis nicht, daran gedacht, Preußen wehrlos zu machen; die Ablehnung der Regierungsforderungen hatte für sie nur eine Waffe sein sollen, um die Krone ihren Zielen zu unterwerfen; und hierzu gehörte in erster Linie die Ergreifung der nationalen Politik. Nun, da dies Mittel nicht verfangen hatte, erwachte unter ihnen von neuem, bis tief in die Bänke der Fortschrittspartei hinein, der Wunsch, sich zu verständigen, die Gegensätze zu vermitteln: die Amendements, welche Herr v. Forckenbeck im März zu der von der Regierung eingebrachten Kriegsnovelle stellte, wollten die Grundlagen der Reorganisation, unter Behauptung freilich der zweijährigen Dienstzeit, bewilligen und hätten einer auf den Frieden bedachten Regierung wirklich die Gelegenheit geboten, die Majorität der Landesvertretung wieder für sich zu gewinnen. Freilich unter der jetzigen Staatsregierung würde eine Durchführung jenes Gesetzentwurfes unmöglich sein – so erklärte der Führer des gemäßigten Fortschritts in der Resolution, die er seinen Anträgen anhing, und offenbarte damit das eigentliche Ziel seines Vorgehens: das reactionäre Cabinet sollte gestürzt, eine Spaltung zwischen dem Minister und dem König bewirkt, und dadurch die Rückwendung zu der neuen Aera angebahnt werden. So sah sich B. nicht nur in seiner Person, sondern in dem Centrum seiner Politik selbst bedroht. Der Sieg der gemäßigten Anschauungen hätte von dem Wege abgelenkt, auf dem er das Heil der Krone und die Macht des Staates erblickte. [645] Die Gährung, die Forckenbeck’s Anträge sofort in der Fortschrittspartei hervorriefen, zeigt, wie leicht es dem König gewesen wäre, das lockere Gefüge der Opposition, in der die heterogensten Elemente, Clericale und Polen, Männer vom Schlage Waldeck’s und Franz Duncker’s, und frühere Altliberale, wie Georg v. Vincke und Graf Schwerin, vereinigt waren, aus einander zu sprengen. Aber um Bismarck’s System wäre es geschehen gewesen. Wollte er den Kampf gegen die äußeren Feinde Preußens so, wie es in seinen Plänen lag, durchführen, so mußte er auch seine inneren Gegner bekämpfen; nur solche Parteien konnte er dulden, die ihm gehorchten. Im Parlament, im Lande, in der Nation fand er nirgends den Halt, den er brauchte. Die conservative Fraction war bis auf elf Mitglieder herabgeschmolzen; sie konnte, wie die Berliner spotteten, in einem Omnibus zu dem Hause am Dönhoffplatze fahren. Außer der Kreuzzeitung und den paar officiösen Blättern gab es kaum ein größeres Organ, das für den Minister eintrat. Und diese Freunde, Niemand wußte das besser als er, dachten garnicht daran, ihm auf dem Wege gegen Oesterreich zu folgen. Ihr Blick war ganz nach innen gerichtet, und ihre Kampfesweise rechtfertigte nur zu sehr die Anklagen über ihre undeutsche und freiheitsfeindliche Gesinnung, welche die Gegner auf sie häuften. Nicht einmal die nächsten Gehülfen seiner Politik waren dem Minister sicher. Savigny, wie sehr er die reactionären Maßregeln billigte, sprach doch über die Führung der auswärtigen Geschäfte fast wie ein Liberaler: die Stellung Preußens, so erklärte er im April gegen Bernhardi, der ihn in Brüssel aufgesucht hatte, hänge von dem Einfluß ab, den es in Deutschland ausübe; die diplomatischen Beziehungen zu den kleineren deutschen Staaten seien mithin die wichtigsten; es sei eine Verkehrtheit, dieselben von oben herab, mit Geringschätzung zu behandeln, sie von sich zu stoßen, und vollends zu erklären: „Preußen verhandelt nur mit Großmächten“. Er pries dagegen Oesterreichs Klugheit, daß die Kleinen stets mit der größten Aufmerksamkeit und Courtoisie behandelte, und sprach für die Verständigung Preußens mit dem Kaiserhof; ihre Verfeindung könne zu nichts führen, die süddeutschen Staaten würden sich niemals einer Hegemonie Preußens fügen, viel zu groß sei dort, zumal in Baiern das Selbstgefühl und der Haß gegen das preußische Wesen; und er schalt dann selbst aufs heftigste über den unerträglichen Dünkel, der in den Officiercorps gegen den Bürgerstand um sich greife. Auch Robert Goltz wußte von Paris her nichts besseres anzurathen als die Mittel, die in der Union und der neuen Aera verbraucht waren. Er widersprach dem Minister in seinen officiellen Berichten, die jener dem König vorzulegen hatte, und nahm sich im Sommer, als er auf Urlaub in Deutschland war, die Freiheit, offen über die Unfähigkeit seines Chefs her zu ziehen. Auch ihm erschien die Februarconvention im schlimmsten Licht, Preußen seitdem isolirt, wenig geachtet und von Gefahren umgeben. Ganz im Sinne der Opposition verlangte er, daß die Regierung von Rußland abrücke. Und vor allem, den Grundfehler erblickte auch er in der Trennung Preußens von Deutschland, in der ausschließlichen Betonung seiner europäischen Stellung, d. h. in dem Satz, mit dem Bismarck’s System stand und fiel. Daß Graf Bernstorff bei seinen englischen Freunden nicht zum Anhänger einer Politik geworden war, die von seinen eigenen Wegen als Minister soweit abwich, und daß vollends der stets liberalisirende Usedom in Italien die Politik seines alten Rivalen nur widerwillig vertreten hat, braucht keines Beweises.

In den Kammerdebatten liebte es Bismarck, den liberalen Rednern, die feige auswärtige Politik kritisirten und ihm ihre ungebetenen Rathschläge ertheilten, mehr oder weniger deutlich zu erwidern, daß sie von Dingen sprächen, [646] die sie nicht verstünden und die sie eigentlich nichts angingen; als sei das eine Kunst, die fachmännisch gelernt werden müsse und daher den Laien immer undurchsichtig bleiben werde. Und diese Anschauung, der er bekanntlich in seinen Briefen und in der von ihm abhängigen Presse noch sehr viel schärferen Ausdruck gegeben hat, pflegt man ihm bis heute in den weitesten Kreisen nachzusprechen; ja, es ist fast ein Glaubenssatz in unserm öffentlichen Leben geworden, daß die auswärtige Politik in der That von den Strömungen des Tages, den Stimmungen in der Nation frei zu erhalten sei, als eine Angelegenheit, die nicht nur über den Parteien und ihrem Interesse stehe, sondern auch ihrer Natur nach nur von den Eingeweihten, den Männern des Fachs beurtheilt und geleitet werden könne. Die Kritik jener zünftigen Diplomaten an der Politik ihres Chefs, die sie an den auswärtigen Häfen zu vertreten und von dort her zu berathen hatten, ist nicht eben geeignet, diese Lehre von der Inferiorität des Laienverstandes gegenüber den Männern vom Handwerk zu unterstützen; es ist im Grunde dieselbe Auffassung, die den Militärconflict auf eine Differenz zwischen Fachwissen und Laienurtheil reduciren möchte. Wer sie annimmt, wiederholt damit Schlagworte, die im Parteikampf geprägt wurden und dann von der Tradition, die dem Sieger gehorcht, festgehalten worden sind. Die Historie darf sie nicht nachsprechen. Wir würden damit nicht bloß den liberalen Gegnern Bismarck’s, deren Urtheil sich mit dem seiner Gesandten, seiner Jugendfreunde deckt, sondern vor allem ihm selbst Unrecht thun. Denn die Gestalt des großen Staatsmannes wird nur wachsen, wenn wir erkennen, wie einsam er mit seinen Gedanken war, die er seitdem zum Siege geführt und zum Gemeingut der Nation gemacht hat. Was ihn von den Andern schied, war zuletzt nicht sowohl das größere diplomatische Geschick und die bessere Vertrautheit mit der europäischen Lage als die Verschiedenheit des Staatsbewußtseins, der Stellung zu den Fragen, die das Herz der Nation bewegten: die Differenz, die wir durch sein Leben hin verfolgt haben. Sein Ziel war ein anderes, und darum mußten auch die Voraussetzungen, Mittel und Wege seiner Politik, ja seine Denkweise und sein ganzes Empfinden anders sein: das Augenmaß für die realen Factoren der Macht, dessen er sich mit Recht so oft gerühmt hat, und der leidenschaftliche Wille zur That, der in ihm glühte, und ohne den die Einsicht in die Bedingungen des Handelns selbst ohnmächtig und werthlos gewesen wäre, hatten darin ihre gemeinsame Wurzel. Auch der Anspruch, den er erhob, allein die Richtung der auswärtigen Politik zu bestimmen, war nichts als ein Ausfluß seines Systems, und hat sich nur, weil dieses gesiegt hat, behauptet: sowie B. im Innern den Staatswillen von den Hemmungen des Parteitreibens unabhängig zu machen suchte, so und mehr noch wollte er ihm auch nach außen die Bahn frei machen. Denn vor allem dort war das Feld, wo es galt, Preußens Macht mit gesammelter Kraft und in breitester Front an den Feind zu bringen. Er selbst hat in seiner Weise die trennende Differenz gegen Goltz gerade so gezeichnet: „Die Frage ist“, schreibt er ihm auf erneuerte Vorwürfe zurück, „ob wir eine Großmacht sind oder ein deutscher Bundesstaat, und ob wir, der erstern Eigenschaft entsprechend, monarchisch oder, wie es in der zweiten Eigenschaft allerdings zulässig ist, durch Professoren, Kreisrichter und kleindeutsche Schwätzer zu regieren sind.“

Auch König Wilhelm hatte, wie wir wissen, den Ansichten gehuldigt, die sein Minister hier so gröblich charakterisirte; er hatte ungefähr so über B. geurtheilt, wie dieser über seine Gegner. Die liberale Politik war ihm sympathisch geworden, weil sie ihm die Sympathien in der Nation erworben hatte, und entsprach übrigens nach ihren friedfertigen, legitimen und nationalen [647] Tendenzen seinem persönlichen Empfinden. Seit dem Herbst war allerdings eine Wandlung in ihm eingetreten: das Selbstvertrauen, das ihm B. in dem Kampf gegen die inneren Feinde eingeflößt, hatte auf seine Auffassung der auswärtigen Verhältnisse zurückgewirkt; auch Europa gegenüber hatte er wieder Zuversicht zur Macht der preußischen Krone gewonnen. Aber wie viel fehlte doch noch daran, daß Wilhelm den kühnen Bahnen seines Ministers mit freiem Entschluß gefolgt wäre, ja auch nur das Ziel, dem jener entgegenging, klaren Auges vor sich gesehen hätte. Nur die innere Politik, der Kampf mit dem Abgeordnetenhaus hatte beide zusammengeführt, und jede Annäherung der Gegner drohte das Band, das sie verknüpfte, zu lockern und den Helfer in der Noth dem König entbehrlich zu machen. Schon im Februar war die Rede gegangen, daß Bismarck’s Stellung erschüttert sei, es hieß infolge eines Versuches, den Mitglieder der Linken direct beim König, der ihnen eine Audienz gewährt, gemacht hätten; während Andere es auf die Februar-Convention schieben wollten, die dem König mißfallen habe. Mag hier nun auch der Wunsch vielleicht der Vater des Gedankens gewesen sein, so sieht man doch immerhin daraus, wie wichtig es für B. war, jede Lücke, durch welche die Liberalen eindringen konnten, zu verschließen. Nur mit dem König vermochte er die Politik durchzuführen, die er im Sinne hatte; der König war sein einziger wirklicher Rückhalt: aber gerade darum mußte er Wilhelm in diesem Moment von jedem Compromiß zurückhalten und das monarchische Bewußtsein in ihm auf alle Weise verstärken; er hätte ihn sonst gar nicht mit fort bekommen. Keiner stand darin fester zu ihm als Roon. Aber auch der dachte viel lieber an den Kampf mit den Demokraten als mit Oesterreich. Und so waren es überall die specifisch preußischen, der nationalen Idee unzugänglichen Elemente, auf welche B. sich stützen mußte. Die romantischen Ideale waren auch in diesen Kreisen in Mißcredit gerathen; man predigte wohl noch die Lehre von dem Bunde der drei Ostmächte und dem Kampf der monarchischen Principien gegen die Revolution, aber die Verquickung mit den nationalen und freiheitlichen Ideen im Sinne des verstorbenen Königs vermied man, es waren viel mehr die absolutistischen und particular-preußischen Tendenzen, auf welche die Reaction jetzt den Accent legte. Es ist bezeichnend, daß der Name des Prinzen Karl, der in seinem Herzen immer Absolutist geblieben war und alles constitutionelle Wesen als Demokratenerfindung verabscheute, wieder in der Oeffentlichkeit genannt wurde, nachdem er unter Friedrich Wilhelm IV. und in der neuen Aera meist im Hintergrund geblieben war. Es hieß allgemein, daß der König sich bei seinem Bruder Raths erhole, und daß er auch mit der Königin-Wittwe wieder regere Beziehungen unterhalte; ja man erzählte sich, daß in der Umgebung des Prinzen schon der Plan erwogen werde, seinen Sohn Friedrich Karl anstatt des Kronprinzen an die Regierung zu bringen, falls etwa der König von neuem der Krone überdrüssig werden sollte oder sonstwie für seine Stellvertretung gesorgt werden müßte. Besonders bedenklich war es, daß derartige Redereien auch in der Armee Eingang und Anklang fanden, nicht bloß bei der Generalität, sondern vielleicht noch mehr in den unteren Chargen, die, wie bemerkt, schon bei der Reorganisation nach parteipolitischen Gesichtspunkten besetzt waren. Die liberalen Officiere, deren es auch in den höheren Commandos immer noch gab, sahen sich zurückgedrängt und klagten bitter über den unerträglichen Dünkel ihrer Kameraden und über den Geist der Spionage und der Gesinnungsriecherei, der in den Regimentern wieder aufkäme. So trieb der politische Streit, der auch von liberaler Seite mit steigender Erbitterung geführt wurde, die socialen Gegensätze immer stärker hervor.

[648] B. ließ es geschehen. Er mußte über die reactionären Velleitäten seiner Partei hinwegsehen; denn er hatte im Lande keine anderen Bundesgenossen; und für den Moment mochte es ihm vielleicht sogar erwünscht sein, mit den Männern der blinden Reaction zusammengeworfen zu werden. Er selbst hielt sich von diesem Ton frei, der ja früher auch der seine gewesen war. Aber die Art, wie er es den Gegnern bei jeder Gelegenheit deutlich machte, daß sie über die Worte und er über die Macht verfüge, die Wegwerfung, mit der er alle ihre Ansprüche, die sie im Namen der Nation und der liberalen Principien erhoben, behandelte und ihnen das Interesse Preußens und die angestammten Rechte der Krone entgegenstellte, trafen tiefer als alle Hetzartikel der Kreuzzeitung. Es mußte in der That auch den Gemäßigtsten das Blut in Wallung bringen, wenn er gelegentlich der Interpellation Twesten’s über den Bruch der Londoner Verträge durch das dänische Patent vom 30. März den Abgeordneten das Wort entgegenschleuderte, die Regierung werde, wenn sie es für nöthig finde, Krieg zu führen, ihn führen mit oder ohne Gutheißen des Hauses: als säße ein Haufe von Knaben vor ihm, die über Dinge sprächen, von denen sie nichts wüßten und verständen, wo es sich doch um die Angelegenheit handelte, welche die deutsche Ehre so wie keine andere tangirt und alle Empfindungen der Nation in Aufruhr gesetzt hatte; und es grenzte offenbar an Verachtung des ganzen parlamentarischen Wesens, wenn er dann während der Discussion den Saal verließ, um hinterher, auf die Beschwerde, die darüber laut wurde, im kühlsten Tone zu erklären, daß er noch andere wichtige Geschäfte habe als hier zuzuhören und übrigens die sonore Stimme des Herrn Vorredners (es war der Abgeordnete Loewe) auch im Nebenzimmer habe vernehmen können. Es ist wahr, auch die Redner der Opposition schonten ihn nicht; nicht nur die Fehler und die Unfähigkeit seiner Politik, sondern vor allem die Verfassungsverletzung warfen sie ihm immer von neuem vor, und alle ihre Angriffe zielten dahin, das Ministerium zu stürzen. In der Sache aber waren sie, wie gesagt, ohne Frage gemäßigter als der Minister. Die Militärnovelle, welche Roon im Februar einbrachte, enthielt neben den alten nur verschärfte Forderungen; der Kriegsminister aber und seine Commissare vertheidigten jede Position aufs hartnäckigste und thaten ihr Bestes, um ihrem Chef zu secundiren. Trotzdem wurden nach wochenlanger, mühevoller Berathung in der Commission Forckenbeck’s Vermittlungsvorschläge an das Plenum gebracht, und die vereinigte Linke war, freilich unter Erneuerung der Angriffe auf das Ministerium, wobei bezeichnender Weise gerade die Gemäßigten sich hervorthaten, bereit sie zu votiren. Da benutzte B. den Zwischenfall, den Roon am 11. Mai hervorrief, als er in dem Wortgefecht mit Heinrich v. Sybel sich dem Anspruch des Präsidenten auf die Leitung der Debatten nicht unterwerfen wollte, um kurzweg den Bruch herbeizuführen. Bockum-Dolffs, der als Vicepräsident an dem Tage die Verhandlungen leitete, auch er Führer einer gemäßigten Gruppe, hatte den Kriegsminister, als dieser sich gegen den allerdings überaus heftigen Angriff in ebenfalls schärfster Weise wandte, unterbrochen; er hatte ihm, seiner Widerrede ungeachtet, Schweigen geboten, und schließlich unter dem fortgesetzten Protest Roon’s gegen die Gesetzmäßigkeit dieses Vorgehens und unbeschreiblichem Tumult die Vertagung der Sitzung anberaumt. Es war die Wiederholung eines Rencontres, das B. selbst im Februar gelegentlich der Polendebatte gehabt hatte. Schon damals hatte er die Befugniß des Präsidiums bestritten, war aber im letzten Moment (er selbst hatte den Anlaß zum Streit gegeben) doch noch zurückgewichen. Jetzt, wo die Gelegenheit so viel günstiger lag, denn Roon war der Angegriffene und Borkum-Dolffs hatte sich in der That ungeschickt und taktlos benommen, erging noch an demselben Tage ein von sämmtlichen [649] Ministern unterzeichnetes Schreiben an den Präsidenten des Hauses, Grabow, worin sie über den Vorfall als eine Beschränkung des ihnen von der Verfassung gewährten Rechtes, jederzeit das Wort zu ergreifen, Klage führten und Genugthuung forderten: es liege darin der unberechtigte Anspruch, sie der Disciplin des Hauses zu unterwerfen; sie machten ihre weitere Theilnahme an den Sitzungen von der Erklärung des Präsidiums abhängig, daß eine Wiederholung jenes, der gesetzlichen Begründung entbehrenden Verfahrens gegen ein Mitglied des Staatsministeriums nicht in Aussicht stände. Eine Einladung des Präsidenten, an der Berathung des Hauses über die Frage selbst theilzunehmen, ward kurzerhand abgelehnt. Auf eine sehr vorsichtig abgefaßte Erklärung der Kammer, die von einer Disciplinargewalt des Präsidenten über die Minister gar nicht sprach und nur das Recht desselben auf die Leitung der Verhandlung und die Aufrechterhaltung oder Ordnung im Hause auch den Ministern gegenüber betonte, kam ein zweites Schreiben des Staatsministeriums, worin der Protest gegen seine Unterwerfung unter die Geschäftsordnung aufrecht erhalten und die Forderung, sich ausdrücklich hierüber zu erklären, wiederholt wurde. Der König selbst trat in einer besonderen, von allen Ministern gegengezeichneten Botschaft für die Räthe seiner Krone ein. Und als die Kammer, in der nun die Linke rasch die Führung an sich riß, den Handschuh aufnahm und in einer Adresse an den Monarchen alle Schuld an dem Bruch dem Ministerium zuschob, um dann ihrerseits jede Mitwirkung an der gegenwärtigen Politik abzulehnen, welche Preußen in Deutschland und Europa isolirt und eine Kluft zwischen den Rathgebern der Krone und dem Lande aufgerissen habe, die nur durch einen Wechsel der Personen und des Systems geschlossen werden könnte, da führte der Minister den entscheidenden Schlag: unter allen Zeichen der königlichen Ungnade wurde die Session, ohne daß die Berathung des Budgets auch nur begonnen war, geschlossen und die Abgeordneten nach Hause geschickt.

Heute ist über diesen Vorgängen längst Gras gewachsen, und es hält schwer, sich in die fieberhafte Stimmung, in die die Mitlebenden durch sie versetzt wurden, zurückzudenken. Da ist es von Werth zu vernehmen, was ein so gemäßigter Liberaler wie Bernhardi damals darüber geurtheilt hat. Er billigte keineswegs die Haltung des Prasidiums in der Scene mit Roon: Bockum-Dolffs, schreibt er, habe sich schmachvoll benommen; und er war unglücklich über das Treiben der Majorität unter der Führung von Virchow, Gneist und Sybel. Aber von der Erklärung des Ministeriums sagte er doch sofort, sie enthalte eine unmögliche Forderung, die natürlich auch nur gestellt sei, damit sie von dem Hause zurückgewiesen werde: die Minister wollten das Haus dahin bringen, eine Erklärung abzugeben, die ihnen als Vorwand dienen könnte, um ihrerseits zu erklären, mit diesem Haus sei überhaupt nicht auszukommen, und damit also die Schuld eines vollständigen Bruchs den Abgeordneten zur Last legen zu können. In der That wird es schwer fallen, eine andere Deutung für das Vorgehen Bismarck’s zu finden. Es lag in diesem Moment in seinem Interesse, die Dinge, wie Duncker sagte, auf die Spitze zu treiben, die Gemäßigten den Demokraten in die Arme zu drängen und ganz klare Verhältnisse zu schaffen. Er berührte sich darin mit den Radicalen selbst, die ihrerseits Alles daran gesetzt hatten, um die Kammer zu dem Gegenangriff auf den drohenden Schlag fortzureißen und den Bruch unheilbar zu machen; beiderseits wünschte man den Kampf, und es gab für beide Seiten keine Vermittlung mehr, sondern nur noch die Niederwerfung des Gegners. Immer deutlicher trat der große Gegensatz, der die innere wie die äußere Politik umspannte, ans Licht: Aug’ in Auge stand der Minister [650] seinen Rivalen gegenüber. Er war jetzt auch im Innern so isolirt wie nach Außen: hinter ihm nur die Krone, die er zum Siege führen wollte, und die alten Organe ihrer Macht. Es war die Stellung, die er von jeher behauptet, und auf die er sich noch immer verlassen hatte, der Revolution wie dem Auslande gegenüber. Er war entschlossen, die Vortheile, die sie ihm bot, voll auszunutzen. Um die Armee brauchte er sich nicht zu sorgen; die wußte er in sicheren Händen und hatte sie übrigens auch, wie er sich sagen konnte, gegen diese Gegner nicht nöthig. Aber die Bureaukratie und alle andern Organe, in denen die Krone ihre Kräfte gesammelt, ihren Willen zur Geltung gebracht hatte, mußte er zum Kampf heranziehen; sie war er gewillt mit der eigenen Faust zu regieren und, wo sie lasch und widerspenstig geworden waren, ohne Rücksicht auf die Meinungen der Welt zum pflichtmäßigen Gehorsam unter die Herrschaft des Königs zurückzubringen.

Es war neben dem Heer der Kreisrichter, das die Bänke der Opposition füllte, vor allem das vielgegliederte Netz der Verwaltungsbeamten, unter denen es Ordnung zu schaffen galt. Da er jung gewesen, war ihm selbst die Stickluft der Amtsstuben unerträglich geworden, und danach, in den Jahren der Revolution, hatte er in dem Officiantenthum den Krebsschaden sehen wollen, der an dem Mark der preußischen Macht fräße. Jetzt ward er selbst dazu gezwungen, die Beamtenschaft als den Grundpfeiler der Monarchie, der sie in der That war, anzuerkennen und fester aufzustellen, und den bureaukratischen Zwang und Druck um das Vielfache zu verstärken. Freilich, er saß nicht mehr, wie als Auscultator und Referendar, in dem Orchester, ohne Uebersicht und Einfluß auf das Ganze, als einer der Vielen, der sein Bruchstück abspielen mußte, wie es ihm gesetzt war, mochte er es für gut oder schlecht halten: er hatte den Dirigentenstab in Händen. Und so war auch die Bureaukratie selbst längst nicht mehr, wie unter dem Andrang der Revolution, das schwache Rohr, das jedem Hauch des liberalen Windes nachgegeben hatte, sondern sie war wieder zur starken Säule geworden, auf die sich die Krone, wenn sie nur wollte, stützen und verlassen konnte: die Verwaltung Westphalen’s hatte dafür vorgearbeitet, und die Regierung der neuen Aera die von ihr geschaffenen Grundlagen nicht antasten mögen; die Principien Schwerin’s, vielleicht auch das Gefühl seiner eigenen Ohnmacht hatten diesen immer davon zurückgehalten. Principielle Schwierigkeiten aber kannte B. nicht, und Kraft genug, um die Mittel, die sich ihm darboten, zu gebrauchen, traute er sich zu. In dem Minister des Innern, Graf Fritz v. Eulenburg, hatte er einen Gehülfen gewonnen, wie er ihn brauchte, bequem, gefällig und ohne Scrupeln, für die in dem Herzen dieses geistreichen und genußfrohen Weltkindes kein Raum war. In der That arbeitete die Maschine, einmal in Gang gesetzt, unter der kundigen und festen Hand des Grafen ganz glatt; und wo etwa der Liberalismus Eingang gefunden oder sich als ein Rest aus vergangenen Tagen erhalten hatte, wußte der Minister durch Zurdispositionsstellung eines oppositionslustigen Landraths oder widerspenstiger Dorfschulzen leicht Rath zu schaffen. Schwieriger war es, das Feld der Justizverwaltung im Sinne des Systems zu bestellen, da diese nach dem Geist und dem Recht ihrer Organisation unabhängiger geartet war. Aber um so eifriger war der Chef des Ressorts, der Graf zur Lippe, der als ein überzeugter Reactionär mit unhemmbarem Eifer und geradezu mit persönlichem Behagen sich ans Werk machte, um seinen Richtern ihren Oppositionskitzel und den Geschmack an der hohen Politik auszutreiben; Strafversetzungen, Gehaltssperren, Versagung von Alterszulagen, kurz ein ganzes System leidiger Chicanen brachte er in Anwendung, um ihnen [651] die Ueberzeugung beizubringen, daß die Dienstwilligkeit gegen die Regierung die oberste ihrer Pflichten sei.

Das waren nun die kleinen Mittel. Jetzt aber beschloß B. auch zu großen Maßregeln zu greifen. Am 1. Juni, nur drei Tage nach Schließung der Kammer, kam das Preßedict heraus, die „Juli-Ordonnanzen“, wie die Gegner es mit einem Gemisch von Spott, Angst und pessimistisch gerichteter Hoffnung nannten: der Versuch, die öffentliche Meinung selbst zum Gehorsam oder doch zum Schweigen zu bringen. Es war in der That das System, das im Lande der Präfectenwirtschaft längst üblich geworden war. Jedoch ging die preußische Verordnung, wie die Liberalen sofort mit Recht hervorhoben, noch weiter als die napoleonischen Edicte, und kam den russischen Preßukasen nahe. Denn die französischen Erlasse verfügten Verwarnungen und Unterdrückungen einer Zeitung doch immer nur für eine Thatsache, für einen bestimmten Artikel, Bismarck’s Decret aber machte es möglich, jedes öffentliche Organ, Zeitungen, wie Zeitschriften, wegen ihrer allgemeinen Tendenz, ihrer Gesammthaltung ohne bestimmt nachweisbaren Grund zu unterdrücken. In Frankreich ferner waren die Blätter nur so weit von Strafe bedroht, als das Fundament des Staates, die Dynastie und die Acte, durch die sie begründet war, angegriffen wurden: der Parvenu, der durch Revolution und Staatsstreich an die Spitze der Nation gekommen war, sah sich gezwungen, seinen stets wankenden Thron gegen die Mächte, die ihn unterwühlten, zu schützen. Wer aber wollte glauben, daß die legitime preußische Dynastie, deren Wurzeln in den Fundamenten ihres Staates ruhten, von dem Winde der öffentlichen Meinung bedroht worden wäre? B. wenigstens war der Letzte, der das gefürchtet hätte. Und das Alles nun in einer seltsamen Mischung salbungsvoller Versicherungen in dem patriarchalischen Ton des alten Königthums, daß die wahre Preßfreiheit nicht geschädigt und nur die Untergrabung aller Grundlagen der Ordnung, der Religion und der Sittlichkeit verhindert werden solle, und der kühnsten Interpretation des Artikels 27 der Verfassung, desselben, der jedem Preußen das Recht, durch Wort und Schrift seine Meinung frei zu äußern, gewährte und ihn nur den Gerichten unterwarf, sowie des 63. Artikels, der der Regierung in Abwesenheit der Landesvertretung und im Fall der Noth, d. h. wenn der Feind etwa an die Landesgrenze ziehe oder der Umsturz der Staatsordnung durch innere Calamitäten und Störungen der Rechtsordnung drohe, das Recht zu Ausnahmegesetzen gab. Dieser Verfügung, die der Welt als eine Verhöhnung der Verfassung erscheinen mußte, folgte im Herbst, als der Landtag, ohne ihn noch einmal zusammen zu berufen, aufgelöst war und neue Wahlen vor der Thür standen, das Rescript des Grafen Eulenburg, das die Wahlpflichten seiner Untergebenen regulirte. Die Wahlverordnung des Ministers v. Westphalen war darin noch übertroffen, denn dieser hatte seinen Beamten, im Fall sie sich in ihrem Gewissen bedrängt fühlten, Wahlenthaltung gestattet; das neue Decret aber verbot nicht nur jedes Opponiren und Agitiren gegen die Regierung, sondern befahl den politischen Beamten ausdrücklich, und mit verdeckten Worten auch allen Andern, unter dem Diensteid, die Regierung des Königs gegen ihre Gegner mit allem Nachdruck zu unterstützen. Es war wieder das Napoleonische System: das Werkzeug der patriarchalisch-absoluten Krone wurde herangezogen, um den Volkswillen, dessen freie Aeußerung die Constitution gewährleisten sollte, mit dem Willen des Königs und seiner Minister gewaltsam in Uebereinstimmung zu bringen: der Geist der Verfassung, wenn nicht ihre Form, wurde offenbar dadurch verletzt. B. dachte auch in dieser Zeit nicht daran, wohin ihn ein Theil der Partei, der in der Kreuzzeitung das Wort hatte, wol gerne gebracht hätte, die Verfassung [652] aufzuheben; die Constitution sollte ein integrirender Teil des Staatslebens bleiben, denn auch er wußte, daß ohne Volksvertretung eine Durchführung der deutschen Politik für Preußen nicht möglich sei. Das Ziel auch dieses Kampfes war für ihn der Friede, und der Compromiß zwischen der Krone und dem Hause des Volkes das was er erstrebte: aber freilich ein Friede, den die Krone dictiren konnte, und ein Compromiß, der das Regieren möglich machte. Zunächst war ihm dies bei der Stimmung des Landes und seiner Vertreter nicht möglich: eben weil die Ziele aus einander gingen. Bevor aber das seine anerkannt war, wollte er von Versöhnung nichts wissen und kannte keine Rücksicht. Er hat in diesem Sommer, wenn wir das Zeugniß des stets besonnenen Karl Mathy, der es immerhin wissen konnte, annehmen dürfen, sogar daran gedacht, das Versammlungsrecht zu beseitigen und, was freilich zu glauben schwer fällt, die Entlaßbarkeit aller Beamten nach 24stündiger Kündigung auszusprechen. Von seinem Wege, dem Wege zur Macht, wollte er sich nicht abdrängen lassen: was sich ihm entgegenstellte, mußte weichen: er fühlte sich im Kampf; und im Kampf waren, ihm wenigstens, alle Mittel recht.

Schon war der Conflict in dem Königshause selbst, dessen Frieden er längst zerstört hatte, vor aller Welt zum Ausbruch gekommen; am 5. Juni sagte sich der Kronprinz in Danzig, wohin ihn eine militärische Inspectionsreise geführt hatte, bei dem Empfang durch die städtischen Behörden in öffentlicher Ansprache von der Politik der Regierung los; wenn er hinzusetzte, daß er, wie sie Alle, die Zuversicht habe, daß Preußen unter dem Scepter Sr. Majestät sicher der Größe entgegen gehe, die ihm von der Vorsehung bestimmt sei, so zielten diese Worte eben dorthin, wohin der Angriff der Opposition ging: auf die Loslösung seines Vaters von den reactionären Ministern. Liberale und nationale Tendenzen, patriotische, und nicht zum wenigsten dynastische Besorgnisse bestimmten Friedrich Wilhelm zu diesem Schritt, der in der Geschichte seines Hauses, in dieser Form wenigstens, unerhört war; er fürchtete, wie er seinem Vater schrieb, daß die Beschlüsse des Ministeriums, bei denen er gänzlich übergangen wäre, seine und seiner Kinder Zukunft gefährden würden. Auch Wilhelm hatten die Krisen des Staates als Prinzen von Preußen in schwere Conflicte mit dem Träger der Krone gebracht, von seiner absolutistischen Haltung in vormärzlicher Zeit bis zu der liberalen in den Jahren der Reaction; aber er hatte seinen Widerspruch stets in der Sphäre der regierenden Organe und in den Schranken des monarchischen Systems zur Geltung gebracht; in die Oeffentlichkeit war die Kunde davon immer nur abgeschwächt und gerüchtsweise gedrungen. Friedrich Wilhelm dagegen suchte die Fühlung mit der öffentlichen Meinung recht geflissentlich auf. Dahin war es gekommen: um die Rechte seines Sohnes zu schützen, hatte sich Wilhelm einst seinem Bruder widersetzt, als dieser die ersten zaghaften Schritte auf der Bahn einer nationalen und freiheitlichen Politik wagen wollte: und jetzt glaubte dieser Sohn selbst seine und seines Hauses Zukunft nur dadurch zu retten, daß er sich in den vollen Strom der deutschen Bewegung hineinwarf. Der König fühlte sich auf das tiefste getroffen; er vergaß fast, daß er vor neun Jahren in ähnlicher Lage gewesen, und wollte in dem Schritt des Thronerben nur die Auflehnung gegen seine Würde als Monarch wie als Kriegsherr sehen; er hatte nicht übel Lust, dem Kronprinzen, der mit den Demokraten in Bund getreten war, seine militärischen Aemter zu nehmen, ihn auf die Festung zu schicken, und drohte ihm wirklich, wenn er seine Aeußerungen nicht rectificire oder zurücknehme, und sich nicht zum Schweigen verpflichte, Abberufung nach Berlin, wo dann bestimmt werden würde, ob er seine Commandostelle behalten solle. B. [653] hatte sich niemals davor gescheut, den Kampf auch in das Königshaus hineinzutragen; er hatte ja bereits seinen Herrn von seinen Kindern und der Gemahlin, von seinen nächsten Angehörigen hinweggerissen. Aber an der Vertiefung, der Verewigung des Zwiespalts lag ihm nichts; es war ihm vielmehr erwünscht, den Widerspruch des Thronfolgers zu ignoriren und vor der Welt, so gut es ging, zu verbergen. Er ließ es sich, hier einmal in Uebereinstimmung mit seiner alten und gefährlichsten Feindin, der Königin Augusta, angelegen sein, den Groll des Königs zu besänftigen. Es geschah, er selbst hat es uns erzählt, hauptsächlich auf einer Fahrt von Babelsberg nach dem Neuen Palais am 10. Juni, wobei die Unterhaltung, wegen der Dienerschaft auf dem Bock, französisch geführt wurde. B. wies seinen erzürnten Herrn auf das classische Beispiel kronprinzlicher Fronde in der Geschichte des jüdischen Königshauses hin: „Verfahren Sie säuberlich mit dem Knaben Absalon! Vermeiden Ew. Majestät jeden Entschluß ab irato, nur die Staatsraison kann maßgebend sein!“ Und er erinnerte daran, daß in dem Conflict zwischen Friedrich Wilhelm I. und seinem Sohne dem Letzteren die Sympathie der Zeitgenossen und der Nachwelt gehöre, daß es nicht rathsam sei, den Kronprinzen zum Märtyrer zu machen. So stellte sich auch dieser persönlichste Conflict dem großen Minister unter dem ihn beherrschenden Gesichtspunkt dar; auch in ihm verlor er das Ziel aller seiner Kämpfe nicht aus den Augen: nicht auf die Vernichtung, sondern auf die Unterwerfung seiner Gegner, auf den Sieg, die Herrschaft kam es ihm an. Es gelang ihm, den König seiner Auffassung zugänglich zu machen. Am 11. Juni schrieb Wilhelm dem Sohne, der übrigens schon selbst nachgegeben, zwar nichts zurückgenommen und die Niederlegung seiner Stellung in der Armee und im Staatsministerium angeboten, aber doch für die Zukunft bereits Schweigen gelobt hatte, in dem Ton des verzeihenden Vaters. Er forderte nicht mehr das Dementi und gestattete ihm, auch ferner abweichende Meinungen persönlich gegen ihn auszusprechen. Eine weitere öffentliche Kundgebung jedoch untersagte er aufs strengste; er wiederholte, geschehe sie trotzdem, seine frühere Drohung. Hierauf wich Friedrich Wilhelm vollends zurück; er schwieg und setzte, als sei nichts geschehen, seine Dienstreise fort: zum Unwillen der eigenen Freunde, die gleich der öffentlichen Meinung darin mit Recht eine schwere Niederlage seiner selbst und der Partei erblickten: er könne, äußerte er, für den Moment nichts weiter thun und müsse still sitzen. Der Riß zwischen Vater und Sohn blieb bestehen und nahm im Herbst wieder schärfere Formen an; der Kronprinz blieb die Hoffnung der Liberalen, aber in die Oeffentlichkeit trat er nicht wieder heraus und hielt sich mit seiner Opposition innerhalb der Grenzen, die ihm die Staatsordnung und das Verhältniß zu seinem königlichen Vater auferlegten.

Als im Januar im Abgeordnetenhaus über eine Adresse an den König debattirt wurde, hatte B. den Satz des Entwurfs, daß das Land hinter der Majorität stehe, durch eine Zusammenrechnung der Wahlzettel zu bekämpfen gesucht. Er hatte darauf hingewiesen, daß überhaupt nur 27 oder höchsten Falls 34 Procent der Wähler an den Urnen erschienen wären, und daß die Majorität nicht mehr als 12 oder 15 Procent von der Gesammtheit der Wahlmänner hinter sich hätte; auch von diesen aber wäre es sehr fraglich, ob sie der Thätigkeit ihrer Abgeordneten mit voller Sachkunde folgen könnten, und sich klar wären, wohin dieselben sie und das Land führen würden; er hatte diesen damit das Recht, sich als Vertreter der wahren Volksmeinung zu geriren, abgesprochen. Betrachtungen, die er mehrfach angestellt hat und damals durch seine Organe breit treten ließ; sie erinnern uns an die Gespräche des Ministers mit Lassalle, der nicht lange danach Zutritt zu ihm [654] gewann: in der Verachtung der „Bourgeoisie“, wie das Schlagwort lautete, der Kreise, die das herrschende Wahlverfahren zu besonderer Geltung brachte, fanden sich beide Männer zusammen. Aber um Interessen, welche die Massen unmittelbar und von sich aus in Bewegung setzen, handelte es sich in den Kämpfen jener Jahre überhaupt nicht. Auf den Höhen der Nation waren die Ideen entsprungen, welche der Liberalismus zum Siege führen wollte; und wieviel sie auch in der kurzen Zeit ihres Laufes an ihrer urspünglichen Reinheit eingebüßt, wie sehr sie sich in den tieferen Regionen, die sie bereits in der zweiten Generation erreicht, mit gröberen, zum Theil recht banausischen Elementen belastet haben mochten, blieb ihnen doch der ihnen von Natur eingepflanzte Trieb, die idealen Kräfte der Nation zusammenzufassen, und war es noch immer die geistige Aristokratie, der Kreis der „Denkenden in der Nation“, B. selbst hat sie später so bezeichnet, unter denen sie ihre eigentliche Heimath und ihre besten Förderer besaßen. B. hatte vielleicht das Recht, die Kraft, die sie entwickelten, zu übersehen, das Recht wenigstens des Kämpfers. Er hatte ihre Ohnmacht oft genug erfahren, und war der Mann dazu, sie zu bestehen. Auch war es, von anderm abgesehen, seine Art, die Gegner zu unterschätzen; er pflegte sie nicht zu zählen. Uns aber ziemt es nicht, ihm darin zu folgen und die Stärke, die den Ideen, die er bekämpfte, inne wohnte, zu verachten; zumal da er selbst, auch auf der Höhe des Kampfes, sie niemals ganz außer Rechnung gesetzt und, sobald sie seine Basis nicht mehr verrückten, sie anerkannt, ja in den ihm genehmen Grenzen zur Herrschaft gebracht hat. Sie hatten in Wahrheit bereits ihre Kraft bewiesen. Ursprünglich das Eigenthum weniger Auserwählter, bei denen der Enthusiasmus größer gewesen war als die Ueberlegung, und der Wille zu siegen stärker als die Berechnung der entgegenwirkenden Kräfte, waren sie schon auf dem besten Wege, die Massen selbst zu ergreifen und zu der Höhe des Ideals zu erheben. Keine Landesgrenze, und nicht einmal die Schranken der Parteien hatten ihnen widerstanden. Jede Richtung war durch sie beeinflußt und gezwungen worden, so oder so sich mit ihnen abzufinden, die Reactionäre so gut wie die Gemäßigten, und die Regierenden nicht weniger als ihre Unterthanen. Sie spalteten die deutschen Staaten in allen Ständen, und in Preußen sogar das königliche Haus; in dem Thronfolger selbst, wir sahen es, hatten sie den Führer und den Erben aller ihrer Hoffnungen gefunden. Auch waren ihre Ziele wahrlich nicht so irreal und unpraktisch, unwerth des Schweißes der Edlen. Nicht bloß die Freiheit, sondern mehr fast die Einheit, die Macht der Nation strebten sie an. Sie wollten das starke Haus bauen, in der die Deutschen sicher wohnen, die Organe schaffen, in denen die ans Licht drängenden Kräfte sich sammeln und in die Welt hinausströmen konnten; sie wollten dem Vaterlande die Stellung sichern, auf die seine Geschichte es hinwies, und die wir erringen mußten, wenn wir uns unter den großen Nationen, die uns umgaben und die in dem Wettlauf zur Herrschaft über den Erdball uns schon so weit vorangekommen waren, behaupten wollten: der Genius der Nation war mit ihnen und seine Zukunft auf ihren Wegen.

Jetzt aber sagte sich der Staat, auf den die Wortführer Deutschlands ihre beste Hoffnung gesetzt, und dem sie die nationale Krone zugedacht hatten, von den Anschauungen los, denen er früher selbst gehuldigt hatte, und verleugnete, wie jene meinten, seine besten Traditionen und die eigensten Interessen: jeder geistige Zusammenhang zwischen dem officiellen Preußen und dem deutschen Volke, so klagten sie, sei zerrissen. So erklärt es sich, daß gerade die Gemäßigten unter den deutschen Liberalen, diejenigen, die mit allen Empfindungen an der protestantischen Vormacht des kleineren Deutschlands hingen, [655] im Vordertreffen gegen den gewaltthätigen Minister standen, der nichts als Preuße sein wollte, und daß sie im engen Bund mit der Demokratie und andern längst von ihnen überwundenen oder immer bekämpften Parteielementen erscheinen konnten. Es war der Zorn verschmähter Liebe, der aus ihnen sprach. Niemals hat Heinrich v. Treitschke bitterere Worte gefunden als in den Tagen, da die preußische Preßordonnanz das Bekenntnis zu dem Glauben an Deutschlands Macht und Freiheit abermals mit Strafe bedrohte. Er hat damals in dem Bunde der liberalen Parteien des Centrums mit der Demokratie den Kern der großen nationalen Zukunftspartei sehen wollen. Ihm schien die ganze Zukunft des Hauses Hohenzollern gefährdet, und seine lodernde Leidenschaft wollte schon in dem Verfassungsbruch, der Revolution von oben, wie er es nannte, und in der unheimlich finsteren Verbitterung, der Verzweiflung an dem Bestande jedes Rechts, die sich täglich wachsend der Gemüther bemächtige, die Vorboten einer allgemeinen Erschütterung, eines Umsturzes von unten auf erblicken. „Wir haben“, schreibt er, „sie ja selber redlich mitgekostet, die brennende Empfindung der Scham, wir von der preußischen Partei außerhalb Preußens, die wir unsere stolzesten deutschen Hoffnungen auf diesen Staat auch dann noch stützen werden, wenn ein Bismarck der Zehnte in Preußen regierte, die wir heute umhergehen gleich dem Schlafwandler, dem die gesunden Leute schwindelnd nachschauen auf seiner halsbrechenden Bahn.“

Der Frankfurter Fürstentag.

Dachten so die Freunde Preußens, so mag man daran ermessen, welche Gefühle seine Gegner bewegten. In den Cabinetten herrschte von Wien bis Kopenhagen ungehemmter Jubel. Die Last, unter der man all diese Jahre, seit der Regentschaft in Preußen, geseufzt hatte, war fortgenommen, und aller Orten konnte man hoffen, das in der neuen Aera verlorene Terrain wieder zu gewinnen und noch bessere Stellungen zu erwerben. Die Dänen gingen sofort und ganz ungescheut vor. Zur Zeit von Bernstorff’s Ministerium hätten sie schwerlich das Patent vom 30. März herausgebracht, durch das ihre Nationalisten das Band zwischen den Herzogthümern definitiv zerrissen, Schleswig bis zur Eider in die dänische Gesammtverfassung aufnahmen, Holstein aber der Krone und dem Reichsrath in Kopenhagen unterwarfen: das Stärkste, was der dänische Uebermuth dem deutschen Volk trotz allem seit Malmö geboten hatte; die reactionäre Wendung in Preußen und die Spannung, in die das Berliner Cabinet mit den Londoner Garantiemächten, England und Frankreich, gerathen war, gaben ihnen den Muth zu diesem Bruch der europäischen Verträge.

In entgegengesetzter Richtung nahmen die deutschen Höfe ihren Vortheil wahr; sie versuchten, was sie von jeher gethan hatten, sobald Preußen aus dem nationalen Kurse gewichen war: sie nahmen den Wind, den sein Minister verschmähte, in ihren Segeln auf und fuhren, obschon er stärker wehte als je zuvor, kecken Muthes, als könne ihnen nichts passiren, auf den nationalen Fluthen einher. Vor andern Freiherr v. Beust bewährte auf diesen Gewässern seine Steuerkunst. Daß er einst mit reactionärer Brise gerade so munter gesegelt war, schien der Vielgewandte ganz vergessen zu haben. Seine Organe prangten mit liberalen Leitartikeln und schwelgten in nationalen Hochgefühlen. Während in Berlin den Erinnerungsfeiern an die Erhebung [656] von 1813, die überall in Deutschland festlich begangen wurden, von oben her recht geflissentlich ein preußischer und militärischer Charakter aufgeprägt wurde, ließ man es in Dresden geschehen, daß der Gedenktag der Leipziger Völkerschlacht, so wenig er zu den glorreicheren Erinnerungen der eigenen Geschichte gehörte, zu einer großen nationalen Demonstration benutzt wurde, und duldete es, daß der junge Heißsporn unter den sächsischen Preußenfreunden, Heinrich v. Treitschke jene Festrede hielt, die als ein Dithyrambus auf die hohen Namen Freiheit und Vaterland in ganz Deutschland brausenden Widerhall erweckte. Auch in Hannover waren die schlimmen Zeiten des Grafen Borries überwunden, und erhob sich unter der glänzenden Führung Bennigsen’s und Miquel’s der nationalgesinnte Liberalismus zu immer höherer Zuversicht. In Braunschweig votirte die Kammer der preußischen Opposition ihren Dank im Namen der gemeinsamen Ziele. Wo, wie in Mecklenburg und Hessen-Darmstadt, in Anhalt und Lippe-Detmold die Reaction am Ruder saß, sah sie sich durch liberale Resolutionen und Proteste ihrer Stände und Bürgerschaften bedrängt, welche die Herstellung liberaler Verfassungen verlangten. In den größeren Staaten aber, in Sachsen, Württemberg, Baiern und zumal in Baden unter Roggenbach’s fortschrittlicher Verwaltung waren Stände und Regierungen in schöner Harmonie; selbst in Kurhessen wurde mit gesetzmäßigem Budget regiert. Schon geriethen südlich vom Main auch die Positionen ins Wanken, die Preußen auf dem wirtschaftlichen Felde erobert hatte: die bairische Kammer, in der die Großdeutschen herrschten, faßte in der Frage vom Zollverein Beschlüsse, welche fast auf seine Auflösung und einen süddeutschen Sonderbund mit Anschluß an Oesterreich hinauskamen.

Das Alles war reiches Wasser auf die Mühlen an der Donau. Auch dort hatte der Liberalismus längst Boden und die Anerkennung der regierenden Kreise gefunden. Oesterreich schwamm, wie der ausgezeichnete Kenner seiner jüngsten Geschichte, Anton Springer, damals schrieb, im Wonnemond. Im Juni trat in Wien der zweite Reichstag seit dem Februarpatent von 1861, durch das auch dort eine liberale Aera eingeführt war, zusammen. In ihm erlebte die Regierung glänzende Triumphe. Die deutsch-liberale Majorität erleichterte ihr alle inneren Schwierigkeiten und spendete ihrer auswärtigen Politik lauten Beifall. Die slavischen Elemente dagegen traten in der Centralversammlung wie in den Einzellandtagen in den Schatten; Siebenbürgen war für die Februarverfassung bereits gewonnen, Kroatien versprach bald zu folgen, im Nordungarn hoffte man auf günstige Wahlerfolge; der Augenblick schien nahe, wo die Magyaren um den Eintritt in die Gesammtverfassung betteln würden, den sie bisher hochmüthig abgewiesen, und das große Problem, das dem liberalen Oesterreich gestellt war, die Freiheit der Theile mit der Einheit des Ganzen zu versöhnen, schien kaum noch ins Reich Utopien zu gehören. Wenigstens seiner deutschen Unterthanen war das Haus Habsburg niemals sicherer gewesen, seitdem das Metternich’sche System zusammengebrochen war. Gerade die deutsche Frage, der Wettstreit mit der norddeutschen Großmacht um die Herrschaft im Reiche fesselte die Deutsch-Oesterreicher an ihr Herrscherhaus. Denn weit mehr noch als der absolute Staat war der deutsch-österreichische Liberalismus darauf angewiesen, die Anlehnung an die Deutschen im Reich zu suchen, wenn er die Aufgabe, in der jener gescheitert war, lösen wollte, mit den deutschen Elementen das Völkergemisch Oesterreichs zu regieren; nur mit Deutschland im Rücken konnte er hoffen, die Vorherrschaft im eigenen Reiche zu behaupten. Es war die über dem Reiche der Habsburger seit seinem Gründer waltende Nothwendigkeit, der eingeborene Gegensatz gegen das kleinere Deutschland und seine Großmacht, dem auch das liberal gewordene Oesterreich [657] unterlag. „Es weht“, so schildert Springer die Stimmung im Donaureich, „durch alle Schichten, besonders Deutschösterreichs – und das möge sich Norddeutschland merken – ein gründlicher, tiefer Haß gegen Preußen, der jedem feindseligen Schritte gegen die übermüthigen Emporkömmlinge in der Brandenburgischen Wüste zujauchzen würde“. Auf diesem Grunde stand vor Andern der leitende Minister, Freiherr[1] Anton v. Schmerling, der darin nur die Politik wieder aufnahm, die er als Reichsminister[1] in Frankfurt durchgeführt hatte. Der Echec, den er damals erlitten, stimmte ihn nur um so aggressiver: voll persönlicher Leidenschaft und ehrgeiziger Hoffnung nahm er den Kampf auf. Wohl fehlte es nicht an Gegnern und Gegenströmungen im eigenen Staate. Doch kamen sie nicht so sehr von der eigentlich ultramontanen Seite. Denn das Interesse der allgemeinen Kirche wurde noch nicht verletzt, ja es lief zum Teil noch in derselben Richtung; wie ja auch in der preußischen Opposition clericale und liberale Elemente vereinigt waren. Auch hüteten sich Schmerling und seine Freunde wohl, diese Kreise zu reizen; an dem Concordate zu rütteln, fiel ihrem Freisinn nicht ein, während sie es zuließen oder selbst dabei mitwirkten, daß ein clericaler Abgeordneter im Reichsrath offen den Kreuzzug gegen den norddeutschen Ketzerstaat predigte und der Regierung Muth zusprach, aus der Lage, in welche Preußen „verdienter Weise“ gekommen sei, politisches Capital zu schlagen. Immerhin war man auch im ultramontanen Lager nicht ohne Bedenken über eine Politik, die das nationale Moment so stark betonte und so viele auflösende Elemente in sich trug. Viel mehr aber war es doch die österreichische Kirche, die in ihrer Verbindung mit der hohen Aristokratie des Landes den Heerd der Opposition gegen das herrschende System abgab; es waren die altconservativen Kreise Oesterreichs, welche die Anlehnung an Rußland und Preußen immer noch lieber wünschten als an die Westmächte, wenigstens nicht den vollen Bruch mit den Ueberlieferungen der heiligen Allianz herbeiführen mochten, und eine allgemeine Infection des Staates durch die revolutionären Tendenzen befürchteten, mit denen der liberale Minister sich nothwendiger Weise alliiren mußte.

Zunächst aber war Schmerling im Vortheil, obgleich die conservativen Interessen, die auch in der Armee überwogen, in dem Minister des Auswärtigen, Grafen Rechberg, einen auch bei dem Kaiser mächtigen Fürsprecher besaßen. Zumal, da gerade die auswärtige Politik, die im Moment ungemeine günstige europäische Constellation das Beharren in den liberalen Wegen anzurathen schien. Seitdem Zar Nicolaus Oesterreich in der ungarischen Rebellion gerettet hatte, war nach fast allgemeinem Urtheil der Staat niemals in so guter Lage gewesen. In der polnischen Frage, die sich für Oesterreich im März, als die Rebellion nach Galizien hinüberzuschlagen drohte, recht ungünstig zugespitzt, hatten seitdem die Westmächte eine Richtung eingeschlagen, die sich eng an die österreichischen Interessen anschmiegte: die „Sechs Punkte“, welche Ende Juni von den drei Mächten gemeinsam dem russischen Cabinet vorgelegt wurden, schienen mit ihrer Forderung einer weitgehenden Autonomie in Staat und Kirche Polens, im Sinne der Verträge von 1815, die conservativen und die liberalen Neigungen, die sich in dem Wiener Cabinet kreuzten, sehr glücklich zu combiniren und das Gleichgewicht zwischen den Mächten erhalten zu können, dessen die österreichische Politik, gerade wenn sie ihre deutschen Ansprüche durchsetzen wollte, so dringend bedurfte. Es war ein Moment, wie er sich seit Olmütz nicht wieder dargeboten hatte, um den Angriff auf Preußen zu erneuern. Von allen Seiten drängten sich die Bundesgenossen herbei. Schon hielten es nicht bloß die deutschen Mittelstaaten, sondern auch die meisten der kleinen Höfe, die sich in der Union um Preußen [658] geschaart hatten, mit dem Kaiser; im Juni erschien der Stern der liberalen Partei unter den deutschen Fürsten, Ernst von Coburg und Gotha, in Wien, um mit Oesterreich die Unionspolitik zu machen, für die sich ihm Preußen soeben erst schroff versagt hatte. Daß in der Nation selbst die Großdeutschen, ob liberal oder clerical gestempelt, sämmtlich in Habsburgs Lager waren, braucht keiner Worte; aber auch die Reihen der kleindeutschen Partei fühlten sich durch die furchtbare Spannung erschüttert, und wenn sie nicht für Oesterreich streiten wollten, standen sie doch rathlos einer Lage gegenüber, bei der sie alle ihre Ideale in die Hände ihrer Gegner, den Staat ihrer Wahl aber der finstersten Reaction verfallen sahen.

So entschloß sich Franz Joseph, die Gunst des Augenblicks auszunutzen und die große Action ins Werk zu setzen, zu der ihn sein ungestümer Minister drängte. Ein alter Radicaler, Julius Fröbel, derselbe, der einst in der Wiener Revolution kaum den Kugeln auf dem Sandhaufen entgangen war, die seinen Parteigenossen Robert Blum zu Boden rissen, mußte im Verein mit ein paar Convertiten aus dem „Reich“ an dem Projecte arbeiten, das die Legitimität mit der Freiheit, die Ansprüche Oesterreichs mit den Forderungen des nationalen Staates versöhnen und ohne Kampf, in friedlicher Vereinigung, auf einem Fürstencongreß in der Stadt des Bundestages und der Kaiserkrönungen und unter dem Vorsitz des Erben der letzten Kaiserdynastie, das neue Deutschland begründen sollte.

Niemand sah der neuen, so stürmisch andrängenden Gefahr gleichmüthiger entgegen als der, den sie in erster Linie bedrohte. Bismarck hatte lange genug zu Frankfurt in der Brandung gestanden, um nicht zu wissen, daß man ihren Anprall am besten mit dem Rücken parire. Immer noch, so oft er die Kehrtwendung gemacht, noch zuletzt im Januar, war der Anlauf der Gegner ins Stocken gerathen und Verwirrung und Uneinigkeit in ihren Reihen ausgebrochen. Er war sofort entschlossen, auch diesmal die so einfache Wendung zu wiederholen, und dem König nichts weiter anzurathen als eben sich abzukehren, sich, wie der Lieblingsausdruck des General Gerlach für solche Manöver gewesen war, zu „effaciren“ und es sodann den Bundesfreunden zu überlassen, wie sie unter sich mit dem Neubau Deutschlands fertig würden. „Ich betrachte“, schrieb er an Herrn v. Sydow, „das österreichische Reformproject als eine Schaumwelle, mit welcher Schmerling mehr noch ein Manöver der inneren österreichischen Politik als einen Schachzug antipreußischer Diplomatie beabsichtigt. Er arrangirt dem Kaiser eine glänzende Geburtstagsfeier mit weißgekleideten Fürsten und fingirt ihm Erfolge der constitutionellen Aera Oesterreichs. Von dem Dampf der Phrasen entkleidet ist des Pudels Kern ein so dürftiger, daß man dem Volke lieber nicht praktisch vordemonstriren sollte, wie nicht einmal das zu Stande kommt … Einen Einfluß auf die Verhandlungen zu erhalten, empfiehlt sich jetzt noch nicht; wir müssen die Weisheit der Reformen sich erst ungestört offenbaren lassen.“

Der Kampf mit Gegnern, die er vor Augen hatte, erschreckte B. nicht; diese Aussicht hatte ihm von jeher nur den stolzen Muth erhöht, und die Hoffnung zu siegen. Wenn ihn im Augenblick doch vielleicht eine Sorge beschlich, so kam sie aus anderer Richtung, aus nächster Nähe, von Seiten des eigenen Monarchen. Wilhelm hatte bei dem letzten Versuch Oesterreichs, es Preußen am Bundestage abzugewinnen, an seinem Minister festgehalten. Denn damals hatten die Gegner das Recht des Bundes beugen wollen, und er hatte sich in seinem legitimen Empfinden, in seiner Würde als Monarch und als Preuße beleidigt gefühlt; der Zwist am Bundestage konnte ihm fast in demselben Lichte erscheinen wie der Kampf mit den Abgeordneten und mit seinem Sohne. Aber [659] von einer Vergewaltigung war bei dem neuen Versuch keine Rede; höchstens von einer Ueberrumpelung, bei der aber alle Formen des Rechts und selbst der Höflichkeit gewahrt waren. Der Kaiser selbst kam am 2. August nach Gastein, wohin König Wilhelm mit seinem Minister zur Nachcur von Karlsbad gegangen war; auf seinem eigenen Grund und Boden, als Hausherr gleichsam trat Franz Joseph dem Bundesfreunde entgegen. Sachlich bedeutete der Plan allerdings kaum etwas anderes als der Antrag am Bundestage vom December und Januar und ähnliche Entwürfe der Wiener Politik aus früheren Jahren; nur der Vorschlag, periodische Fürstencongresse zu veranstalten, die als eine Art Oberhaus zu einem Delegirtenparlament, natürlich unter Vorsitz des Kaisers, tagen sollten, enthielt ein wesentlich neues Moment; auf die Benutzung der Majorität am Bunde zur Vergewaltigung Preußens kam, wie früher, Alles hinaus. Aber der Kaiser forderte nichts, sondern bot an und lud ein, in Besprechungen, die zunächst ohne Zuziehung der Minister, von Fürst zu Fürst und in den verbindlichsten Formen geführt wurden. In der in Wien ausgearbeiteten Denkschrift war ausdrücklich betont, daß es ohne Preußens bundesfreundliche Mitwirkung für die Aufgabe der Reorganisation des Bundes keinen definitiven Abschluß gebe, daß Preußens Wille die Reform der Gesammtverfassung Deutschlands factisch und rechtlich verhindern könne. Auch in Beziehung auf Polen suchte der Kaiser zu beruhigen: er denke nicht an einen bewaffneten Angriff auf Rußland, und freue sich, daß auch England den festen Willen habe, nur diplomatische Mittel zur Unterstützung Polens zu verwenden. Freilich ward in dem Antrage der Bitte die Mahnung an Preußen hinzugefügt, der Pflichten gegen Deutschland eingedenk zu bleiben. Denn die Bundesverträge seien in ihrem Fundamente erschüttert und unfähig, den nationalen Neubau zu ertragen; der bloße Wunsch, daß die morschen Wände den nächsten Sturm noch aushalten möchten, könne ihnen die dazu nöthige Festigkeit nimmermehr zurückgeben; lehne Preußen ab, benütze es die verneinende Kraft seines Veto, so könne sich der Bund in seiner Gesammtheit nicht aus seinem gegenwärtigen tiefen Verfalle erheben. So ward dem König die Verantwortung für alle innern und äußern Gefahren des gemeinsamen Vaterlandes zugeschoben. Auch betonte das Promemoria, und ebenso der Kaiser, daß Oesterreich seiner Pflicht auch ohne Preußens Beistand eingedenk bleiben werde; denn die Dinge seien in Deutschland so weit gediehen, daß ein absoluter Stillstand der Reformbewegung nicht mehr möglich sei, und die Regierungen, welche dies erkennten, würden sich zuletzt gezwungen sehen, die Hand an ein Werk der Not zu legen, indem sie sich zur partiellen Ausführung der beabsichtigten Bundesreform im Bereiche der eigenen Staaten entschließen, und zu diesem Zwecke unter Wahrung des Bundesverhältnisses ihrem freien Bündnißrechte die möglichst ausgedehnte Anwendung geben würden. Das war der Weg, den Preußen in der Union gegangen war, und zu dem B. selbst seinem König als einem nächsten Ausweg gerathen hatte. Und so war es überhaupt Preußens alte Stellung, welche Oesterreich jetzt occupirte. Zu seinen ruhmvollsten Erinnerungen rechnete König Wilhelm den Tag in Baden-Baden im Juni 1860, als er dem Kaiser Napoleon, von den deutschen Fürsten umgeben, aber ohne den Kaiser von Oesterreich, im Namen des legitimen und des nationalen Deutschland entgegengetreten war. Sollte er jetzt zugeben, daß Franz Joseph in Frankfurt diese Stellung einnehme, während er selbst schmollend bei Seite stand? Es war die Verleugnung seiner eigensten Politik, was ihm B. zumuthete. Zum ersten Mal sollte er vor aller Welt eingestehen, daß er auch die auswärtige Politik seines Ministers, um derentwillen er ihn so lange von sich fern gehalten, zu der seinigen gemacht habe, und ausdrücklich sich zu dem [660] Pacte bekennen, den er im Park zu Babelsberg stillschweigend eingegangen war. Kein Zweifel, daß Wilhelm schon in Gastein schwere Bedenken gehabt hat. Dennoch gelang es B., seinen königlichen Herrn festzuhalten. Bei den maßgebenden Besprechungen, die erst am 3. August stattfanden, gab Wilhelm eine Antwort, die fast einer Absage gleich kam. Zwar stimmte er der Nothwendigkeit einer Bundesreform ohne weiteres zu, aber den Plan eines Fürstencongresses erklärte er, zumal bei einem so frühen Termin, für bedenklich: eine Ministerconferenz, deren Beschlüsse durch eine Fürstenversammlung sanctionirt werden könnten, sei vorzuziehen – womit der Kernpunkt der österreichischen Vorschläge eludirt und alles auf die lange Bank geschoben war. Den Gedanken eines Delegirtenparlaments mit bloß berathender Stimme verwarf der König, und zwar vom conservativen Standpunkt aus: die Delegationen würden sogleich weitere Attributionen begehren, so daß von Anfang an die Uebereinstimmung gestört wäre. Wenn er aber meinte, daß vermittelst eines conservativen Wahlgesetzes von directer Volkswahl günstigere Resultate zu hoffen seien, so war das gewiß keine Politik, die im Sinne Oesterreichs als eine erhaltende gelten konnte: es war der Erisapfel des nationalen Parlaments, den Wilhelm damit hervorholte, und er befand sich damit im vollen Widerspruch zu der bestimmten Erklärung der Oesterreicher, niemals in eine einheitliche Spitze oder ein aus directen Volkswahlen hervorgehendes Parlament einwilligen zu wollen. „Denn“, wie es in ihrer Denkschrift heißt, „solche Einrichtungen passen nicht für diesen Verein, sie widerstreben seiner Natur, und wer sie verlangt, will nur dem Namen nach den Bund, oder das, was man den Bundesstaat genannt hat, in Wahrheit will er das allmähliche Erlöschen der Lebenskraft der Einzelstaaten, er will einen Zustand des Uebergangs zu einer künftigen Unification, er will die Spaltung Deutschlands, ohne welche der Uebergang sich nicht vollziehen kann. Solche Einrichtungen kann Oesterreich nicht vorschlagen.“ In beiden Punkten, und ebenso in dem dritten, der Ablehnung des Bundesdirectoriums zu Fünfen, erkennen wir klar den Einfluß Bismarck’s; Wilhelm kann gar nicht in die entscheidende Berathung mit seinem kaiserlichen Freunde eingetreten sein, ohne daß er sich vorher von seinem Minister hat instruiren lassen. Die Oesterreicher ließen sich jedoch nicht zurückhalten; noch am 3. Abends überbrachte ein kaiserlicher Flügeladjutant die officielle Einladung, die schon vom 31. Juli datirt war und auf den 16. August lautete, obwohl der König beim Abschied ausdrücklich verlangt hatte, daß vor dem 1. October jedenfalls nichts aus der Sache werden dürfe. Umgehend, schon am 4. August, erfolgte die Ablehnung. Statt des Fürstencongresses wurde darin die Ministerialconferenz vorgeschlagen. Der Gegenvorschlag mit dem Parlament aus der directen Volkswahl unterblieb, wie auch jede weitere Kritik des österreichischen Planes; dagegen wurde das conservative Moment stark hervorgehoben: die Sorge, das bestehende Maß der Einigung durch das Streben nach einem festen Bande zu gefährden, das Gute, das man besitze, dem Streben nach Besserem ohne Sicherheit des Erfolges zu opfern. Neben dem Schreiben ging ein Telegramm des Königs ab, und vielleichts auch noch ein zweiter Brief an den Kaiser, worin Wilhelm die Ablehnung durch die Rücksicht auf die dadurch nöthige Curunterbrechung noch besonders motivirt haben mag. Als trotzdem am 7. August eine neue Botschaft von dem Kaiser einlief, die den Vorschlag, sich durch einen Prinzen vertreten zu lassen, enthielt, lehnte der König abermals mit eigenhändigem Schreiben und noch am selben Tage ab. Der Kronprinz, dem der König geschrieben hatte, daß er ihn zu sehen wünsche, fast als sollte er ihm gegen B. beistehen, der aber erst jetzt telegraphisch berufen wurde, konnte [661] unter diesen Umständen nichts mehr ausrichten; schon am 13. August reiste er in sehr bedrückter Stimmung wieder nach Thüringen zu seinen Coburger Freunden zurück.

Sehr viel schwieriger gestaltete sich für B. die Lage, als gleich nach Beendigung der Verhandlungen in Gastein das königliche Hoflager nach Baden-Baden verlegt wurde. Wohl nicht ohne politische Nebenabsicht war Wilhelm in diesem Jahr in die österreichischen Bäder gegangen, die er noch niemals aufgesucht hatte, statt, wie er gewohnt war, in den Westen; in den liberalen Kreisen hatte man sogleich gemuthmaßt, daß der Minister ihn absichtlich von dem Verwandtenkreise in Baden fern halten wolle. Jetzt aber zog es den König dorthin, und der Wunsch, dem Centrum der gegnerischen Umtriebe in Frankfurt näher zu kommen, konnte die Reise ja auch politisch rechtfertigen; B. mußte ihn gewähren lassen und ihm ins Lager seiner Gegner folgen. Schon unterwegs, in München, bei der Königin Marie, dann in Wildbad bei der Königin Elisabeth, hatte er Gegenwirkungen auf den König zu bekämpfen. Der letzteren gegenüber, seiner alten Freundin, die persönlich in ihn drang, nach Frankfurt zu gehen, genügte seine Erklärung, daß er es, wenn der König darauf beharre, zwar thun, dann aber nicht mehr als Minister nach Berlin zurückkehren werde; sie hörte sofort auf, seiner Auffassung bei ihrem Schwager zu widersprechen. Bei den badischen Herrschaften aber hätte dies Argument nur die entgegengesetzte Wirkung ausgeübt. Denn diese wollten den König von seinem reactionären Minister gerade losreißen; sie folgten nicht, wie die beiden Königinnen, conservativen oder großdeutschen Neigungen, sondern wünschten, daß der preußische Monarch im Sinne der Union sich an die Spitze der Opposition stelle, die der Großherzog und seine paar kleindeutschen Freunde allein nicht aufrecht erhalten konnten. Und nun kam nach Baden aus dem Schoße der Fürstenversammlung selbst, im Namen des ganzen legitimen Deutschlands, die Einladung, die Wilhelm dem Kaiser soeben abgeschlagen hatte; sein alter, würdiger Freund, König Johann von Sachsen selbst überbrachte sie: „dreißig regierende Herrn und ein König als Courier“, rief Wilhelm aus: „wie kann man da ablehnen?“ Da kam es zu jener Scene leidenschaftlichster Aufwallung, von der B. später so oft erzählt hat, zu dem ersten schweren Ringen zwischen dem König und seinem Minister; erst um Mitternacht gelang es diesem, seinem Herrn die Unterschrift zu entreißen, durch die Wilhelm sich von der Haltung lossagte, zu der er sich drei Jahre zuvor an demselben Orte bekannt hatte. Aber nachdem er sich B. einmal ergeben hatte, konnte er nicht mehr zurück: der Gang nach Frankfurt hätte in der That das Ende der Politik bedeutet, auf die er sich am 22. September verpflichtet hatte. Und B. hat sicherlich dem König gegenüber kein Hehl daraus gemacht, daß es sich um die Wahl zwischen ihm und seinen Gegnern handele: die innere Politik, der Kampf zwischen Krone und Parlament hat ohne Frage am allerstärksten dazu mitgewirkt, daß sich Wilhelm seinem Minister unterwarf. Hierauf gingen die Dinge in Frankfurt genau so, wie B. sie vorausgesehen und berechnet hatte. Zwar die Mittelstaaten unter Führung Sachsens und Baierns hielten in allen Hauptfragen fest an Oesterreich und die Opposition blieb ohnmächtig: der Beschluß, den Bund für die Vertheidigung außerdeutscher Provinzen seiner Mitglieder, wenigstens mit zwei Drittel Mehrheit, zu verpflichten, eröffnete dem Kaiser die Aussicht, die deutschen Streitkräfte für Venetien oder auch im Orient verwenden zu können; Bundesgericht und ein Delegirtenparlament, dem man in Wien nachträglich, als Gegenmittel gegen das Nationalparlament, noch beschließende Gewalt in der Gesetzgebung beigelegt hatte, dazu das Präsidium Oesterreichs in Bundesrath und Directorium [662] wurden angenommen. Auch ein zweites Collectivschreiben an Preußen, in dem es zum Eintritt unter Beifügung des Verfassungsentwurfes aufgefordert wurde, fand die Billigung der hohen Versammlung. Aber Alles wurde dadurch in Frage gestellt, daß die Majorität, von der sich nur sechs kleine Staaten unter Badens Führung ausschlossen, doch nur so lange verpflichtet sein wollte, bis die nicht vertretenen Bundesglieder den Entwurf entweder definitiv abgelehnt oder ihre Gegenvorschläge eröffnet hätten, und daß die Versammlung gegen den Wunsch Oesterreichs protestirte, im Falle der Verneinung den engeren Bund auf Grund des § 11 der Bundesverfassung zu schließen; um jeden Zweifel zu beseitigen, daß man auch unter Oesterreichs Fahne keine Unionspolitik treiben werde, wurde vielmehr ausdrücklich ausgesprochen, daß die Absicht auf Erlangung der Stimmeneinhelligkeit aller Bundesglieder, nicht aber auf Herbeiführung eines engeren Bündnisses gehe.

Schon waren die Preußen wieder in Berlin; der König war an Frankfurt vorübergefahren, während noch die Bundesfreunde dort tagten. Jetzt, im Besitz des Anschreibens und der Beschlüsse, bereitete B. seinen Gegenschlag vor. Vom 15. September datirt der von dem ganzen Staatsministerium unterzeichnete Bericht an den König, worin die Antwort auf die Anträge des Fürstentages gegeben war; ein paar Tage darauf ward er an die deutschen Höfe gesandt und in den Zeitungen veröffentlicht. Wir kennen bereits seinen wesentlichen Inhalt; in der Denkschrift von 1861 sind wieder alle Hauptsätze enthalten. Kernpunkt ist hier wie dort der Zwiespalt zwischen Preußens Stellung als Großmacht und einer Verfassung Deutschlands, die eine Centralgewalt herstellen will, der jeder Bundesstaat, ob groß oder klein, sich zu unterwerfen habe. Nur einer Gemeinschaft, die volle Selbständigkeit gewährleistet, kann Preußen angehören. In dem alten Bunde war dies, so lange wenigstens die Elemente der Rivalität und revolutionärer Zerrüttung fern blieben, möglich, weil es seine oberste Bestimmung war, die Unabhängigkeit seiner Mitglieder zu erhalten. Die Reformacte dagegen will durch den Mechanismus einer Mehrheitsabstimmung die Bundesglieder der Gesammtpolitik des Bundes unterwerfen, die sein Centralorgan bestimmen soll. Eine Lösung des Problems, die in der Theorie leicht, in der Praxis aber undurchführbar sei. Denn sie vernichte die Souveränität, sie schaffe Situationen, denen sich ein Großstaat der Natur der Dinge nach, um seiner eigenen Existenz willen, nicht unterwerfen könne; jeder Versuch, eine große politische Maßregel gegen seinen Willen durchzusetzen, werde nur sofort die Macht der realen Verhältnisse und Gegensätze zur Wirksamkeit hervorrufen; es wäre eine verhängnißvolle Selbsttäuschung, wenn Preußen sich zu Gunsten einer scheinbaren Einheit Beschränkungen seiner Selbstbestimmung auflegen wollte, welche es im gegebenen Falle thatsächlich zu ertragen nicht im Stande wäre; nur im Besitz des Veto und der vollen Parität mit Oesterreich würde Preußen einem Bunde mit so erweiterter Competenz angehören können. Auch dann aber, so fährt die Denkschrift, an der wir wieder die Geschlossenheit der Gedankenführung bewundern, fort, würde die Aufgabe einer Vermittlung der divergirenden dynastischen Tendenzen nicht gelöst sein. Das Element, welches berufen sei, die Sonderinteressen der einzelnen Staaten im Interesse der Gesammtheit Deutschlands zur Einheit zu vermitteln, werde wesentlich nur in der Vertretung der deutschen Nation gefunden werden können. Nicht aber in der Form, die in dem Frankfurter Projecte beliebt sei, einer Versammlung von Bundesabgeordneten, welche durch ihren Ursprung auf die Vertretung von Particularinteressen, nicht von deutschen Interessen hingewiesen sei, und dadurch, wie durch die Beschränktheit ihrer Befugnisse, jede Bürgschaft dafür vermissen lasse, [663] daß in der beabsichtigten neuen Organisation des Bundes die wahren Bedürfnisse und Interessen der deutschen Nation, und nicht particularistische Bestrebungen zur Geltung kommen werden: „Diese Bürgschaft kann Eurer Majestät Staatsministerium nur in einer wahren, aus directer Betheiligung der ganzen Nation hervorgehenden Nationalvertretung finden. Nur eine solche Vertretung wird für Preußen die Sicherheit gewähren, daß es nichts zu opfern hat, was nicht dem ganzen Deutschland zu Gute komme. Kein noch so künstlich ausgedachter Organismus von Bundesbehörden kann das Spiel und Widerspiel dynastischer und particularistischer Interessen ausschließen, welches sein Gegengewicht und sein Correctiv in der Nationalvertretung finden muß. In einer Versammlung, die aus dem ganzen Deutschland nach dem Maßstab der Bevölkerung durch directe Wahlen hervorgeht, wird der Schwerpunkt, so wenig wie außer Deutschland, so auch nie in einen einzelnen, von dem Ganzen sich innerlich loslösenden Theil fallen; darum kann Preußen mit Vertrauen in sie eintreten. Die Interessen und Bedürfnisse des preußischen Volkes sind wesentlich und unzertrennlich identisch mit denen des deutschen Volkes; wo dies Element zu seiner wahren Bedeutung und Geltung kommt, wird Preußen niemals befürchten dürfen, in eine seinen eigenen Interessen widerstrebende Politik hineingezogen zu werden.“

So trat B. mit dem Programm, das er vor zwei Jahren dem König in Baden entwickelt hatte, abermals, und offener noch als im Januar, vor das Angesicht der Nation. Daß in einer Verfassung, in der der Wille der Nation, ihr Wille zur Macht zur Geltung kommen sollte, für Oesterreich kein Raum mehr war, daß damit der Keil in den Bund hineingeschoben wurde, der ihn auseinandertreiben mußte, und daß nur das Eisen den Neubau schaffen und sichern konnte, wußte der Minister, auch ohne daß er es in Gastein von dem Habsburger ausdrücklich vernommen hatte. Jedes Wort in diesen kraftathmenden Sätzen glich einer Schwertspitze, die auf die Brust des Rivalen gerichtet war. Dennoch fehlt in ihnen, wie in dem ganzen Bericht, gerade wie in der Denkschrift von 1861, jede Andeutung an Krieg und jedes unmittelbar drohende Wort. Ja, abgesehen von jenem Abschnitt über den Reichstag und der Forderung der Parität war das Memoire so gehalten, als ob es zugleich im Interesse Oesterreichs geschrieben sei; alle Einwürfe gegen das Frankfurter Project wurden im Namen beider Großmächte erhoben, und das Veto ebensogut für Oesterreich wie für Preußen gefordert: als ob man in Berlin ohne Ahnung davon sei, daß die Reformacte die deutschen Kräfte nur eben den Interessen Habsburgs unterwerfen wolle. Auch war über die Attributionen, die Preußen der Nationalvertretung bewilligen wollte, noch nichts gesagt; nur daß sie größer sein müßten als die untergeordneten und dennoch vagen und unbestimmten Befugnisse des in Frankfurt vorgesehenen Delegirtenhauses; nichts davon, daß Preußen sonst etwa auf ein Sonderbündniß bedacht sein, oder daß der König irgend welche Anträge dahin stellen werde. Im Gegentheil, wie es schon in Gastein geschehen, nicht ohne tadelnden Seitenblick auf das entgegengesetzte Verfahren der Oesterreicher, ward die conservative Tendenz hervorgekehrt: es sei nicht wohlgethan, das vorhandene Maß des Guten zu unterschätzen und bestehende Institutionen zu erschüttern, ehe daß Bessere mit Sicherheit in Aussicht stehe. Formell ward nicht einmal die Ablehnung der Frankfurter Anträge ausgesprochen, sondern nur wieder, wie in Gastein und Baden-Baden, eine Ministerconferenz vorgeschlagen, deren Beschlüsse ja die Souveräne entweder einer Nationalvertretung oder auch der verfassungsmäßigen Einwilligung der Einzellandtage unterbreiten könnten. Das war also der Weg, der vor dreizehn Jahren in Dresden versucht und gleich [664] damals so völlig gescheitert war. Daneben aber wird in dem Bericht noch in eine andere Richtung hingewiesen, deren Einhaltung alle für Oesterreich bedrohlichen Reformen des Bundes, wie freilich auch die ihm günstigen, unnöthig zu machen versprach, und in der wir fast das Hauptziel, das B. sich in diesem Augenblick gesteckt hatte, erkennen möchten: das war der Weg der Verständigung beider Großmächte auf dem Boden der vollen Parität. Daß Oesterreich ihn nicht aufgesucht, ist der Vorwurf, der ihm in dem Berichte gemacht wird: im Rückblick auf den Ursprung des Fürstentages hält B. dem Wiener Cabinet darin vor, daß es von Anfang an nichts anderes beabsichtigt habe als Preußen zu isoliren und ein Sonderbündniß zu schließen. Jetzt, da dieser Versuch gescheitert ist, streckt er dem Rivalen die Hand entgegen: auf der Basis ihrer großmächtlichen Stellung mögen Preußen und Oesterreich gemeinsam über Deutschland herrschen: nur mit dem Einverständnisse der beiden Großmächte dürfe der Bund in die Beziehungen der europäischen Politik eingreifen: nicht auf der gezwungenen, oder geforderten und doch nicht zu erzwingenden Unterordnung der einen Macht unter die andere, sondern auf ihrer Einigkeit beruhe die Kraft und die Sicherheit Deutschlands.

Daß hieß ja nun freilich für die Wiener Staatskunst den Wagen völlig herumwerfen, die Bundesgenossen, die man soeben noch triumphirend um sich gesammelt, verlassen, aus dem vollen Strom des nationalen Enthusiasmus herauslenken und vor der Welt erklären, daß Alles nur ein holdes Spiel der Einbildungskraft, eine Fata Morgana, ein glänzendes Feuerwerk gewesen sei. Aber ein drittes gab es nun einmal diesem Gegner gegenüber nicht. Es war die Alternative, die B. bisher noch allen seinen Rivalen, und gerade Oesterreich immer von neuem gestellt hatte. Sie hieß: Mitgehen oder Kämpfen.

Zum Kampf jedoch war Oesterreich nichts weniger als aufgelegt oder auch nur im Stande. Ebenso seine äußeren wie die inneren Verlegenheiten verboten es ihm in diesem Moment unbedingt. Auf dem deutschen Schauplatz befand es sich bereits mit seinem ganzen Anhange in völliger Deroute. Der kleindeutsch gesinnte Liberalismus, den es einen Moment hinter sich hergezogen, hatte schon in Frankfurt den Kampf aus eigener Kraft wieder aufgenommen; die 300 deutschen Abgeordneten, die dort gleichzeitig tagten, secundirten tapfer der kleinen Opposition im Fürstenrathe und forderten in volltönenden Reden und Beschlüssen Nationalparlament und Reichsverfassung. Danach fielen auch die Mittelstaaten, die, solange Hoffnung auf die Unterwerfung Preußens bestanden, treu zu Oesterreich gehalten hatten, in die Neutralität zurück. Sie waren noch bereit, das Wiener Cabinet in der Beantwortung der preußischen Denkschrift zu unterstützen, und schickten deshalb ihre Minister zum 23. October nach Nürnberg; als aber Rechberg sie hier noch einmal zu dem engeren Bündniß aufforderte, wollten sie von nichts hören. Nur in der Balance zwischen den rivalisirenden Großmächten blühte ihr Weizen; sie wollten weder Oesterreichs noch Preußens Vasallen sein. Sodann aber hatte sich der europäische Horizont, an dem Oesterreichs Gestirne im Sommer so günstig gestanden, für dasselbe arg verfinstert. Die Wendung war auch hier dadurch herbeigeführt worden, daß den Demonstrationen keine Thaten gefolgt waren. Rußland machte es wie Preußen: es verachtete die Drohungen, hinter denen keine Waffen standen; den groben Noten setzte es gröbere entgegen und schlug auf die polnischen Rebellen mit verdoppeltem Eifer los. Die Folge war, wie in Frankfurt, Lahmlegung des Angriffs und Entzweiung der Alliirten. Napoleon fühlte sich auf tiefste verletzt: während ihm Polen aus den Fingern glitt, sah er Oesterreich bei der Arbeit, ganz Deutschland unter sich zu vereinigen: nicht nur alle Basen seiner eigenen Stellung, sondern die Traditionen Frankreichs [665] selbst mußten dadurch zerstört werden; am Rhein wie in Italien wäre sein Einfluß untergraben worden. Schon Ende August konnte Goltz die Wandlung der französischen Politik signalisiren: er sei, schrieb er, mit Cäsar Ein Herz und Eine Seele, noch niemals seit dem Beginn seiner Mission habe er ihn so liebenswürdig und vertraulich gefunden. Diese unglückliche polnische Frage, so sagte Napoleon zu dem Gesandten, sei der einzige Differenzpunkt, der ihn von Preußen trenne; er gäbe viel darum, wenn man ihn aus der Welt schaffen könnte. Er bat um Preußens Vermittlung bei den Russen. Es sei, erklärte Drouyn de l’Huys, der die Schwenkung seines Herrn sofort mitmachte, der lebhafte Wunsch des Kaisers, mit Preußen gemeinsam etwas zu thun. In der That versprach B., indem er umgehend für so viel Wohlwollen dankte, in Petersburg zu intercediren und ließ, wie es scheint, darüber wirklich an der Newa sondiren. Das selbstbewußte Memorandum Gortschakow’s vom 9. September, welches in brüskem Ton alle Pacificationsideen verwarf, verstärkte nur die alte Neigung des französischen Kaisers zu einem Staatsmann, der so viel besser auf seine Intentionen einzugehen wußte: Ihr gehörtet, sagte er dem Grafen Goltz, in der polnischen Sache zu meinen Gegnern; aber Euer Verfahren war klar und offen; bei Euch ist man stets sicher darüber, was man zu erwarten hat. Er war entschlossen, es den ungetreuen Freunden an der Donau bei der nächsten Gelegenheit heimzuzahlen.

So wurde das Wiener Cabinet durch daß doppelte Fiasco seiner deutschen wie seiner europäischen Politik von selbst der Bahn zugedrängt, die ihm B. allezeit offen gehalten hatte. Die Schwenkung kam zunächst im Innern zum Ausdruck: Schmerling’s Einfluß sank so rasch wie er gestiegen war; wenn er auch noch im Ministerium blieb, denn man wollte die Brücken nach dem Reich nicht völlig abbrechen, so gerieth die Führung der österreichischen Politik doch ganz in die Hände seines Rivalen, dessen conservative Politik die einzige war, die Oesterreich für B. bündnißfähig machen konnte. Schon in Nürnberg sagte Rechberg es den mittelstaatlichen Collegen rund heraus, daß der Weg nach Berlin für Oesterreich nicht weiter sei als für sie selbst. Nicht lange, so mußte der Minister eingestehen, daß für seine Regierung überhaupt kein anderer mehr gangbar war. Am 5. November wurden von Paris Einladungen des französischen Kaisers abgeschickt an sämmtliche Souveräne Europa bis auf Papst und Sultan hin, sich in seiner Hauptstadt zu einem Congreß zu vereinigen. Der Streich war vor allem gegen Oesterreich gerichtet. Es war der Gegenschlag gegen Frankfurt: wie dort die deutsche Frage den deutschen Fürsten, so sollten an der Seine alle Fregen des Erdtheils dem höchsten Schiedsgericht seiner gekrönten Häupter unterbreitet werden. Denn, so verkündigte die Thronrede des französischen Kaisers an demselben Tage: die Verträge von 1815 haben aufgehört zu bestehen. Das hieß, nichts war deutlicher, die italienische Frage ward aufs neue zur Discussion gestellt. Diese drohende Wendung Frankreichs war es, die den Entschluß der Wiener Regierung zur Reife brachte: von England angetrieben, erklärte Rechberg dem preußischen Gesandten, Herrn von Werther, daß Oesterreich auf die Bundesreform keinen Werth mehr lege; es gebe heute wichtigere Dinge, wenn Preußen, wie er denke, mit Oesterreich das gleiche Interesse an der Anerkennung der Verträge von 1815 habe.

Schleswig-Holstein.

In diesem Augenblick wurde die schleswig-holsteinische Krisis, die sich seit dem dänischen Märzpatent immer schärfer zugespitzt hatte, acut: am [666] 15. November starb König Friedrich VII. als der letzte seines Hauses; am 18. wurde sein Nachfolger, der Glücksburger Christian IX., durch Ministerium und Volk gezwungen, die Verfassung zu unterzeichnen, welche die Herzogthümer auseinander zu reißen und wenigstens Schleswig dem Dänenjoch endgültig zu unterwerfen bestimmt war. Die Nation wie die Regierungen Deutschlands waren damit vor die Entscheidung gestellt. Nahm man diese neue Herausforderung ruhig und ohne Gegenwehr hin, so war der Bruch der Londoner Verträge so gut wie legalisirt und die nationale Ehre tiefer gedemüthigt als je zuvor. Von dem Auslande, den Mächten, die das Londoner Protokoll garantirt hatten, war nichts zu erhoffen; im Gegentheil, man mußte fürchten, sie eher auf der Seite Dänemarks zu finden. Nur vom deutschen Boden her war der Widerstand zu organisiren.

Für Oesterreich kam die Krisis drei Monate zu spät. Wäre sie im Sommer eingetreten, zu der Zeit, da man in Wien mit der Hochfluth der nationalen Bewegung gegangen war, so hätte Schmerling’s Stellung eine gewaltige Stärkung erfahren müssen, und wir können wohl fragen, ob es dann selbst für B. möglich gewesen wäre, den König von einer Sache fern zu halten, in der dieser noch viel mehr als im Fürstentage die legitimen und die nationalen Interessen verbündet sah, und der seine Sympathien seit Jahren zugewandt waren. Aber diese Wasser waren nun eben abgelaufen, und Oesterreich befand sich bereits in der andern Fahrrinne. Wie hätte es so plötzlich den Weg zurückfinden, nach wenigen Tagen bereits widerrufen können, was es soeben eingeräumt hatte! Mehr noch die äußere als die innere Lage machte es ihm unmöglich; nicht bloß Rußland und Frankreich, und gewiß auch Preußen hätte es gegen sich gehabt: den einzigen Freund, auf den es halbwegs zählen konnte, England, sah es ganz im dänischen Lager. Also blieb der Wiener Diplomatie nichts übrig als der Richtung zu folgen, die B. ihr dictirte und die nun gegen den vollen Strom des nationalen Empfindens anging. Der preußische Minister dagegen hatte auch in der schleswig-holsteinischen Frage niemals einen andern Kurs gesteuert. Und er kannte dies klippenreiche Fahrwasser von Frankfurt her aus dem Grunde. War er doch um die Zeit der Londoner Conferenzen ins Amt getreten und dort immer im Sinne ihrer Beschlüsse thätig gewesen; er selbst hatte die Verhandlungen mit Herzog Christian geführt, die diesen zum persönlichen Verzicht auf die Herzogthümer gebracht hatten. Seine Rathschläge waren immer dahin gegangen, Zurückhaltung in dieser dornigsten aller Fragen der preußischen Politik zu üben. Er sah auch sie unter keinem andern Gesichtspunkt an als dem des preußischen Interesses und der großmächtlichen Politik; ja er hielt an diesem Maßstab um so peinlicher fest, als sie mehr als jede andere deutsche Frage europäischen Charakters und, wie er niemals bezweifelt, nur durch Krieg wirklich zu lösen war. Denn, so hatte er in einem seiner Gutachten geschrieben, das der Minister Manteuffel nach dem Krimkriege von ihm eingefordert hatte, der Erfolg werde stets von den Entschlüssen der fremden Großmächte abhängen; es sei also jede Maßregel zu vermeiden, welche diesen den Anlaß zu einer feindlichen Einmischung geben könnte. Es lag ihm zunächst mehr daran, die Wunde offen zu halten, als sie zu schließen: denn es sei sehr zweifelhaft, ob Preußen dabei bestimmte Vortheile für sich gewinnen könnte; keinesfalls hätten wir einen Grund zu dem Wunsch, daß die Holsteiner unter ihrem Herzoge sehr glücklich lebten; sie würden dann gar kein Interesse mehr an Preußen haben, während uns ein solches Interesse gelegentlich sehr nützlich sein könnte. Dazu paßte es sehr wohl, daß B. zwar in die Proteste gegen die fortgesetzten Verletzungen der Londoner Verträge durch die Kopenhagener Regierung zu Zeiten einstimmte, und daß er schon ein schärferes [667] Vorgehen ins Auge faßte, zugleich aber stets betonte, daß man niemals einen Schritt, der Europa reizen könne, thun dürfe, ohne Oesterreich zur Seite zu haben.

Die Politik der Neuen Aera hatte den umgekehrten Weg eingehalten, und noch Graf Bernstorff hatte, mehr wieder als es der conservativen Richtung seiner innern Politik entsprach, gerade in dieser Frage die nationale Saite anschlagen zu müssen geglaubt. B. aber war nach dem Eintritt ins Ministerium sofort wieder in seine alte Richtung eingelenkt, entschlossen, darin sowohl dem Andrang der öffentlichen Meinung wie den Intriguen der Wiener und der Würzburger Regierungen gegenüber zu verharren, bis die europäische Constellation eine den preußischen Interessen günstige Figur erhalten habe. So lange also die polnische Krisis währte und Oesterreich die Bundesreform betrieb, hielt er sich im Hintergrund. Er ging mit, als der Bundestag am 9. Juli die Execution in Holstein in Aussicht nahm, falls nicht das Märzpatent von Dänemark zurückgezogen und eine Gesammtverfassung vereinbart würde, die den europäischen Verträgen und den Rechten der Herzogthümer entspräche; und er schloß sich auch von den verschärften Beschlüssen im Herbst nicht aus, nachdem die Dänen jene Aufforderung mit der Ankündigung der Verfassung für Dänemark-Schleswig beantwortet hatten. Als dann aber von seiten der dänischen Conservativen und von England her Vermittlungsanträge an ihn gebracht wurden, lehnte er diese keineswegs ab, sondern war sofort bereit, in ihrem Sinne zu wirken, und die Execution, der Preußen in Frankfurt seine Stimme gegeben, zu hintertreiben. Es ist behauptet worden, B. habe damals Dänemark unter der Hand direct dazu angereizt, im Widerstand gegen die deutschen Forderungen zu verharren, damit er es auf diese Weise immer mehr ins Unrecht treibe. Daß sein Vorgehen dazu mitgewirkt hat, ist gar nicht zu bezweifeln; und ebenso wenig, daß er die dänische Halsstarrigkeit mit in Rechnung gezogen hat; schon aus dem Juni 1863 haben wir die Aeußerung von ihm, daß Dänemark der Aufforderung, das Patent vom 30. März zurückzunehmen, höchst wahrscheinlich nicht nachkommen werde, da ein solcher Gehorsam einen vollständigen Systemwechsel in Kopenhagen voraussetze. Doch brauchen wir ihm deshalb noch nicht jenen macchiavellistischen Tric zuzuschreiben, von dem sich jedenfalls in den preußischen Acten bisher nichts hat nachweisen lassen. Seine Stellung im October erklärt sich völlig aus der Gesammthaltung seiner Politik. Wie die Dinge lagen, boten ihm die Londoner Verträge in jedem Falle das was er brauchte. In dem alten Bunde, und zumal, so lange Oesterreich über die Majorität gebot, lag es nicht im Interesse Preußens, einen Krieg zu führen, um im günstigsten Falle in Schleswig-Holstein einen neuen Großherzog einzusetzen, der aus Furcht vor preußischen Annexionsgelüsten am Bunde gegen Preußen stimmen, und dessen Regierung ein bereitwilliges Object österreichischer Umtriebe sein würde, ungeachtet aller Dankbarkeit, die er Preußen für seine Erhebung schulden möchte. Erst wenn die deutsche Politik von Berlin her dirigirt würde, wollte der Minister den sicheren Boden der europäischen Verträge verlassen. Das hinderte nicht den Wunsch in ihm, Dänemark in Conflict mit den Garantiemächten zu sehen. Gerade weil er den europäischen Charakter der Frage behaupten wollte und nur auf die Stellung der Großmächte blickte, mußte es ihm lieb sein, die Kopenhagener Regierung vor Europa als vertragsbrüchig denunciren zu können; um so conservativer erschien Preußens eigene Haltung, und um so weniger konnten die Mächte dreinreden, wenn es sich von Verträgen, an die der Gegner nicht zu fesseln war, lossagte. Wie wir aber bei den Entschlüssen des großen Staatsmanns sehr oft mehr als ein, ja wohl eine ganze Reihe von Motiven [668] wahrnehmen können (denn er that keinen Schritt, ohne sich nach allen Seiten umzusehen), so auch hier. Es waren die Tage, da Oesterreich seinen letzten Anlauf machte, um die kleinen Regierungen hinter sich her zu ziehen; dazu gehörte aber auch der Bundesbeschluß vom 1. October, bei dem der Präsidialgesandte Freiherr v. Kübeck an patriotischem Eifer Allen vorangeleuchtet hatte. Dies Feuer zu löschen gab es für B. kein besseres Mittel, als wenn er England für sich gewann und also Zwietracht zwischen Oesterreich und seinem letzten Freunde säte.

Sobald sich jedoch Oesterreich auf den Wegen Preußens befand, vertauschten die Rivalen ihre Rollen. Jetzt hätte die Wiener Diplomatie, die mit England sofort neue Fühlung gewann, am liebsten Alles gelassen wie es war. Denn für sie gab es an der Eider nichts zu holen; ihre Interessen lagen im Süden; nur die deutsche Frage, der Wunsch, mit den kleinen Regierungen und der nationalen Stimmung in Fühlung zu bleiben, ließ es ihr überhaupt räthlich erscheinen, sich für die Herzogthümer zu echauffiren; nur um nicht ganz dahinten zu bleiben, folgte sie den Lockungen Preußens; und immer blieb sie in Furcht, weiter als es ihr lieb sein konnte, vertieft zu werden. B. zeigte sich eifrig, den Freunden diese Besorgniß zu nehmen, aber so genau er sich an die Londoner Verträge hielt, ließ er doch von Anfang an durchblicken, daß es Preußen leichter falle, dieselben aufzugeben; es war einer der Fäden, aus denen er das Leitseil drehte, an dem er Oesterreich hinter sich herzog. Fortan war er der Führer, sowohl wenn er der nationalen Bewegung nachgab als wenn er gegen sie anging. Beides war, so lange er Oesterreich zur Seite hatte, gegen dessen eigenstes Interesse; er brachte es das eine Mal mit sich selbst, das andere Mal mit der Nation in immer neue und ärgere Conflicte. Ihm selbst aber gereichte Beides zum Vortheil; er konnte nach Belieben, denn Preußen war stark genug dazu, den Strom aufhalten oder fortschießen lassen: er hatte den Hebel der Schleuse in der Hand. Von ihm stammte der Antrag an den Bund, zu dem jetzt Rechberg die Hand bot, die Execution so rasch, wie es die Bundesgesetze irgend verstatteten, in Vollzug zu setzen (28. November). Er redigirte die identische Note vom 4. December, welche die Mehrheit der Regierungen dazu brachte, sich noch einmal dem Willen ihrer Vormächte zu unterwerfen, und die Instruction für die beiden Civilcommissare, welche das eroberte Land im Namen des Bundes verwalten sollten. Solche Vorschläge Rechberg’s, die, wie die Forderung an den Bund, Herzog Friedrich aus Holstein hinauszuweisen, auf Eindämmung der nationalen Strömung abzielten, unterstützte B., oder er gab ihnen, wie dem Antrag vom 28. December, Schleswig zum Schutz der Londoner Verträge in Pfand zu nehmen, eine Wendung, die Oesterreich nur tiefer in die Verwicklung hinein und dem Bruche mit Dänemark zuführte; daß dieselben von der Majorität abgewiesen wurden und der Alliirte Preußens mit seinen ehemaligen Freunden und der öffentlichen Meinung Deutschlands in noch stärkeren Zwiespalt gerieth, paßte ganz in Bismarck’s Spiel: um so mehr stellte sich die Ohnmacht der Kleinen heran, und um so näher wurde Oesterreich an Preußen herangezogen. B. wußte Alles zu seinem Vortheil zu kehren, den Trotz der Kleinstaaten und den Druck der nationalen Bewegung, die conservativen Interessen und die Drohungen des Auslandes, vor allem auch Napoleon’s Umtriebe an den deutschen Höfen, die ganz gegen Oesterreich gerichtet waren. Von ihm ging am 5. Januar auch der entscheidende Schritt aus, der Erlaß an Werther, durch den er das Wiener Cabinet aufforderte, gegen den Willen des Bundes die Action in Schleswig einzuleiten, womit das Kriegsbündniß beider Mächte [669] herbeigeführt wurde. Es war, wie B. mit berechtigtem Stolz dem Grafen Goltz auf dessen Vorwürfe entgegenhalten konnte, in der That „noch nicht dagewesen, daß die Wiener Politik in diesem Maße en gros und en détail von Berlin aus geleitet wurde“.

Wohin gingen aber die Absichten des großen Ministers in diesen Wochen, welche die Reihe der Actionen einleiteten, die in der Spiegelgallerie des Königsschlosses zu Versailles ihren krönenden Abschluß erhalten haben? Hat B. bereits damals den weiten und an Krümmungen reichen Weg bis zum Ziel hin überblickt? Wußte er, daß die Freundschaft mit Oesterreich in der Entzweiung endigen würde? Leitete ihn am Ende schon der Gedanke, die Fessel selbst, die er Oesterreich um den Nacken warf, dereinst zu benutzen, um es zum Straucheln und zum Fallen zu bringen? Fragen, auf die uns die Acten vielleicht niemals eine ganz deutliche Antwort geben werden. Denn diese sind immer nur auf den Moment und den Empfänger berechnet, und oft genug dazu bestimmt, die Absichten des Ministers zu verbergen, statt sie zu enthüllen; nur die sorgsamste Interpretation wird ihren Sinn und Zusammenhang errathen können. Wie hätte sich auch B. gegen irgendwen über das letzte Ziel seiner Politik unumwunden äußern können, da alle Welt andere Wege suchte als er. Der König war mit seinen Gefühlen mehr als je in dem andern Lager; er empfand diesmal kaum anders als sein Sohn, der mit seiner Gemahlin aus dem freiwilligen Exil in England herbeigeeilt war, um für seinen Freund und Vetter einzustehen und den Vater aus den Händen des Ministers zu befreien. Von allen Seiten drängten sich die offenen und occulten Einflüsse, die gegen B. arbeiteten, an das bestimmbare Herz Wilhelm’s heran. Daß die Liberalen die Gelegenheit wahrnahmen, um in dem neuen Abgeordnetenhaus, in das sie mit einer durch den Wahldruck der Regierung kaum verminderten Majorität wieder eingezogen waren, ihre Angriffe gegen den Verhaßten zu erneuern, braucht nicht gesagt zu werden. Aber der Kampf mit diesen Gegnern machte dem Minister stets die geringste Sorge; er kam ihm wie früher bei dem König eher zur Hülfe; denn da ihr Widerspruch sich immer zugleich gegen das innere System richtete, bot er willkommenen Anlaß, um dem König den antimonarchischen Charakter der Opposition zu denunciren. Viel bedenklicher war es, daß auch die conservative Partei in dieser Frage schwankend geworden war. Zumal in der Armee, deren Stimmungen in dem Herzen des Königs stets den lebhaftesten Widerhall weckten, griff die Besorgniß um sich, daß Preußen unter dem gegenwärtigen System abermals in seiner Waffenehre compromittirt werden könne; meinte doch sogar Roon anfangs, man müsse die „legitimen“ Ansprüche des Augustenburgers sofort anerkennen. Als letzterer im November selbst nach Berlin kam (es war der erste Schritt den er that), um seine Rechte anzumelden und das Fürwort des Königs zu erbitten, hieß dieser ihn herzlich willkommen, drückte ihm seine volle Sympathie aus, und beklagte nur, daß Preußen zunächst an das Londoner Protokoll gebunden sei: er werde sich aber freuen, wenn es im Bunde überstimmt werde. So viel an ihm lag, hätte Wilhelm schwerlich etwas dagegen gehabt, wenn Preußen sich der Majorität gefügt hätte. Vier Wochen danach schickte Herzog Friedrich, schon von Kiel aus, seinen vertrauten Rath Samwer an den königlichen Hof, mit einem Brief, der die Reise in sein Erbland entschuldigen und abermals des Königs Hülfe für sein Land und Volk anrufen sollte. Damals war der Wind bereits umgesprungen: die Allianz Preußens mit Oesterreich war soeben fertig geworden, und der Herzog befand sich gegen den ausgesprochenen Willen beider Höfe und einer persönlichen Abmahnung Wilhelm’s zuwider in der Stadt seiner Väter; daß der Bund den Antrag der Vormächte auf Ausweisung des [670] Prätendenten eben erst abgelehnt hatte, mußte den Conflict noch verschärfen. Dennoch gewährte der König dem Abgesandten eine Besprechung, ja er selbst suchte ihn dazu auf, in dem Hause seines Sohnes, ganz überraschend und heimlich, am Abend des 17. Januar; nur der Kronprinz und seine Gemahlin waren Zeugen. Samwer, der es verstand, die legitimen und conservativen Tendenzen in der Politik seines Herrn herauszustreichen, und seinen Worten sogar eine gegen Oesterreich gerichtete Färbung gab, erhielt eine Antwort, mit der er zufrieden sein konnte; der König versprach, daß der Prinz, wenn er nicht nach Schleswig gehe, geschützt werden solle, worin fast eine Zurückziehung des Ausweisungsantrages und die Unterwerfung unter den Willen des Bundes lag. Der Brief freilich, in dem der König Tags darauf das Begehren des Herzogs erwiderte, stand im schneidenden Contrast zu einem so gnädigen Bescheid; er sprach den schärfsten Tadel gegen den Herzog aus, dessen Vorgehen Preußen compromittiren und durch seine Verquickung mit unreinen, revolutionären Elementen das Eintreten für die Wünsche des Herzogs höchst schwierig machen müsse. Dem „Herrn Samwer“, wie der herzoglich coburgische Geheimrath in dem Schreiben genannt wird, wurde dasselbe gar nicht anvertraut, da er sich amtlich als Vertreter des „Herzogs von Schleswig-Holstein“ angekündigt hatte; es scheint durch die Post nach Kiel gekommen zu sein. Wir erkennen wiederum die Hand Bismarck’s, zugleich aber, wie schwer es ihm geworden ist, den König auf seiner Linie festzuhalten. Drei Tage später begannen im Abgeordnetenhause die entscheidenden Debatten über die Anleihe. Der Entschluß, sie zu verwerfen, stand von vornherein fest. B. aber war nahe daran die Partie aufzugeben, nicht wegen der Opposition im Parlament, sondern weil der König sein Vertrauen mehr seinen Gegnern als seinen Dienern zugewandt habe. Er hatte in der Nacht vor der Plenarsitzung kein Auge zugethan. „Ich weiß eigentlich nicht“, schrieb er an Roon, bevor er zum Dönhoffsplatz ging, „was ich ihnen sagen soll, nachdem so gut wie klar ist, daß Seine Majestät doch auf die Gefahr hin, mit Europa zu brechen und ein schlimmeres Olmütz zu erleben, sich schließlich der Demokratie und den Würzburgern fügen will, um Augustenburg einzusetzen und einen neuen Mittelstaat zu schaffen. Was soll man da noch reden und schimpfen? Ohne Gottes Wunder ist das Spiel verloren, und auf uns wird die Schuld von Mit- und Nachwelt geworfen. Wie Gott will. Er wird wissen, wie lange Preußen bestehen soll. Aber leid ist mir’s sehr, wenn’s aufhört, das weiß Gott!“ Und noch am 5. Februar theilte er dem Freunde mit, der König habe ihm in der Nacht geschrieben, und wolle ein neues Conseil angesetzt haben; die ganze Sache solle wieder umgeworfen werden, nachdem sie in Wien angenommen und von dort schon nach London mitgetheilt sei. B. hat in diesen Wochen die stärksten Mittel anwenden müssen, um den König hinter sich herzuziehen. Die Gerüchte, daß seine Stellung erschüttert sei, wollten nicht verstummen, und er selbst hat dem Monarchen kein Hehl daraus gemacht, daß er die Abweichung in die Augustenburgische Bahn mit seinem Abgange beantworten würde. Das Mittel, durch das er ihn festhielt, war wieder vor allem die Hervorhebung der conservativen, der monarchischen Interessen; seine Reden im Abgeordnetenhause, besonders die vom 22. Januar, in der er die Opposition der Liberalen mit dem Liberum Veto des polnischen Reichstages verglich und an das Nie pozvolam und den Rocher de Bronze des alten Soldatenkönigs erinnerte, waren ganz auf diesen Ton gestimmt. Und, man darf es aussprechen, die Furcht, den Halt im Innern zu verlieren, den ihm B. bot, hat Wilhelm auch diesmal mehr als jede andere Erwägung dahin gebracht, sich dem Willen seines Ministers zu fügen.

[671] Dies Alles haben wir ins Auge zu fassen, um zu verstehen, wie geheim B. seine Absichten halten mußte. Goltz beklagte sich damals bei ihm bitter über den Terrorismus, mit dem er seine Gesandten verhindere, ihre Ansichten auszusprechen, und daß er sogar jeden derselben im Dunkel über die Auffassung der anderen halte. Dadurch werde eine Constatirung ihrer Uebereinstimmung unmöglich gemacht und der König nicht mehr en pleine connaissance de cause gesetzt; derselbe opfere dann leicht die Ansicht auf, zu welcher er ursprünglich neigte und von der er nun annehme, daß sie nur von Dilettanten, Professoren, Kreisrichtern und anderen Revolutionärs getheilt werde, während mehrere seiner eigenen Diplomaten, die er auf die wichtigsten Posten gestellt habe und die ihm daher doch einiges Vertrauen einflößen müßten, ganz derselben Ansicht seien; dies sei zwar nicht die parlamentarische, aber auch nicht mehr die monarchische Regierung, sondern die Dictatur des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten. Der Gesandte wiederholte damit lediglich die Anklagen, welche das Abgeordnetenhaus in seiner Decemberadresse vor das Ohr des Königs gebracht hatte. Aber er selbst arbeitete, wie B. ihm vorwarf, in jeder Weise, sogar in Immediateingaben daran, den König gegen den leitenden Minister einzunehmen: „Wie aber soll ich mich entschließen“, schreibt B., „mich über meine letzten Gedanken frei gegen Sie herauszulassen, nachdem Sie mir politisch den Krieg erklärt haben und sich ziemlich unumwunden zu dem Vorsatz bekennen, das jetzige Ministerium und seine Politik zu bekämpfen, also zu beseitigen?“

Nur wieder unter dem Gesichtspunkt seiner Gesammtpolitik können wir auch in dieser Frage zu einem wirklichen Urtheil über die letzten Ziele des Ministers zu gelangen hoffen. Wir wissen aber, was er seit Jahren gesonnen und geplant hatte: daß er den Waffengang mit Oesterreich als eine Naturnothwendigkeit ansah, und daß ihm die Sanirung der deutschen Frage nur ferro et igni möglich schien. Wann die Krisis eintreten würde, war ihm verborgen, und gerade in diesem Augenblick wird er nicht viel danach gefragt haben. Nur über das Nächste war er sich gewiß. Er wußte, daß Bündnisse Interessengemeinschaften sind und daß sie sich lösen, sobald die Interessen der Contrahenten auseinander weichen: „Aber ich finde es für jetzt richtig“, schrieb er an Goltz, „Oesterreich bei uns zu haben; ob der Augenblick der Trennung kommt und von wem, das werden wir sehen“.

Daß B. gleich anfangs an die Annexion der Herzogthümer an Preußen gedacht hat, läßt sich nicht mehr bezweifeln, nachdem er selbst es so oft erzählt hat. Noch an seinem 80. Geburtstage hat er es vor der Deputation der Schleswig-Holsteiner bekannt: sein erster Gedanke sei damals gewesen: „de möt wi hebben“. Jedoch hätte er sich, wenn es nicht anders zu machen war, auch mit der Personalunion unter der dänischen Krone begnügt, und jedenfalls diese Lösung der Constituirung eines neuen und selbständigen Kleinstaates, der die antipreußische Majorität am Bunde vermehrt hätte, bei weitem vorgezogen. Den Augustenburger von den Rockschößen seines königlichen Herrn abzuschütteln, war das nächste Ziel des Ministers. Denn dessen Einsetzung drohte ihm die Krone in die liberale Strömung hineinzureißen und Preußen einem neuen Olmütz entgegen zu führen: er hätte die Politik der freien Hand und die Führung verloren, die ihm der Anschluß von Oesterreich soeben erst verschafft hatte. Preußens Machtinteresse blieb der Pol, nach dem er das Steuer richtete, um so ausschließlicher, je stärker die nationale Woge an diesem Punkte rauschte. Er machte es wie der Bergsteiger, der vorsichtig tastend und Fuß bei Fuß setzend sich an der Bergwand emporhebt: keinen Schritt wird er vorwärts thun, bevor er festen Grund unter seinen Füßen fühlt und den Pickel [672] eingeschlagen hat; Pfad und Richtung mögen sich ändern, aber sein Ziel bleibt der Gipfel, aufwärts geht der Weg. Oder um bei einem Bilde zu bleiben, das einem norddeutschen Landedelmann näher liegt und das B. selbst damals gebraucht hat: „Ich treibe jetzt“, sagte er zu seinem Freunde Wagener, „auswärtige Politik, wie ich früher auf die Schnepfenjagd ging, und setze nicht eher den Fuß vorwärts, als bis ich den Bülten, auf den ich treten will, als sicher und tragfähig erprobt habe.“ Es lag ihm zur Zeit mehr daran, nicht daneben zu treten, als vorwärts zu kommen; um so sicherer konnte er hoffen, zum Schuß zu gelangen.

Es glückte ihm schneller als seine liberalen Gegner, die er abgedrängt, je gehofft und seine neuen Freunde an der Donau gefürchtet hatten. Am 16. Januar ward das Ultimatum der Alliirten in Kopenhagen überreicht. Kaum war es abgelehnt, am 18. Januar, denn man hatte den Dänen auf Bismarck’s Betreiben nur 48 Stunden Bedenkzeit gewährt, so begann der Aufmarsch. Ende Januar standen 30 000 Preußen und 20 000 Oesterreicher, unter dem Oberbefehl Wrangel’s, an dem Grenzfluß; am 1. Februar erfolgte der Einmarsch in Schleswig; am 5. räumten die Dänen bereits das Danewirk, am 7. zogen die stürmisch nachdrängenden Deutschen in Flensburg ein. Nicht lange, so ward auch Jütlands Grenze überschritten und donnerten die preußischen Batterien auf Sundewitt; am 18. April gewannen die preußischen Sturmcolonnen auf Düppels Schanzen den frischesten Lorbeer des Krieges. Dänemark war auf die Kniee gezwungen und das Londoner Protokoll durch die Kanonenkugeln zerrissen. Den Britten, die noch allein in Europa an Hülfe für ihre dänischen Schutzbefohlenen dachten, war es ergangen wie den Bambergern und den Kreisrichtern im preußischen Abgeordnetenhaus: alle Drohungen ihrer Diplomaten und Parlamentsredner und der Lärm ihrer Zeitungen waren in den Wind gesprochen. Auch geschah es nur, um zu berathen und zu berichten, wenn sie jetzt die streitenden Parteien vor das Forum der Protokollmächte nach London einluden. B. war sogleich bereit, die Conferenz zu beschicken; nur daß er noch zuvor rasch die Ernte auf Sundewitt in die Scheuern brachte; er war, wie immer, um so höflicher in der Form, je fester er entschlossen war, nur den Waffen zu weichen.

Wie aber kam es, daß Europa, welches in dem ersten Kriege um Schleswig-Holstein so geschlossen gegen den Willen Deutschlands aufgetreten war, jetzt nichts als Worte machte? Als B. Oesterreich zum Mitgehen gewann, rechnete auch er noch mit der Opposition der Garantiemächte oder that wenigstens so, als ob er sie fürchte. Wir haben, sagte er, im Jahre 1849 erlebt, daß es übel ist, Einer gegen Vier zu stehen, Zwei gegen Drei ist ein besseres Verhältniß. Jetzt aber waren auch diese drei nicht mehr zusammen zu bringen. England und Frankreich waren ganz auseinander gekommen, täglich verschärften sich ihre Differenzen; Rußland aber, so groß sein Wohlwollen für Dänemark war, hätte sich doch niemals zu einer Politik entschließen können, bei der es Preußen gegen sich hatte, während sie England und Oesterreich zum Vortheil gereichte; die Verstümmelung Dänemarks erschien demgegenüber immer noch als das kleinere Uebel. In den liberalen Kreisen Deutschlands stellte man die Abwendung Napoleons von England gern als einen Racheact für die Enttäuschung hin, die ihm das Cabinet von St. James in der polnischen Frage und mit der Absage des Congresses bereitet habe. Aber solche persönlichen Stimmungen, mögen sie auch mitgewirkt haben, genügen doch nicht, um die Auflösung der im Sommer 1863 noch so engen Entente zwischen den Westmächten zu erklären. Man muß vielmehr auf die Verschiedenheit der Stellung zurückgehen, die beide Mächte zur deutschen Frage einnahmen, und somit direct auf [673] die Wendung, welche B. der preußischen Politik durch den Bund mit Oesterreich gegeben hatte. Dem Londoner Cabinet war die Allianz zwischen Wien und Berlin an und für sich sehr willkommen, ja eine der besten Combinationen, die man sich an der Themse wünschen konnte; wir sahen ja, wie eifrig von dort her an dem Zustandekommen des Bundes gearbeitet ward. Daß Dänemark wider Erwarten darunter leiden mußte, wurde freilich in Downing-Street schmerzlich empfunden, und so viel man mit Worten dagegen ausrichten konnte, wandte man auf; niemals hat sich die englische Anmaßung gröber und nichtachtender gegen uns äußern dürfen als in diesem Winter. Aber so weit, um Englands Schiffe in die Ostsee zu schicken, reichte der Zorn nicht; und nicht bloß die Whigs, die für ihren deutschen Kundenkreis und ihre Ministersessel fürchteten, sondern auch die Tories scheuten einen Krieg, der Deutschland gegen England vereinigen, den rivalisirenden Mächten aber freie Hand im Mittelmeer verschaffen mußte; Englands Interessen erheischten im Moment viel eher die Neutralisirung aller schlimmen Fragen, die im Schooß des Continents gährten. Vor allem Napoleon wäre für eine solche Politik nie zu haben gewesen. Denn sein Interesse an der deutschen Entwicklung bewegte sich in der umgekehrten Richtung. Der Frankfurter Fürstentag, der in England nicht ungern gesehen war, hatte in ihm, wie wir sahen, die stärksten Antipathien erweckt, so daß er sofort zu Preußen herumgeschwenkt war. Daß nun die deutschen Vormächte zusammenhielten, konnte freilich auch ihm nicht lieb sein; aber dies war nun einmal nicht zu ändern und immerhin doch etwas Anderes als der Versuch des Wiener Cabinets, das ganze Deutschland, Preußen sammt dem Bunde in den Dienst der habsburgischen Interessen zu stellen. Denn einmal bot das dritte Deutschland, zwischen seinen Großmächten eingekeilt und zur Nichtigkeit verurtheilt, Rheinbundshoffnungen dar; wie denn die Blicke der kleinstaatlichen Diplomaten sich sofort nach Paris gelenkt hatten; der Prätendent selbst hatte einen Moment auf den Beistand Frankreichs gerechnet. Sodann aber konnte eine Allianz, in der B. der Führer war, und die sich auf die norddeutsche, die preußische Interessensphäre beschränkte, dem französischen Kaiser nicht unwillkommen sein, der in B. von je her den Mann seiner Pläne gesehen und ihm schon vor sechs Jahren in Paris zu der Politik zugeredet hatte, auf die der preußische Minister jetzt loszusteuern schien. Voraussetzung für Napoleon blieb freilich, daß die Allianz beider Mächte niemals eine Richtung annehme, die der in Frankfurt intendirten ähnlich war. Aber diese Garantie gab ihm B., in dessen eigenstem Interesse es lag, eine solche Wendung zu vermeiden. Indem er Oesterreichs Hand annahm, verdoppelte er seine Liebenswürdigkeit gegen den französischen Kaiser. Die Einladung zum Congreß hatte er sogleich „im Princip“ angenommen und nur anheimgegeben, ob nicht ein vorausgehendes Einvernehmen der fünf Großmächte zweckmäßig sein und statt der Souveräne die Minister zusammenkommen möchten. Es war wörtlich die gleiche Antwort wie diejenige, die König Wilhelm in Gastein dem Kaiser Franz Joseph gegeben hatte, und kaum ernstlicher gemeint. Aber ihre Wirkung war die entgegengesetzte: Napoleon fühlte sich glücklich und dankbar; denn Preußen war die einzige Macht, von der ihm überhaupt ein Entgegenkommen auf seine Lieblingsidee bewiesen war. Und vor allem, B. wußte ihm die Sorge, daß Preußen in Oesterreichs Schlepptau gerathen könne, zu benehmen. Als der Kaiser Ende Januar den Grafen v. d. Goltz direct darauf interpellirte, ob die Gerüchte wahr seien, daß Preußen dem Wiener Hof dessen außerdeutsche Besitzungen garantirt habe, erhielt er ein promptes Nein, und alsbald erklärte er nach London, daß er sich dem Protest gegen den Angriff [674] auf Dänemark nicht anschließen werde. Um das österreichische Cabinet zum Einmarsch in Jütland fortzureißen, wurde im Februar von Berlin General Manteuffel nach Wien geschickt; aber seine Instruction wies ihn an, jede Erwähnung umfassenderer Allianzvorschläge zu vermeiden und, wenn sie von Rechberg angeregt würden, sie als außerhalb seines Auftrages liegend zu bezeichnen; nur im Nothfall und als seine persönliche Auffassung war es dem conservativen General erlaubt, durchblicken zu lassen, daß der König zwar schwerlich im voraus eine Garantie des Besitzstandes oder vertragsmäßige Verbindlichkeiten übernehmen, jedoch ein Bündniß mit Oesterreich für bestimmte Zwecke und bestimmte Fälle vortheilhaft erachten würde. In dieser Balance zwischen Wien und Paris mußte B. sich halten, so lange das Bündniß mit Oesterreich währte. Ich möchte nicht einmal glauben, daß er im December wirklich den Widerstand Europas gegen den dänischen Krieg erwartet oder doch so hoch bewerthet hat, wie er vor der Welt und besonders nach Wien hin davon zu reden liebte; von Anfang an wird er den Zwiespalt zwischen den Westmächten in Rechnung gezogen haben, es war sogleich eine der stärksten Karten in seinem Spiel. Wenn er nicht allein in die Krisis hineingehen wollte, so geschah es noch mehr in Rücksicht auf den Alliirten selbst, als aus Furcht, Europa zu reizen. Er mußte Oesterreich zur Seite haben, damit es nicht Preußen, wenn dieses isolirt und nur auf die Mittelstaaten und die nationale Bewegung gestützt vorginge, in den Rücken fallen könnte, so wie es in der Unionszeit geschehen war; während er zugleich kein besseres Mittel wußte, um die Wiener Politik sowohl mit Frankreich wie mit den Kleinstaaten und der Nation zu compromittiren. Nur auf dem Wege, den die Liberalen Preußen führen wollten, fürchtete er ein zweites Olmütz zu erleben. Es war ein klippenreiches Fahrwasser, aber B. war der Mann dazu, das Staatsschiff hindurch zu bringen. Gleich im April, noch vor Beginn der Conferenz, glückte es ihm, im tiefsten Geheimniß vor Oesterreich, von dem französischen Kaiser die Zusicherung zu erlangen, daß Frankreich die Theilung Schleswigs nach den Nationalitäten und die Annexion des deutschen Antheils an Preußen unterstützen würde, sobald, woran nicht zu zweifeln, die Forderung der Personalunion, dieses mittelalterlichen Bastardprojects, wie Napoleon es nannte, und die Einsetzung des Augustenburgers zu Fall gebracht worden wären.

So etwa war, im knappesten Umriß, die europäische Constellation beschaffen, als die Vertreter der Mächte in London zusammentraten. Dazu kamen nun die kriegerischen Erfolge, zumal Preußens, die Hartnäckigkeit oder wie man es nennen will der Dänen, die vergebens auf England bauten, und die Erregung des deutschen Volkes, die in immer höheren Wellen ging, je weiter die deutschen Waffen getragen wurden. Die Mittelstaaten waren völlig gedemüthigt, in dem Glashause des Bundes, wie B. ironisch sagte, nur durch ihre deutschen Vormächte vor der europäischen Zugluft geschützt. Aber die Nation selbst begann, durch den herrlichen Sieg gehoben, an die Erfüllung ihrer Träume zu glauben. Es waren sehr verschiedene Strömungen, die da durcheinander wirbelten. In Preußen griff bereits der Gedanke der Annexion, den der Liberalismus noch im Februar kaum der Discussion werth geachtet hatte, um sich. Und nicht bloß in solchen Kreisen, die der Regierung nahe standen: sogar jenseits der preußischen Grenzen meldeten sich Stimmen, welche die deutsche Nordmark für den mächtigsten deutschen Staat forderten. Die Opposition, soeben noch übermächtig und fest geschlossen, fing an sich zu lockern; aber auch die reactionäre Partei büßte ein wenig von ihrer principiellen Starrheit ein, ihre legitimistische Färbung wenigstens drohte zu verblassen. Auf beiden Seiten begannen die Extremen sich loszulösen, während die mittleren Schichten einander näher [675] kamen und sich verstärkten. Und schon wollten nicht Wenige unter den gemäßigten Liberalen, die Patrioten, denen die Größe und die Einheit des Vaterlandes in dem Kampfe der Parteien stets das höchste Ziel gewesen, und die gerade darum in dem Sturmlauf gegen B. die Vorkämpfer geworden waren, in ihm die starke Hand entdecken, die sie in den Jahren der Ohnmacht und der Schande herbei gesehnt hatten. Mächtiger freilich war noch die Richtung, die ein Paktiren mit dem Gewaltthätigen nicht für möglich hielt und nur im friedlichen Verein aller nationalen Kräfte die Wiedergeburt des Vaterlandes erblicken wollte: aber auch ihre Anhänger forderten, daß das Werk der Waffen nicht abermals durch die Diplomatie vernichtet und das deutsche Land nunmehr auf immer der Nation gewonnen werden müsse. Die Bewegung war so stark, daß sie auch den fremden Cabinetten imponirte, mehr fast als dem preußischen Minister; daß die Londoner Verträge noch möglich seien, wurde außer etwa in Kopenhagen kaum noch irgendwo in Europa geglaubt. Auch B. nahm jetzt diesen Factor mit in seine Rechnung auf. Es kam ihm nicht darauf an, nur die preußischen Stimmen zu hören; auch die ihm feindlichen Strömungen hieß er bei der augenblicklichen Lage willkommen: alle Hunde, welche bellen wollen, so schrieb er an den Präsidenten des Herrenhauses, Grafen Arnim von Boitzenburg, der im Einverständniß mit ihm eine Adresse für die Annexion in Umlauf gebracht hatte, müsse man gegen das Dänenthum auf der Conferenz loslassen; das gesammte Geläute der Meute wirke dahin zusammen, daß die Unterwerfung der Herzogthümer unter Dänemark den Ausländern unmöglich erscheine und daß letztere genöthigt würden, Programme in Betracht zu ziehen, welche die preußische Regierung ihnen nicht bringen könne. Schon hatte, am 12. Mai, Graf Bernstorff im Namen der deutschen Mächte die Erklärung abgegeben, daß, nachdem die Verträge von 1852 hinfällig geworden wären, Deutschland zur Erwägung jeder neuen Combination bereit sei, welche zu einem festen und dauernden Frieden führen könne, ohne wohlerworbene Rechte zu verletzen: worauf die Conferenz beschloß, in der nächsten Sitzung, am 17. Mai, anzuhören, welch’ ein neues System die Deutschen jetzt vorzuschlagen gedächten. Damit war letzteren die Antwort zugeschoben. Aber in der durch B. inspirirten Erklärung, die Bernstorff am 17. vorlas, stand nur wieder, daß die Garantien, welche Deutschland fordern müsse, einzig zu finden seien in der vollständigen Unabhängigkeit der durch gemeinsame Institutionen verbundenen Herzogthümer. Damit war die dynastische Frage, der Kernpunkt des Streits, abermals umgangen; die Worte erlaubten ebensowohl zur Noth an die Personalunion, wie an den Augustenburger oder irgend eine andere Candidatur zu denken. Da nun die Dänen erklärten, daß ihre Regierung sich niemals hierauf einlassen würde, nicht einmal um den Preis der Personalunion selbst, so war letztere endgültig gescheitert, bevor sie ausdrücklich vorgeschlagen oder gar discutirt worden war; und die Conferenz vertagte sich bis zum 28. Mai, um den Cabinetten zu neuen Erwägungen Zeit zu geben. Die erste Etappe, die sich B. und Napoleon gesetzt hatten, war erreicht. Und schon hatte Lord Russell dem Grafen Bernstorff bedeutet, daß England jetzt den einzigen Weg, der noch übrig bliebe, betreten und die Theilung des Landes nach Nationalitäten vorschlagen werde. Es war die letzte der drei Chancen, von denen Napoleon im April gesprochen hatte; die zweite, die Discussion über den Augustenburger, war damit übergangen; daß sie ganz eliminirt werden sollte, war nicht zu erwarten; im Gegentheil anzunehmen, daß sie Object der Conferenz werden würde, sobald eine Einigung über die Theilungsgrenze im Sinne der Neutralen erzielt wäre. Da ist es nun B. selbst gewesen, der, abweichend von seinem bis dahin festgehaltenen Entschluß, die Andern kommen zu lassen, den Stein ins Rollen gebracht und [676] die Augustenburger Candidatur in den Mittelpunkt der Discussion gerückt hat. Einen Vorstoß hatte er schon am 15. Mai gemacht, in einer Note an Bernstorff, die dann veröffentlicht wurde. Darin war nicht nur erklärt, daß die deutschen Mächte an die Verträge von 1852 nicht mehr gebunden seien, sondern auch ein Rechtsbedenken gegen das dänische Thronfolgegesetz von 1853 ausgesprochen, da es den Ständen der Herzogthümer niemals vorgelegt worden sei: eins der Argumente, die der Augustenburger für seine Ansprüche geltend machte. Diesem auffallenden Schritt folgte am 21. Mai, nach dem Einlauf der Berichte über die letzte Londoner Sitzung in Berlin, eine Depesche Bismarck’s an Werther, worin der Prätendent dem Wiener Hof direct in Vorschlag gebracht wurde. Zwar nicht unbedingt; denn auch der Ansprüche Oldenburgs und der Annexionswünsche, die sich in Preußen, ja in den Herzogthümern selbst regen sollten, wurde Erwähnung gethan, und daß ein conservatives Regiment garantirt werden müsse, stark betont; Preußen würde andere Combinationen, falls Oesterreich ihnen zuneigen sollte, nicht ausschließen: aber die Interessen Deutschlands und der berechtigte Wunsch, in möglichst glänzenden nationalen Erfolgen ein festes Ergebniß der Allianz und ein Unterpfand für ihre Zukunft zu sichern, legten es dem Könige nahe, an den Erbprinzen von Augustenburg zu denken, dessen Erbfolge ohne Zweifel diejenige sei, die sich nach Lage der Dinge am leichtesten und ohne Gefahr europäischer Complicationen verwirklichen lasse.

Wohin gingen in diesem Moment die Absichten des Ministers? So lange hatte er den Augustenburger fern gehalten. Die seit dem Februar mehrfach erneuerten Annäherungsversuche desselben, die schließlich bis zur Anbietung einer Marine- und Militärconvention, Erhebung Rendsburgs zur Bundesfestung mit preußischer Besatzung, Eintritt in den Zollverein und Bau eines Nord-Ostseecanals mit freier Durchfahrt für die preußischen Kriegs- und Handelsschiffe gegangen waren, hatte er alle vereitelt. Wollte er jetzt wirklich von dem Wege ablenken, den er bisher eingehalten hatte? Oder sollte es nur ein Umweg werden, auf dem er zu dem Punkt zu gelangen hoffte, den er sich in der geheimen Verhandlung mit Napoleon an zweiter Stelle zu erreichen vorgesetzt hatte? Hat er den Effect, den dieser Schritt vom Wege machte, genau berechnet, und lag derselbe mit den ihm folgenden in einer Linie, oder war es ein Fehltritt, den zu verbessern er sich beeilt hat, sobald er bemerkte, daß der „Bülten“, auf den er den Fuß gesetzt hatte, nicht tragfähig war? Hat er die Antwort, die Oesterreich auf seine Depesche gab, gewünscht und vorausgesehen, oder vielleicht gerade gehofft, es zum Widerspruch zu reizen und dadurch um so sicherer die Ablehnung des Augustenburgers durch die Conferenz herbeizuführen? Er hätte dann überdies dem Alliirten in der öffentlichen Meinung Deutschlands die Schuld an dem Scheitern ihres Lieblingsplans zuschieben, die preußische Politik aber sogar noch mit einer Art von nationalem Nimbus umgeben können. War letzteres die Absicht Bismarck’s, so hat er allerdings die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Graf Rechberg hatte sich bis dahin sorgfältig hinter seinem preußischen Collegen gehalten; Schritt um Schritt, zögernd genug, war er in die Fußstapfen des Vordermanns getreten. Jetzt aber, bei jener Seitenwendung Bismarck’s, schien ihm der Moment gekommen, um mit einem Satz an dem Partner vorbei und an die Spitze zu gelangen. Er, der soeben noch die Personalunion als das für Oesterreich allein mögliche Ziel gepriesen und den Augustenburger als den Candidaten der Revolution verabscheut hatte, war mit einem Mal Feuer und Flamme für den Prätendenten. Als ihm Werther am 23. Mai seine Depesche vorgelesen hatte, konnte er diesen bereits auf einen soeben redigirten Erlaß nach Berlin [677] verweisen, worin er die Erhebung des Erbprinzen zum souveränen Herzog von Schleswig-Holstein beantragt habe. Er zeigte sich beglückt von der Uebereinstimmung der Ansichten: nur gehe er noch einen Schritt weiter; man möge den Erbprinzen der Conferenz sofort vorschlagen; daß er conservative Politik treiben müsse, verstehe sich von selbst. Damit hatte Rechberg seinen Rivalen bereits eingeholt und ihn sozusagen angerannt; es wird uns glaubhaft berichtet, daß schon die Note Bismarck’s vom 15. Mai nebst verwandten Nachrichten die Wiener Diplomatie zu ihrem Gegencoup bestimmt habe.

Die Schwenkung Oesterreichs war so plötzlich, daß auch ein so erfahrener und kaltblütiger Diplomat wie B. wohl stutzig werden konnte; und ich weiß nicht, ob seine nächsten Schritte nicht doch mehr Unruhe und Unsicherheit, als ihm sonst eigen waren, verrathen. Stehen bleiben aber ging jetzt für ihn erst recht nicht. Denn dann wäre er wirklich ins Hintertreffen gekommen; er mußte sich dranhalten, um dem Weggenossen wenigstens zur Seite zu bleiben. So vereinigten sich denn beide Cabinette zu einem Antrage an die Conferenz, der dem Prätendenten Alles gewährte, was er fordern konnte: die Constituirung beider Herzogthümer als eines selbständigen Staates unter seiner vollen Souveränität; da er, wie ausdrücklich hinzugefügt wurde, nicht bloß in den Augen Deutschlands die meisten Rechtsansprüche auf die dortige Thronfolge besitze, so daß seine Anerkennung durch den Bundestag gesichert sei, sondern auch die Stimmen der ungeheueren Majorität der dortigen Bevölkerung ohne Zweifel hinter sich habe. Und nun sprach sich Europa wirklich so aus, wie Napoleon im April dem preußischen Gesandten vorausgesagt hatte: mit verschiedenen Argumenten, sonst jedoch einmüthig, erklärten die Neutralen, von Dänemark ganz zu schweigen, daß eine solche Zerreißung der dänischen Monarchie nicht discutirbar sei; es könne sich, setzte der Wohlwollendste unter ihnen, der Franzose hinzu, höchstens um eine Theilung Schleswigs nach den Nationalitäten handeln. B. konnte diese Wendung nicht unlieb sein; hatte er doch noch am Tage vorher an Bernstorff telegraphirt, da Oesterreich strebe, die Candidatur Augustenburg unwiderruflich festzustellen, um dadurch die Möglichkeit speciell preußischer Forderungen zu erschweren, so solle er, wenn der Antrag mehr Widerspruch finde als das Princip der Theilung, die Person fallen lassen, und der Gesandte hatte in der Sitzung eine dementsprechende Erklärung abgegeben. Dennoch hat der Minister gerade in diesen Tagen der Krisis directe Verhandlungen mit dem Erbprinzen angeknüpft, die auf seine Einsetzung zielten. Am 24. Mai, also wohl gleich nachdem Werther’s Bericht über die Besprechung mit Rechberg eingelaufen war, eröffnete er sich darüber dem Kronprinzen. Gleich hier bemerkte er, daß eine Theilung Schleswigs angeregt würde, die etwa die Apenrader Gegend durchschneide; um diesen Preis gab er Hoffnung, die Herzogthümer los von Dänemark zu bekommen. Er müsse nun wissen, ob der Erbprinz sich auf die „conservative Basis“ stellen und derartige Zusicherungen oder Garantien geben würde; es sei erwünscht, daß derselbe entweder nach Berlin komme oder mit dem Kronprinzen irgendwo zusammentreffe. Am 27. Abends, dem Tage, wo jenes Telegramm an Bernstorff abging, entbot der Minister Max Duncker zu sich, nachdem er sich mit ihm schon am 19. in Verbindung gesetzt hatte. Auch ihm sagte er, daß Oesterreich durch seinen plötzlich erwachten Eifer für Augustenburg, durch den es Preußen zu überbieten suche, diesem den Dank Deutschlands entwinden und jedes engere Band zwischen den Herzogthümern und Preußen als das des Bundes verhindern wolle; mithin sei eine schleunige Regulirung des Verhältnisses zwischen Preußen und dem Erbprinzen nothwendig. Der Kronprinz möge denselben zu einer Reise nach Berlin vertraulich auffordern; jedoch müsse der Besuch wie [678] aus eigenem Antriebe des Erbprinzen hervorgegangen erscheinen, so daß Preußen nach Wien hin erklären könne, daß es sich dabei um die Besprechung der zukünftigen inneren Politik in den Herzogthümern handele; wozu, wie der Minister hinzufügte, Oesterreich Preußen ausdrücklich aufgefordert habe. Der Kronprinz, der sich sofort an seinen Freund gewandt hatte und von diesem umgehend die Zusage des Kommens erhielt, und Herzog Friedrich selbst glaubten am Ziel zu sein. Von dem König fürchteten sie nichts. Als der Herzog in Berlin eintraf, am Morgen des 1. Juni, hörte er, daß Seine Majestät schon bei der Herzogin-Mutter gewesen sei und ihr gesagt habe, Er wolle der Erste sein, der ihr die Nachricht bringe, daß ihr Sohn nun sicher zur Regierung komme; die bevorstehende Verhandlung mit B. solle bloß noch zur Erledigung von Förmlichkeiten dienen. Auch der Erbprinz fand bei dem König, der ihn am Nachmittag nach Babelsberg befohlen hatte, einen ungemein gütigen Empfang. Wilhelm begann sofort von der Theilung zu sprechen; er war dafür, daß der Bund, den B. ganz abgedrängt hatte, nach Schluß der Conferenz vorgehe; von der Verfassungsfrage war kaum die Rede, nur zufällig kam das Gespräch auf die beiden vertrauten Räthe des Herzogs, Francke und Samwer: sie seien, bemerkte der König, etwas avancirt liberal, gehörten aber am Ende zu derselben Partei, der er selbst früher angehört habe. Inbetreff der Concessionen stimmte er dem Herzog darin zu, daß augenblicklich alles Aufsehen zu vermeiden sei. Noch aber stand die Unterredung mit B. selbst bevor. Abends 9 Uhr fuhr der Erbprinz in der Wilhelmstraße vor. Als er um Mitternacht das Ministerhotel verließ, war Alles vorbei: die dreistündige Verhandlung hatte mit einem vollen Mißklang geendigt. Ohne noch einen Augenblick zu zögern, wies B. die Vertreter Preußens in Petersburg, Paris und London an, von weiteren Schritten für den Augustenburger abzusehen.

Was war geschehen?

Die Freunde des Prätendenten haben gleich damals behauptet, und sie haben immer daran festgehalten, daß es B. mit der Verhandlung niemals Ernst gewesen sei, daß er ihren Herrn von Anfang an hintergangen und nichts weiter bezweckt habe, als das Wasser zu trüben, den Herzog bei dem König wie bei Oesterreich und den Mittelstaaten, womöglich auch in Schleswig-Holstein selbst in Mißcredit zu bringen, und dem Widerspruch Deutschlands und Europas gegenüber freie Hand und Zeit zu gewinnen. B. selbst dagegen hat alle Schuld des Mißlingens auf den Prätendenten geworfen: dieser habe sich zweideutig und spröde bewiesen; er habe den Rückhalt an Oesterreich und dem Liberalismus nicht aufgeben wollen und Bedingungen gestellt, die durch ihre particularistische Tendenz weder mit den preußischen noch mit den deutschen Interessen, zumal im Hinblick auf die nothwendige Entwicklung der deutschen Seemacht, im Einklang gewesen seien. Und er hat ein Jahr darauf, als der Bruch mit Oesterreich vor der Thür stand, ein Schriftstück veröffentlicht, in dem der Inhalt der Unterredung referirt war und das, wenn sie wirklich so verlaufen ist, in der That beweisen würde, daß der Augustenburger den Moment, in den Besitz seines väterlichen Erbes zu kommen, verpaßt hat. Die öffentliche Meinung ist dadurch, unter dem mitwirkenden Einfluß des Erfolges, lange bestimmt worden, zumal da von augustenburgischer Seite außer allgemeinen Protesten kein Gegenbeweis versucht wurde. Erst nach dem Sturze Bismarck’s haben es die Besiegten unternommen, die Haltung ihres Führers urkundlich zu rechtfertigen; sie haben ein Protokoll über das Gespräch veröffentlicht, das nicht nur ausführlicher als Bismarck’s kurzes Referat ist, sondern von demselben im ganzen wie im einzelnen völlig abweicht. Legen wir aber beide Urkunden [679] neben einander, so kann dem unbefangenen Blick nicht entgehen, daß die Augustenburgische den größeren Quellenwerth hat. Sie ist von dem Herzog unmittelbar nach der Unterredung, theils noch in Berlin, theils in Dolzig, wohin er gleich am Morgen des 2. Juni fuhr, seinem Secretär in die Feder dictirt worden, und sie war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern sollte zunächst dem Herzog selbst zur Information und zur Grundlage für weitere Verhandlungen dienen; alle Beweismomente der Quellenkritik: Umfang, Abfassungszeit, Absicht und der allgemeine Zusammenhang, sprechen zu ihren Gunsten.

Kein Zweifel, daß der Augustenburger die ernste Absicht hatte, zu Preußen zu halten. Dies lag, von Dankbarkeit und dynastischen Beziehungen ganz abgesehen, in seinem eigenen Vortheil, ja er konnte bei seiner Stellung zu den Gothaern und der Lage der Herzogthümer innerhalb der preußischen Machtsphäre gar nicht daran denken, sich in Gegensatz gegen Preußen zu stellen. Aber andererseits durfte er doch auch nicht wünschen, sich mit Oesterreich zu überwerfen. Er war immer der Candidat des vereinigten Deutschlands gewesen, und seine ganze Stellung war darauf angelegt, daß die nationale Verbrüderung unerschüttert bliebe. Er zählte, wie seine Freunde, die Liberalen und die Diplomaten in Dresden und Karlsruhe, auf die nationale Woge, die ihn nach Kiel gebracht hatte; er hoffte, daß er damit Europa imponiren, und daß sich am Ende auch Oesterreich wohl oder übel fügen werde. Bei aller Hinneigung zu Preußen blieb seine Politik doch die der Mittelstaaten, die sich in der Schwebe zwischen den beiden Großmächten zu erhalten suchten. Gerade dadurch aber setzte er sich, nicht zu des Königs und des Kronprinzen, aber zu Bismarck’s Intentionen in Widerspruch. Denn dieser rechnete schon bei seiner jetzigen Politik der Parität mit Oesterreich wesentlich anders; schon sie schob die Mittelstaaten bei Seite und duldete in ihnen keinen selbständigen Willen. Dahinter aber lag erst das höhere und wahrscheinlichere Ziel, das B. seinem Staate gesteckt hatte, die Hegemonie über das kleinere Deutschland, die nicht ohne Kampf mit Oesterreich erreicht werden konnte. Für diesen Fall mußte er Sicherheit haben. Konnte ihm, so mußte er sich fragen, der Augustenburger dieselbe gewähren? An sich hätten nun wohl die Concessionen, die Herzog Friedrich im April eingeräumt hatte und an denen er festhielt, den Bedürfnissen Preußens und selbst den Ansprüchen, die es nach seinen kriegerischen Erfolgen machen durfte, genügen können. Sie hätten ihm wirthschaftlich und militärisch die stärksten Sicherungen verbürgt, und gerade B. kam es immer mehr auf das Wesen der Macht an als auf ihre Attribute; das Verhältniß, in das der Erbprinz zu Preußen treten wollte, entsprach den Vorschlägen zu Separatunionen, die B. selbst vor drei Jahren seinem Könige als Surrogate empfohlen hatte, so lange kein festeres Band zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland als der Bundestag existire, und es entfernte sich gar nicht so weit von der Stellung, welche der Schöpfer des Reiches nach dem Siege über Oesterreich den Bundesstaaten gegeben hat. Aber bei alledem mußte es doch für einen so vorsichtigen Diplomaten wie der preußische Minister war mehr als zweifelhaft sein, ob er die Hand des Augustenburgers ergreifen und Preußens Politik an sein Geschick fesseln dürfe. Denn mit Sicherheit war vorauszusehen, daß Oesterreich diese Wendung nicht dulden würde. Nur deshalb hatte Rechberg sein augustenburgisches Herz entdeckt, um den Erbprinzen von Preußen abzudrängen; er hatte ihn nicht im Zweifel darüber gelassen, daß dies die Bedingung seines Eintretens für ihn sei. Schon hatte Schmerling’s Presse angekündigt, daß auch die Bundesreform wieder auf das Programm der österreichischen Politik gesetzt werden würde; es war vorauszusehen, daß Wien alles aufbieten würde, [680] um die verscherzten Sympathien des liberal und national empfindenden Deutschlands wieder zu gewinnen. B. hätte also darauf gefaßt sein müssen, mit Oesterreich zu brechen. War das Object, um das es sich hier handelte, dies werth? Konnte er überhaupt hoffen, den Augustenburger von seinen bisherigen Verbindungen loszulösen und den eigenen Zielen zu unterwerfen? Mußte er nicht vielmehr besorgen, daß die liberale Richtung, im Innern wie nach Außen, Oberwasser bekommen würde? Und vor allem, war die allgemeine Lage günstig genug, um aus der Politik der Parität, die für Preußen die Bahn frei gemacht hatte, in die des Conflictes mit dem kaum gewonnenen Alliirten überzugehen? Das sind die Fragen, die sich der Minister in jenen Tagen gestellt haben muß; denn es waren dieselben, nach denen er seine Politik überhaupt einrichtete. Und sie mußte er, so werden wir schließen dürfen, verneinen. B. konnte weder hoffen, daß er die liberale Phalanx, zumal wenn Oesterreich sich seinen Gegnern zugesellte, auf diesem Wege sprengen würde, noch machte es ihm die Rücksicht auf die Stellung der europäischen Mächte räthlich, das gefährliche Experiment schon jetzt, bevor noch die Waffen gegen Dänemark niedergelegt waren, zu wagen: England hätte er auch so nicht gewonnen, Rußland brüskirt, Napoleon enttäuscht und Oesterreich in die günstige Situation zurückgebracht, aus der er es seit dem Herbst herausmanövrirt hatte. Das Bündniß auf der Basis der Parität war noch nicht ausgenützt; Preußen hätte nicht nur die Gunst der europäischen Constellation, sondern auch die Führung der deutschen Politik verloren.

Also hatten die Augustenburger ein Recht zu ihren Anklagen? Ich möchte doch auch das nicht sogleich und unbedingt bejahen. Es war einer jener Schritte des Ministers, bei denen er sich nach allen Seiten umsah und den Fuß so setzte, daß er sich nach rechts oder nach links und unter Umständen auch wieder rückwärts wenden konnte. Zunächst war derselbe nicht zu vermeiden, auch in dem Falle nicht, daß B. ihm keine ernste Folge geben wollte. Und immerhin mochte es sich lohnen, einmal zu sehen, wie weit man mit dem Herzog kommen könnte. Natürlich so, daß man selbst sich zu nichts verpflichtete. Für einen Spieler wie B. war der Herzog auf dem politischen Schachbrett unter allen Umständen nur ein Bauer, der sich vielleicht benutzen, aber, wenn es nicht anders ging, auch wegwerfen ließ; der aber niemals die Partie entscheiden konnte. Dies eben war es, was die Holsteiner, ihre Briefe bezeugen es uns, fürchteten. Wenn der preußische Minister sie nun compromittirte? Er brauchte dazu gar keine directe Mittheilung nach Wien gelangen zu lassen, sondern dort nur anzudeuten, daß ihr Herzog mit Preußen verhandele und daß man die Beweise dafür in Händen habe. Ein besseres Mittel, um das sorgsam geschonte Verhältniß des Prätendenten zu Oesterreich zu stören, der Wiener Diplomatie die plötzlich erwachte Freundschaft mit ihm zu verleiden und sie zu Preußen zurückzuführen, ließ sich nicht ausdenken. Es war eine sehr einfache Rechnung. Sollte B. sie nicht angestellt haben? Bisher hatte Friedrich seine Bedingungen schriftlich nur dem Könige anvertraut, in Form eines Briefes; nur von Fürst zu Fürst war verhandelt worden. Jetzt forderte B. eine neue Besprechung des Herzogs mit dem Kronprinzen und auf Grund derselben ein Exposé, das die gegenseitigen Verpflichtungen enthalten sollte: kein Staatsvertrag, zu dem B. ebenso wenig Neigung zeigte wie der Prätendent, jedoch ein Schriftstück, welches zu den Acten des Auswärtigen Amtes gehört und dem Minister zur Verfügung gestanden hätte. Der Augustenburger legte allen Werth auf die Geheimhaltung; er meinte, das liege auch in Preußens eigenem Interesse; aber es kam ihm, wie sich versteht, vor allem selbst darauf an, daß Oesterreich keinen Wind von der Sache bekäme. B. aber ließ ihn [681] auf jede Weise fühlen, daß Preußen gar nichts an der Heimlichkeit liege, ja er that noch so, als ob die ganze Sache auch vor Oesterreichs Augen geführt werden könnte, und als ob man in Wien den preußischen Wünschen gar nicht so sehr entgegen sei; jedenfalls werde man sich dort fügen müssen, denn die Preußen würden nicht eher aus den Herzogthümern herausgehen, bevor sie ihren Zweck erreicht hätten, und falls Herr von Gablenz sich dem widersetzen sollte, werde man ihm zu begegnen wissen. Die Zusicherungen, die der Erbprinz bereits gemacht hatte, behandelte der Minister fast als Bagatelle: der König lege Gewicht auf die Militärconvention, er selbst weit weniger; ihm sei es besonders um den Marinecanal in Verbindung mit der Marinestation und dem Marinehafen zu thun. Hierfür forderte er die Verwaltung durch Preußen und die Abtretung der Endpunkte zur Erbauung zweier Festungen, von denen die eine gegen die See wie von der Landseite her geschützt sein müsse, zusammen ein Territorium von der Größe des hamburgischen Staatsgebietes, beiläufig acht Quadratmeilen. Er deutete ferner an, daß die Herzogthümer sämmtliche Kriegskosten tragen müßten: Oesterreich habe seine Rechnung schon aufgestellt; und er gab zu verstehen, daß man auch noch ein Conto für den früheren Krieg um die Upewigungedeelten im Kasten habe. Er beschwerte sich bitter über die liberalen Räthe des Prätendenten und über seine Beziehungen zu dem Herzog von Coburg, dem „Feinde Preußens“, wie er den intimsten Freund des kronprinzlichen Hauses nannte: Preußen könne nicht dulden, daß die Herzogthümer ein zweites Coburg würden und eine parlamentarische Regierung sich dort etablire, welche dem conservativen Preußen Gefahr bringe; und er erklärte, daß der Erbprinz seine Zustimmung zu dem Vertrage in keinem Punkte von der Einwilligung der Stände, an die er durch sein Wort gebunden war, abhängig machen dürfe. Er ängstigte ihn mit der Sympathie Rußlands für Dänemark und eventuell für die Candidatur des Großherzogs von Oldenburg, und meinte, daß er Letzteren mit Leichtigkeit in drei Tagen auf der Conferenz durchbringen könne; Fürst Gortschakoff habe ihm schon telegraphisch mitgetheilt, daß, wenn Oldenburg die Herzogthümer erhielte, Rußland nichts dagegen hätte, Preußen die gewünschten Vortheile einzuräumen. Und schließlich bot er für alle Concessionen nichts weiter als die Zusicherung, daß Preußen sich bemühen wolle, das möglich beste Resultat für den Erbprinzen zu erlangen. Worin dies bestehen sollte, ließ er ungesagt. Von der Apenrader Grenze, die er vor acht Tagen in Aussicht gestellt und an der der König noch bei der Audienz in Babelsberg festgehalten hatte, wollte er nichts mehr wissen: er habe heute telegraphisch die Linie Flensburg-Bredstedt in Vorschlag gebracht, wonach also halb Schleswig dänisch geblieben wäre; ja er schien, obwohl er auch von einer Linie Flensburg-Tondern sprach, sogar zu fürchten, daß man sich mit noch viel weniger, mit einer Grenze von der Schlei bis Husum werde begnügen müssen: es sei unmöglich, die Grenze bereits genau zu bestimmen, man werde möglichst viel zu erreichen suchen; übrigens werde der Canal nach Eckernförde auch dann noch gesichert sein, falls nur die Linie Schlei-Husum acceptirt werden würde. Preußen könne sich nicht für Sundewitt opfern; der Haupterfolg liege darin, daß die preußische Armee geprüft sei und den Sieg errungen habe; Preußen müsse einen reellen Vortheil aus dem Kriege zurückbringen; in Preußen seien kaum zwei Meinungen darüber, daß es das einfachste sei, die Herzogthümer zu behalten, dann werde man schon die Kosten selbst tragen können; Preußen dürfe die großen Opfer nicht umsonst gebracht haben. Preußen und immer Preußen war das Wort, das der Minister seinem Gast zu hören gab. Nun ist es ja wohl möglich, daß, falls der Prätendent zu allem Ja gesagt hätte, so zwar, daß B. sich unbedingt auf ihn hätte verlassen können, dies auf [682] Letzteren nicht ohne Eindruck geblieben und von ihm für seine weiteren Combinationen in Betracht gezogen worden wäre. Wird man aber darum schon behaupten dürfen, daß der Herzog in jener Nacht sein Glück verscherzt habe, daß Preußen seine Politik an ihn unwiderruflich gekettet, und daß B. sich „moralisch“ an ein Verhältniß gebunden gehalten haben würde, welches ihn rechtlich zu so gut wie nichts verpflichtete?

Um zu einem sicheren Urtheil zu gelangen, würde eine intimere Kenntniß der Quellen gehören. Die Schwierigkeit erhöht sich für uns, wenn wir bedenken, daß die Combinationen Bismarck’s selbst mit der täglich sich verschiebenden politischen Situation wechseln mußten; nur im allgemeinen werden wir die Richtung seiner Politik bestimmen können. Vielleicht war der Gedanke, mit dem Herzog zu verhandeln, anfangs in ihm ernstlicher als später, und wohl möglich, daß er bei der Unterredung selbst weniger darauf aus gewesen ist, ihn mit Oesterreich, als mit König Wilhelm zu brouilliren. Halten wir seine Aeußerungen mit dem, was der König dem Erbprinzen wenige Stunden vorher gesagt hatte, zusammen, so ist es wirklich schwer, ihnen eine andere Deutung zu geben; sie vergleichen sich nur zu gut mit dem die nächsten Wochen erfüllenden officiösen Preßtumult, der ganz offenbar dazu bestimmt war, die Neigungen des Königs für den „legitimen“ Prätendenten vollends zu ersticken.

Es war ein Fahrwasser gewesen, das mit seinen liberalen Untiefen und den Sandbänken nationaler Schlagwörter für den Minister doch recht unübersichtlich und schwer zu beherrschen war. Jetzt, nachdem er den Augustenburger los geworden war, fühlte er sich wieder in der vertrauten tiefen Fluth der europäischen Politik und gewann gleich wieder die Führung. Durch die Oldenburger Candidatur, die er jetzt vorschob, erwarb er in persönlicher Unterredung die Gunst des Zaren, der am 9. Juni auf der Reise nach Kissingen, von Gortschakoff begleitet, in Berlin Halt gemacht hatte; er führte ihn von Dänemark ab und dämpfte zugleich Oesterreichs Empfindungen für den Augustenburger. Er blieb der Herr der Lage auch auf der Conferenz, indem er auf Napoleon’s Idee, die Bevölkerung zu befragen, zurückgriff; am 18. Juni mußte Graf Bernstorff einen dahin lautenden Antrag stellen. Dadurch spaltete er die Großmächte; weder Rußland noch Oesterreich wollten von einem so revolutionären Mittel hören, das die Unterthanen zu Richtern über ihren König mache; selbst Lord Clarendon vergaß, daß Englands Staatswesen auf keinem anderen Grunde ruhte, und protestirte gegen einen Vorschlag, der auf die Entthronung des dänischen Königs hinausgehe. Hierauf scheiterte auch der letzte Versuch, mit dem die Engländer ihren Schützlingen zu Hülfe kommen wollten, der Antrag, einer fremden Macht die Bestimmung der Grenze zu übertragen: dieser besonders durch die Hartnäckigkeit der Dänen, die auf ihren Inseln besseren Schutz zu finden hofften als vor dem Areopag der Garantiemächte, und die Kanonen erhielten aufs neue das Wort. Oesterreich aber blieb in Krieg und Verhandlung nichts übrig als den Weisungen, die von Berlin ausgingen, zu folgen. Denn auf jede Zögerung und jedes Ausweichen des Alliirten hatte B. immer nur die eine Antwort: nun gut, dann werde Preußen allein vorgehen. Damit brachte er die Wiener Diplomatie, wohin er wollte. Denn soweit hatte er Deutschland hinter sich: die Nation stritt nur darüber, ob König Wilhelm oder der Augustenburger die Grenzmark im Norden besitzen dürfe. Nur im Bunde mit Preußen konnte Oesterreich der öffentlichen Meinung trotzen: sobald der Rivale mit der nationalen Strömung ging, ward es mit fortgerissen; es mußte hinterdrein, weil es sonst die Mittelstaaten verloren, sich selbst von Deutschland ausgeschlossen und isolirt hätte: es hatte nicht die Kraft, auf sich allein zu stehen. [683] Auch so noch blieb es immer zurück. Im Felde fielen die entscheidenden Erfolge den Preußen zu: der neue Lorbeer, den sie auf Alsen um ihre Fahnen wanden, kam dem auf Düppels Wällen gepflückten gleich; sie erreichten als die Ersten die Nordspitze der Jütischen Halbinsel; und selbst zur See gelang ihnen der letzte Streich im Kriege, als sich der dänische Capitän Hammer in dem schleswig’schen Wattenmeer einem preußischen Kanonenboote ergab. Von den Mächten preisgegeben, bequemten sich die Besiegten zum Frieden. Und wieder war es B., der dessen Preis dictirte: die Auslieferung des ganzen augustenburgischen Erbes zur gemeinsamen Verfügung an Preußen und Oesterreich; er selbst brachte am 1. August die Präliminarien in Wien zum Abschluß.

Der Knoten, den er am 16. Januar geschlungen, war damit noch fester geschürzt worden. Die Geschicke Deutschlands lagen ganz in der Hand der Großmächte und die kleinen Höfe waren ohnmächtiger als je; mit leichter Mühe wurden die Versuche, welche die Mittelstaaten unter Beust’s Führung machten, Einfluß auf Krieg und Verhandlungen zu gewinnen, abgewiesen, und immer war es B., der das zögernd und widerwillig folgende Wiener Cabinet hinter sich her zog. Um die Freundschaft noch enger zu gestalten, kamen die Monarchen, von ihren Ministern begleitet, in Schönbrunn zusammen. Lebhaft trat B. hier für die gemeinsame Leitung der deutschen Angelegenheiten ein; er wies auf die Gleichheit der dynastischen Interessen, auf die Vortheile einer conservativen Politik hin, und ließ sogar die Möglichkeit durchblicken, daß Preußen einmal für Oesterreichs Stellung in Italien eintreten könne; niemals hat er sich den österreichischen Wünschen mehr genähert. Aber zu festen Abmachungen gelangte man nicht, weder in der schleswig-holsteinischen noch in der italienischen Frage; und die Andeutungen des Kaisers und seiner Räthe, Oesterreichs Rechte an die Herzogthümer, sei es für ein Stück Schlesiens oder für die Garantie Venetiens verhandeln zu wollen, stießen auf taube Ohren; König Wilhelm zeigte sich inbezug auf Schlesien noch unzugänglicher als sein Minister. Die Absichten Bismarck’s, die aus der schlechten Ueberlieferung über die Verhandlungen von Schönbrunn nur unvollkommen zu erschließen sind, werden deutlicher, wenn wir sein Verhalten Frankreich gegenüber in diesen Tagen beachten: am 21. August, einen Tag vor der Zusammenkunft in Schönbrunn, erhielt der preußische Kriegsminister den Befehl, die französischen Manöver in Chalons zu besuchen. Er folgte einer Einladung Napoleon’s, die Goltz am 19. telegraphisch gemeldet hatte, aber die Anregung war von Preußen ausgegangen: der König selbst hatte den Wunsch geäußert, die beiderseitigen Manöver durch Officiere zu beschicken. Nun ward allerdings der militärische Charakter der Sendung streng gewahrt. Roon’s Instruction legte ihm auf, alles zu vermeiden, was einer politischen Mission ähnlich sei: nur von sich aus, und erst wenn der Kaiser davon anfinge, sollte der General den Nutzen einer größeren Annäherung und intimerer Beziehungen zwischen beiden Höfen hervorheben und nichts äußern, was nicht an den andern Höfen, besonders in Wien, bekannt werden dürfe; denn man habe keine Sicherheit, daß dahin nicht Mittheilungen gelangen würden. Dennoch war es ein Schritt, der in Wien nicht angenehm berühren konnte. Er bewies, allen guten Worten zum Trotz, daß die preußische Politik sich in den europäischen Fragen unabhängig zu halten und nur eben Deutschland der gemeinsamen Führung zu unterwerfen gedenke. Wenige Wochen später machte sich B. selbst auf den Weg nach Frankreich. Sein Ziel war Biarritz, wo es ihm vor zwei Jahren so gut gefallen hatte; aber es war gewiß nicht bloß die Sehnsucht nach den Bergen und der lauen Luft des Südens, die ihn in das Pyrenäenbad führte, wo zufällig auch der französische Kaiser Erquickung suchte; sondern offenbar wollte er den Herren in [684] Wien bemerklich machen, daß Preußen in der Welt noch andere Freunde habe. Dennoch hielt B. an der Maxime fest, sich nirgends zu vertiefen, den Franzosen nichts zu sagen, was die Oesterreicher, und diesen nichts, was die Franzosen nicht hören durften. Es war ihm daher durchaus nicht erwünscht, daß der König bei den Berathungen über den Handelsvertrag mit Oesterreich, die der Erneuerung des Zollvereins parallel gingen, sich nicht dazu entschließen mochte, den § 25 des alten Vertrages zu erneuern, wodurch nach Ablauf der festgesetzten zwölfjährigen Zollvereinsperiode neue Verhandlungen über den Eintritt Oesterreichs in den Zollverband in Aussicht genommen wären. Vergebens warnte der Minister von Biarritz aus, den Verbündeten durch die Versagung einer so rein formellen Concession zu kränken: der König folgte diesmal den Rathschlägen des Fachreferenten, Ministerialdirector Delbrück’s, der dabei den Minister des Handels und der Finanzen auf seiner Seite hatte. Wilhelm wünschte darum keineswegs den Bruch mit Oesterreich; im Gegentheil, sein Entschluß war noch eine Nachwirkung der alten Politik, die den Einfluß Preußens in Deutschland in friedlicher Concurrenz mit Oesterreich wahren wollte und gar nicht damit rechnete, daß innerhalb der zwölf Jahre Ereignisse eintreten könnten, welche nicht nur das dünne Band jenes Artikels, sondern noch andere und stärkere Verträge zerreißen könnten.

Was B. vorausgesagt hatte, geschah: Rechberg, dessen Stellung längst erschüttert war, kam darüber zu Fall; seine Gegner ließen ihn nur eben noch den dänischen Frieden fertig bringen; an dem Tage, wo die Friedensurkunde unterzeichnet wurde, erhielt er seinen Abschied. Die Brücken wurden darum nicht abgebrochen; auch der Nachfolger Rechberg’s, Graf v. Mensdorff-Pouilly, war ein erprobter Conservativer, und die beiden Monarchen versicherten sich gegenseitig, daß es ihr Herzenswunsch sei, die alte Freundschaft unvermindert dauern zu lassen. Aber in der That war der Umschwung nicht mehr aufzuhalten, und die in der Tiefe ruhenden Gegensätze traten aufs neue und von Tag zu Tage schärfer hervor.

Nun ist es jedoch nicht dieses Orts, jede Wendung der Politik Bismarck’s zu verfolgen; nur dann würden wir überhaupt dazu berechtigt sein, wenn wir die Forschung vertiefen könnten; aber gerade für diese Epoche hat Heinrich v. Sybel das diplomatische Spiel, das zwischen Berlin und Wien geführt wurde, aus den Acten ausführlich und mit Meisterschaft geschildert. Unsere Aufgabe kann es um so weniger sein, ihm hierin zu folgen, als in jedem Moment doch nur wieder die allgemeinen Verhältnisse wiederkehren, die wir bereits kennen lernten.

Oesterreich fiel nach dem Sturze Rechberg’s, trotz der conservativen Gesinnung des leitenden Ministers, in die Stellung zurück, aus der es durch Rechberg und B. selbst im Herbst des vorigen Jahres herausgedrängt war. Indem es sich von neuem in Gegensatz zu Preußen stellte, sah es sich genöthigt, sich wieder auf die willkürlich verlassenen deutschen Freunde zu stützen, den Bund gegen Preußen mobil zu machen und die kleinen Künste des Kokettirens mit der öffentlichen Meinung Deutschlands aufs neue zu versuchen. An Krieg dachte man darum in Wien noch nicht; auch nicht die Heißsporne, wie Biegeleben, von dessen Hand die jetzt nach Berlin gerichteten Depeschen waren, und der überhaupt in Oesterreichs deutscher Politik einen bestimmenden Einfluß erhielt; viel zu sehr war man sich der eigenen Schwäche bewußt. Im Gegentheil, am liebsten hätte man an der Donau auch jetzt noch Preußen zur Seite gehabt – so wie es unter Schwarzenberg und Metternich der Fall gewesen war. Auch B. aber wollte noch nicht den Bruch. Die Politik der [685] Parität bot ihm immer noch Vortheile. Die Annexionspartei wuchs und fand ihre Anhänger bereits unter der Fortschrittspartei, ja in den Herzogthümern selbst; die Zersetzung in der Opposition hielt damit Schritt, und immer mehr machten sich Stimmen bemerkbar, die den Liberalismus aufforderten, dem Banner zu folgen, das der preußische Staatsmann aufgepflanzt hatte. Dem Druck dieser Strömung mußte auch der Herzog von Augustenburg nachgeben; ohne sich von Oesterreich loszusagen – denn es war der einzige Damm, der sich ihm gegen die Annexion darbot –, gab er sich doch in den Verhandlungen, die er seit dem Herbst durch Herrn v. Ahlefeld unterhalten ließ, und die B. von Zeit zu Zeit wieder aufnahm, noch willfähriger als im Frühling. Es gewann fast den Anschein, als ob Oesterreich ohne Krieg mürbe gemacht werden könne und Preußen, wenn nicht die Annexion, so doch solche Stellungen in den Elblanden einräumen werde, welche ihm die volle Disposition über dieselben im Krieg und Frieden gesichert haben würden. Dies aber hätte B. zunächst wol genügt. Die Zumuthung des immer hastigen Grafen Goltz, gleich jetzt die Hand Napoleon’s zu ergreifen und das Bündniß, zu dem der Kaiser zu locken nicht aufhörte, zu schließen, lehnte er ab; und es war nicht bloß der Widerwille König Wilhelm’s gegen die Verbindung mit dem Bonaparte, was den großen Minister zurückhielt, sondern auch die eigene, mit unerschütterlicher Kühnheit stets gepaarte Vorsicht. Das Bündniß mit Oesterreich, schrieb er am 20. Februar dem Botschafter zurück, sei noch nicht ausgenützt; wir würden, indem wir Wien zwischen der Hoffnung auf unsern Beistand und der Furcht vor dem Uebertritt auf Seite der Gegner Oesterreichs halten, bessere Geschäfte machen, als wenn wir Oesterreich ohne Noth zwängen, sich auf unwiderruflichen Bruch mit uns einzurichten. „Es scheint mir zweckmäßiger, die einmal bestehende Ehe trotz kleiner Hauskriege einstweilen fortzusetzen, und wenn die Scheidung nothwendig wird, die Verhältnisse zu nehmen, wie sie dann sind, als schon jetzt das Band unter allen Nachtheilen zweifelloser Perfidie zu zerreißen, ohne die Sicherheit, jetzt bessere Bedingungen in einer neuen Verbindung zu finden als später.“ So zog er zwar das Bündniß mit Frankreich in Rechnung, aber nur als einen „Nothanker“, für den Fall, daß das Wiener Cabinet einen billigen Abschluß versage, sobald sein Bündniß sich für Preußen werthlos erwiesen hätte, oder wenn es durch Oesterreichs Initiative sich löste. Dann, so schreibt er, würden wir, vor Deutschland und Europa gerechtfertigt, offen mit Frankreich abschließen können. Man sieht, es waren nicht moralische Skrupel, die den Minister von der Verbindung mit Napoleon zurückhielten, sondern politische Erwägungen. Seine Taktik ging davon aus, daß dem französischen Kaiser nichts mehr am Herzen liege, als die preußisch-österreichische Allianz zu sprengen, und daß schon dieser Erfolg für ihn ein hinlänglicher Preis sein würde, um Preußen in den Herzogthümern wesentliche Concessionen zu machen. Man dürfe ihn nicht der Versuchung aussetzen, die in der Existenz eines solchen Vertrages läge, dürfe nicht ein Document in seine Hand geben, das nur gezeigt, nur erwähnt zu werden brauche, um ihm den ersehnten Erfolg in vollem Maße zu verschaffen: „Der Mangel an Aufrichtigkeit gegen Oesterreich, dessen uns jeden Augenblick zu überführen, Frankreich ein so sicheres Mittel besäße, würde uns nicht nur auf lange Zeit jedes Vertrauen Oesterreichs kosten, sondern auch in Deutschland die volle Verurtheilung durch das Volk und die Regierungen nach sich ziehen; er würde tiefes Mißtrauen erzeugen bei England, das sich durch uns auf der Seite indirect bedroht glauben würde, wo es für den Fall eines großen Conflicts auf unsere Unterstützung zu rechnen liebt; er würde erkältend auf unsere Beziehungen zu Rußland wirken. Den andern Mächten [686] gegenüber isolirt, wären wir auf Frankreich allein angewiesen: ohne seinen Zumuthungen ein hinreichendes Gegengewicht, sei es in Anerbietungen sei es in Drohungen, leisten zu können, dürften wir nicht einmal erwarten, daß das deutsche Nationalgefühl sich für eine durch Preußen aufgelegte Rheinbundspolitik und für ein verstümmeltes Schleswig-Holstein erwärmen würde.“ B. war Realpolitiker genug, um Napoleon einen solchen Verrath, wie überhaupt die zweideutige Haltung seiner Politik, die ohne Frage ein Ausfluß seines Willens sei, nicht weiter übel zu nehmen: man dürfe, schreibt er, dadurch nicht befremdet, nicht verletzt sein, Frankreich schulde uns nichts; es würde nur dem Gebote eines natürlichen Egoismus folgen, indem es seine Stellung uns gegenüber, indem es uns selbst auzunutzen suche. Aber um so weniger war er gewillt, dem Kaiser die Hand zu einer Politik zu bieten, die jenen zum Meister im Spiel gemacht, ihn selbst aber gezwungen hätte, seine besten Trümpfe fortzugeben. So lange der Bund mit Oesterreich, wenn auch nur an dünnen Fäden hielt, mußte Preußens Stellung zu Frankreich in der Schwebe bleiben. Jedoch brauchte B. von sich aus gar nicht nachzuhelfen, um die Freundschaft mit Wien zu lockern: sein Glück und sein Genie hatten das Verhältniß so gestaltet, daß der Bruch, der unvermeidlich war, von Oesterreichs Seite her erfolgen mußte, und daß die Politik der größten Klugheit sich zugleich als eine Politik der Vertragstreue geben konnte. Denn alle Vortheile der Allianz lagen auf Seiten Preußens; sie legte die natürlichen Bundesgenossen Habsburgs in Deutschland, die Höfe und die Bevölkerungskreise, die ihm anhingen, seine liberale wie seine clericale Gefolgschaft lahm, und fesselte die Wiener Politik an Aufgaben, die ganz in Preußens Interessensphäre fielen. Niemals hatte B. zugegeben, daß das Bündniß auf anderem Felde als dem der deutschen Politik wirksam würde, und alle Hoffnungen des Alliirten Preußen für die wirklichen Interessen Oesterreichs, für seine europäische Politik zu gewinnen, hatte er zu eludiren gewußt. Während er selbst frei blieb und jeden Schritt, den er an der Seite Oesterreichs machte, zum Vortheil seines Staates wandte, verwickelte er dieses immer mehr in die Schlingen, die es sich halb willig halb gezwungen um Hals und Füße hatte werfen lassen. Und er war nicht gesonnen, dem Bundesgenossen auch nur in einem Punkte die Bewegungsfreiheit zu lassen; noch nach dem Sturz Rechberg’s, als bereits die Depeschen des neuen Cabinets, welche die Fessel abstreifen sollten, in seinen Händen waren, zerrte er es hinter sich her, zwang es, mit Preußen am 8. December in Frankfurt die Bundesexecution in Holstein für erloschen zu erklären und damit die Mittelstaaten aufs neue zu brüskiren. Hinterhaltigkeit dürfte man auch Oesterreich in diesen Verhandlungen gewiß nicht zum Vorwurf machen. Die Depeschen Biegeleben’s bezeichneten es so deutlich wie möglich als die Pflicht und den Willen seines Kaisers, die Allianz mit Preußen auf den Boden der Bundesacte zu stellen, d. h. den Bundestag zum Schiedsrichter zu machen, und für das Recht des Augustenburgers in den Herzogthümern einzutreten. Das war bereits, da an ein Zurückweichen Preußens nicht zu denken war, die Ankündigung des Conflictes. Und dabei verhehlten die Oesterreicher gar nicht einmal, daß sie sich davor fürchteten, und daß sie den Frieden bedürften, den dauernden Frieden, wie Mensdorff im December zu Werther klagend sagte: diese schreckliche Herzogthümerfrage aber schließe die Keime unabsehbarer Verwicklungen in sich; daher sei es unabweisliche Pflicht, den schnellsten Abschluß derselben zu fordern. Ja, sie gingen in ihren Confidenzen soweit, daß sie von neuem die Preisgebung des Prätendenten anboten, wenn ihnen selbst dafür ein Aequivalent verschafft würde; sie hätten auch wohl auf Glatz verzichtet, wenn Preußen sich dafür verpflichtet hätte, [687] ihnen in Italien oder Ungarn zu helfen. Je nervöser sie jedoch wurden, und je ungestümer sie drängten, um so ruhiger blieb B. Für ihn hatte die Sache gar keine Eile. „Sehen Sie“, sagte er am 8. Februar zu Karoly, „wir stehen da vor der Frage der Herzogthümer wie zwei Gäste, die ein treffliches Gericht vor sich haben; der Eine aber, welcher keinen Appetit hat und es nicht verzehren will, verbietet energisch dem Andern, welchen der Leckerbissen reizt, zuzulangen und zu schmausen. So warten wir denn, bis der Augenblick kommt; einstweilen befinden wir uns leidlich wohl in unserer Lage und werden sie erst ändern, wenn man uns befriedigende Bedingungen anbietet“. Die Einmischung des Bundestages aber verbat er sich, und zwar unbedingt: der Conflict, den Oesterreich so dringend zu vermeiden wünsche, würde damit gegeben sein, und seine Regierung scheue ihn nicht: sie würde dabei ihr ganzes Volk in Waffen hinter sich haben; möge man sich hüten, die Sache auf diese Spitze zu treiben. Es war immer das alte Verhältniß: vollbewußte Stärke auf der einen, und offenkundiges Schwächegefühl auf der andern Seite. Vierzehn Tage später ließ sich B. dennoch herbei, die Bedingungen zu nennen, für deren Erfüllung Preußen sich mit seinen Ansprüchen auf den Gemeinbesitz abfinden lassen wolle. Es war mehr, als er von dem Augustenburger je gefordert hatte; es war die volle Unterwerfung der Herzogthümer unter Preußen. Nicht bloß der Anschluß an den Zollverein, sondern auch an das Zollsystem Preußens ward verlangt; nicht nur die Oberaufsicht über den künftigen Nord-Ostsee-Canal und die Abtretung seiner Mündungen, sondern auch der Besitz von Friedrichsort und der Stellungen auf Düppel und Alsen; nicht bloß eine Militär- und Marine-Convention und preußische Besatzung in der „Bundesfestung“ Rendsburg, sondern kurzerhand die Einfügung von Heer und Flotte der Herzogthümer in die preußische Kriegsmacht: die ganze Militärgesetzgebung Preußens sollte im Lande gelten, preußische Beamte die Aushebung von Rekruten und Matrosen vollziehen, die Truppen den preußischen Fahneneid dem Könige leisten und nach dessen Belieben auch in preußischen Garnisonen, selbst im Frieden, vertheilt werden können; er allein sollte im Krieg und Frieden ihr Herr sein. Auch das Post- und Telegraphenwesen sollte in Preußens Hände übergehen, und also nicht bloß die militärische, sondern auch die civile Gewalt zum Theil von Berlin her geleitet werden. Kaum mehr als der Name hätte zur vollen Souveränität der preußischen Krone in den Elblanden gefehlt. In dieser Stellung hätte der Herzog auch am Bunde nicht mehr schaden können; er hätte überhaupt nichts mehr bedeutet; er wäre in die Vasallität Preußens hinabgesunken. Es wäre eine Stellung geworden, wie sie noch niemals in dem deutschen Bunde Rechtens gewesen war, und die dem Geist desselben jedenfalls völlig widersprochen hätte: nur als Vorstufe zu einer neuen deutschen Gemeinschaft, als die gleichberechtigte Mitgliedschaft eines Bundesstaates unter Preußens Hegemonie hätte sie dem Herzog und dem Lande selbst erträglich werden können; die Annexion selbst hätte ihr bei weitem vorgezogen werden müssen. Um so unannehmbarer war sie für Oesterreich. B. stellte die Artikel als einen Beweis des Entgegenkommens Preußens dar, als Concessionen, zu denen es sich nur auf das Drängen des Bundesgenossen verstehe: diesem selbst war dafür lediglich nichts geboten, weder eine Landabtretung, noch irgend ein Versprechen, das auf die Unterstützung in seinen europäischen Nöthen hätte gedeutet werden können; B. that gar so, als ob seiner Regierung das Condominium weitaus lieber wäre, und zeigte sich bereit, in jedem Augenblick darauf zurückzukommen. Aber in der That, man darf danach fragen, ob er im Ernst geglaubt, daß der Rivale solche Ansprüche anerkennen könnte, und ob er sie nicht in der bestimmten Berechnung [688] aufgestellt hat, daß sie zurückgewiesen werden würden. In Wien war man keinen Augenblick im Zweifel, was man zu thun habe. Einer solchen Niederlage konnte man sich nicht aussetzen. Man beschloß, die Fessel zu zerreißen. Am 5. März ging die Erklärung nach Berlin ab, daß auf dieser Grundlage eine Einigung unmöglich sei; mit vollem Nachdruck war darin der Satz ausgesprochen, daß zwischen dieser factischen Mediatisirung und den Fundamentalsätzen des deutschen Bundes ein unlöslicher, vollkommener Widerspruch bestehe. Aber mit Worten war es nicht gethan. Man mußte jetzt handeln. Und das hieß, das Bündniß aufgeben, in das man sich seit einem Jahr verstrickt hatte. Aber wo blieb ein anderer Ausweg? In Europa gab es keine Macht, auf die Oesterreich sich hätte verlassen können. Nur in Deutschland, nur bei den Mittelstaaten fand man verwandte Interessen, konnte man auf wirkliche Hülfe gegen die übergreifende Macht des unerbittlichen Alliirten hoffen. Jeder Schritt aber dahin ward ein Verstoß gegen den Vertrag vom 16. Januar, gegen die Verabredungen von Schönbrunn, gegen alle Bindungen, auf die man sich seit dem Einmarsch in Schleswig eingelassen hatte, und gegen die Paragraphen des Bundesrechtes selbst, das jede Majorisirung eines Bundesgliedes verwarf. Man mußte, je weiter man auf diesem Wege voranschritt, formell sich um so mehr ins Unrecht setzen. Und wo gab es ein Terrain, das dem schrecklichen Gegner vertrauter war als die Satzungen des Bundes, der seiner Natur nach nichts als die Constituirung der staatlichen Ohnmacht, die Neutralisirung jeder politischen Action war? Aber anders ging es nun nicht. Und so erließ am 19. März Graf Mensdorff das Circular an die Mittelstaaten, in denen er die Zustimmung seiner Regierung zu dem von Beust und Pfordten vorbereiteten Antrag an den Bundestag gab, die Einsetzung des Augustenburgers vor dessen Forum zu ziehen. Die Antwort Preußens erfolgte auf der Stelle: auch sie nicht blos in Worten, sondern mit der That. Am 24. März erging der Befehl des Königs an den Kriegsminister, die preußische Marinestation von Danzig nach Kiel zu verlegen; am selben Tage sandte B. an Werther und Savigny, der seit einem Jahr Preußen in Frankfurt vertrat, die Erlasse, welche die Ansichten Preußens präcisirten und gegen jede Verletzung des Bundesrechtes Verwahrung einlegten; Savigny aber meldete sogleich brandenburgische Ansprüche auf ungefähr die Hälfte der Herzogthümer an. Die Majorität am Bunde ließ sich dadurch noch nicht schrecken: die Mittelstaaten fühlten den Schlag gegen sich mit gerichtet; am 6. April sprach der Bundestag mit 9 gegen 6 Stimmen die „vertrauensvolle Erwartung“ aus, daß die Vormächte nunmehr die Verwaltung Holsteins dem Prinzen von Augustenburg übergeben und zugleich dem Bunde ihre Entschließungen über Lauenburg mittheilen würden. Es mußte den Oesterreichern wieder wie Hohn in die Ohren fallen, wenn dann B. auf ihren Einspruch gegen die Besetzung und die Befestigungsarbeiten in Kiel, die sofort im Landtage durch Roon angekündigt wurden, keine andere Antwort gab, als daß Preußen nur das thue, was Oesterreich selbst in jedem Augenblicke frei stehe: ein jeder der beiden Miteigenthümer habe als solcher das Recht, die Buchten und Häfen des Landes für seine Schifffahrt zu benutzen, soweit er dadurch die gleiche Befugniß des Genossen nicht verkümmere, und jeder Gedanke hieran liege der preußischen Regierung fern; wenn Oesterreich nach den geographischen Verhältnissen nicht in der Lage sei, den Kieler Hafen für seine Flotte zu gebrauchen, so sei dies kein Grund dafür, daß das anders gelegene Preußen ihn ebenfalls todt liegen lasse; Preußen sei bereit, ebenso viel Landtruppen aus Holstein wegzuziehen, wie das nach Kiel bestimmte Seebataillon Köpfe zähle. Der König, so schloß die Note, habe bei dieser Sachlage den österreichischen [689] Protest nur mit hohem Befremden entgegennehmen können. Aber in alledem war kein Wort, das mit den Verträgen im Widerspruch stand, während Oesterreich sie mit jedem neuem Schritt verletzte.

Die Krisis nahm jetzt sehr bald einen acuten Charakter an. Am 29. Mai wurde in einem Ministerrath, dem der König präsidirte und zu dem mit dem Kronprinzen auch General v. Moltke hinzugezogen war, die Kriegsfrage gestellt. Die Stimmung der Armee war im ganzen für Annexion und Krieg; Moltke konnte es dem König, der danach fragte, versichern. Er fügte hinzu, daß er eine siegreiche Durchführung des Feldzuges für möglich halte, daß man auch auf die numerische Ueberlegenheit in der Schlacht hoffen könne. Der König behielt sich, da sich die Versammlung nicht ganz einig zeigte – denn nicht bloß der Kronprinz widersprach, sondern auch Moltke und Eulenburg redeten doch dem Festhalten an den Februarbedingungen das Wort –, die Entschließung vor; aber im Juni und Juli, während er in Karlsbad, wohin ihm B. gefolgt war, den Brunnen gebrauchte, verschärfte sich die Lage immer mehr und drängte Wilhelm der Entscheidung zu. Die Agitation der Augustenburger, die Oesterreich unverholen schürte, und die sich mit Allem was in Deutschland unpreußisch empfand, verbündete, brachte auch ihn ins Harnisch; seine legitimistischen Skrupel beseitigte das Rechtsgutachten der Kronjuristen, welches dem Prätendenten die Erbberechtigung absprach; als der Kaiser den von dem König persönlich an ihn gerichteten Appell, die demagogischen Umtriebe des Erbprinzen zu verhindern, zurückwies, zeigte er sich entschlossen, sein Recht mit dem Schwerte zu suchen. Auf der Reise nach Gastein, zu Regensburg am 21. Juli, wohin er von neuem seine Minister beschieden hatte, wurde das Ultimatum gestellt. Da gelang es dem Vermittlungseifer des österreichischen Gesandten in München, des Grafen Blome, der ein geborner Holsteiner, aber convertirt und in des Kaisers Dienst getreten war, die halbgezückten Schwerter noch einmal in die Scheide zurückzudrängen; nach langwierigen Verhandlungen, die Ende Juli begannen, kam am 14. August der Vertrag von Gastein zu Stande. Es war der Gedanke der Teilung, der damit realisirt wurde. Graf Blome trug ihn zuerst, seinem Auftrage gemäß, in der Form vor, daß lediglich die Verwaltung der Herzogthümer getrennt, das Condominium aber bleiben solle, ließ sich jedoch von den Preußen bestimmen, die definitive Theilung des Besitzes in Wien anzubieten. Damit aber drang er in der Hofburg nicht durch. Denn dann hätte Oesterreich den Augustenburger preisgeben müssen und sich die Zukunft aufs neue verbaut, den Rückweg zu den Mittelstaaten mehr als je versperrt. Der Kaiser verweigerte daher, wie zu erwarten war, die Annahme, und hielt an dem ersten Vorschlage fest. Der König aber und sein Minister gingen darauf ein. Denn, so werden wir Bismarck’s Erwägungen deuten können, um so weniger ward Preußen selbst verpflichtet, um so leichter konnte es einen neuen Frontwechsel vollziehen. Wenn er noch einmal an sich hielt, so bestimmten ihn dabei neben der sehr unsicheren Haltung Baierns, daß er vergebens aus seiner Reserve heraus zu locken versucht hatte, die Nachrichten aus Paris und mehr noch aus Florenz, die im entscheidenden Augenblick sehr viel schlechter lauteten als in den Wochen vorher. Wir bemerkten, wie vorsichtig B. von jeher gerade den beiden Mächten gegenüber war, mit denen er in der Krisis am meisten rechnen mußte. Der „Bülten“, auf den er an dieser Stelle hätte treten müssen, schien ihm offenbar nicht fest genug zu sein, um den verhältnißmäßig sicheren Boden zu verlassen, den ihm die Gasteiner Abmachung bot.

Niemand war mit der unverhofften Wendung zufriedener als König Wilhelm. Das neue Olmütz, das er gefürchtet hatte, war vermieden und, [690] wie ihm schien, dasjenige erreicht worden, was er vor 15 Jahren vergebens erstrebt hatte: Ehre und Vortheil waren gewahrt, die Rechte, die das preußische Schwert erworben, anerkannt, der Friede und die conservativen Interessen gesichert. In der Freude seines Herzens erhob er den Minister in den Grafenstand. B. selbst war, wie man weiß, auf diese Verklebung der Risse im Bau weniger stolz und glaubte keinen Augenblick an ihre Dauer. Aber zur Unzufriedenheit hatte auch er keine Ursache. Es war wirklich ein Sieg seiner Politik und wurde allgemein so empfunden. Preußen hatte nichts aus der Hand gegeben und war nicht um eine Linie aus seinem Kurs gewichen, während Oesterreich aufs neue das Steuer herumgeworfen hatte und mit dem entgegengesetzten Winde zu fahren gezwungen wurde. Blieb die Lage wie sie war, so boten für Preußen die Stellung in Schleswig, zu dem der Zugang für Post und Truppen gesichert war, der Besitz von Kiel, Zollverein und Canal, und der Erwerb von Lauenburg Vortheile genug dar; während für Oesterreich Holstein in diesem Fall eine Kette am Fuß, wie einst Belgien, ein nutzloser Außenposten wurde. Freilich glichen sich diese Nachtheile der Wiener Politik aus durch ihre Stellung zu dem Augustenburger, der im Lande blieb. Aber letztere war nur dann auszunutzen, wenn der Conflict mit Preußen zu neuem Ausbruch kam; und eine Frontwendung gegen Berlin war nur wieder durch einen Wechsel der Position und durch die formelle Verletzung des eben eingegangenen Vertrages möglich. Wieder war Preußen in der Lage, als Hüter des Wortes und der Verträge dazustehen, und wieder hatte Oesterreich das Leitseil um den Hals. Auch unterließ B. nichts, um dem Bundesgenossen seine Unfreiheit fühlbar zu machen, bis in den November hinein zwang er ihn zu gemeinsamem Vorgehen am Bunde: während er selbst bereits Wege beschritten hatte, die, ohne formell den Boden von Gastein zu verlassen, in der That in Oesterreich nicht anders denn als stärkste Feindseligkeiten empfunden werden konnten.

Vor allem durch die Beziehungen, die er mit Frankreich und in der Folge mit Italien anknüpfte. Er hatte es nach Gastein fast seine erste Sorge sein lassen, Napoleon zu beruhigen, bereits am 16. August hatte er Goltz eine entsprechende Weisung gegeben. Ja dieselbe enthielt Gesichtspunkte, die über das, was der Botschafter in den Wochen vorher der französischen Regierung vorgetragen hatte, weit hinausgingen. Denn bisher war gegen Frankreich, so viel wir sehen können, nur immer der schleswig-holsteinischen Differenz gedacht worden; sowie auch gegen Oesterreich immer nur sie hervorgekehrt war; es scheint wirklich, als ob B. in diesem Sommer den Conflict ganz auf diese Frage beschränken und die nationale Frage zunächst gar nicht habe aufrollen wollen. Jetzt aber beschloß er letztere Frankreich gegenüber sogleich in den Vordergrund zu stellen. Er nahm damit die Gedanken wieder auf, die er in den früheren Jahren so oft mit Napoleon durchgesprochen hatte. In ihrem Sinn sollte Goltz sich am französischen Hof über die zwei Principien vernehmen lassen, die für Preußens Politik bestimmend sein könnten, das traditionelle der Coalition mit den Ostmächten und das „der unabhängigen und freien Entwicklung des preußischen und norddeutschen Elements zu einer selbständigen Großmacht, die ohne Anlehnung sich durch eigene Macht sicher fühle“. Die ältere Politik sei in der Annahme begründet gewesen, „die vielleicht eine Fiction war“, daß Preußen seine hauptsächlichsten Gefahren von Frankreich zu befürchten habe. Die andere fände ihre Aufgabe in freier Entfaltung der eigenem Lebenskeime und Sammlung der diesen homogenen Elemente im Norden Deutschlands, wie in Beseitigung der Hindernisse, welche der Consolidirung eines nationalen Lebens entgegenstehen; sie entspreche dem Streben Preußens nach Machterweiterung [691] innerhalb der natürlich gegebenen Sphäre und werde von einem großen Teil der Nation ungeduldig ersehnt und gefordert. Ob Kaiser Napoleon es für seinen Beruf halten könne, Preußen zu entmuthigen und von einer Stellung fern zu halten, welche ebenso gut gegen Oesterreich, wie früher gegen Frankreich Front machen könnte? Er würde damit ja den Beweis geben, daß die fünfzigjährige traditionelle Politik die richtige gewesen wäre und auch in der Zukunft für Preußen die bestimmende bleiben müßte. Am Quai d’Orsay ließ man sich, wie verlockend auch ein Anerbieten sein mochte, das Süddeutschland, die Stellungen am Oberrhein aus der preußischen Machtsphäre ausschloß, doch nicht sogleich gewinnen. Die Wendung war zu überraschend, die Enttäuschung allzu groß gewesen; man beschloß vielmehr, dem unzuverlässigen und allzu selbstbewußten Freunde eine Lection zu ertheilen. Am 29. August erließ Drouyn de L’Huys sein Rundschreiben an Frankreichs Vertreter im Auslande, das die Verachtung aller Principien der Nationalität in den gröbsten Worten geißelte. B. erfuhr davon zuerst aus den Zeitungen, die aber sehr bald autoritativ bestätigt wurden. Sein Entschluß war rasch gefaßt. Statt zurückzuweichen, griff er nur um so fester zu; er bat den König, ihn selbst hinzuschicken, um das gefährliche Terrain zu erkunden und Preußens Gegner im Rathe des Kaisers in ihrem eigenen Lager aufzusuchen. König Wilhelm war, wie sich denken läßt, wenig geneigt, den kühnen Schtitt gut zu heißen, und erst als Goltz abschwächende und entschuldigende Aeußerungen des Kaisers melden konnte, gab er die Erlaubniß. Ein Vorwand für die Reise war leicht gefunden: die angegriffene Gesundheit der Frau v. Bismarck und die Nerven ihrer Tochter ließen die Seeluft indicirt erscheinen, und daß auch der Minister nach den Aufregungen des Sommers in dem Modebad der vornehmen Welt, das ihm schon zwei Mal so wohl gethan, Erfrischung suchte, ließ sich ja wol verstehen. Am 30. September ging es fort, in „hetzjagender Abreise“, wie Frau v. Bismarck nach der Ankunft Herrn v. Keudell schrieb; nach drei Tagen war man am Fuß der Pyrenäen; am 4. October hatte B., der Rouher und Drouyn schon in Paris gesprochen hatte, seine erste Audienz bei dem Kaiser. Ueber den Inhalt der Conferenzen in Biarritz und später wieder in Paris, wohin der Hof am 12. October zurückkehrte, während Bismarcks erst am letzten des Monats folgten, werden wir trotz der Mittheilungen, die Sybel aus den Berichten des Ministers an den König macht, kaum mit Sicherheit sprechen können. Des Königs Weisung ging dahin, keine Verpflichtungen gegen Frankreich einzugehen; und daß B. die vorsichtige Zurückhaltung, die er Goltz stets gepredigt hatte, auch diesmal nicht aufgegeben hat, ist nicht zu bezweifeln. Er begegnete sich darin mit dem Kaiser selbst, der es fast noch sorgfältiger als er vermied, seine Karten aufzudecken: man müsse, hatte B. gegen Drouyn auf der Durchreise durch Paris geäußert und wiederholte der Kaiser in Biarritz, die Ereignisse nicht machen wollen, sondern reifen lassen; dieselben würden nicht ausbleiben und alsdann den Beweis für die Interessengemeinschaft Preußens und Frankreichs liefern. Dennoch darf man fragen, ob der Ton der Gespräche ganz so gedämpft gewesen ist, wie er in Bismarck’s Berichten an den König erscheint. Wir haben doch nicht bloß die Behauptungen der Franzosen, sondern auch eine Notiz aus der Feder von Goltz dafür, daß B. in gewissen Punkten, z. B. des Landgewinnes für Frankreich nach der belgischen Seite hin, sich nicht ganz so reservirt geäußert hat, wie er es dem König darzustellen für gut fand. Jedenfalls bewegten sich die Gespräche auf dem Boden, den B. in der Weisung vom 16. August betreten, und den er früher bereits als das bevorzugte Terrain der politischen Phantasien Napoleon’s ausgeprobt hatte: die norddeutsche Interessensphäre Preußens, die [692] Annexionen an der Eider, die Entwicklung einer kleineren Marine und einer Defensivstellung im Norden wurden berührt, Alles ihm wohlbekannte Lieblingsgedanken des Kaisers. Noch viel unbefangener trat B. dem Gesandten Italiens am französischen Hofe, Ritter v. Nigra, gegenüber, den er kurz vor der Heimreise sprach. Ihm gab er zu verstehen, daß der Krieg mit Oesterreich unvermeidlich sei, und zeigte sich voll Vertrauen, daß Frankreich auf Seiten Preußens stehen und daß Italien mitgehen würde; Voltaire’s bekanntes Wort variirend, sagte er: wenn Italien nicht da wäre, müßte man es erfinden. Ein volles Jahr hatte er den Handelsvertrag des Zollvereins mit Italien verschleppt. Jetzt aber betrieb er aufs rascheste den Abschluß; im December war derselbe fertig, und die Verleihung des Schwarzen Adlerordens an den König, der mit der nationalen Revolution gegen die legitimen Kronen den Bund geschlossen hatte, mußte in Wien vollends die Richtung anzeigen, nach der das Steuer der preußischen Politik gestellt war.

Die Berliner Officiösen drückten sich über Bismarck’s Reiseerlebnisse sehr harmlos aus. Immerhin gab doch die Provinzialcorrespondenz schon am 11. October zu verstehen, daß B. in Biarritz Bürgschaften für die unveränderte Fortdauer der erfreulichen Beziehungen zwischen Preußen und Frankreich erhalten habe, und daß es diesen wesentlich zu verdanken sei, wenn die schleswig-holsteinische Frage ihrer Lösung im deutsch-nationalen Sinn ebenso wie im Interesse Preußens entgegengeführt werden konnte, ohne eine europäische Verwicklung zu veranlassen. In Oesterreich aber merkte man nicht bloß aus den Zeitungen und vagen Gerüchten, daß der Wind umgesprungen war, sondern man hat, wie kaum zu bezweifeln ist, directe Mittheilungen, vielleicht durch Drouyn selbst, darüber erhalten. Kein Wunder, daß man nun auch in Wien daran dachte, sich zur Wehre zu setzen. Sofort begann die Agitation in Holstein, von Oesterreich mit allem Nachdruck geschürt und mehr als je den radicalen und allen unpreußischen Elementen verbündet, aufs neue, und rasch rückte das Unabwendbare heran. Der Antrag, den B. mit Napoleon vereinbart hatte, wohl ohne daß er selbst an den Erfolg geglaubt hätte, die ganze Sache mit Geld abzumachen, ward in Wien brüsk abgelehnt; wie er denn, zumal bei der finanziellen Calamität Oesterreichs, fast einer Beleidigung gleich kam. Unverholen erklärte General Gablenz am 14. December gegen Manteuffel, daß sein Herr und Kaiser den Herzog von Augustenburg unterstützen müsse, weil er in seinen Ansprüchen einen Damm gegen Preußens deutsche Pläne besitze; er scheue den Krieg nicht, wo es sich um die Behauptung der deutschen Stellung seines Reiches handle. Schon im Januar stand man wieder vor dem Bruch. Am 13. instruirte B. Usedom, Italien auf die Krisis vorzubereiten; er stellte bereits eine durchgreifende Initiative Preußens in der deutschen Frage in Aussicht. Am 26. folgte der Erlaß an Werther, der alle Beschwerden gegen Oesterreich zusammenfaßte. In ihm war von der nationalen Basis nicht die Rede; nur die Verletzung der Verträge, die Unterstützung der revolutionären Bestrebungen in Holstein, die Schädigung, welche das monarchische Princip, der Sinn für öffentliche Ordnung, das von dem König liebevoll gehegte Gefühl der Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Mächte zur schmerzlichen Enttäuschung Sr. Majestät erleide, ward darin in wortreichen Wendungen beklagt: als sei von Berlin aus kein Wässerchen getrübt worden. Darauf, als von Wien eine gemessene und selbstbewußte Ablehnung erfolgte, versammelte am 28. Februar König Wilhelm abermals die Räthe seiner Krone um sich. Es war die Stunde der Entscheidung. Von Paris war Goltz, aus Schleswig Manteuffel herbeigekommen; mit den Ministern nahmen auch der Kronprinz und der Chef des Generalstabs an den Berathungen theil. Nach den von Moltke stammenden [693] Aufzeichnungen, die Sybel ausgezogen hat, scheint es fast, als ob nur wieder die schleswig-holsteinische Frage direct zur Discussion gestellt worden sei; und so lautete auch die Entschließung, die der König zuletzt aussprach: der Besitz der Herzogthümer sei eines Krieges werth, doch solle der Ausbruch desselben nicht übereilt werden, da eine friedliche Erlangung des Objectes, wenn möglich, immer wünschenswerther sei. Jedoch läßt sich nicht bezweifeln, daß auch die deutsche Frage irgendwie zur Sprache gekommen ist, und daß der König sich damit einverstanden erklärt hat, die Bundesreform mit auf das Programm zu bringen. Demgemäß wurde Goltz angewiesen, die Verhandlungen mit Napoleon zu beginnen, in der Richtung, die B. von jeher eingehalten hatte; während kein Geringerer als Moltke mit der Sendung nach Florenz betraut werden sollte.


Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf die Gestaltung der deutschen Parteien seit der Krisis in Schleswig-Holstein bis zu der Stunde, da B. sich anschickte, in seiner Weise die Frage zur Lösung zu bringen, welche über allen deutschen Kämpfen schwebte. Sie waren unter dem Druck seiner machtvollen Politik bereits ganz in Verfall und Zersetzung gerathen. Wie voll hatte der Strom der nationalen Begeisterung zwei Jahre zuvor gefluthet, zur Zeit des Fürstentages und bei dem Anbruch der nordischen Krisis! Noch im Sommer 1864 hatte man südlich vom Main allgemein dafür gehalten, daß Preußen die Verfügung über die Land- und Seemacht der Herzogthümer haben müsse. Ein Jahr darauf ließen sich in den Südstaaten nur noch vereinzelte Stimmen zu Gunsten Preußens vernehmen, und ihre Presse hallte wieder von Protesten und Schmähungen gegen die verderbliche Bismarck’sche Politik. Die particularistischen Elemente, die ja der deutschen Bewegung von jeher beigemischt waren, traten allerorten aufs neue, und stärker denn je hervor. Alle Parteien nahmen daran Theil, fast am meisten diejenige, welche einst die Fürsten zum Land hinausjagen und die Kraft der Nation in der einen und untheilbaren Republik hatte sammeln wollen: in Schleswig-Holstein drängte, wir sahen es schon, gerade sie sich an den Erbprinzen heran; Männer der äußersten preußischen Linken, wie Frese, mußte er als Bundesgenossen annehmen; in Süddeutschland constituirte sie sich in der Zeit von Gastein als die demokratische Volkspartei und proclamirte den Föderalismus geradezu als ihr leitendes Princip. Daß in den großdeutschen Kreisen die föderativen und clericalen Strömungen, die dort immer Heimathsrecht gehabt hatten, anwuchsen, bedarf keines Worts. Auffallender war es, daß der Nationalverein, der doch recht eigentlich die Ziele der Erbkaiserlichen aufgenommen hatte, von seinem Ursprung ganz abwich und fast zur Vertretung mittelstaatlicher Interessen entartete. Es war freilich schwer, noch immer in Preußen den Träger der Hoffnungen zu erblicken, die der Liberalismus zur Zeit des Frankfurter Parlaments und der Neuen Aera gehegt hatte; und nur eine kleine Gruppe, meist der jüngeren Generation angehörig, und außerparlamentarisch, hielt trotz allem an dem Glauben an Preußens Führung fest. Indem diese sich aber von den alten Parteifreunden loslöste, ergriff gerade sie den specifisch preußischen Gedanken: das alte Losungswort des Radicalismus von der Einheit der Nation schlechthin verbanden ihre stürmischen Führer, Allen voran der junge Heinrich v. Treitschke, mit der Machtpolitik der preußischen Krone. Auf der anderen Seite schaarten sich die Deutsch-Oesterreicher eng um ihr Kaiserhaus; ja sie wurden um so eifriger, ihm zu dienen, je mehr dasselbe den Schwerpunkt der Monarchie auf die slavischen und alle clericalen Elemente verlegte. Schon die Convention von Gastein war nur durch diese Verschiebung möglich geworden, [694] die das deutsch-liberale Ministerium gestürzt und in dem Grafen Belcredi einen Staatsmann von fast vormärzlicher Farbe an die Spitze des Cabinets gebracht hatte. Doch kam die Bewegung damit noch nicht zur Ruhe: im Herbst wurde die innere Politik Oesterreichs vollends den Slaven und Clericalen ausgeliefert, das deutsch-centralistische System ausgefegt, Autonomie und Freihandel die Parole. Es kam einem Staatsstreich gleich, als im September das Februarpatent aufgehoben und der Reichsrath, der engere wie der weitere, sistirt wurde: man wollte damit, wie die Slaven in Cisleithanien, so in Ungarn die Magyaren versöhnen, denen die centralistisch-deutsche Beamtenschaft und überhaupt die Deutschen im Lande der Stephanskrone aufgeopfert wurden. Die Deutsch-Oesterreicher aber hielten dennoch unentwegt an Habsburgs Kaiserkrone fest. Denn nur so, nur wenn sie die deutsche Politik ihrer Regierung unterstützten, konnten sie hoffen, die slavisch-magyarische Fluth noch einmal zurückzudrängen und ihre historische Stellung im Reiche zu behaupten.

So stellt sich uns die deutsche Parteibewegung in den Jahren der nationalen Krisis dar als eine Zetbröckelung der alldeutschen Tendenzen: wie die politische Vertretung von Gesammtdeutschland in sich vermorschte, so lösten sich auch in der öffentlichen Meinung die einigenden Bänder, und sammelte sich das deutsche Volk, in seine particularistischen Bestandtheile wieder zerfallend, um die Dynastien, die sich aus dem Chaos des alten Reiches im Laufe der Jahrhunderte erhoben hatten, zu dem entscheidenden Kampfe.

Auch in dem Staate der Hohenzollern hatte die preußische Idee bereits ihre dominirende und die Parteien von rechts und links her zersetzende Kraft bewiesen. Nicht bloß die Droysen, Duncker und Bernhardi, sondern auch Männer wie Theodor Mommsen, der doch selbst vom Holstenstamme war, traten seit dem Frühling 1865 für die Annexion der Herzogthümer ein; und daß Preußen zum mindesten die Februarbedingungen behaupten müsse, war die allgemeine Meinung; soweit konnte B. in seinen Depeschen und von der Tribüne des Abgeordnetenhauses her mit Recht erklären, daß er das Land hinter sich habe. Auch wandte sich der Haß des nichtpreußischen Deutschlands schon gar nicht mehr blos gegen den gewaltthätigen Minister, sondern gegen Preußen schlechthin: von B. bis Waldeck sei doch Alles nur eine preußische Partei. Und wirklich schloß sich die preußische Demokratie gegen Nationalverein und Abgeordnetentag ab: auf ihren Versammlungen im August und October 1865 fehlte sie fast ganz; und wenn Franz Duncker und Löwe auf dem Tage des Nationalvereins Ende October erschienen, so stimmten doch auch sie gegen die Beschlüsse der Mehrheit. Auch bei den Conservativen traten, wenn nicht die reactionären, so doch die romantischen Tendenzen immer mehr in den Hintergrund; nur die ganz Alten, wie Senfft-Pilsach und Ludwig Gerlach, die Doctrinäre der Partei von jeher, hielten unbedingt an den Idealen der heiligen Allianz fest; die Andern traten mehr und mehr auf den Boden der preußischen Staatsidee hinüber: an den Freunden und Amtsgenossen Bismarck’s, an Moltke, Roon, auch Manteuffel und Blanckenburg, vor allem an König Wilhelm selbst können wir Schritt für Schritt diese Wandlung verfolgen.

Die wirkende Kraft in Allem war das preußische Eisen, die Vorwärtsbewegung, welche der große Minister der Politik seines Staates gegeben hatte. Preußen marschirte wieder und zwang dadurch alle seine Gegner und Rivalen, sich darüber zu entscheiden, ob sie mitgehen oder sich entgegenstellen wollten; ein Jeder unter ihnen sah sich auf seine ursprüngliche Machtgrundlage zurückgedrängt, die sein Eigenstes war und auf die er sich verlassen konnte. B. selbst wich nicht um eine Linie aus dem gewohnten Fahrwasser; [695] nur Preußens eigener „Lebenstrieb“ und das ihm entsprechende Streben nach Machterweiterung lenkten seine Politik. Aber tausend Lebenskeime der Nation sammelten und consolidirten sich um ihn auf diesem Wege. Zum ersten Mal seit den Freiheitskriegen waren die deutschen Waffen, die so lange fast nur gegen einander, für und wider die nationale Idee, oder gegen unterworfene Nationen geführt waren, in einem Kampf für die Ehre und die Macht des deutschen Namens mit Sieg und Ruhm gekrönt worden; der Mißgunst des Auslandes zum Trotz war die deutsche Nordmark dem Vaterlande wieder gewonnen, und die Schmach langer Jahre gesühnt worden. Was die liberalen Patrioten immer gefordert, hatte der reactionäre Minister siegreich hinausgeführt: indem er sie bekämpfte, sicherte er die realen Ziele ihrer Politik, und besser als sie selbst je zu hoffen gewagt hatten. Sie hatten bereits das Gefühl, daß sie von ihm matt gesetzt waren, daß sie, wie er ihnen höhnend zurief, mit ihrem fortgesetzten Widerstreben eine Politik „impotenter Negation“ trieben; sie konnten ihm nur noch die Erbitterung der Besiegten entgegensetzen, als er mit souveräner Verachtung erklärte, möchten sie immerhin annehmen, daß Alles, was geschehen sei, rein zufällig geschah, daß die preußische Regierung daran vollständig unschuldig sei, daß es der Spielball fremder Intriguen und äußerer Einflüsse gewesen sei, deren Wellenschlag sie zu ihrer eigenen Ueberraschung an der Küste von Kiel ans Land geworfen habe: „Nehmen Sie das immerhin an, mir genügt es, daß wir da sind, und ob Sie uns dabei ein Verdienst zuschreiben oder nicht, das ist mir vollständig gleichgültig“. Sie konnten auch nicht mehr, wie früher wol, sagen, daß sie, wenn sie auch die Sache Preußens nicht so hoch stellen könnten, um so bessere Deutsche wären, wollten sie nicht den Preußenfeinden daß Wort „lieber dänisch als preußisch“ nachsprechen oder sich, wie die Radicalen in den Kleinstaaten, in Rheinbundsvelleitäten ergehen. Deutschlands Sache wurde bereits durch Preußens Macht gedeckt, und wer jene noch gegen Bismarck’s Politik verfechten wollte, stellte nicht mehr Deutschland über Preußen, sondern die Partei über das Vaterland. Jeder Fortschritt auf Bismarck’s Wegen diente aber zur Befestigung seines Systems, und so wurde, wer es noch bekämpfte, unabwendbar zu der Consequenz getrieben, Preußen dürfe nicht wachsen, weil sonst die Machtsphäre Bismarck’s erweitert würde. Auch der wirtschaftlichen Interessen konnte sich die preußischen Opposition nicht bemächtigen. Denn auf diesem Felde gedieh Alles aufs beste und war nirgends ein Streit. Die Landwirtschaft erhob sich zu prächtiger Blüthe, und die Industrie schritt rüstig vorwärts; es gab nichts was sie trennte, weder auf dem Arbeitsmarkt noch in dem Verkehr mit dem Auslande; Freihandel war das Schlagwort unter den Agrariern des Ostens wie in den Industriebezirken des Westens. Aufs neue erkennen wir den gewaltigen Vorsprung, den Preußen vor dem Rivalen hatte. In Oesterreich verquickte sich der politische Wirrwarr aufs unheilvollste mit den wirtschaftlichen Gegensätzen: die Politik der Reaction und der Autonomie war ebenso sehr eine Schutzzollpolitik[2], wie die deutsch-centralistische Partei für den Freihandel engagirt war. Haltlos schwankte die Regierung von Extrem zu Extrem, und nirgends fand sie festen Boden. Im Winter auf 1866 wurde Alles nur schlimmer: die Magyaren und Italiener kurz vor dem Aufstand, und weder die Deutschen noch selbst die Slaven befriedigt: die äußere und die innere Politik des Kaiserstaates waren in unlösliche Widersprüche mit sich selbst gerathen.

Man fragt sich, weshalb B. nicht noch einen Schritt weiter gegangen ist und die öffentliche Meinung ganz für sich zu gewinnen gesucht hat. Wie leicht sie zu haben gewesen wäre, zeigt unter Anderm der Antrag Bonin, der [696] in der Militärreform der Regierung fast Alles gewährte, was sie verlangen konnte, und wir wissen ja, daß B. für seine Person kaum Bedenken gegen eine kürzere Dienstzeit gehabt hätte; daß die liberale Richtung ihm noch gefährlich werden könnte, war nicht mehr zu befürchten. In der That hat er zu Zeiten an den innern Frieden gedacht. So ohne Frage im April und Mai 1865, als er den Bruch mit Oesterreich ernstlicher als je erwog. Er hat damals dem König den Vorschlag gemacht, das dritte Dienstjahr gegen eine stärkere Einstellung von Capitulanten aufzugeben, und Roon hat ihn dabei unterstützt. Der König aber lehnte ab. Die Erklärung liegt zum großen Theil in der Stellung, welche Beide, der Monarch und der Minister, zu Oesterreich einnahmen. B. war damals daran gelegen, die populäre Stimmung in Preußen hinter sich zu haben, um so mehr, wenn er noch nicht sogleich die deutsche Frage aufrollen wollte: Wilhelm aber zögerte noch den Krieg zu eröffnen; die conservative Haltung mußte ihm gerade als eine Gewähr des Friedens erscheinen, der ihm am Herzen lag. Als aber die Krisis von neuem heranzog, im Januar und Februar 1866, war der Minister nicht mehr liberal: im Gegentheil, noch nie hatte er die Opposition, auch in ihren gemäßigtsten Elementen, wegwerfender behandelt. Gleich in der Eröffnungsrede vor der neuen Kammer, am 14. Januar, ward jedes Entgegenkommen verweigert und der alte Conflictston wieder angeschlagen; der Finanzminister entwickelte die absolutistische Budgetstheorie mit rücksichtsloser Schärfe; der Beschluß des Obertribunals, welcher die Aeußerungen von der Kammertribüne mit Strafe bedrohte und also das Palladium des Parlamentes, die Freiheit der Rede und die Unverantwortlichkeit der Volksvertreter aufhob, trug die Verzweiflung in die nachgiebigsten Kreise, um so mehr, da er gerade den gemäßigtsten Mann der Opposition, Karl Twesten traf; Männer wie Georg Beseler, Simson, Johann Gustav Droysen, fürchteten, daß einer solchen Erschütterung des Rechtsbewußtseins revolutionäre Stürme folgen müßten. Es waren die Tage, da B. die österreichische Regierung der Verletzung aller conservativen Principien und des Bündnisses mit der Revolution anklagte: dieselben, als er Usedom in Florenz anwies, mit der Krone, die der nationalen Revolution ihr Dasein verdankte, anzuknüpfen. Je revolutionärer die Mittel seiner eigenen Politik wurden, um so stärker betonte er die conservativen Tendenzen und die legitimen Rechte Preußens und seiner Krone. Nur so konnte er hoffen, den König einer Politik geneigt zu machen, die allen Traditionen und Empfindungen Wilhelm’s widersprach, nur so, die eigene Partei, der doch auch seine Sympathien immer noch galten, hinter sich herzuziehen. Auch wichen die Ziele seiner deutschen Politik von dem Zukunftsbilde, das sich die Liberalen von dem Vaterlande machten, noch aufs weiteste ab. In deren Programm hatte der Krieg mit Oesterreich um die Durchführung der deutschen Reform noch immer nicht recht eine Stelle gefunden. Konnte doch sogar ein Heinrich v. Treitschke in seiner Schrift „Die Parteien und die Herzogthümer“, die im September 1865 herauskam, noch fast zärtliche Töne gegen die Brudermacht an der Donau anschlagen. „Wir wünschen“, schreibt er mit Bezug auf die inneren Conflicte in Oesterreich, „herzlich, der Kaiserstaat möge diese unabsehbare Krisis überstehen, aber noch herzlicher, Preußen möge sie ausbeuten für seine guten Zwecke“. Noch im Januar meinte Bernhardi, Preußen könne die Herzogthümer ohne Krieg erhalten, den man an der Donau nicht riskiren werde; durch einen Druck auf Italien oder auch umgekehrt, indem es Venetiens Besitz Oesterreich für ein paar Jahre garantire. Eine Politik, welche bei der Lösung der deutschen Frage, wie auch immer, mit Frankreich rechnete, erschien in den Reihen des Liberalismus auch jetzt noch [697] als eine Politik der Abenteuer, und die an Vaterlandsverrath zu streifen drohte. Und je näher die Gefahr heranrückte, um so stärker mußte die Strömung werden, die vor dem „Bürger-“, dem „Bruderkrieg“, wie er in aller Welt genannt wurde, hinweglenkte: alle schwächlichen Gemüther wurden auf diese Seite getrieben, und Alles, was dem Rathgeber des Königs und seiner Politik feindselig war, fand dort seine Rechnung.

Niederwerfung Oesterreichs.

Hätte B. allein am Steuer gestanden, er wäre wol rasch genug am Ziel gewesen. Aber je näher die Entscheidung heranrückte, um so mehr häuften sich die Widerstände, die Frictionen, die er von je zu überwinden gehabt hatte; und diese Wogen schlugen bald so hoch um ihn her, daß es Momente gab, wo auch er fast daran verzweifeln wollte, hindurchzukommen. Im Sommer hatten die Dinge noch leidlich einfach gelegen. Denn in der schleswig-holsteinischen Angelegenheit war König Wilhelm fest geworden; er war gewiß, darin die Ehre und das Recht Preußens zu vertheidigen. Und so oft ihm diese tangirt schienen, wankte er auch jetzt nicht. Ein zweites Olmütz wollte er nicht mehr erleben; eher wäre er auf und davon gegangen. Hier lag der stärkste Rückhalt, den B. beim König hatte. Aber darüber hinaus wollte er Wilhelm nun auf Wege führen, die diesem von jeher zuwider gewesen waren, in Kämpfe für Principien verstricken, deren illegitimer Charakter sich schlechterdings nicht verhehlen ließ. Und es durfte B. nicht genügen, nur die passive Zustimmung seines Herrn zu gewinnen. Das persönliche Königthum war das Centrum aller Positionen, für die er stritt: also mußte er den Willen des Trägers der Krone für sich haben; Wilhelm mußte innerlich überzeugt werden, nicht nur davon, daß kein anderer Weg gangbar, sondern daß der gewählte auch der rechte sei, und daß es nicht bloß der Macht seines Staates, sondern auch seiner und seines Hauses Ehre gelte, daß der Krieg ihm aufgezwungen und darum nicht mehr zu vermeiden wäre. Nur so ließ sich hoffen, die tausend Gegenwirkungen, die ringsum, und vor allem in der Umgebung, ja in dem Herzen des Königs selbst sich geltend machten, zu überwinden. Auch B. war, wir wissen es, ebenso vorsichtig, wie er kühn war; es war sein oberster Grundsatz, sich von niemand, und am wenigsten von den Fremden, mit denen er pactirte, aus dem eigenen Fahrwasser verdrängen zu lassen; das Ende der Schlinge wollte er unter allen Umständen in der Hand behalten. Aber wenn wir den Zickzackcurs verfolgen, den er in den Monaten vor Ausbruch des Krieges einhielt, so können wir doch nicht anders urtheilen, als daß er nur deshalb so langsam vorwärts kam, weil er fast alle seine Schritte mit gebundenen Händen machen mußte.

Die nächste Aufgabe war, sich Italiens zu versichern. Dafür hatte sich auch der König entschieden; denn, wenn man die deutsche Frage aufrollen wollte, so war, auch im Hinblick auf Frankreich, dies Gegengewicht nicht zu entbehren; auch Moltke hatte in dem Kronrath vom 28. Februar erklärt, daß er nur mit Italien zur Seite das Wagniß des Krieges anrathen könne. Er selbst war, wie bemerkt, dazu bestimmt worden, die Verhandlungen in Florenz zu führen. Aber bevor er noch abreisen konnte, traf, von Florenz gesandt, General Govone in Berlin ein, so daß B. auch diese Verhandlung in die eigene Hand bekam. In Italien bestanden die Schwierigkeiten nicht, die dem preußischen Minister das Concept verdarben. Im Gegentheil, Volk und Monarchie waren südlich der Alpen einmüthig in der Richtung, in die B. [698] seinen königlichen Herrn fortreißen wollte: die Aussicht, in drei Monaten in San Marco zu sein, übte auf die italienischen Gemüther einen Zauber, vor dem jede andere Erwägung zurücktrat; und man wollte nicht abermals, wie ein Halbjahr zuvor, durch das eigene Zögern die Partie verlieren. Aber auch die Italiener waren zurückhaltend, und nicht bloß aus Rücksicht auf Napoleon, ohne dessen Erlaubniß sie sich garnicht mit Preußen vertiefen durften: sie fürchteten sehr ernstlich, daß B. im entscheidenden Augenblick sie doch wieder im Stich lassen, daß er das Bündniß oder bereits die Verhandlungen darüber als Pressionsmittel benutzen könnte, um Oesterreich die Herzogthümer aus den Fingern zu reißen. Umgekehrt besorgte B., und, wie die Folge lehrte, nicht ganz mit Unrecht, daß den Italienern das Verhältniß zu Preußen dazu dienen könnte, um Venetien mit Hülfe des französischen Protectors zu ergattern, ohne den Degen für den nordischen Alliirten zu ziehen zu brauchen. Dann hätte, wie Govone etwas vorschnell schrieb, in der That „die Natter den Charlatan gebissen“. Indessen gelang es dem preußischen Minister die Verhandlungen so zu leiten, daß er die Führung behielt: am 23. März einigte er sich mit dem Grafen Barral, Italiens Vertreter am preußischen Hof, dahin, einen Eventualvertrag auf drei Monate in Vorschlag zu bringen, dessen Formulirung er selbst übernahm; während dieser Frist sollte Preußen seinen casus belli finden, Italien aber ihm so lange zur Verfügung stehen.

Zu Hülfe kamen B. hierbei die kriegerischen Maßregeln, zu denen sich die Wiener Regierung im Laufe des März entschloß. Es wiederholte sich darin auf militärischem Gebiet, was wir in der Diplomatie so oft beobachten konnten. So wenig Oesterreichs Politik in Wahrheit als die offensive bezeichnet werden kann (gerade in diesem Moment ging der gehoffte Ausgleich mit Ungarn zu scheitern und war die letzte, mit Mühe erlangte Anleihe bereits wieder aufgezehrt), sah es sich dennoch gezwungen, um nicht ins Hintertreffen zu gerathen, mit den directen Feindseligkeiten den Anfang zu machen: die Schwäche des Donaustaates ward aufs neue darin sichtbar. Nichts konnte für Bismarck’s Absichten günstiger sein. Wer wollte nun noch verkennen, daß Oesterreich der Störenfried war? Konnte der Bruch des Gasteiner Vertrages besser illustrirt werden als durch Truppenanhäufungen in Nordböhmen? Durfte Preußen solchen Drohungen gegenüber das Schwert in der Scheide lassen? Argumente, die nicht bloß bei dem König, sondern auch in weiteren Kreisen Eindruck machten. Auch liberale Zeitungen, wie die Vossische und die Nationalzeitung, brachten, zum Theil allerdings wohl aus der Wilhelmsstraße inspirirte Artikel voll bitterer Klagen über das friedebrecherische Vorgehen der deutschen Brudermacht; das nasse Stroh schien Feuer fangen zu wollen. Auf der anderen Seite verdoppelten die Gegner des Ministers und alle Friedensfreunde ihre Anstrengungen, um die glimmenden Funken auszutreten. Bei den Wenigen, die wie das kronprinzliche Haus noch an dem Augustenburger festhielten, verstand sich das von selbst; aber auch in denjenigen Kreisen, welche in dieser Frage zu B. standen, war man nicht gerade kriegerisch gesinnt; den eigentlichen Feind sah man immer noch mehr in Frankreich als in Oesterreich, und die Furcht, von dem Erbfeind der deutschen Einigkeit überrannt zu werden, dämpfte den Kriegsmuth selbst bei denen, die wirklich Abrechnung mit Oesterreich zu halten wünschten. Konnte doch selbst der Politikus der Preußischen Jahrbücher noch Ende März fragen, ob von Berlin aus irgend etwas geschehen sei, um Oesterreich die Concessionen zu erleichtern, die man von ihm verlange? Ob man für die Annexion Compensationen angeboten habe? Ob Oesterreich billige Bedingungen, unter denen nicht nur eine Geldentschädigung zu verstehen sei, verweigert, ob es das Princip des Gasteiner [699] Vertrages wieder mit dem Standpunkt der Londoner Conferenz vertauscht habe? Wenn Herr v. Bismarck auf diese Fragen keine befriedigende Antwort finde, so werde es ihm nicht gelingen, die Schuld an dem furchtbaren Zusammenstoß vor Europa von sich abzuwälzen. Nicht einmal in der Armee brannte man zunächst so sehr danach, sich mit den alten Kriegskameraden, für die man eher Sympathie hatte, zu schlagen; die conservativen Strömungen im Officiercorps, die von oben her so lange genährt waren, kamen darin störend zur Geltung. Moltke bemerkte gegen Govone noch am 23. März sehr kühl, die Meldungen über österreichische Rüstungen seien doch sehr übertrieben, und selbst in Roon war die „Angst vor dem Ausgelachtwerden“ immer noch ein stärkerer Stachel zum Kriege als der eigentlich kriegerische Eifer. Man begreift, daß unter solchen Umständen die Verhandlungen mit Italien nur langsam vorwärts rückten, und daß das Mißtrauen beiderseits nicht schwinden wollte. Ein erster Erfolg Bismarck’s war der Beschluß vom 27. März, die Truppen an der Grenze zu verstärken und mit den Pferdeankäufen für die Artillerie zu beginnen. Aber sogleich erfolgte der Rückschlag, und um den ersten April war die Stimmung in der obersten Region flauer als zuvor. Denn nun begannen die Neutralen, Rußland und England zunächst, drein zu reden. Von Petersburg kam ein, übrigens sehr freundlich gehaltenes Schreiben des Zaren, das dem verehrten Oheim den Frieden ans Herz legte. Aehnliche Wünsche gelangten an Wilhelm, durch Vermittlung der kronprinzlichen Herrschaften, von seiten der Königin Victoria; und diese Fäden, die in Gotha zusammenliefen, reichten sogar bis in das Wiener Cabinet. Graf Mensdorff selbst hatte seinem Coburger Vetter in einem lamentablen Brief seine Friedenssehnsucht betheuert, und Herzog Ernst sandte alsbald dies Zeugniß österreichischen Wohlverhaltens an den König ein. Es war, wie B. dem König offen heraus sagte, ein wohlcombinirter Plan, der Brief Mensdorff’s bestellte Arbeit, um Wilhelm zur Nachgiebigkeit zu bewegen und B. als den Urheber des Conflictes anzuschwärzen. Auch die Königin war dabei thätig, und die ganze preußische Diplomatie arbeitete, so versicherte wenigstens B. dem italienischen Gesandten, momentan gegen seine kriegerischen Projecte. Wie zu Beginn der Action um Schleswig-Holstein stand er wieder allein auf der Bresche. Immerhin gelang es ihm, den Vertrag mit Italien am 8. April unter Dach zu bringen: bis Anfang Juli war damit Italien an Preußen gekettet; hierzu werden den König gerade die Gefahren, die er überall sah, jetzt nachdem auch Baiern die Schwenkung zu Oesterreich vollzogen hatte, willig gemacht haben. Und so lange Oesterreich hartnäckig blieb, hatte der Minister die Gegner seiner Politik nicht so sehr zu fürchten; er brauchte den König nur an Olmütz zu erinnern, um ihn mit sich fort zu ziehen. Bedenklich wurde die Sache erst, als von Wien her Erbietungen kamen, welche eine friedliche und für Preußen nicht unehrenhafte Lösung in Aussicht stellte. Schon die Depesche Mensdorff’s vom 7. April ließ, so hochgespannt sie in ihrem Ton sein mochte, etwas derartiges durchblicken; denn mochte es sich mit der Versicherung, daß der Kaiser an Krieg nicht denke und daß auch von Rüstungen Oesterreichs keine Rede sei, verhalten wie es wollte, so klang doch immerhin die Aufforderung, Preußen möge die seinerseits eingestandenen Mobilmachungsbefehle zurückziehen, fast wie der Wunsch nach einer Verständigung. Daß dies die Meinung der Hofburg sei, ward von München her, wo sich Oesterreich direct so ausgesprochen hatte, versichert. B. hatte die schroffe Form der Wiener Depesche benutzen wollen, um den Gegner zu fassen; er sprach von Impertinenz und Sommation, und sagte den Italienern, daß der König über dies Ultimatum außer sich sei. Aber die Entrüstung Wilhelm’s hielt nicht vor, wie auch die Zeitungen schon [700] am 11. April der Depesche eine mildere Deutung gaben. Der König selbst fügte in der Antwort, vom 15. April, einen Schlußsatz ein, der, indem er der kaiserlichen Regierung die Initative in der Abrüstung zuschob, die Pforte zur Nachgiebigkeit ausdrücklich öffnete. Und nun geschah, was B. am meisten gefürchtet hatte: umgehend, am 18. April, erklärte sich das Wiener Cabinet bereit, vom 25. d. M. ab die Truppendislocationen in Böhmen rückgängig zu machen, falls Preußen sich verpflichte, an demselben oder doch dem nachfolgenden Tage die Befehle vom 27. März zu widerrufen. Es war der Höhepunkt der Krisis. Alles, was in Preußen friedlich gesonnen war, besonders auch die altconservativen Kreise, Prinz Karl und seine Leute, Ludwig Gerlach, Senfft-Pilsach und der Finanzminister Freiherr v. Bodelschwingh, alles, was noch an dem System der heiligen Allianz hielt, drängte sich an den König heran, um ihn von der revolutionären Politik seines Ministers loszureißen. B. fühlte seine Kraft erlahmen. Die furchtbare Spannung der Lage hatte seine Nerven seit Wochen erschüttert; nur mit Aufbietung aller seiner Kräfte konnte er sich aufrecht erhalten. Mit Mühe setzte er eine Verklausulirung der Zustimmung zu dem Entwaffnungsvorschlage durch, in der Erklärung, daß man Zug um Zug in demselben Maße und in denselben Zeiträumen abrüsten wolle, und nicht eher damit beginnen werde, als bis man authentisch wisse, daß Oesterreich wirklich seine Vorbereitungen zum Kriege einstelle. Da kam die Wendung: durch die Nachricht von den italienischen Rüstungen und die Meldung, daß in Wien die Mobilmachung der Südarmee beschlossen sei. Bevor noch die preußische Depesche, die vom 21. datirte, in Wien eingetroffen war, wo man jedoch bereits von der friedlichen Wendung in Berlin unterrichtet war, am 20. April, war in einem von dem Kaiser präsidirten Ministerrath der verhängnißvolle Entschluß gefaßt worden, der den Krieg entschied.

Es war, wie man weiß, die österreichische Generalität, welche in den Kaiser drang, sich zunächst Italien gegenüber in aller Stärke aufzustellen. Daß zwischen den Rüstungen Italiens und der Haltung Preußens ein Zusammenhang bestand, lag auf der Hand; die lange Anwesenheit des italienischen Generals in der preußischen Hauptstadt konnte bereits als vollgültiger Beweis gelten. Aber man möchte fast vermuthen, daß damals nach Wien noch andere, und directere Beweise von dem Zusammengehen beider Mächte gelangt sind. Zwar die Geheimhaltung des Vertrages vom 8. April war auf Bismarck’s Wunsch protokollarisch festgelegt, und von den Contrahenten war das Geheimniß, das in beider Interesse lag, sicherlich gewahrt worden. Aber es gab noch eine dritte Stelle, wo man mehr als anderswo von dem Vertrage, den König Wilhelm eben jetzt, am 20. April, ratificirte, wußte, und wo man nicht wünschen konnte, daß es abermals zu einem Vertrage von Gastein käme. Könnte man nicht in der That argwöhnen, daß von dort, von Paris her, etwa durch den Canal der österreichischen Botschaft, derartige Andeutungen nach Wien gelangt sind? Doch ist es kaum zu glauben, daß die Politik des Kaiserstaates bereits so steuerlos gewesen sei, um sich von den hohen Officieren, mochten diese immerhin den Krieg gegen Preußen für unvermeidlich halten, blindlings zu einem Kriege fortreißen zu lassen, der mit doppelter Front geführt werden mußte. Die Italiener gaben dem Entschluß die Südarmee auf den Kriegsfuß zu setzen, jedenfalls eine andere Deutung. „Wollte Gott“, schreibt Nigra aus Paris, „Oesterreich griffe uns an, aber wir können es nicht hoffen. Ich glaube vielmehr, Oesterreich will mit uns dieselbe Comödie spielen, die es eben so geschickt in Berlin gespielt hat. Es will uns zwingen zu entwaffnen und unsere friedlichen [701] Absichten zu erklären, indem es sich bereit zeigt, es ebenso zu machen, und zwar noch vor uns. Gehen wir nicht in diese Falle!“ Daß Oesterreich den italienischen Rüstungen gegenüber nicht stillsitzen könne, war auch die Meinung in Berlin. „Die Italiener rüsten“, sagte Max Duncker auf die erste Meldung, welche die Zeitungen davon brachten, frohlockend zu Bernhardi – „nun können die Oesterreicher nicht abrüsten“. B. aber hatte nun dem König gegenüber den Beweis in Händen, daß es der Wiener Politik mit ihrem Entgegenkommen überhaupt niemals Ernst gewesen sei. Sogleich wandte sich die öffentliche Stimmung dem Minister wieder zu; seine Gegner selbst mußten einräumen, daß die Rüstungen gegen Italien ebenso leicht nach Norden gewandt werden könnten. Die italienische und die deutsche Frage ließen sich eben nicht von einander trennen: sobald Oesterreich im Süden Luft bekam, würde es – wer konnte gegen diesen Schluß an? – auch dem deutschen Rivalen wieder die Zähne weisen. Die Gefahr, dann nachgeben zu müssen, drängte sich dem König von neuem auf. Er wollte für den Frieden thun, was mit Ehren thunlich war. Aber ein zweites Olmütz wollte er nicht erleben; nicht bloß inbezug auf die Herzogthümer, sondern auch in der deutschen Frage war er entschlossen festzuhalten. Am 22. April bemerken wir an ihm noch das Zagen. Am 23. gewann B. das Spiel. Ein Brief Manteuffel’s, in dem das alte Preußenblut längst wieder erwacht war, kam ihm zu Hülfe; er schickte das Schreiben, worin der General an Olmütz erinnert hatte, noch am Abend des 22. dem König zu. „Sie mögen“, antwortete dieser gleich am nächsten Morgen, „Manteuffel sagen, daß, wenn ein Preuße jetzt mir Olmütz in die Ohren raunt, ich sofort die Regierung niederlege! Andere, d. h. meine Feinde werden Olmütz rufen; dürfen Preußen darin übereinstimmen?“ Roon, den der König in diesen Stunden empfing, erlebte einen wahren Zornausbruch Sr. Majestät über die Berechnungen, die auf seine vorausgesetzte Schwäche speculirten. Er selbst war es dann, der eine Zusammenkunft des Königs mit B. herbeiführte, bei der es zu einer vollkommen befriedigenden Aussprache zwischen Beiden kam. „Otto“, so schreibt der Kriegsminister seinem Neffen Blanckenburg, „ist darüber fast gesund geworden“.

Längst aber hatte B. den Blasebalg noch an anderer Stelle angesetzt, um die matten Kohlen in Gluth zu bringen, dort, wo er gleich zu Beginn seines Ministeriums den Zusammenknall erwartet hatte, in der deutschen Frage, der Frage von der Bundesreform, die er als den vornehmsten Factor in seine Berechnungen aufgenommen hatte. Von ihr aus wollte er, wie er den Italienern immer aufs neue sagte, das Feuer an die Pulvertonne legen. Darauf war die Frist der drei Monate, die er gefordert und durchgedrückt hatte, berechnet. Er wollte sie benutzen, um am Bundestag den Antrag zu stellen, der das alte Deutschland aus einander sprengen mußte: die Verwirrung, die zwischen den Regierungen und, wenn es möglich wäre, zwischen der Nation und ihren Dynastien selbst aus der Forderung, den nationalen Staat zu schaffen, entstehen mußte, sollte ihm den Weg zum Kriege, zu dem Kampf um die deutsche Vorherrschaft bahnen. Denn, wie er es bei der Krisis 1859 geplant hatte, nicht die Reform, sondern die Zertrümmerung des alten Bundes war sein nächstes Ziel; das Eisen sollte ihm die Straße bahnen.

Es ist von besonderem Interesse, den Parallelismus zu beobachten zwischen dem Vorgehen Bismarck’s in der deutschen Frage und den unmittelbar auf den Krieg gerichteten Actionen. Schon am 27. Februar machte Prinz Reuß in München dahin gehende Eröffnungen: die nicht ungünstige Antwort v. d. Pfordten’s war also in Berlin bekannt, als der König am Tage darauf die Minister zu der entscheidenden Berathung berief. Am 14. März hatte B. [702] seine erste Besprechung mit Govone: noch an demselben Tage brachte die Provinzialcorrespondenz einen Artikel, der auf die Absicht der Regierung hinwies, ihre Reformanträge vom September 1863 wieder aufzunehmen. Sobald Graf Barral die Basis der drei Monate zugegeben hatte, erließ B. das Rundschreiben, worin er den deutschen Höfen ankündigte, daß Preußen auf dem Boden der deutschen Nationalität und in einer Kräftigung der Bande, welche es mit den übrigen deutschen Staaten verbänden, die Garantien für die Zukunft und die Sicherheit der nationalen Unabhängigkeit suchen werde, welche ihm Oesterreich versage (24. März). Und wiederum 24 Stunden nachdem das Bündniß mit Italien fest gemacht war, am 9. April, stellte Savigny am Bunde den Antrag, einer aus directen Wahlen und allgemeinem Stimmrecht der ganzen Nation hervorgehenden Versammlung die Vorlagen der deutschen Regierungen über eine Reform der Bundesverfassung zu unterbreiten. Die Gedanken, die B. damit in die Oeffentlichkeit warf, waren die alten, die wir kennen, und auch den Regierungen nicht mehr neu, denen sie galten. Nachdrücklich ward auf die Denkschrift von 1863 zurückgewiesen und ihre Argumente wie zum Theil ihr Wortlaut wiederholt. Auch an die Reformacte vom Frankfurter Fürstentage erinnerte B., sowie an die österreichische Denkschrift von Gastein mit ihrer Klage über die Vermorschtheit der Wände des Bundes und die Unmöglichkeit, sich auf ihn mit irgend einem Grad von Vertrauen stützen zu können: als Antwort auf den Versuch des Rivalen, sich nun doch wieder auf den Bund gegen Preußen zu stützen. Ueber den Inhalt der Vorlagen, die dem Parlament zu machen seien, ward noch immer nichts gesagt: nur daß es auf die Sicherung der Nation wie ihrer Glieder, und auf die Bedürfnisse des Volkes ankomme; dem wahrhaft dringenden Interesse der Nation und dem erfahrungsmäßig Nothwendigen müßten sie zugewandt sein. Zwar dürfe die Initiative zu der Reform der gewählten Versammlung nicht allein überlassen bleiben; aber die ausgleichende und treibende Kraft des nationalen Geistes sei zu berücksichtigen: diese habe bisher gefehlt, und nur durch ein Zusammenwirken beider Factoren, der Nation und der Regierungen, könne das Ziel erreicht werden, „daß auf dem Grunde und innerhalb des Rahmens des alten Bundes eine neue lebensfähige Schöpfung entstehe.“

Die Majorität am Bundestage suchte sich gegen diesen Frontalangriff zu decken durch die Forderung, daß Preußen das Programm für die Reformen, an die es denke, vorlegen möge. Aber den Gefallen that B. den Gegnern nicht: denn, so erwiderte er, an eine Verständigung der Regierungen ohne die selbst auferlegte Nöthigung, die in der vorherigen Festlegung des Termins für die Parlamentseröffnung liege, sei nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte auch über die allernothwendigsten Reformen garnicht zu denken; die Bestimmung des Termins der Parlamentseröffnung vor Beginn der Regierungsverhandlungen über die Reformvorlagen sei gerade der Kern des Antrages vom 9. April; mit der Ablehnung dieser Frage wäre die ernstliche Behandlung der Bundesreform überhaupt thatsächlich abgelehnt. Und um den Ernst dieses Vorgehens zu bekräftigen, mußte Savigny an dem Tage, wo jene Antwort in Frankfurt zur Verlesung kam, am 27. April, die Bundeshauptstadt verlassen.

In der That, nichts war klarer, als daß die Anträge der Majorität der Regierungen auf Verschleppung der Reform hinauskamen; sie wäre in den Bundesausschüssen begraben worden. Aber auch die Nation wollte sich nicht so rasch zu dem Glauben an das nationale Evangelium aus solchem Munde bekehren. Wie? Dieser Minister, der die Verfassung seines Landes mit Füßen trat und jede freie Regung der Volksseele mißachtete, hatte die Stirn, [703] sich zum Herold der erhabenen Gedanken aufzuwerfen, welche die Nation seit Jahrzehnten im Herzen trug? Nur in der eigenen Noth offenbar rief er den Geist an, dem er von Grund aus feind war. So hallte es aus tausend Zeitungsartikeln, aus den Kammerreden und Protesten des Nationalvereins und der Volksversammlungen nördlich und südlich des Mains tosend wieder. Es war, wie selbst Heinrich v. Treitschke schrieb, ein befremdendes, fast unheimliches Schauspiel, wie der Gedanke der deutschen Einheit so plötzlich aus dem Dunkel unter das unbereitete Volk hinaustrat, und die größte Idee des Jahrhunderts fast wie ein Fechterstreich in einem diplomatischen Turnier erschien: wie betäubt schaue die Nation der plötzlichen Wendung der preußischen Staatskunst zu. Auch war das allgemeine Mißtrauen gar nicht so unberechtigt. Ja man möchte fast zweifeln, ob B. selbst sich so sehr mit der Hoffnung getragen hat, daß der Keil, den er zwischen die Regierungen und die Nation hineinschob, sie sogleich auseinander reißen würde. Er rechnete wohl zunächst mehr damit, das Quecksilber unter die Regierungen selbst zu bringen und vor allem Oesterreich gegen die Wand zu drängen. Den Richtpol hatte er angegeben, nach dem sich Preußens Politik einmal lenken konnte. Aber das nationale Programm war für ihn, wie alles, was die Politik ihm zuschob, nicht bloß Zweck, sondern auch Mittel, eine Waffe im Kampf, die sich unter Umständen auch wieder beiseite stellen ließ. Nur wenige Tage nach jener letzten Erklärung am Bundestage, und es schien, als ob der Minister wirklich wieder in die Richtung einlenken würde, die zu dem Vertrage von Gastein geführt hatte. Am 2. Mai lieh er Vorschlägen das Ohr, die ein Privatmann an ihn brachte, der aber bereits in Wien gewesen und mit Mensdorff conferirt hatte, gerade in den Tagen, wo auch die österreichische Nordarmee mobilisirt wurde.

In dem verschlungenen Vorspiel des deutschen Krieges ist der Vermittlungsversuch, zu dem sich der Freiherr Anton v. Gablenz, der Bruder des Statthalters von Holstein, gebrauchen ließ, eine der merkwürdigsten und dunkelsten Episoden. Man wird aber, wie ich denke, das Eingehen Bismarcks auf dieses Project nur in dem Sinne deuten können, daß er damit eine Gegenmine legen wollte gegen die Intrigue, die sich in denselben Tagen in den Tuilerien abspielte. Daß etwas derart im Werke sei, hatte Napoleon selbst bereits verrathen. Am 30. April hatte er Goltz bei dem abendlichen Empfang in den Tuilerien Andeutungen über gewisse Anerbietungen Oesterreichs an Frankreich gemacht, und daran die Frage geknüpft, was Preußen ihm dagegen bieten könne; alles in recht unbestimmter Form, aber doch so, daß der Wunsch nach dem linken Rheinufer unverkennbar war. Wie, wenn nun Italien, abhängig wie es von Frankreich war, sich auf das Geschäft, das Fürst Metternich in Paris angeboten hatte, einließ und Venetien gegen Schlesien einhandelte, lediglich für das Versprechen, stille zu sitzen? Daß Bismarck’s Mißtrauen gegen die Florentiner Politik von Anfang an rege gewesen war, sahen wir, und sicherlich hat auch La Marmora zwei Eisen im Feuer gehabt, schon darum, weil er auch seinerseits dem preußischen Collegen nicht über den Weg traute; er ging, wie Jedermann, so gedeckt wie möglich vor. Durfte Preußen aber den höchst verdächtigen Anstalten des Fallenstellers an der Seine zusehen, ohne sich dagegen zu rühren? Der Vertrag mit Italien war dem Buchstaben nach so gefaßt, daß Preußen sich noch, ohne ihn geradezu zu brechen, aus ihm herauswickeln konnte. Denn da er die Initiative zum Losschlagen in Preußens Hand legte und sie an die Verhandlung über die Bundesreform knüpfte, so ließ sich am Ende mit einem Schein Rechtens behaupten, daß die Verpflichtung zur Hülfe nur einseitig sei, und also Preußen Italien nicht beizustehen brauche, [704] wenn letzteres von sich aus in Krieg mit Oesterreich gerathen werde. Daß aber B. diese Thüre nicht ohne Absicht offen gelassen habe, vermutheten die Italiener gleich bei der Unterzeichnung des Vertrags am 8. April, als der Minister den Versuch machte, die ursprünglich in den Entwurf gesetzte Ueberschrift, „Offensiv- und Defensiv-Allianzvertrag“, durch den farbloseren Ausdruck „Allianz- und Freundschaftsvertrag“ zu vertauschen; in stundenlanger Discussion hatte er seine Fassung als die originale bezeichnet, und erst, als Barral ihm das von ihm selbst dictirte Concept vorlegen konnte, sich dazu verstanden, den anfänglichen Wortlaut wieder herzustellen. Als nun am Abend des 1. Mai Govone bei ihm erschien und ihm die Frage vorlegte, was Preußen nach dem neuesten Vorgehen Oesterreichs zu thun gedenke, ob es bereit sei, dem Allianzvertrage gemäß den Krieg an Oesterreich zu erklären, sobald letzteres ihn an Italien erkläre, stellte sich B. zunächst wirklich auf den Buchstaben des Vertrages. Für seine Person gab er zwar die umfassendsten Erklärungen, und betonte aufs stärkste, daß Preußen durch sein eigenes Interesse bei Italien festgehalten werde; das Ministerium würde eine Cabinetsfrage daraus machen und übrigens möge Italien dem unwiderstehlichen Gange der Ereignisse vertrauen. Aber von dem König gestand er ein, daß derselbe schwanke und sich niemals auf Stipulationen einlassen werde, welche Preußen dem Wohlwollen Italiens anheimgäben. Am folgenden Tage konnte B. dem Unterhändler etwas besseren Bescheid geben: der König habe jetzt zugegeben, daß die Loyalität es gebiete, Italien zu Hülfe zu kommen, sobald es von Oesterreich angegriffen werde; nur rathe er seinem Alliirten, sich selbst des Angriffs zu enthalten. Diese Unterredung fand statt, als Wilhelm und sein Minister bereits um die Nachrichten aus Paris und das Anerbieten des Baron Gablenz wußten, und erhält daraus ihr Licht. B. durfte nicht zulassen, daß Italien das Feuer an die Pulvertonne lege, noch viel weniger aber, daß es auf den Köder, der ihm in Paris hingelegt war, anbiß. Er konnte ihm wohl die Hoffnung lassen, daß es zweifellos zum Kriege kommen werde, aber wollte ihm doch zugleich zu verstehen geben, daß man in Berlin von dem was in Paris gebraut werde unterrichtet und auf seiner Hut sei. Darum erklärte er dem Unterhändler, daß keine Concession Oesterreichs von nun an für Preußen die Inconvenienzen eines Arrangements aufwiegen könne; sollte aber, setzte er dennoch hinzu, Oesterreich wirklich Concessionen machen, die nicht zurückgewiesen werden könnten, so werde er Italien zeitig und loyal benachrichtigen, und in keinem Falle würden die Arrangements derartig sein, daß Italien der österreichischen Armee allein gegenüberstehen werde. Dadurch deutete B. bereits an, daß Oesterreich noch immer an ein gütliches Abkommen mit Preußen denke. In Uebereinstimmung damit spricht das Promemoria, das der Minister an diesem Tage für den König aufgesetzt und auf Grund dessen er ihm wohl bereits vor der Conferenz mit Govone Vortrag gehalten hatte, von der Ehrenpflicht, die Preußen gegen Italien habe, falls man sich auf die Verständigung mit Oesterreich einlassen wolle; es werde jedoch, heißt es weiter, eine schwierige Aufgabe sein, Oesterreich zu entsprechendem Verhalten gegen Italien zu vermögen. Und in der That, wir müssen es gestehen: was auch immer Oesterreich eingeräumt hätte, für die Hoffnungen, welche die Italiener an das preußische Bündniß geknüpft, ja auch nur für die Kosten, die sie bereits auf die Rüstungen gewandt hatten, hätten sie niemals Ersatz gefunden. Oder ließe sich denken, daß Oesterreich Venetien aufgegeben hätte, um dafür das Protectorat über Süddeutschland einzutauschen und die Wacht am Oberrhein gegen das tödtlich verletzte Frankreich zu übernehmen, während Italien vor Triest und Trient stand und der norddeutsche Rivale [705] vom Belt bis zum Main alles unter sich bekommen hätte? Offenbar, nur um einen Ausweg in der Noth, einen Rückhalt gegen Frankreich und die mögliche Untreue des italienischen Alliirten zu bekommen, hat B. sich auf die von Baron Gablenz angetragene Vermittlung eingelassen. Daher auch die Vorsicht und das Geheimniß, womit er dessen Mission umgab. Officiell hielt er seine Regierung ganz aus dem Spiel; nur als Privatmann durfte der Baron seine Anträge zwischen Wien und Berlin hin und her tragen. Man dürfe, heißt es in dem Promemoria, falls der Vorschlag unehrlich gemeint sein sollte, Oesterreich nicht in die Möglichkeit setzen, durch Verrath unserer Bereitwilligkeit seine eigene Verständigung mit Frankreich zu befördern und Italien von uns abzuwenden.

Gleichzeitig aber that der Minister neue Schritte auf dem Wege, der zum Kriege führen mußte. Napoleon gegenüber bewegte er sich dabei in demselben Geleise, in das Metternich soeben eingelenkt war, und das ihm selbst so wohl vertraut war. Bereits am 6. Mai ließ er gegen Graf Barral durchblicken, daß Preußen wohl in die Lage kommen könne, Oesterreichs Anerbieten der Rheingrenze an Frankreich nachzuahmen; und ähnlich sprach er sich in den folgenden Wochen noch mehrfach aus, gegen die beiden Italiener, gegen einen dänischen Agenten, der um Nordschleswigs willen sich als diplomatischer Dilettant, gleich Gablenz, eingedrängt und sich Zutritt bei ihm wie zum französischen Cabinet verschafft hatte, und schließlich gegen Benedetti selbst: immer so, daß er solche Bereitwilligkeit nur von sich aus kundgab und hinter dem Widerwillen des Königs gegen jede Abtretung deutschen Bodens Deckung suchte. Er wies dabei in erster Linie auf die Territorien französischer Zunge an der deutschen Grenze hin und betonte nachdrücklich, daß er die Abtretung von Mainz, Coblenz oder gar Köln ebenso verweigere wie der König; lieber werde er die Partie ganz aufgeben und von seinem Ministerposten zurücktreten. Aber um so wahrscheinlicher erschien es, daß er ein Eckchen deutschen Landes, etwa ein Stück Moselland, unter Umständen dran geben und dazu am Ende auch seinen königlichen Herrn überreden werde.

Mehr aber als diese etwas verbrauchten Kunstgriffe der diplomatischen Technik lagen B. die Mittel und Wege am Herzen, die auf der Eigenkraft Preußens beruhten. Vor allem kam es ihm darauf an, die Schwerter zu schmieden. Dazu war jetzt auch der König willig; auch er konnte sich dem Ernst der Lage, von dem die Generale, besonders Moltke und Roon, bereits ganz erfüllt waren, und den auch sein eigener Sohn begriffen hatte, nicht mehr verschließen. Am 3. Mai wurde die Mobilmachung von 5 Armeecorps beschlossen, und in rascher Folge bis zum 12. Mai die ganze Armee auf den Kriegsfuß gesetzt. In demselben Moment demaskirte B. in der deutschen Frage eine neue Batterie: am 11. Mai, gerade als Gablenz von Wien, und zwar mit entgegenkommenden Erbietungen des österreichischen Cabinets nach Berlin zurückkehrte, brachte Savigny nähere Andeutungen über den Inhalt der preußischen Reformacte an den Bund. Es waren im wesentlichen lauter Bestimmungen, die auf die wirtschaftliche Einigung der Nation abzielten. Daneben war nur die Schaffung einer Kriegsmarine und von Kriegshäfen, sowie die Consolidirung der militärischen Kräfte Deutschlands kurz andeutend gefordert. Aber die Theilnahme Oesterreichts an dem neuen Deutschland wäre auch so ausgeschlossen gewesen, wenigstens bei einem nationalen Parlament, das nach dem Reichswahlgesetz von 1849 gebildet werden sollte. Was das bedeutete, mußte Werther in Wien zum Verständniß bringen; bereits am 7. Mai hatte B. ihm die Weisung gesandt, das Wiener Cabinet zum Mitgehen mit Preußen in der Bundesreform aufzufordern; in einem Begleitschreiben [706] an den Botschafter aber hatte er angedeutet, daß es Preußen einem etwaigen Versuche Oesterreichs gegenüber, sich bei Frankreich durch das Angebot deutschen Landes einzuschmeicheln, nicht schwer fallen werde, die fessellose Entwickelung des deutschen Nationalgefühls durch jedes Mittel aufzurufen. Zusammen mit den durch Gablenz übermittelten Vorschlägen mußte dies ein starker Gegendruck gegen die auf Gewinnung Frankreichs berechneten Absichten der Wiener Diplomatie werden.

In diesen Zusammenhang gehören auch die Eröffnungen, welche B. den Liberalen machte. Er hatte damit schon in der Aprilkrisis begonnen, zuerst bei Duncker und Bernhardi, den Gemäßigtsten und ihm am Nächststehenden aller Liberalen. Aber auch mit den nichtpreußischen Führern des Liberalismus hatte der Minister Fühlung zu gewinnen gesucht. Als Bernhardi zu ihm berufen wurde, am 27. April, traf er im Vorzimmer den Freiherrn v. Roggenbach, dessen Cabinet unter dem Druck der deutschen Krisis zusammengebrochen und der darauf nach Berlin gekommen war. B. hatte den badischen Minister, der die Idee des Bundesstaates bisher mit so warmem Eifer und getragen von dem lauten Beifall des liberalen Deutschlands vertreten hatte, aufgefordert, in preußische Dienste zu treten. Durch Bernhardi, der sich gern dazu bestimmen ließ, suchte er zugleich auf Rudolf v. Bennigsen einzuwirken; Bernhardi eilte nach Hannover hinüber, um zu sehen, wie dort die Karten lägen; er sollte dem Führer des Nationalvereins vorstellen, daß es B. mit dem Antrage auf Bundesreform und deutsches Parlament voller Ernst sei, daß es kein Nothschuß sei, sondern sein Programm, der Plan, an dem er festgehalten habe, seitdem er politisch mündig geworden. Aber sehr weit kam B. mit diesen Bemühungen nicht. Roggenbach lehnte sogleich ab; weil er, so entschuldigte er sich, besorge, durch einen solchen Schritt seinen Einfluß bei der liberalen Partei außerhalb Preußens, wenigstens theilweise, zu verlieren; er sei in einer unabhängigen Stellung für Preußen ein viel nützlicherer Verbündeter, als wenn er preußische Dienste annehme. Er wirkte dann in der That in den ihm nahestehenden Kreisen, bei den kronprinzlichen Herrschaften und der Königin, im Sinne des Krieges und der Annexion der Herzogthümer; als aber die liberale Presse über seinen Abfall Lärm schlug, veröffentlichte er sofort eine Erklärung, die, wie Bernhardi schreibt, einem Widerspruch fast gleich kam. Noch weniger richtete Bernhardi in Hannover aus. Bennigsen sagte, seine Freunde würden sich abwartend verhalten, weder opponiren noch Bismarcks Politik unterstützen. Auch ihm verbiete dies seine Ueberzeugung, und er würde, selbst wenn er es wollte, damit nicht durchdringen. Man glaube weder an den Ernst der Vorschläge Bismarck’s noch an seinen Ernst zum Kriege; man halte den Krieg nicht für möglich; denn B. könne ihn gar nicht führen, er habe die öffentliche Meinung zu bestimmt gegen sich. Man müsse, das war sein Rath, ähnlich demjenigen, den die Mittelstaaten gleichzeitig am Bunde vorbrachten, zweierlei thun: B. müsse seine Vorschläge bekannt machen, damit man sähe, was er wolle und was sie werth seien, und in Bezug auf den Conflict im Innern etwas einlenken. Wie Wenige begriffen doch bereits damals gleich Heinrich v. Treitschke, daß der Kampf um die Einheit Deutschlands ein Kampf um die Macht sei, daß die Vorschläge des preußischen Ministers sinnlos wären, wenn ihnen nicht die Abrechnung mit Oesterreich vorausgehe, und daß die große Nothwendigkeit, die in der deutschen Geschichte walte, wenig nach unsern Theorien frage, sondern den Thoren zermalme, der das Schicksal mit seinen Wünschen zu meistern wähne. Aber selbst ein Heinrich v. Treitschke stimmte mit darin ein, daß der Zeitpunkt für eine große nationale Reform nicht unglücklicher hätte gewählt werden können und daß es zum mindesten feierlicher, bindender Erklärungen über die letzten [707] Ziele des Berliner Hofes bedürfe, um die nach der fieberischen Erregung der letzten Jahre abgespannte und gleichgültig gewordene Menge mit einiger Thatkraft zu erfüllen. Die Liberalen wollten die Gelegenheit benutzen, um B. in ihr Fahrwasser zu führen; sie glaubten noch etwas neben ihm zu bedeuten, als „Verbündete“ neben ihm auftreten zu können. Aber so faßte der preußische Staatsmann die Bundesgenossenschaft, die er seinen alten Gegnern anbot, nicht auf; so groß war für ihn das Gewicht nicht, das sie in die Wagschale zu legen hatten: „Man schießt nicht mit öffentlicher Meinung auf den Feind, sondern mit Pulver und Blei“, bemerkte er geringschätzig gegen Bernhardi, als dieser ihm Bennigsen’s Antwort mittheilte. Von seinem Wege ließ er sich nicht abdrängen. Am wenigsten in dem Moment, wo er König Wilhelm über den Graben herüber bringen mußte. Auch seine eigene Partei, auf die er sich auch in dieser Krisis immer noch mehr zu verlassen dachte als auf den Liberalismus, durfte er nicht noch widerwilliger machen; hatte er doch schon so genug mit ihr zu schaffen. Er führte jene Verhandlungen, um den Einfluß für sich auzunutzen, über den die Preußenfreunde jenseits der Grenze und im eigenen Lande in der Presse, in ihren Kammern und vielleicht bei ihren Regierungen selber verfügten, oder, wenn er soweit nicht käme, um sie selbst in der Neutralität zu erhalten, sei es auch nur, um dadurch die Kraft ihrer Regierungen zu lähmen. Der Erisapfel, den er in die Mitte des Bundestages geworfen hatte, sollte weiter und in die deutschen Parteien hinein rollen; als ein Element der Zersetzung in der compacten Masse der österreichischen Gefolgschaft sollte ihm die Reformacte für den Moment dienen. Gerade so wie er sich bereits anschickte, auch die magyarische Bewegung gegen die Politik Habsburgs auszuspielen. Noch am 14. Juni, dem Tage der Entscheidung in Frankfurt, hat er durch Hermann Duncker einen neuen Versuch gemacht, um Bennigsen zu gewinnen; er hat ihm damals die erste Stelle in seinem eigenen Vaterlande angeboten, sobald Hannover in die Gewalt Preußens gekommen wäre. Kurz, die Verbindung mit dem Liberalismus war für B. zunächst ein neues Mittel in dem Kampf, den er führte; und wählerisch war er, wie wir ja wissen, nun einmal in seinen Mitteln nicht, wo es dem großen Ziel galt, auf das er alle seine Kräfte spannte. In allem aber kam es ihm vorzüglich auf die Kraft an, die er in Händen hielt, die Kraft der preußischen Krone und des preußischen Staates. So lange es irgend ging, wollte er sie zusammenhalten, da er eben sie zu behaupten und zum Siege zu führen hoffte. Nur im Fall der äußersten Noth war er entschlossen, sich den Fluthen des entfesselten Nationalgefühls anzuvertrauen.

Von diesen Wegen wich das Ziel, das der Freiherr von Gablenz verfolgte, auf das weiteste ab. Wenn es irgendwie damit Ernst werden sollte, so war an eine Neuordnung der deutschen Verhältnisse, wie sie Bismarck’s Reformproject entsprach, nicht mehr zu denken. Ein Norddeutscher Bund wäre vielleicht, doch auch der schwerlich unter Oesterreichs Einwilligung, möglich gewesen. Aber wie hätten sich das österreichische Völkergemisch und die süddeutschen Staaten unter einander abfinden sollen? Und wie hätte man in Wien hoffen können, die nationale Strömung je einzudämmen, sobald Preußen den Norddeutschen Bund auf die Basis gestellt hätte, welche B. soeben in Frankfurt zum Vorschlage gebracht hatte! Nur bei der Politik, zu der Rechberg sich in der Noth hatte drängen lassen, der Niederhaltung des kleineren Deutschlands, wäre es für Oesterreich vielleicht denkbar gewesen, sich Preußen aufs neue zur Seite zu stellen. In der That modificirte B., als Gablenz am 18. Mai wieder nach Wien ging, die Reformgedanken in diesem Sinne. Beide Regierungen, so schlug er jetzt vor, sollten den Antrag auf die Bundesreform [708] gemeinsam in Frankfurt stellen; auf die Kriegsverfassung in ihrer Doppelgestalt für den Süden und Norden war aller Accent gelegt, und von dem Nationalparlament nicht mehr die Rede; statt dessen war ein Tag der Fürsten und freien Städte in Weimar vorgesehen, zu dem die Minister mit kommen möchten. Aber Parität wäre das Verhältniß der beiden Mächte auch dann noch weniger gewesen als jemals früher. Preußen hätte, wie Franz Joseph sehr mit Recht zu dem Unterhändler sagte, den Löwenantheil davon getragen. Und dafür würde Oesterreich die kaum gewonnene glänzende Position im „Reiche“, in der es das ganze dritte Deutschland um seine Fahnen geschaart sah, abermals haben drangeben müssen. Während Preußen nach wie vor in der Lage blieb, nach Belieben in die alte Stellung zurückzugehen: Napoleon und die Italiener hätten schwerlich gezögert, ein drittes Mal die Hand des Ungetreuen zu ergreifen; und die Versuchung, sich der nationalen Bewegung zu bedienen, wäre für den norddeutschen Rivalen nur um so größer geworden, je mehr das nationale Bewußtsein durch die Auftheilung der deutschen Bundesländer unter die beiden Großmächte gereizt worden wäre. Und zu alledem hätten die innern Schwierigkeiten des Donaureiches, deren man durch einen glücklich geführten Krieg hoffen konnte Herr zu werden, nur immer wachsen müssen: revolutionäre Erschütterungen an allen Enden, das war die Aussicht, der Oesterreich entgegen ging, wenn es sich noch einmal Preußen anvertraute.

Diese Erwägungen waren es, welche in Wien durchschlugen und den Kaiser und seine Räthe dazu brachten, die Anträge, die Gablenz übermittelte, abzulehnen. Abermals hatten sie sich ins Unrecht gesetzt, mußten sie als die Unfriedsamen vor der Welt gelten. Aufs neue konnte B. die preußischen Friedensfreunde und vor allem den König darauf hinweisen, daß es Oesterreich sei, welches die friedlichsten Absichten unmöglich mache. Immer mehr durchdrang sich König Wilhelm mit dem Gefühl, Alles gethan zu haben, um den Frieden zu erhalten, und daß es nun wirklich gelte, die Ehre und das Recht seiner Krone zu wahren, das Schwert, das ihm in die Hand gezwungen war, zu gebrauchen. Auch jetzt noch war es für ihn der schwerste Entschluß. In schlaflosen Nächten und unter heißen Gebeten dachte er darüber nach, wie er dem Schicksal des Krieges entgehen könnte, der ihn mit den Freunden und Verwandten und mit den Ueberlieferungen eines langen Lebens entzweien würde, und unermeßliche Gefahren über sein Land und Volk heraufbeschwor. Er war noch unentschieden, als Oesterreich selbst bereits den Krieg gewählt hatte, und hat noch dann, sogar ohne Wissen seines Ministers, dem Versuch, durch seine Schwägerin auf die österreichischen Verwandten einzuwirken, Raum gegeben. Die Thränen brachen ihm heraus, wenn er an die Fluth des Elendes und des Hasses dachte, vor der er den Riegel durch sein Königswort hinwegstoßen sollte. Nur das Bewußtsein, nicht anders zu können, einem Nothkrieg, einem gerechten Kampf entgegen zu gehen, brachte ihn über diese Aengste hinweg. Aber aus ihm schöpfte er dann auch den Muth und die Entschlossenheit, Alles an Alles zu setzen. „Ich weiß es“, sagte er zu einem Vertrauten: „sie sind Alle gegen mich! Aber ich werde selbst an der Spitze meiner Armee den Degen ziehen und lieber untergehen, als daß Preußen diesmal nachgiebt.“

In denselben Tagen wurde auch der Congreß, zu dem Napoleon eingeladen hatte, um alle schwebenden Fragen, mithin auch die italienische, friedlich zu ordnen, durch Oesterreichs Schuld unmöglich. Die preußische Regierung hatte sich auch hierzu sofort bereit erklärt. Schon um Zeit zu gewinnen, ein Zweck, in dem er sich mit Napoleon selbst begegnete, hatte B. die Zusage gegeben. [709] Um so eher, als er niemals daran zweifelte, daß Oesterreich eine solche Basis verwerfen werde. Uebrigens blieb es sich am Ende gleich, ob in Paris oder in Frankfurt die Verwirrung, auf die er speculirte, eintreten würde; da die Minister ihre Regierungen am Congreß persönlich vertreten sollten, so konnte er, wie er dem Unterhändler Italiens sagte, auch dort die Lunte an die Pulvertonne legen: „Und von dem Congreß weg gehen wir in den Krieg!“

Es kam aber, wie er vorausgesehen hatte. Oesterreich stellte den Mächten die Bedingung, daß jede Verringerung des augenblicklichen Machtstandes ausgeschlossen bleiben müsse, und damit war schon das ganze Project ins Wasser gefallen; die Neutralen selbst, Rußland voran, erklärten, daß unter diesen Umständen der Congreß zwecklos sein werde. Es gab, das war die Summe, für Oesterreich kein Zurück mehr. Wenn aber Kaiser Franz Joseph den Entschluß fassen mußte, der über die Stellung seines Hauses in Deutschland entschied, so durfte er keinen Moment mehr verlieren. Er hatte eine Armee unter sich, wie sie seinen Vorfahren niemals zur Verfügung gestanden hatte: trefflich ausgebildete und im ganzen zuverlässige Truppen; auch das Officiercorps vom besten Geist beseelt, stolz auf den alten Kriegsruhm und, wie es dem echten Soldaten ansteht, voll Hoffnung auf den Sieg, hervorragende und ruhmgekrönte Generale. Zu allen Zeiten hatte sich der österreichische Soldat gut geschlagen: warum sollten der Kaiser und sein Volk nicht hoffen können, daß sie auch diesmal frischen Lorbeer um die schwarzgelben Fahnen winden würden? Gegen Italien besaß Oesterreich in dem Festungsviereck gewaltige Positionen, zur See war es dem einen Gegner weit überlegen, dem andern mindestens gewachsen, auf dem deutschen Kriegsschauplatz aber konnte es, alles zusammengerechnet, auf die Ueberzahl rechnen. Der Deutschen im eigenen Lande, wie auch der Slaven, war der Kaiser sicher: Beide, wie verschieden auch ihre Ziele sein mochten, waren an Habsburg geschmiedet. Vor allem die Deutschösterreicher folgten ihrem angestammten Herrscher: denn gleich ihrer Dynastie mußten sie jetzt um die Herrschaft über Deutschland kämpfen, wenn sie ihre alte Stellung im Donaureiche dauernd sichern wollten. Niemals, so lange das alte Kaiserthum deutscher Nation Bestand gehabt, waren so viele der Getreuen und Vasallen um ihren Kaiser geschaart gewesen. Wie einst der größte Kaiser des deutschen Mittelalters die Fürsten Deutschlands aufgerufen hatte, um den übermächtig gewordenen Welfen, der ihn in seiner italienischen Politik lahm gelegt hatte, niederzuwerfen und seines Raubes zu erleichtern, so sandte jetzt der Erbe des letzten Kaisergeschlechtes seine Heere aus, um den neuen norddeutschen Rebellen zu strafen, und zwischen banger Furcht und ehrgeiziger Hoffnung getheilt stellten sich ihm die deutschen Fürsten zur Seite. „Man muß“, schrieb Biegeleben, „Preußen in seine Theile zerschlagen“; und das ‚Vae Victis‘, zu dem sich der Minister des Schwabenkönigs auf der Kammertribüne verstieg, zeigte an, wohin die Hoffnungen der Rheinbundsfürsten standen.

So sah König Wilhelm sich vollends auf den Grund zurückgedrängt, den sein großer Minister immerdar behauptet hatte, und den auch er niemals hatte aufgeben wollen. Der Glaube an Preußens Kraft, der Bismarck’s Seele füllte und der Odem aller seiner Thaten war, sollte die Probe bestehen. Feuriger glühte die Seele des Helden, kampfesfroher, siegessicherer hob sich ihm das Herz, je näher die große Stunde kam. Wohl richtete er sich auf den Fall ein, daß der Erfolg ausbleiben würde. Auch abgesehen von Niederlagen im Felde gab es schwarze Punkte am Horizont der europäischen Politik genug, zumal wenn er nach Westen blickte. „Der Würfel ist gefallen“, so sprach er zum Grafen Barral, als das entscheidende Telegramm aus Frankfurt [710] gekommen war: „haben wir gute Zuversicht, aber vergessen wir niemals, daß der allmächtige Gott launenhaft ist“. Er wußte, daß er um die eigene Stellung spielte, und daß der Zusammenbruch auf dem Schlachtfelde sofort nach Innen zurückwirken, und nicht blos das Werk, das er unter unsäglichen Mühen errichtet hatte, vernichten, sondern ihn selbst zum Gespött der Gegner machen, dem tausendfachen Haß des Volkes preisgeben und alle die Angriffe und Anklagen wider die Tollkühnheit und Planlosigkeit seiner Politik bestätigen würde. Nur der Sieg konnte die That rechtfertigen. Was in seiner Seele vorging, hat er wiederholt ausgesprochen. „Wenn wir geschlagen werden“, so hörte Lord Lostus ihn sagen, als sie am 14. Juni gegen Mitternacht in dem Garten des Ministeriums umhergingen, „kehre ich nicht hierher zurück. Ich werde beim letzten Angriff fallen. Man kann nur einmal sterben, und es ist besser zu sterben als geschlagen zu sein“. Daß B. den Tod nicht fürchtete, wußte die Welt und hatte er noch jüngst bewiesen, in jener Stunde, als ihm ein Fanatiker zwei Kugeln auf den Leib brannte; ein Ereigniß, daß durch seinen Ausgang fast ans Wunderbare grenzte und einem naiveren Zeitalter zweifellos wie ein unmittelbares Eingreifen Gottes erschienen wäre. Ihm aber war es, als sei ihm nichts geschehen. Es wäre ja kein anderer Tod gewesen als der, dem er Tausende von Tapferen entgegen senden wollte, der Tod für König und Vaterland. „Sei es im Felde, sei es auf dem Straßenpflaster, ich verlange nichts Besseres und erflehe als eine besondere Gnade von Gott, daß mir ein solcher Tod vergönnt sei“ – so hatte er nach dem Attentat der Menge zugerufen, die ihn, zum ersten Mal in seinem Leben, huldigend umdrängte: fast dieselben Worte, mit denen er seinen alten Herrn auf jener Abendfahrt im Herbst 1862 getröstet und aufgerichtet hatte. Ob vor dem Feind im ehrlichen Kampf oder wie ein Verbrecher auf dem Schaffott, ob von Mörderhand oder im Duell, oder auch dem eigenen Willen zu sterben gegenüber – das alles waren Chancen, die man hinnehmen oder auch wählen mußte, wie sie fielen: wenn nur die Ehre und der Zweck des Lebens gewahrt blieben. Indessen, mochten auch solche Schatten zuweilen über ihn hingleiten, fanden sie doch keinen Raum in seiner Seele angesichts der gewaltigen Kräfte, die nun von seiner Hand entfesselt der Grenze entgegen wogten. Wofür er gestritten, so lange er in der Arena stand, das sollte jetzt hinausgeführt werden: den Hohenzollern, denen seine Vorfahren gedient, seitdem sie in den Marken saßen, wollte er die Hegemonie in Deutschland verschaffen, von der Memel bis zum Donnersberge, oder bis hin zu den Schneefeldern der Alpen sollte Preußens Adler seine Schwingen breiten.

Wie Heinrich von Treitschke schrieb: Der Kampf um die Macht brach an.

Dennoch war es nicht diese centrale Frage, die den Stein ins Rollen brachte, sondern die kleinere, an der sich die Krisis herausgebildet hatte, der Streit um die Herzogthümer. Am 1. Juni stellte Oesterreich ihn der Entscheidung des Bundestages anheim, zugleich mit der Berufung der holsteinischen Stände nach Itzehoe. Nichts erbitterte König Wilhelm mehr und überzeugte ihn stärker von der Gerechtigkeit seiner Sache. Mit voller Kraft konnte B. daher seine letzten Schläge führen. In rascher Folge schmetterten sie auf die Gegner nieder: die Erklärungen am Bunde und in der Presse, welche die bundes- und friedbrüchige Haltung Oesterreichs denuncirten; der Einmarsch Manteuffel’s in Holstein, vor dem die Oesterreicher und der Augustenburger mit ihnen schleunigst aus dem Lande wichen, während die Stände ein Jeder daheim blieben; die Ankündigung am Bundestage vom 9. Juni, fortan die Sache der Herzogthümer mit der deutschen Frage vereinigt lösen zu wollen, und die Aussendung des Reformprogramms am 10., worin die früheren Forderungen [711] wiederholt und ergänzt, und der Ausschluß Oesterreichs zum ersten Mal ausdrücklich verlangt wurde; und endlich, als die Majorität sich mit Oesterreich solidarisch erklärte und durch den Beschluß vom 14. Juni selbst bundesbrüchig wurde, der Austritt Preußens aus ihrer Gemeinschaft.


Zwei, drei Wochen voll athemloser Spannung, ängstlichen Harrens, erschütternder Katastrophen, und es war entschieden. Entschieden soweit, daß die niedergeworfene Macht aus eigener Kraft sich nicht mehr erheben konnte. Und während die Sieger von Königgrätz auf allen Straßen Böhmens der mährischen Grenze und weiter der nahen Donau entgegen zogen, trieben die paar Brigaden, die gegen die deutschen Bundesgenossen Oesterreichs aufgestellt waren, ihre schlecht geführten und politisch wie militärisch zwiespältigen Armeecorps vor sich her: Mitte Juli war Norddeutschland bis zum Main in der Hand des Siegers und wehten von Mainz bis Brünn die schwarz-weißen Fahnen. Nur, wenn, wie in den alten Zeiten, das Ausland sich der deutschen Dinge annahm, konnten Habsburgs Kaiserhaus und seine Verbündeten Rettung für sich erhoffen; die Fremdherrschaft allein konnte die Einigung der Nation durch das preußische Eisen verhindern. Es war der Schatten, der über Bismarck’s Werke alle die Jahre daher gelegen, und der ihn auch begleitet hatte, als er seinem König in das Feldlager gefolgt war. Hatten die Kanonen von Königgrätz das Gewölke bereits zerstreut? Oder war nicht vielmehr zu fürchten, daß es nur um so schwerer sich zusammenballen würde, je unvermutheter und drohender ihr Donner an der Seine wiederhallte? Schwerlich ist B. überrascht gewesen, als am Morgen des 5. Juli, zwei Tage nach der großen Schlacht, das Telegramm eintraf, in dem Napoleon die Cession Venetiens an ihn selbst ankündigte und dem Sieger seine Vermittlung antrug. Was B. in diesem Augenblick empfand, verrieth ein Wort, das seine Umgebung damals von ihm hörte: Das wolle er dem Gallier vergelten, wenn sich die Gelegenheit fände. Aber noch war der Moment der Rache nicht gekommen. Denn wenn nun der Kaiser Ernst machte und den Preis einforderte, den B. ihm halb in Aussicht gestellt hatte? Oder wenn Victor Emanuel sich auf das unsaubere, aber einträgliche und billige Geschäft einließ? Schon waren die österreichischen Corps, die gegen Italien siegreich gefochten, auf dem Wege in den Norden; vereint mit den Trümmern der Benedek’schen Armee konnten sie wol die Donaulinie und die Hauptstadt zu halten hoffen; die Bevölkerung Cisleithaniens stand fest zu ihrem Herrscher und auf den Aufstand in Ungarn war wenig zu rechnen. Und mochte auch das mexikanische Abenteuer das Heer Frankreichs geschwächt haben, so drohten doch von einer Intervention seitens der großen Militärmacht unberechenbare Gefahren. Zumal, da man nicht bloß mit Frankreich, sondern noch mit zwei anderen Nachbarn, vor allem dem im Osten, zu rechnen hatte. Und wir wissen, wie sehr B. zu allen Zeiten die Vereinigung zwischen dem Zaren und dem Cäsar gefürchtet hatte. Offenbar, das Spiel war noch nicht zu Ende, die Karten durften noch nicht aufgedeckt werden. Zunächst und vor allem galt es, wie im Mai, die eigene Kraft zu steigern: der Vormarsch nach Wien, die Offensive gegen die Reichsarmee wurden mit vollem Nachdruck aufgenommen. Daneben aber mußten doch auch die diplomatischen Karten von neuem gemischt werden. Von jeher hatten sich Bismarck’s Absichten mehr auf Norddeutschland, die engere Interessensphäre Preußens, als auf die grundsätzliche Lösung der deutschen Frage gerichtet. Noch in dem Programm vom 10. Juni, das ganz auf die nationale Strömung berechnet war, hatte er die Theilung des militärischen Befehls zwischen Preußen und [712] Baiern in Aussicht genommen. Der drohenden Haltung Napoleon’s gegenüber trat diese Auffassung sogleich wieder stärker hervor. „Unser politisches Bedürfniß“, schrieb er am 9. Juli an Goltz, „beschränkt sich auf die Disposition über die Kräfte Norddeutschlands in irgend einer Form“. König Wilhelm dachte auch darin nicht ganz wie sein Minister. Seine Abneigung gegen den Bonaparte war nicht gemindert, aber die Besorgnisse, die er früher weit stärker als B. gehegt, waren unter dem Eindruck des herrlichen Sieges verschwunden. Er fühlte in diesem Moment ganz als Soldat und wollte, wie seine Generale, nicht zulassen, daß die Federfuchser wieder verdürben, was das Schwert gewonnen hatte. Gott hatte ihm den Sieg gegeben im gerechten Kampf. Hatte er selbst ihn vermeiden wollen, so lange es die Ehre erlaubte, so sollten jetzt die Bundbrüchigen dafür büßen, daß sie ihm und seiner Krone ans Leben gewollt hatten: an ihre Thronfolger sollten sie zum Theil die Regierung, an Preußen Stücke ihrer Herrschaft abtreten; und er dachte dabei besonders an solche Besitzungen, die einst dem Hause Hohenzollern gehört oder an die es noch ein Anrecht habe. Auch B. war für die Annexionen zu haben, wenn er sie auch nicht in dem Sinne dynastischer Ambition wie sein königlicher Herr betrieb; auch er hätte sie unter Umständen der bloßen Hegemonie Preußens in dem umgestalteten Bunde vorgezogen: denn je stärker Preußen wurde, um so leichter waren weitere Ziele zu erreichen. Auch Sachsen, und dies gerade in erster Linie, hatte er unter den Opfern des Krieges ausersehen; und auch er rechnete nicht sogleich mit der Annexion ganzer Länder und würde sich mit Theilabtretungen begnügt haben. Nur Oesterreich, dem der König gleichfalls einen Grenzstrich abzunehmen wünschte, nahm B. gleich anfangs aus; der Ausschluß des Kaiserstaates aus Deutschland, die Abtretung der Herzogthümer schienen ihm Buße genug; und wenn er in der Folge auch hier eine Grenzberichtigung in Vorschlag gebracht hat, so fügte er sich darin gewiß nur dem Wunsche des Königs. Würde er aber solche Forderungen bei Napoleon durchdrücken können, ohne daß dieser seine eigene Rechnung einreichte? Wohl hatte er noch eine letzte Karte im Spiel, den großen Trumpf, der in der Entfesselung der nationalen Idee auf der vollen Grundlage der Reichsverfassung von 1849 lag. Aber war es denkbar, den Nationalkrieg gegen Frankreich zu entflammen, während die deutschen Dynastien selbst, von ihren Bevölkerungen hingebend unterstützt, um ihre Existenz mit einander rangen? Und konnte B. gerade jetzt in einen Weg einlenken, gegen den er sich Zeit seines Lebens gewehrt hatte? Alle seine Pläne hätte er dann ändern oder zurückstellen müssen. Solche Sorgen und Bedenken fanden in den Weisungen Ausdruck, die der Minister in den Tagen nach Empfang des Telegramms Goltz übersandte; den verschiedensten Combinationen war darin ein weiter Spielraum gelassen. Während aber der Botschafter, von dem Prinzen Reuß unterstützt, das Geheimniß der Tuilerien zu durchdringen suchte, ward B. im Feldlager selbst durch den Besuch Benedetti’s überrascht, der, einem Befehl seines Chefs Folge gehend, eiligst aus Berlin herbeigeeilt war und den Minister in der Nacht zum 12. Juli, schon auf mährischer Erde, in Zittau[3] überfiel. B. konnte nicht anders rechnen, als daß der Botschafter mit bestimmten Instructionen käme und um den Willen seines Herrn wüßte. Er ging daher ganz so vor, wie er Goltz instruirt hatte, und mischte Klagen und Drohungen, eigene Wünsche und Verheißungen durcheinander, Alles zu dem Zweck, um den Franzosen auszuholen. Wir wissen aber heute, und zwar aus Benedetti’s eigenen Berichten, daß dieser in der That selbst nicht wußte, woran er war. Er remonstrirte gegen die hochgespannten Forderungen Bismarck’s, die auf die Annexion von Sachsen, Hannover und Hessen gingen, aber blieb auch kalt gegen die Lockungen mit [713] einem Bündniß zwischen Preußen und Frankreich, das, wie B. ausführte, beide Mächte stark genug machen würde, um ihre Grenze nach Belieben zu verändern und, ohne England oder auch Rußland fürchten zu müssen, alle Schwierigkeiten zu lösen, die den Frieden Europas bedrohten. Wie hätte B. ahnen können, daß diese steife Haltung dem Botschafter nur dazu diente, den Mangel an Instructionen zu verbergen, die eigene Blöße zu bedecken? Ohne zu irgend einem Ziel zu gelangen, verließ Benedetti, einem neuen Befehl seines Ministers gemäß, am 15. Juli in Brünn das preußische Hauptquartier, mit der Absicht nach Paris zu gehen. In Wien erreichte ihn ein Gegenbefehl, und so kam es, daß er nach wenigen Tagen sich wieder bei den Preußen in Nikolsburg einfand, ohne aber auch dann aus der Rolle des Zuschauers wesentlich herauszutreten.

Nicht in dem Feldlager, sondern in Paris, in den Verhandlungen, die Goltz in den Tuilerien führte, fiel die Entscheidung; und nicht die Geschicklichkeit der preußischen Diplomatie, wie kühn und energisch B. und Goltz den Moment benutzt haben mögen, sondern die schier unfaßbare Planlosigkeit und Verwirrung, die den Hof Napoleon’s beherrschten, haben Erfolge der preußischen Politik möglich gemacht, größer, als B. selbst und irgend Jemand in der Welt beim Eintritt in den Krieg erwartet hatten. Das naive Zuvertrauen Wilhelm’s und seiner Generale, die im Vollgefühl des Sieges die Wetterwolke der französischen Intervention nicht für eine unheilschwangere halten mochten, hat, man muß es gestehen, diesmal richtiger gesehen als der Meister der hohen Diplomatie: weder die militärische Kraft Frankreichs noch die persönliche Entschlußfähigkeit des durch Krankheit erschöpften und zwischen seinen Rathgebern haltlos schwankenden Kaisers reichten aus, um die Intervention, vor der sich der preußische Minister ängstigte, ins Werk zu setzen. Napoleon fürchtete alles Ernstes die Entfesselung der nationalen Kräfte Deutschlands. Er hielt es bereits für einen Sieg, als Goltz die Erklärung abgab, daß der König sich auf Norddeutschland beschränken wolle, und bekümmerte sich fortan gar nicht mehr darum, ob Annexion oder nur militärische Unterordnung gewünscht werde. Ohne zunächst irgend eine Compensation für sich selbst zu erwähnen, kaum daß er eine leise Anspielung auf solche Wünsche machte, gab er am 22. Juli einen Ländererwerb von 4 Millionen Einwohnern für Preußen zu. Daß geschah in denselben Tagen, wo B., um gegen Frankreich Deckung zu finden, durch Vermittlung des Herrn v. Giskra zum letzten Mal Oesterreich den Weg der paritätischen Ordnung der deutschen Frage öffnete!

Am 23. Juli, dem Tage, da die Verhandlungen mit den österreichischen Bevollmächtigten in Nikolsburg begannen, am Morgen, noch vor der ersten Sitzung, kam das Telegramm von Goltz in Bismarck’s Hände, das jene Concessionen Napoleons enthielt. Die Generale waren mittlerweile von ihrem Widerspruch gegen B., den sie noch wenige Tage zuvor sehr lebhaft zur Geltung gebracht hatten, zurückgekommen; wenigstens von Moltke und Roon wissen wir bestimmt, daß sie mit diesen Friedensbedingungen völlig zufrieden waren, die auch ihre Hoffnungen übertrafen. Der König dagegen wollte von der Integrität Sachsens und selbst Oesterreichs noch immer nichts hören, und mit ihm gerieth B. noch einmal auf das härteste zusammen. In den Gedanken und Erinnerungen hat er es selbst geschildert, in jenem Capitel, daß in seinem dramatischen Aufbau fast den Höhepunkt seines Buches bildet. Aber es nachzuerzählen dürften wir nicht wagen. Hier ist alles ungewiß: sowol der Kriegsrath, den B. auf jenen Tag verlegt, wie das, was er von der Begegnung des Kronprinzen auf seiner Stube, oder von dem Marginal des Königs, worin Wilhelm seinem Unwillen über den „schmachvollen Frieden“ Luft gemacht [714] habe, oder von dem Antrag auf seine Entlassung berichtet. Sicher ist nur, daß der Kronprinz sich des Ministers, seines alten Feindes, gegen den Vater angenommen hat, und wahrscheinlich, daß jene Randnote des Königs keine andere war als diejenige, die er auf eine Eingabe Bismarck’s vom 24. geschrieben, und die Sybel uns mitgetheilt hat. Danach hat B. überhaupt nicht mit der Entlassung gedroht, sondern nur die Verantwortung für die Folgen abgelehnt, und Wilhelm hat nicht unmittelbar nachgegeben, sondern zunächst noch die „pflichtmäßige Vertretung der preußischen Ansprüche“ auch in Bezug auf Sachsen von seinem Minister gefordert, und nur eingeräumt, daß, wenn dieselben von dem Besiegten nicht zu erlangen seien, der Sieger vor den Thoren Wiens sich eben fügen und der Nachwelt das Urtheil überlassen müsse. So aber ging B. in der Conferenz am 25. in der That vor. Er bestand zunächst noch auf den erhöhten Geldforderungen gegenüber Oesterreich und auf den sächsischen Annexionen, um dann allmählich in beiden Punkten einzulenken und die Anerkennung der Integrität Sachsens in den Präliminarvertrag aufzunehmen, der am 26. Juli unterzeichnet wurde.


Denn inmitten des Kampfes und auf der Höhe der Erfolge verlor unser Held niemals die kühle Besonnenheit, die ein Grundzug seines Wesens war. Er hatte erreicht, wonach er gerungen. Preußen war groß geworden, alle seine Feinde sah es zu seinen Füßen. Das Gewonnene zu bewahren, zu befestigen, war jetzt die Aufgabe. So lange hatte B. gegen den Strom des nationalen Empfindens angekämpft. Alle Vermittlungsversuche hatte er vereitelt oder, wo er einmal an sie gedacht, alsbald wieder fallen gelassen. Unversöhnt mit den innern Gegnern war er in den Krieg gegangen. Noch in Nikolsburg war er bereit gewesen, die nationalen Manifestationen, zu denen er am 9. April und 10. Juni geschritten war, zu verleugnen, wenn eine Wendung in dem Kampf eingetreten wäre, die es nothwendig gemacht hätte. Jetzt aber sah er die Zeit gekommen, wo er seinem König den Frieden mit seinem Volke verschaffen, wo der Träger der Hohenzollern’schen Krone sich „sättigen lassen mußte von der Meinung der Nation“. Denn die Fundamente waren gelegt, auf denen der Bau eines neuen Deutschlands, eines Reiches, in dem Preußen der Eckpfeiler wurde, möglich war. Sympathien des Ministers mit den liberalen Tendenzen hatten daran keinen Antheil, sondern nur wieder die Berechnung der wirkenden Kräfte, welche aus der politischen Lage die Consequenzen zog und ihre Gebote vollstreckte. Denn hätte B. noch einmal die nationale Fluth, die schon mit vollen Wogen das preußische Bette aufsuchte, zurückgestoßen, so wären, nichts war gewisser, die Besiegten, Oesterreich an der Spitze, augenblicks herbeigeeilt, um sie zu ihrem eigenen Vortheil zu wenden. B. würde den Beweis geliefert haben, daß er in dem Reformprogramm wirklich leere Worte gemacht, daß er nichts als einen Eroberungskrieg geführt habe; alle Anklagen der Gegner wären gerechtfertigt, der Politik, die Preußen die Herrschaft verschaffen wollte, wären die Sehnen durchschnitten und die Nation aufs neue unberechenbaren Stürmen ausgesetzt worden. Vor allem die Rücksicht auf das Ausland bestimmte auch hierin den Blick des Ministers. Nur so lange die Wage zwischen Oesterreich und Preußen geschwankt und B. selbst die Zertheilung der deutschen Kräfte angestrebt hatte, war die europäische Constellation seiner Politik günstig gewesen: der Sieg Preußens verkehrte sie sofort zu seinen Ungunsten. Nun kam Napoleon, zu spät schon für ihn selbst, mit seinen Forderungen heraus; noch in Nikolsburg meldete sie Benedetti an. Rußland aber griff die Idee des [715] Congresses auf und machte Miene, sich zum Protector der Kleinstaaten aufzuwerfen. Fortan lastete der Alp der Coalitionen auf Bismarck’s Politik; nur der innere Friede und die Stärkung des nationalen Gedankens konnten das Gegengewicht bilden.

Am 9. Mai war der Landtag aufgelöst worden, nicht in erklärtem Unfrieden, aber doch ohne daß die Regierung, wie ihre Freunde unter den Liberalen wünschten und riethen, Entgegenkommen gezeigt hätte. Noch vor dem Ausbruch des Krieges waren die Neuwahlen ausgeschrieben worden, und an dem Tage, da auf dem Felde von Königgrätz das Schlachtenglück gegen Oesterreich entschied, maßen sich daheim die preußischen Parteien. Hier jedoch errang die Regierung nur einen halben Sieg. Zwar gingen die Conservativen um das Drei- bis Vierfache gestärkt aus dem Wahlkampf hervor, aber die Mehrheit erreichten sie nicht, die Majorität der Wähler blieb ihren alten Vertretern treu. Diese selbst freilich kehrten zumeist in anderer Stimmung in das Haus am Dönhoffsplatz zurück. Wer in Preußen je den Träger seiner nationalen Hoffnungen gesehen hatte, konnte sich nicht völlig der Freude über das Erreichte verschließen. Auch war es nicht möglich, den Sieg und die Macht, die er geschaffen, zu ignoriren. Eine Rückbildung des Heeres, das bei Königgrätz gesiegt, nach den Principien von 1860 und der Sturz des Ministers, der Oesterreich niedergeworfen, war undenkbar: man hätte eben so leicht den Nikolsburger Vertrag umstoßen können. Selbst die von der äußersten Linken mußten, wie entschlossen sie waren, den Kampf gegen den Minister im Innern fortzusetzen, sich dennoch den Zielen und Ergebnissen seiner auswärtigen Politik unterwerfen. Das Gros der Liberalen aber lenkte auch in der inneren Politik in die Wege ein, die der Wille des Ministers vorschrieb, und die den ihrigen schon nahezu parallel liefen. Nur so, nur auf dem Wege des Compromisses, den er selbst immer offen gelassen, hofften sie noch ihre eigenen Ziele zu erreichen. Sie begegneten sich darin mit den Liberalen in den neuen Provinzen, den Trägern der Politik des Nationalvereins, dessen Präsident Rudolf v. Bennigsen nun selbst zu den neuen Unterthanen des Königs von Preußen gehörte: als Gegner des Particularismus mußten sie beiderseits in dem Grafen B. ihren Verbündeten sehen; vor allem die Annectirten, die nicht im directen Kampf mit ihm gestanden hatten, forderten, daß man fortan die Politik der Extreme vermeide und die Hand des Ministers ergreife. In diesem Moment hatte B. fast mehr von seinen Freunden zu besorgen als von den bisherigen Gegnern. Denn die Conservativen machten die größten Anstrengungen, um den Sieg der preußischen Waffen für sich auszunutzen, und nicht bloß die um Ludwig von Gerlach, sondern nun gerade auch diejenigen, die B. gegen Oesterreich willig gefolgt waren, weil er sie zugleich gegen die Liberalen geführt hatte: der preußische Particularismus war es, der sich gegen seine national gewordene Politik stemmte. Sie rechneten auf ihren zahlreichen Anhang in der Beamtenschaft und der Armee, auf die Mehrzahl der Minister, die nicht einen Beschluß gut heißen wollten, in dem sie ein Bekenntniß ihrer Schuld erblickten, und nicht zum wenigsten auf den König selbst. In Prag, wo das Hauptquartier auf der Rückkehr vom Kriegsschauplatz Anfang August einige Tage weilte, erschien eine Abordnung der Partei, um den Monarchen gegen den Minister, der den Antrag auf die Erklärung der Indemnität in das neue Haus bringen wollte, zu schützen. Auch König Wilhelm wurde es schwer, auf das Verlangen Bismarck’s einzugehen. Er hatte sich im Laufe des langen Kampfes mit dem Parlament von seinem Rechte völlig überzeugt, und dies Bewußtsein, das von B. selbst auf alle Weise in ihm gepflegt war, hatte ihn gerade aufrecht erhalten. [716] Statt nun zu strafen oder doch zu verzeihen, sollte er, so schien es ihm, anerkennen, daß er wider das Recht gehandelt habe, den Berechnungen einer Politik zuliebe, für die nur die Gebote der Opportunität Geltung zu haben schienen. Der Sieg, den B. am 3. August in Prag über diese Bedenken seines königlichen Herrn erfocht, als er nach langem Widerstreben seine Unterschrift unter die Thronrede erlangte, gehört nicht zu den geringsten seiner Erfolge; noch auf der Rückfahrt in die Hauptstadt hat er neu erwachende Skrupel Wilhelm’s zu bekämpfen gehabt.

Parallel mit den Verhandlungen im Landtage, durch die in den folgenden Wochen der Friede zwischen Krone und Volk geschlossen und das neue Preußen constituirt wurde, gingen die Friedensschlüsse mit den deutschen Gegnern, und wieder in enger Wechselwirkung mit diesen die Bemühungen, durch die B. die Gefahren der französischen und der russischen Einmischung abwandte. Mit voller Wucht wies B. den jähen Anlauf, den die französische Politik durch Benedetti’s Antrag vom 5. August machte, zurück: vor seiner Drohung, die Nation zum Kampf gegen Frankreich aufzurufen, entsank dem kranken Kaiser der kaum gezückte Degen. Während aber Benedetti nach Paris geeilt war, um über die Eindrücke, die er in Berlin empfangen, zu berichten und weiter zu berathen, und General Manteuffel in Petersburg weilte, um die Stimmung der Russen zu Gunsten Preußens zu wenden, machte sich B. daran, die Verträge mit den Süddeutschen zum Abschluß zu bringen, die sie in einem nationalen Kriege zur Verfügung seines Königs stellen sollten. Zuerst erreichte er es mit Württemberg, dem Schützling des Zaren, und mit Baden; so waren die Bollwerke im Südwesten gesichert. Darauf, am 22. August, gewährte er Baiern, nachdem er es weidlich geängstigt, die gleichen Bedingungen, zur selben Zeit, wo in Prag der Friede mit Oesterreich perfect wurde (23. August). Eben hatte Benedetti, der schon wieder in Berlin war, neue Verhandlungen begonnen. Er wandte sie jetzt auf die belgisch-luxemburgischen Projecte, mit denen B. sein Cabinet so oft gekirrt, und auf die er den Botschafter noch im Anfang des Monats als auf die aussichtsreichere Basis für eine Vereinbarung hingewiesen hatte. Noch immer verfuhr B. dilatorisch; er selbst veranlaßte Benedetti, einen Entwurf auszusetzen, worin jene Gebiete als der Preis eines preußisch-französischen Bündnisses genannt waren: es ist das Actenstück, durch dessen Publicirung im Juli 1870 er die französische Ländergier vor Europa bloßgestellt hat. Sobald er aber die deutschen Verträge in der Tasche hatte, begannen seine bis dahin so freundlichen Mienen frostig zu werden; er beschwerte sich nach Paris hin über das inopportune Drängen des französischen Gesandten. Die Franzosen waren längst von ihrer schroffen Haltung zurückgekommen. Napoleon war es nur noch um den Gewinn von Luxemburg zu thun: Preußen wollte er Mainz geben und ihm Saarlouis lassen, wie Landau bei Baiern, Rastatt bei Baden; er proponirte Preußen sogar, wie im Juli schon einmal, die Annexion Sachsens, dessen katholische Dynastie dafür auf dem linken Rheinufer placirt werden könnte; er zeigte sich durchaus einem freundschaftlichen Verständniß mit der norddeutschen Militärmacht geneigt. Auch fand er in Goltz einen eifrigen und überzeugten Fürsprecher dieser Wünsche. Am 2. September kam letzterer selbst nach Berlin, um für sie einzutreten, und eine ganze Woche hindurch wurden zwischen ihm, B. und dem König täglich Conferenzen abgehalten, zu denen schließlich auch der Kronprinz, der in Erdmannsdorf weilte, herbeigerufen wurde. Und nicht ohne dem Kaiser alle Hoffnungen zu benehmen, ließ B. den Gesandten nach Paris zurückkehren. Noch vom 12. September haben wir einen Brief desselben an seinen Chef, in dem er auf den Abschluß des Bündnisses dringt. Er wies [717] darin auf die Versprechungen hin, die B. dem Kaiser und seinen Ministern, namentlich seinem intimsten Rathgeber Rouher in zahlreichen Gesprächen, besonders im vorigen Herbst, gemacht habe; auf die schwere Enttäuschung, die man Napoleon bereiten werde, wenn B. sich jetzt einem Vertrage versage, der, wie Rouher bemerkt habe, eine gemeinsame Arbeit Bismarck’s und Benedetti’s und ebenso sehr sein Werk als das des letzteren sei. Er warnte vor den Folgen: der Kaiser werde alles Vertrauen in die Absichten des Ministers oder in das Gewicht seiner Rathschläge bei dem König verlieren; denn er habe keine andere Wahl als zwischen der Allianz mit Preußen und Coalitionsversuchen gegen Preußen, zu denen ihm die Elemente weder in Petersburg noch in Wien noch auch in Florenz fehlen würden. Auch B. übersah sehr wohl die Consequenzen seines Thuns. Er wußte, daß ihm der Kaiser niemals das Spiel vergeben würde, das er mit ihm getrieben, daß er schon um seiner selbst willen, um sich dem eigenen Volke gegenüber zu behaupten, auf Revanche sinnen, und daß jeder weitere Schritt auf dem Wege zur deutschen Einheit den Kampf mit Frankreich näher heranziehen und ihn schließlich unvermeidlich machen würde. Aber er hatte nun einmal die Bahn beschritten, die Preußens Macht und die Größe der Nation aneinander kettete; er wußte, daß er den König und den Erben seines Thrones, daß er die gesammte Nation hinter sich haben werde – und so ging er getrost der neuen Entscheidung entgegen, welche ihm die Krönung seines Werkes verhieß.

Norddeutscher Bund.

Die furchtbare Spannung in den Monaten der großen Krisis und die rastlose Arbeit hatten die bereits erschütterten Nerven des Ministers völlig heruntergebracht. An dem Siegeseinzug in Berlin am 20. September nahm er noch Theil; zwischen Moltke und Roon ritt er seinem König voran. Am 25. erwarb er sich im Landtag durch die Gewährung eines Credites von 60 Millionen zur Deckung der durch den Krieg veranlaßten außerordentlichen Ausgaben, für die er sich persönlich einsetzte, ein glänzendes Vertrauensvotum der Volksvertretung. Dann aber zeigte sich eine Ausspannung unumgänglich. Von Freundes Seite rieth man ihm, den Winter an der Riviera zuzubringen; im Frühling möge er dann für die Errichtung des Norddeutschen Bundes wirken. Aber so weit und so lange konnte und wollte B. nicht von dem Schauplatz weichen. Man müsse, sagte er, das Eisen schmieden, so lange es glühe; für ihn heiße es, wie die Frauen in Pommern sagten, wenn ihre Stunde herannahe: „jetzt muß ich meiner Gefahr stehen“. Nicht in dem Süden, sondern auf der heimathlichen Scholle hoffte er neue Kraft zu gewinnen; er wollte nach Pommern und an die Küste. Am 26. September begab er sich mit Frau und Kindern nach Karlsburg, dem Gute seiner Verwandten im Greifswalder Kreise, von dort am 6. October nach Putbus auf Rügen. Gerade hier aber brach die Krankheit aus. Nach drei Wochen absoluter Ruhe war B. wieder so weit, um in der idyllischen Umgebung weitere Wege zu machen und in den Wäldern des Fürsten, dessen Gastfreundschaft er genoß, wol einmal vom Wagen her einen Zehnender zu schießen. Aber lange bevor er wieder an die „Ramme“, wie er sagte, zurückging, noch auf dem Krankenlager waren seine ruhelosen Gedanken bei dem großen Werke, das ihm bevorstand. Es lagen bereits ein paar Entwürfe zu der Verfassung des neuen Bundes vor, von der Hand des Geheimraths Hepke, Lothar Bucher’s und Max Duncker’s, aber keiner von ihnen hatte den Beifall des Ministers gefunden. Mit ihrer centralistisch-bundesstaatlichen [718] Tendenz erinnerten sie ihn allzusehr an die Verfassungen von Frankfurt und Erfurt. Er aber wollte der Basis treu bleiben, auf die er sich in der Denkschrift von 1861 gestellt hatte. Man werde, ließ er an Savigny, der mit der Vorbereitung betraut war, am 30. October durch seine Frau schreiben, sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber practisch die Natur des Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken; er trug kein Bedenken, die gewohnte Nomenklatur auf die neuen Bundesformen anzuwenden; das Curiensystem und sogar den Namen „Bundestag“ dachte er beizubehalten. Daß Preußen dabei „schlechte Geschäfte machen“, daß es z. B. überstimmt werden könne bei einer dem Plenum des alten Bundestages nachgebildeten Stimmvertheilung, die ihm mit den neuen Provinzen nur 17 unter 43 Stimmen geben würde, fürchtete er nicht: denn im Besitz des Präsidiums und der Oberfeldherrnschaft, und bei der Ueberzahl seiner Bevölkerung werde es stets im „Bundestag“ wie in der Nationalvertretung das Schwergewicht behalten. Die Gegenkraft gegen die Hervorkehrung dynastischen Ehrgeizes und particularistischer Strömungen sah B. in den gemeinsamen Institutionen, welche die Sicherheit und die Wohlfahrt des nationalen Bundes verbürgten, sowie in einem Reichstage, in dem der Wille der Nation zum unmittelbaren Ausdruck käme. Nur auf das Wesen der Macht kam es hier wie überall dem großen Praktiker an, und er fand es geradezu gerathen, schon mit Rücksicht auf den zukünftigen Eintritt der Südstaaten, sich an das Hergebrachte, Gewohnheitsmäßige anzulehnen. Er blieb auf dem Grunde, dem seine Politik entstammte, des territorialen Staates, und in den Bund der deutschen Territorialstaaten, die sich im Kampf gegen die kaiserliche Einheitsgewalt entwickelt hatten, nicht in eine ihnen von neuem übergeordnete Gewalt, verlegte er das Centrum der Macht. Die Institutionen, welche ihm die Geheimen Räthe vorschlugen, Ministerium und Oberhaus, waren aus dem Wesen des Einheitsstaates abgeleitet, und darum nicht geeignet, den Frieden im Bunde, auf dessen Sicherung es B. vor allem Andern ankam, zu verbürgen. Sie drohten vielmehr irritierend und zersetzend zu wirken. Denn bei der Bildung eines Ministeriums konnte, wie er sofort bemerkte, eine Concurrenz der Regierungen nicht ausgeschlossen werden; und noch stärker mußten die particularistischen Elemente in einem Oberhause hervortreten, zumal wenn, wie die entgegengesetzten Pläne fast alle vorsahen, in ihm die Fürstenhäuser selbst Sitz und Stimme erhalten sollten. So setzte denn B. mit einem wahrhaft „kühnen Griff“ den „Bundesrath“, wie er später getauft wurde, als die Centralbehörde unmittelbar an die Stelle des Reichsministeriums. Er sollte die einzelnen Ressorts des Reichsdienstes mit Fachcommissionen aus seiner Mitte besetzen und „auf einer 43 Plätze fassenden Ministerbank seine Phalanx dem Reichstage gegenüberstellen“. B. rechnete auf die Gleichartigkeit der Organisation der Bundesstaaten und die Gemeinsamkeit ihrer Interessen. Daß er sich nicht verrechnete, hat die Geschichte des Reiches seither bewiesen. Wie oft die Versuchung an so mächtige Regierungen wie die bairische herangetreten sein mag, sich an die Spitze einer Fronde, etwa der katholischen, zu setzen, so ist dennoch die Einheit in dem obersten Rathe der Nation niemals erschüttert worden; immer noch ist die Gesammtheit der Regierungen dem Reichstage einmüthig entgegengetreten. Die neue Verfassung stattete das Präsidium des Bundes mit den stärksten Rechten aus: sie gab ihm die volle Vertretung nach Außen, das Recht über Krieg und Frieden, die Ueberwachung der Ausführung der Bundesbeschlüsse, die Ernennung aller Bundesbeamten, die Executive gegen widerspenstige Bundesglieder, den Oberbefehl im Krieg und Frieden über das nach preußischem Muster organisierte Bundesheer; und sie unterwarf die Flotte direct dem [719] preußischen Commando. Aber sie gewährte immerhin den Bundesgenossen des führenden Staates dasjenige Maaß von Einfluß, welches ihrer Macht entsprach, und vor allem, sie verbürgte ihnen die volle Sicherheit ihrer Existenz, sowohl gegen das Ausland wie auch gegen die nationalen Wallungen, die im Bunde sei es mit der Revolution oder mit dem preußischen Ehrgeiz sie früher mit dem Untergange bedroht hatten.

In allem hielt B. sich an die Grundlinien, die er in seinen uns bekannten Denkschriften gezogen hatte. Und dies erklärt es uns, daß er erst nach der Rückkehr in das Amt, und noch 14 Tage später, in wenigen Stunden, an dem Nachmittag des 13. December den Entwurf dictiren konnte, der die Grundlage nicht bloß des Norddeutschen Bundes, sondern des deutschen Reiches selbst geworden ist. Noch in der Nacht arbeitete Lothar Bucher die Skizze aus: am 14. Vormittags kam sie an den Kronrath, und am 15. ward sie den Bevollmächtigten der verbündeten Regierungen gedruckt vorgelegt. Aus dem Willen des Volkes heraus hatte die Revolution den nationalen Staat schaffen wollen. Und zur Mitarbeit wenigstens wollte auch B. die Nation heranziehen; es entsprach, wie wir sahen, den eigensten Gedanken des großen Staatsmannes, ihre Vertretung als ein tragendes Glied dem deutschen Verfassungsbau einzufügen: zu einem constituirenden Reichstage wurden die Wahlen ausgeschrieben. In Wahrheit aber haben die Regierungen sammt ihren Landtagen, wie die Nationalvertretung selbst, nur sanctioniert, was der Eine geschaffen hatte. Wenn das Ipse fecit bei irgend einem Werke Berechtigung gehabt hat, so gilt es für diese Schöpfung. Die Wahlform hatte B. von jeher in zweiter Linie gestanden; zu dem directen System hatte er sich erst entschlossen, als Oesterreich und seine Verbündeten in der Frankfurter Reformacte ein Delegiertenparlament, wie er es selbst früher geplant, gefordert hatten; er hatte es gethan, um die Gegner in der öffentlichen Meinung zu überbieten. Er hatte später daran festgehalten und es vor dem Kriege zu dem allgemeinen Wahlrecht nach Maßgabe der Reichsverfassung von 1849 erweitert: wieder vor allem, um die feindlichen Regierungen durch den Appell an die Centralidee der Revolution matt zu setzen oder doch Zwiespalt zwischen ihnen selbst und mit der Nation zu erwecken. Daß er damit die Demokratie entfesseln und sein eigenes Werk gefährden würde, fürchtete er nicht; denn es war seine alte Uberzeugung, er hatte sie schon in dem Vereinigten Landtage vertreten, daß die unteren Schichten conservativer und monarchischer als die mittleren dächten, und jedenfalls, daß die Besitzenden, die Arbeitgeber, zumal in den agrarischen, altpreußischen Provinzen ihre sociale Gewalt über die von ihnen abhängigen Arbeiter auch unter dem allgemeinen Wahlrecht behaupten würden. Als Gegengewicht schien ihm zu genügen, daß niemals an die Abgeordneten Diäten gezahlt werden dürften. Das verwerflichste, das unsinnigste aller Wahlsysteme, wie er im constituirenden Reichstage sagte, erblickte er in dem preußischen System der indirecten Wahlen, und dies wollte er unter keinen Umständen dulden: der Liberalismus sollte im neuen Reich aus der Burg, die er sich in Preußen durch die Klassenwahlen gebaut hatte, vertrieben werden. Trotzdem hat B. noch in Putbus vorübergehend daran gedacht, einen durch einen Census modificirten Wahlmodus einzuführen, so zwar, daß in jedem Bezirk, den er auf 200 000 Seelen bemessen wollte, etwa die Hälfte der Abgeordneten aus den hundert Höchstbesteuerten gewählt werden sollte, und die übrigen in directen Urwahlen; womit dann freilich die besitzenden Elemente ein für allemal in die Macht eingesetzt worden wären. Indessen legte B., wie er gleich damals hinzufügte, darauf nicht das bestimmende Gewicht; und wenn er sich später entschloß, das allgemeine gleiche und directe Wahlrecht zur Grundlage des Reichstages zu machen, so leitete ihn auch [720] dabei wiederum weniger Rücksichten der inneren als der auswärtigen, der deutschen Politik: er glaubte den Hebel für die nationale Einigung an dem wirksamsten Punkte anzufassen, wenn er den Druck des nationalen Willens, den er zur Bändigung particularistischer Quertreibereien nicht entbehren konnte, so stark wie möglich machte.

Man weiß, daß die Bedenken gegen das allgemeine Wahlrecht in den Mittelparteien größer gewesen sind als auf der rechten Seite; der alte Heißsporn der Reaction, Hermann Wagener, den B. jetzt zu seinem Adlatus in der inneren Politik machte, wurde sein eifrigster Fürsprecher. Aber am wenigsten die Liberalen konnten sich dagegen sträuben. Denn hier sahen sie endlich Ernst gemacht mit ihrer Theorie, daß die Nation in ihrer Gesammtheit berufen sei, über ihre höchsten Angelegenheiten mit zu sprechen; sie konnten gar nicht die stärkste und in ihrem Sinne legitimste Waffe gegen den Particularismus, in dessen Bekämpfung sie von jeher ihren Ruhm erblickt hatten, auf dem Boden liegen lassen. So war Miquel’s Argument: das allgemeine Stimmrecht möge seine Bedenken haben, aber wir dürften es nicht verwerfen, weil es den Ruf an alle Classen und Stände enthalte, sich dem nationalen Bunde anzuschließen und dem blöden Sonderthum zu entsagen. Unter den Wenigen, die rückhaltlos widersprachen, befand sich Heinrich v. Sybel, der geistreichste unter den liberalen Führern, der sich in den letzten Jahren zurückgehalten, nach dem Siege aber wieder in das Parlament zurückgekehrt und sich der neuen „nationalen“ oder, wie sie sich bald nannte, nationalliberalen Partei unter Bennigsen’s Führung angeschlossen hatte. Er warnte vor den inneren Gefahren, welche die Entfesselung der Massen heraufführen könnte. Aber der Sohn des Rheinlandes, der Historiker der Revolution und der Napoleonischen Epoche dachte dabei doch auch nur wieder an den auf der politischen Demokratie aufgebauten Despotismus: daß das allgemeine Wahlrecht das Heer der Arbeiter den socialistischen Utopien unterwerfen und dereinst die Clericalen zur Herrschaft im neuen Reiche erheben könnte, daß es alle particularistischen und reichsfeindlichen Tendenzen in der Nation ans Licht treiben würde, war wohl auch ihm, wie jedermann, noch verborgen.

Auch auf dem Felde der wirthschaftlichen Interessen zeigten sich kaum die ersten Keime künftigen Zwiespaltes. Daß hier die schon morsch gewordenen Fesseln gelöst werden müßten, war nicht nur die Forderung der allgemein gültigen wirthschaftlichen Theorie, sondern, nachdem einmal die neue Ordnung geschaffen war, eine politische Nothwendigkeit, der sich niemand entziehen konnte. Einstimmig votirte der erste Reichstag im neuen Bunde das Gesetz über die Freizügigkeit, das jedem Bundesangehörigen Aufenthalt und Niederlassung an jedem Ort des Bundes gestattete, jedem die Fähigkeit zum Erwerb von Grundbesitz, zum Betrieb eines Handwerks gewährte. Eine der stärksten Klammern für Verkehr und Erwerb ward mit der Aufhebung der Zinsbeschränkung zerbrochen. Beschlüsse, die ebenso unabweisbar waren, wie die Gesetze, welche das Postwesen oder den Paßzwang, die Bundesschulden und die allgemeine Dienstpflicht regelten. Und mochte es darüber im Reichstage oder im Zollparlament, das seit 1868 zweimal zusammentrat, zu heißen Debatten kommen und die Particularisten von Nord und Süd hart auf einander platzen, so waren doch diese Interessen alle ihrem Wesen nach verwandt und kamen durch Discussion und Abstimmung zur Ausgleichung. Auch waren es Fragen, die zum Theil schon die alten Zeiten gelöst hatten; von dem absoluten Preußen, und gerade in den Jahren der Reaction ganz besonders, war die wirtschaftliche Einigung der Nation gegen Oesterreich vorbereitet und gefördert worden. Darüber hinaus aber erwiesen sich die idealen Mächte mehr denn je als die [721] wirkenden Kräfte in dem Leben der Nation. Alle Parteien unterlagen ihrem Einfluß, die vorwärts drängenden ebensowol wie die particularistischen und die reactionären. B. selbst war wie alle Welt gezwungen, ihnen zu folgen. So lange er eine preußische Politik getrieben, hatte er ihnen Trotz bieten können; jetzt aber durfte er sie nicht mehr ignoriren. Und so oft er an sie appellirte, drängte er alle seine Gegner in den Schatten. Ihnen verdankte er das Compromiß in der Militärfrage, das auf Jahre hinaus die Kriegsmacht des Bundes dem Willen der Regierung unterwarf; sie führten den Reichstag in der Luxemburger Frage an seine Seite; und sie beherrschten bereits alle Debatten und Beschlüsse über die Reichsverfassung selbst. Sie trieben aber keineswegs alle in eine Richtung und begegneten überdies Kräften, welche sie einzuschränken suchten: mit dem Drange der Nation, das Werk der Einigung zu vollenden, stritten die Gefahren, die von den Besiegten, den Rivalen und den Enttäuschten drohten, und das Gegenstreben der an den alten Ordnungen interessirten Elemente. Unter dem Drucke dieser Gegensätze mußte der große Steuermann jetzt seinen Kurs einrichten, die Diagonale zwischen diesen Kräften bezeichnete den Weg, den er inne hielt. Die neuen Freunde seiner Politik folgten seinem Steuer; sie stellten ihre Wünsche zurück, weil er es so wollte. Aber auch sie suchten doch ein jeder das eigene Gewicht zu behaupten und zu verstärken, und wie oft hatte der Minister Mühe, ihren Ueberdrang zu hemmen und sich ihrer Ansprüche zu erwehren.

Die große Frage dieser Jahre war der Eintritt der Südstaaten in den Bund. Der Prager Friede hatte ihnen eine internationale Stellung zugesichert, aber nicht vorgeschrieben, und es ihnen nur nicht geradezu verboten, sich mit der Macht des deutschen Nordens zu verbinden. Daß dieser Moment eintreten würde, war der Gegenstand hier der Furcht und dort der Hoffnung. Auch B. rechnete mit ihm zu jeder Stunde. Aber zunächst lag ihm fast mehr daran ihn hinauszuschieben. Denn niemand sah so klar wie er, daß, sobald er käme, die internationale Verwicklung, die große Krisis da wäre, die in dem deutschen Kriege noch glücklich vermieden war. Er war entschlossen, sein Werk zu behaupten und jedem Versuch, es wieder zu zerstören, zu begegnen, und wußte sich darin eins mit der Nation: er fühlte und bekannte es laut, daß der Appell an die Furcht keine Stätte habe in deutschen Herzen. Aber er kannte den europäischen Horizont zu gut, um nicht das dunkle Gewölk zu erblicken, das ihn auf allen Punkten umsäumte, und er wollte das Geschick nicht herausfordern, bevor die Fundamente seiner Macht sicher in dem deutschen Boden ruhten und er gewiß sein konnte, daß in dem neuen Kampf, der über die deutschen Geschicke entscheiden mußte, die volle Kraft der Nation hinter ihm und seinem König stehen werde.

Krieg mit Frankreich. Aufrichtung des Deutschen Reiches.

Nichts ist gewisser, als daß auch Napoleon den Krieg, bei dem sein und seines Hauses Schicksal der Einsatz werden mußte, zu vermeiden gesucht hat. Aber, wie Graf v. d. Goltz ganz richtig bemerkt hatte, seit Bismarck’s Abfall gab es für ihn kaum noch einen andern Ausweg. Als Erwählter der Nation hatte er ihre Ueberlieferungen zu vertreten; ihr Ruhm und ihr Glück mußten seine Begleiter bleiben; nur sie konnten ihm die mangelnde Legitimität seines Ursprungs ersetzen und die Zukunft seiner Krone verbürgen. Die französischen Traditionen aber gingen seit Jahrhunderten auf die Zersplitterung der deutschen [722] Kräfte; auf der Erniedrigung Deutschlands war Frankreichs Größe aufgebaut. Auch die Berechnungen des Kaisers waren auf die Verewigung unseres Haders, auf den Zwiespalt zwischen den deutschen Vormächten gestellt. Wenn er die Idee der Nationalität, an die ihn die Ueberlieferungen seines Hauses banden, damit zu combiniren versucht hatte, so war es in der Erwartung geschehen, daß sich die Kämpfenden an einander müde ringen, und daß dann ihm das Amt des Schiedsrichters zufallen, ein Stück der Beute nicht entgehen und die herrschende Stellung am Oberrhein gewahrt bleiben würde. Die preußischen Siege hatten diese Hoffnungen zu Schanden gemacht. Er sah sich bei Seite gedrängt, von dem Minister, mit dem er Jahre lang seine Praktiken getrieben, dupirt und schließlich mit allen seinen Forderungen und dem Anerbieten des Bündnisses selbst abgewiesen. Die nationale Bewegung, die ihn einst selbst emporgetragen, der er in Italien Bahn gemacht und der er die großen Erfolge seiner früheren Jahre, die führende Stellung in Europa verdankt hatte, begann sich gegen ihn zu kehren und drohte ihn in immer tiefere Widersprüche zu bringen mit der altfranzösischen Politik, auf die er doch in erster Linie verpflichtet war, mit dem Ehrgeiz der Nation, den er sättigen mußte, wenn er sich auf dem Thron behaupten wollte.

Er versuchte das Geschick, vor dem ihm grauste, durch diplomatische Erfolge und auf dem Wege innerer Reformen zu wenden. Aber überall stieß er auf Widerstände, die nur der Gewalt weichen wollten, und gerieth in neue Verwicklungen und Nöthe. Der Anlauf, den er im Frühjahr 1867 noch einmal auf Luxemburg unternahm, kam sofort ins Stocken, als B. den Strom der nationalen Leidenschaften, noch ohne ihn los zu lassen, gegen ihn kehrte; die Räumung des Platzes durch die preußische Besatzung war ein so kleiner Erfolg, daß der erlittene neue Echec kaum dadurch verdeckt wurde. Auch der andere Versuch dieser Jahre, durch den Ankauf der belgischen Eisenbahnen sich nach Norden hin Luft zu machen, mißlang dem Kaiser, dem hier nicht bloß Preußen, sondern auch England den Weg verstellte. Von den Clericalen, die sich enger als je an ihn hingen, aufgehetzt, trat er den Italienern in der römischen Frage entgegen, und bei Mentana verrichteten die Chassepots in den Händen seiner Zuaven an den Leibern der jungen Freiwilligen Garibaldi’s ihre ersten Wunder: die blutigste Beleidigung der stärksten und allgemeinsten Empfindungen in der italienischen Nation, und die ihm die Radicalen niemals vergaßen. Indessen brauchte er die Hoffnung, die Regierung Vittorio Emmanuele’s auf seiner Seite zu finden, darum noch nicht aufzugeben. Denn deren Sympathien waren, zumal nach den Erfahrungen, die sie im Jahr 1866 gemacht, doch noch mehr bei Frankreich als bei Preußen, und selbst das nie aufgegebene Ziel, die ewige Stadt, schien ihnen im Bunde mit dem alten Protector eher zu erreichen möglich als in einem Kriege, der gegen Frankreich hätte geführt werden müssen. Auch Oesterreich bot dem Kaiser Hoffnungen dar; denn nur mit Frankreich zur Seite gab es für das Haus Habsburg noch eine Aussicht, die neue Ordnung in Deutschland zu zerstören oder wenigstens den Süden von Preußen fern zu halten, und im Orient eine gesichertere Stellung zu erobern. Aber andererseits gab es doch auch für Italien und Oesterreich entgegenwirkende Interessen, und war die Besorgniß, die ihnen die furchtlose und immer wachsame Politik Bismarck’s einflößte, zu stark, um die Entwürfe zu einer Triple-Allianz, die im Sommer 1867 bei der Entrevue der beiden Kaiser in Salzburg, angesponnen und niemals ganz abgebrochen wurden, über Besprechungen und unbestimmte Verheißungen hinaus zu führen. Auch in seiner eigenen Nation versuchte der Kaiser sich eine stärkere Basis zu schaffen, als er sein Regiment liberalisirte. Aber gerade [723] damit entfesselte er das Heer seiner Widersacher: die Radicalen, seine ältesten und unversöhnlichsten Feinde, verdoppelten sofort ihre Angriffe auf den kranken und alternden Cäsar, und weder in den liberalen Centren noch auch bei den Ultramontanen fand er aufrichtige Hülfe: seine besten Freunde, Rouher an der Spitze, begannen zu murren. Die Gefahr, den völligen Zusammenbruch seines Systems zu erleben, ist für Napoleon der stärkste Anreiz geworden, das große Würfelspiel zu wagen.

Denn daß die Offensive diesmal von Frankreich ausging, und daß der Krieg, der Deutschlands Einheit schuf, wie der herrlichste, so auch der gerechteste unserer Kriege, und ein wahrer Nothkrieg gewesen ist, kann niemals bestritten werden. Die Furcht vor dem bösen Nachbar war seit dem Siegesjahr freilich geringer geworden, und die Entschlossenheit, ihm zum Trotz den deutschen Staat zu vollenden, gewachsen; aber soweit, um dise Waffen über den Grenzstrom zu tragen und um das verlorene Gut an den Vogesen zu streiten, reichte der nationale Ehrgeiz der Deutschen noch nicht. Auch von B. dürfen wir nichts anderes behaupten. Er suchte den Strom viel eher zurückzuhalten, statt ihn vorwärts zu drängen, wie in der Luxemburger Frage, so noch im Frühjahr 1870, als er sich dem Antrage, Baden in den Norddeutschen Bund aufzunehmen, widersetzte. Wohl aber mußte ihm daran liegen, den Gefahren, die er besser als jeder andere übersah, der Coalition, deren Umrisse sich an dem europäischen Horizont deutlich abhoben, zu begegnen und der drohenden Isolirung Preußens und seiner Verbündeten vorzubeugen. Als ein Mittel dazu, eine Sicherung Deutschlands, wie klein sie immer sein mochte, bot sich ihm das Anerbieten der spanischen Krone an den Erbprinzen von Hohenzollern dar. Daß er dies in der That so aufgefaßt hat, lehrt bereits eines seiner Worte aus dem September 1868, gleich nach der Verjagung der Königin Isabella: die spanische Bewegung werde, wenn sie einige Consistenz entwickele, ein wirksames Zugpflaster zu Gunsten des Friedens bilden. Darum zeigte er sich, als die Spanier ein Jahr darauf ihren ersten Versuch bei den Hohenzollern auf der Weinburg machten, so eifrig, ihnen zuzureden, und nahm er sich der Sache im Februar 1870, als Marschall Prim sie direct vor ihn brachte, sogleich von neuem an. Die Denkschrift, die er damals dem König einreichte, zeigt seine Gründe an; und es wäre Hyperkritik, wollte man annehmen, daß er sich damit dem König gegenüber eine Coulisse aufgerichtet habe, um hinter ihr den Krieg direct vorzubereiten. Er rechnete wirklich damit, daß ein intimeres Verhältniß zu Spanien Deutschlands Chancen gegenüber Frankreich verbessern würde. Auch Gesichtspunkte handelspolitischer und dynastisch-monarchischer Natur machte er geltend, wie er umgekehrt auf die Schädigung des deutschen Ansehens in Spanien und die Gefahr einer republikanischen Propaganda im Fall der Ablehnung hinwies; und dies allerdings wohl mit der Nebenabsicht, Wilhelm für den Plan günstig zu stimmen. Der spanische Hohenzoller, bemerkte er später einmal, habe von Preußen garnichts zu hoffen; er werde ein Deutscher in Spanien sein, er sitze nur auf einem preußischen Linienschiff. Immerhin, ein Außenposten Preußens sollte der neue Thron werden, und Freundschaft für Napoleon war es nicht, was B. dabei leitete; eine Einengung Frankreichs, ein Zwang zur Friedlichkeit der chauvinistischen Nation war unter allen Umständen beabsichtigt. Auch wußte B., daß man an der Seine die Candidatur eines Prinzen von Hohenzollern übel nehmen würde; schon im Frühjahr 1869, als die ersten Gerüchte auftauchten, hatten die Pariser Blätter Lärm geschlagen, und er konnte nicht vergessen haben, daß Benedetti ihm selbst damals, wie zurückhaltend seine Worte auch gelautet haben mochten, dennoch keinen Zweifel über die Auffassung seines Hofes gelassen hatte. Aber darauf ließ er es nun eben ankommen; vorschreiben [724] wollte er sich nichts lassen; mochte Napoleon zusehen, wie er sich mit der vollendeten Thatsache abzufinden habe. B. wünschte den Krieg nicht: mußte aber gefochten werden, so war er bereit; Preußens Hand hatte zum Degen nicht weiter als die Frankreichs. Daß ihm die Sache von vornherein nicht ganz unbedenklich war, und daß er mit jener Stimmung am französischen Hof gerechnet hatte, zeigt das Geheimniß, mit dem er alles umgab, und die Art, wie er seine Regierung aus dem Spiel zu halten suchte. Und darin richtete er sich nun doch eine Coulisse auf, daß er von vornherein, schon in der Denkschrift vom Februar, die ganze Verhandlung nur als außeramtlich gelten ließ.

Wie ernst er die Sache nahm, zeigt die Zuziehung Roon’s und Moltke’s zu der Berathung, die bei Fürst Karl Anton am 15. März im königlichen Schloß stattfand, und bei der B. die Bedenken König Wilhelm’s und seiner Verwandten mit eindringender Beredsamkeit zu überwinden suchte; auch der Unterstaatssecretär v. Thile und der Präsident Delbrück waren erschienen, mithin neben den Fürstlichkeiten, auch der Kronprinz nahm Theil, die Inhaber der wichtigsten Staatsämter beisammen. Der einstimmige Beschluß der Generale und der Minister lautete auf Annahme der Krone, weil dieselbe eine patriotische Pflichterfüllung sei; und ebenso bezeichneten Karl Anton und seine Söhne es als ein Opfer, daß sie für den Ruhm der Familie und das Wohl des Vaterlandes brächten; so noch im Juni Prinz Leopold, als er sich nach langem Schwanken und Bedenken endgültig dazu entschloß; er würde, schrieb er dem König, sonst niemals dazu bereit gewesen sein. Aber nach außen durfte nichts verlauten, und deshalb mußte an der Fiction festgehalten werden, daß die Frage eine Privatangelegenheit des fürstlichen Zweiges der Hohenzollern sei, und der König nur als Chef des Gesammthauses damit zu thun, nur eben seine Zustimmung zu dem freien Entschluß des Prinzen zu geben habe. B. hat es bekanntlich auch später nicht für nöthig gehalten, den wahren Zusammenhang der Ereignisse zu entschleiern; auch in seinen Memoiren nicht, worin er im Gegentheil die Enthüllungen, die von seiten des fürstlich-hohenzollernschen Hauses gebracht waren, bestreitet. Jedoch ist nach so autoritativen Mittheilungen, die noch dazu aus anderen Quellen bestätigt worden sind, ein Zweifel nicht mehr möglich, und die Intrigue bis zu der Katastrophe im Juli in allen Hauptpunkten klar zu übersehen. Da sie in unserm Werke, in der Biographie Kaiser Wilhelm’s von Erich Marcks, bereits ausführlicher erzählt wurde, kann hier darüber hinweggegangen werden. Ueber die Verhandlungen in Ems und das Verhalten König Wilhelm’s ist längst durch die Apologien Benedetti’s und Gramont’s, und neuerdings durch Wilhelm’s eigene Briefe an seine Gemahlin reiches Licht verbreitet. Bismarck’s Gestalt dagegen tritt für diese Zeit wieder in den Schatten, obschon er gerade hier den Schleier, den er über der Vorgeschichte gelassen, ein wenig gelüftet hat; aber seine Berichte sind so widerspruchsvoll, daß jeder Versuch, sie mit einander zu vereinigen, scheitern muß; nur in den äußersten Umrissen wird man wagen dürfen, Stimmung und Haltung des Ministers in den Tagen der Entscheidung zu zeichnen.

Er war, nachdem er Anfang Juni in Berlin und Ems die im April abgerissenen Fäden der spanischen Verhandlung neu geknüpft hatte, wieder auf seinen ihm rasch liebgewordenen pommerschen Landsitz gegangen, wo er schon im Frühling längere Zeit geweilt hatte. Von seinen Räthen war, als die spanische Bombe so unverhofft platzte, nur Lothar Bucher bei ihm, der erst kürzlich von seiner zweiten spanischen Reise, auf der er die Sache zum Abschluß gebracht hatte, zurückgekehrt war; er hatte das Schreiben Leopold’s, in dem der König um seine Zustimmung gebeten wurde, von Sigmaringen nach Ems gebracht, und auf seinen Vortrag hatte Wilhelm am 21. Juni den bekannten [725] Brief an den Prinzen geschrieben, der ihm und seiner Regierung vor der Welt eventuell als Deckung dienen sollte. Daß Bucher dem Minister von allem aufs genaueste berichtet hat, ist selbstverständlich; und ebensowenig zu bezweifeln, daß B. sich auch mit seinem Vertreter in Berlin, Herrn v. Thile, in engster Verbindung gehalten hat. Die ausweichende Antwort, die der Unterstaatssecretär am 4. Juli dem französischen Geschäftsträger Le Sourd gab, als dieser ihn über den Antheil Preußens an der Candidatur des Hohenzollern interpellirte, entsprach genau dem Plap, den B. entworfen hatte. Wie sehr nun auch der neue Zwischenfall seine Kreise stören mochte, konnte er ihn doch nicht veranlassen, aus der Reserve herauszugehen oder auch nur seine Karlsbader Cur, die ihm nach einem heftigen Anfall von Gelbsucht verordnet war, zu unterbrechen; im Gegentheil, gerade jetzt schien es erwünscht, sich von dem Schauplatz der Action möglichst fern zu halten. In diesem Sinn berieth B. den König; er möge, telegraphirte er ihm am 5. Juli, sich eine ruhige Auffassung der Lage bewahren. Sobald aber die ersten Meldungen von Gramont’s Drohungen anlangten, wandelte sich die Stimmung des Kanzlers. Die Weisungen für die Presse, welche seit dem 7. Juli in Telegrammen und Briefen, meist von Bucher’s Hand, nach Berlin abgingen, ganze Stöße kamen dem neuen Preßreferenten Dr. Moritz Busch zu Händen, zeigen uns einigermaßen die Richtung an, welche Bismarck’s Gedanken jetzt nahmen. Für die officiöse Presse schrieb er noch Zurückhaltung vor, in der nichtofficiösen dagegen ließ er sofort die stärksten Töne anschlagen und den Angriff auf Gramont, die Kaiserin Eugenie und überhaupt das „persönliche Regiment“ am französischen Hof eröffnen. Am 8. Juli brachten die Zeitungen und ein Telegramm aus der Pariser Botschaft den Text der Rede des französischen Ministers. Sie erschien danach noch viel plumper und anmaßender, als B. erwartet hatte. Sein erster Gedanke, als er sie las, war, das sei der Krieg; eine solche Sprache könnte Gramont nicht führen, wenn der Krieg nicht beschlossene Sache wäre. Sein zweiter: jetzt müßte man die ganze Armee mobil machen und über Frankreich herfallen; das wäre der Sieg! „Leider“, fügte er hinzu, „geht das aber nicht – aus verschiedenen Gründen“. So hat es Keudell, der seit dem 6. Juli in Varzin war, von ihm gehört. Aehnliches hat später Blanckenburg, der gleichfalls in diesen Tagen als Gast des Kanzlers in Varzin weilte, erzählt. Wir werden danach sagen dürfen, daß B. wirklich im ersten Augenblick daran gedacht hat, auf der Stelle den Bruch herbeizuführen und die Nation zu dem Schicksalskriege fortzureißen; daß ihm dann jedoch Bedenken aufgestiegen sind, ob die Lage hierfür schon reif genug sei: der Gedanke an die Friedensliebe des Königs, der sich so sehr ungern auf die Sache eingelassen hatte, und mehr noch die Besorgniß, daß bei der dynastischen Natur der Angelegenheit Preußen Europa und zumal Süddeutschland gegenüber isolirt werden könnte, mögen ihn dabei geleitet haben. Auch kamen ihm Zweifel, ob es bei Gramont doch nicht am Ende mehr Ungeschick als die Folge eines bereits gefaßten Entschlusses wäre. Genug, er beschloß, in der Haltung, die er am Tage vorher eingenommen hatte und in deren Sinn bereits die auswärtigen Vertreter instruirt waren, zu verharren. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung wurde angewiesen, auch ferner Zurückhaltung zu beobachten, die übrige Presse jedoch inspirirt, so grob wie möglich zu schreiben; Bucher sandte Busch noch am selben Tage ein ganzes Packet neuer Zeitungsentwürfe zu, offenbar meist Dictate des Ministers selbst, voll der stärksten Angriffe auf den „Diener der persönlichen Politik, die vor keiner Verantwortlichkeit zurückschrecke“, und auf die Kaiserin, welche um ihrer dynastischen Zwecke willen durch übermüthige Kriegsdrohungen die Unabhängigkeit [726] und die Würde Deutschlands verletze. Die Summe war, daß die deutsche Nation die Vormundschaft Frankreichs nicht dulden werde; für Deutschland sei die Frage, wer in Spanien regiere, an und für sich keine solche, für die es Krieg führen werde; aber die Forderung, daß es seinen eigenen Interessen zuwider den Spaniern künstlich Hindernisse bereiten solle, bekunde einen Grad von Ueberhebung, mit dem eine Regierung heutzutage unter den unabhängigen Nationen Europas schwerlich ihren Platz finden werde: „Wir suchen keine Händel, aber wer deren mit uns sucht, wird uns bereit finden, sie durchzuführen“.

Während aber B. diese Feuerbrände in die Nation warf und sein „Her! Her!“ alsobald ein mächtiges Echo von den Alpen bis an das Meer erweckte, kamen vom 9. Juli ab aus Ems Schlag auf Schlag die Nachrichten, welche die überall aufflammende Gluth des nationalen Zornes wieder zu ersticken drohten. Indem der König sich dazu verstanden hatte, Benedetti anzuhören und ihm gleichsam Rede zu stehen, war er bereits von der Linie abgewichen, die B. vorgezeichnet hatte. Wilhelm hätte, so war ohne Frage Bismarck’s Auffassung, den Versuch des Franzosen, die spanische Wand, die man durch die Außeramtlichkeit der Candidatur aufgerichtet, zu durchstoßen, auf der Stelle zurückweisen müssen. Statt dessen hatte er sich in Besprechungen eingelassen, nach denen sich der private Charakter der Frage kaum noch aufrecht halten ließ. B. selbst sah sich dadurch veranlaßt, seine völlige Zurückhaltung aufzugeben; er bot dem König an, nach Ems zu kommen. Natürlich wollte er daran festhalten, daß das preußische Gouvernement mit der Sache nichts zu schaffen habe; auf die Meldung des Königs, daß Fürst Karl Anton ihm persönlich den Abbruch der Candidatur zugemuthet habe, telegraphirte er zurück, daß man es den Hohenzollern durchaus überlassen müsse, ihren Entschluß zu fassen. Am 11. Abends erhielt er den Befehl zu kommen, am nächsten Morgen saß er mit Keudell im Reisewagen. Er glaubte nicht anders, als daß die Stunde der Entscheidung da sei; als der Wagen durch Wussow fuhr, an dem Pastorhause vorüber, in dessen Thüre Pfarrer Mulert, der Freund und Seelsorger des Bismarck’schen Hauses stand, zog der Kanzler mit seinem Stock einen Schwadronshieb in Quart-Terz durch die Luft, zum Zeichen, daß es losginge. Er war, erzählt uns sein Begleiter, ungewöhnlich schweigsam, sah aber heiter aus. Nach zehnstündiger heißer Fahrt kam man in Berlin an. Der Kanzler war von der Reise ermüdet, aber Busch, der ihn bei der Einfahrt in den Hof des Ministerhotels sah, bemerkt in seinem Tagebuch ausdrücklich, er habe in dem Civilanzug, den er getragen, ungemein wohl ausgesehen. Der Löwe ging der Gefahr entgegen; er hatte keine Zeit, an seine Krankheit zu denken. Da überreichte man ihm das Telegramm, das den Verzicht des Hohenzollern auf den spanischen Thron meldete. Es war der Friede. Seine Reise war nutzlos geworden. Nutzlos auch das Aufwogen der Nation, das er soeben erst mit aller Kraft geschürt hatte, dessen Brausen er in der Hauptstadt um sich her vernahm. Vergeblich die ganze klug gesponnene List und der Versuch, eine Gegenmine gegen die französischen Umtriebe zu legen. Mochte formell die Position behauptet sein, in Wahrheit war das Spiel verloren. Statt, wie B. gehofft, Frankreich zu überrumpeln, war ihm selbst von dort her der Weg verstellt worden. Der Rückzug war angetreten; zum ersten Mal in seinem Leben hatte der große Staatsmann eine Niederlage erlitten. Wilhelm seinerseits fühlte sich in diesem Moment wie von einem Alp befreit; nichts war ihm unbehaglicher gewesen, als Benedetti gegenüber eine Sache vertreten zu müssen, die doch nicht so ganz frei von moralischen Bedenklichkeiten und ihm niemals nach dem Sinne gewesen war; ihm war, so schrieb er an seine Gemahlin, [727] als er die Nachricht aus Sigmaringen erhielt, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Sein Kanzler aber war aufs bitterste enttäuscht. Er dachte nicht mehr an die Weiterreise, entschuldigte sich bei dem König mit Unwohlsein und Ermüdung, und schickte den Minister des Innern statt seiner nach Ems. Nach Varzin meldete er zurück, er werde bald wieder dort sein – ob als Minister, wisse er nicht. Er hatte eine schlaflose Nacht. Da führte im Laufe des folgenden Tages die grenzenlose Verblendung Napoleon’s und seiner Helfer die Wendung herbei, welche, von Bismarck’s Meisterhand, von seinem Löwenmuth benutzt, Alles umschuf, mit einem Schlage den Bruch entschied und den König wie die Nation, Volk und Regierungen, für seine heldische Politik entflammte.

Wie oft ist die Geschichte dieses 13. Juli erzählt worden! Sie ist in Jedermanns Munde, und alle Welt glaubt sie zu kennen. Prüfen wir aber das Bild, das die Quellen widerspiegeln, so können wir an ihm kaum eine Linie mit Sicherheit nachziehen. Daß dem Grafen Eulenburg die Stimmung Bismarck’s bekannt war, ist gewiß, und sehr wahrscheinlich, daß er mit Abeken in seinem Sinne auf den König eingeredet hat, der dadurch, vielleicht auch noch durch neue Telegramme aus Berlin, in seiner festen Haltung gestärkt sein mag. Aber wie die Vorgänge in Ems und Berlin an diesem Tage im Einzelnen verlaufen, wie sich die Stimmungen des Königs und seiner Rathgeber gewandelt und entwickelt haben, läßt sich nicht sagen; vielleicht niemals, jedenfalls nicht eher als bis uns die Telegramme und Weisungen, die zwischen Ems und Berlin hin und her gingen, vollständig vorliegen. Nicht einmal die Scene an Bismarck’s Tisch, in der Abendstunde, als er Roon und Moltke bei sich hatte, wird ein kritisch gerichteter Sinn, so oft es geschehen sein mag, nachzuerzählen wagen; gerade hier verwickeln sich die verschiedenen Berichte aus Bismarck’s eigenem Munde in die größten Widersprüche. Genug, wenn wir daran festhalten, daß wiederum er und kein anderer es war, der das Rad des Schicksals vorwärts stieß.

Denn ohne ihn wären die Verhandlungen trotz des Abeken’schen Telegramms im Sande verlaufen, und nicht bloß wegen der Vorgänge in Ems, sondern weil die Franzosen selbst drauf und dran waren, den Degen wieder in die Scheide zu stecken. Die Depesche Abeken’s, welche gegen 4 Uhr aufgegeben wurde und zwischen 6 und 7 in Bismarck’s Hände kam, war nur das Bruchstück einer Verhandlung, die noch an demselben Tage fortgesetzt wurde; sie bezog sich auf den ersten Besuch, den der Flügeladjutant Fürst Anton v. Radziwill dem französischen Botschafter gemacht hatte, um ihm die Nachricht zu bringen, daß der König die Verzichtleistung des Prinzen erhalten und daß er infolgedessen die Angelegenheit als endgültig abgeschlossen betrachte, oder, wie Abeken es formulirte, dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe; die Bitte um eine Audienz hatte Benedetti bis dahin noch garnicht ausgesprochen, und der Bescheid, den Radziwill ihm überbrachte, sollte ihr nur eben zuvor kommen. Als der Gesandte sie trotzdem stellte, brachte der Adjutant das Gesuch noch einmal vor den König, um zwischen 5 und 6 Uhr wiederum die Erklärung zurückzubringen, daß Seine Majestät es ablehnen müsse, von neuem in die Discussion einzutreten, und daß er sich auf die Erklärungen beziehe, welche er dem Botschafter am Morgen gegeben habe. Radziwill hatte aber bei diesem zweiten Besuch, und zwar ausdrücklich im Namen Seiner Majestät, hinzugefügt, daß der König seine volle und uneingeschränkte Billigung des Rücktritts Leopold’s von der Thronbesteigung gebe; mehr könne er nicht thun. Benedetti hatte diesen Wortlaut in Gegenwart des Adjutanten selbst aufgeschrieben und unmittelbar nach Paris telegraphirt. Noch am 14. Juli hoffte [728] Wilhelm, es werde sich vielleicht noch eine Vermittlung auffinden lassen, die nicht seine persönliche und die Ehre der Nation tangire; er meinte nur, erst, daß die „Promenade-Unterhandlungen“ aufhören und die Negotiation in Berlin fortgesetzt werden müsse. Napoleon und seine Minister aber würden, wie wir heute wissen, sich mit dieser Erklärung zufrieden gegeben haben: in dem Kronrath, am 14. Juli drang der Antrag des Kaisers, die Frage einem Congreß zu unterbreiten, durch; die Befehle zur Mobilmachung wurden rückgängig gemacht; Gramont selbst hörte auf zu widersprechen, und bemerkte, daß in der Zustimmung Wilhelm’s zu dem Verzicht des Hohenzollernprinzen die Garantie für die Gegenwart liegen könne und der Congreß diejenige für die Zukunft schaffen möge.

Diesem Allem schob B. durch seine Redaction des Emser Telegramms, die nur ein paar Sätze strich und kaum ein Wort hinzufügte, den Riegel vor. Nun lautete es so, daß der König nicht nur die unerhörte Zumuthung Frankreichs abgelehnt, sondern daß er sie nicht einmal angehört, daß er dem Botschafter auf die Frage selbst unmittelbar die Thür gewiesen habe. Es war genau der Sinn der Legende geworden, die sehr bald in allen Zeitungen stand, wonach der König dem Botschafter auf der Promenade selbst den Rücken gewandt und ihm auf der Stelle die Ablehnung durch den Adjutanten habe sagen lassen. B. wußte sehr wohl, was er that, als er seine Redaction am Spätabend des 13. unter die Massen werfen ließ und sie zum Theil, wie nach München hin, mit besonderem Commentar versehen den Vertretern Preußens an den fremden Höfen übersandte; sie war, wie Wilhelm selbst, als er sie in Ems am Morgen las, erschreckt sagte, der Krieg; und sie sollte, wie Gramont ausrief, der Schlag auf Frankreichs Wange sein, das rothe Tuch, wie B. in seinen Memoiren schreibt, das den gallischen Stier zur Wuth reizen würde. Es war die letzte und größte Karte in seinem Spiel, die B. damit auf den Tisch warf. Wie oft war er in Versuchung gewesen, sie hervorzuziehen, Oesterreich oder auch Frankreich gegenüber! Er hatte noch immer damit gezögert. Denn niemals war der Moment günstig genug gewesen. Jetzt aber war er da, dem König, der Nation und Europa gegenüber. Die Beleidigung des greisen Friedensfürsten, der Hohn auf die deutsche Ehre, der Angriff auf die Freiheit der deutschen Erde boten einen Schlachtruf dar, vor dem aller Hader der Parteien und jedes Widerstreben des Particularismus verstummen mußte. Wo immer deutsche Herzen schlugen, wandten sie sich dem Hohenzollernkönig und seinem Kanzler, den Einigern des Vaterlandes zu; jede sittliche Kraft reckte sich er; und die Neutralen, die Neider der deutschen Größe selbst mußten zugestehen, daß das Recht auf der Seite der Deutschen sei. Die Schleusen waren hochgezogen und alle Kräfte der Nation konnten in tausend tosenden Wirbeln gegen den Erbfeind losgelassen werden.


Wir begleiten unsern Helden nicht auf die Schlachtfelder, zu den Scenen von Gravelotte und Sedan, die sich dem Gedächtniß der Nachwelt unauslöschlich eingegraben haben: Bilder, die, wie sie schon unsere Künstler festgehalten haben, so auch nur von Künstlerhand voll gestaltet werden können; wir folgen ihm nur wieder dorthin, wo wir ihn bisher immer aufgesucht haben, zu seiner politischen Arbeit.

Zwei Aufgaben waren es, die B. gestellt waren, sobald die Sonne des französischen Kaiserthums auf den Feldern von Sedan untergegangen war: die Befestigung des Friedens und die Gründung des Reiches; er hat sie beide [729] noch in Frankreich, unter den Wechselfällen des Krieges, vollendet, und beiden hat er in jedem Zuge den Stempel seines Geistes aufgedrückt. Als die Revolution über Deutschland ihre Geißel schwang und die deutschen Patrioten ihre Ideale in dem Kampfe gegen den Despotismus des Zaren und für die Befreiung Polens zu erreichen hofften, hatte B. die Blicke der Nation auf Straßburg und das Elsaß als auf ein würdigeres Ziel ihres Ehrgeizes hingelenkt. Jetzt konnte er dies Wort einlösen; die Nation selbst verlangte bereits stürmisch von ihrem Helden, daß er, wie er es einst geschrieben, die deutsche Fahne auf den Dom von Straßburg pflanze; es war das Gelübde, das sie sich in tausendfachen Manifestationen gab, seitdem der Boden ihrer alten Grenzmark mit dem Blute ihrer Söhne getränkt war; König Wilhelm und sein Kanzler hätten den brausenden Widerhall dieser Stimmen garnicht überhören dürfen. Schon nach den Schlachten um Metz, bei der Zusammenkunft mit dem Kronprinzen in Pont à Mousson, faßten sie den Erwerb ins Auge. Auf dem Vormarsch gegen Sedan, von Busancy aus, richtete Wilhelm einen Brief an den Kaiser Alexander, um ihn vertraulich vorzubereiten. Seit Sedan war es vollends entschieden, daß wir nicht ohne Straßburg und Metz in die Heimath zurückkehren würden. Es ist jedoch sehr bemerkenswerth, welche Gründe unsern großen Staatsmann bewogen haben, auf das Verlangen der Nation einzugehen. Er ist oft darauf zurückgekommen, und immer hat er es in derselben Weise, Freund wie Feind gegenüber, motivirt: nicht mit jenen enthusiastischen Regungen der Volksseele, sondern in der kalt realistischen Berechnung des Staatsmannes: um Deutschland zu schützen gegen die Rache des Besiegten, mußten die Grenzen zurückgeschoben werden; den Schlüssel zum eigenen Hause, den erst der Besitz von Straßburg bot, mußten wir in die eigene Verwahrung nehmen. Ja mehr noch, als der Schlußstein der deutschen Einheit selbst war ihm Straßburg und das Elsaß von jeher erschienen; eine Auffassung, die er schon gewonnen oder die ihm bestätigt war durch ein Gespräch, das er mit dem alten König Wilhelm von Württemberg zur Zeit des Krimkrieges gehabt hatte, als ihm der alte Herr offen herausgesagt hatte, daß die Ungedecktheit gegen Frankreich für Süddeutschland immer ein Hinderniß bilden werde, um sich einer deutsch-nationalen Politik ohne Rückhalt hinzugeben. „Der Keil, den die Ecke des Elsaß bei Weißenburg in Deutschland hineinschob“, so hat B. nach dem Kriege im Reichstage erklärt, „trennte Süddeutschland wirksamer als die politische Mainlinie von Norddeutschland“. Er hat oft gesagt, daß es sonst ein Fehler gewesen wäre, Frankreich zu verstümmeln, da Deutschland sich damit die Aufgabe aufgelegt habe, fünfzig Jahre in Rüstung stehen zu bleiben. Darum war er anfangs gar nicht damit einverstanden, auch ein Stück Lothringen zu annectiren; und nur weil ihm die Generale sagten, daß Metz eine Armee werth sei, gab er seine Zustimmung.

Auch die staatsrechtliche Form des neuen Besitzes hat B. frühzeitig ins Auge gefaßt und unwandelbar daran festgehalten. Treitschke und seine Freunde wünschten den Erwerb für Preußen. So auch im großherzigen Entschluß Friedrich von Baden: weil Preußen dadurch eine süddeutsche Macht und dem Süden unlöslich verpflichtet würde; während der Ehrgeiz der Wittelsbacher den Großherzog im Elsaß bereichern wollte, um für sich selbst das alte Hausgebiet am Neckar wieder zu erraffen. B. aber gestand weder das Eine noch das Andere zu. Wie das in der Zeit der Zersplitterung verlorene Grenzgebiet durch ganz Deutschland zurückerobert war, so sollte es auch dem Vaterlande gemeinsam angehören, und dadurch recht eigentlich zum Pfand der deutschen Einheit werden, nicht ein Gegenstand des Neides und der Verstimmungen unter den Verbündeten, sondern ein Bindemittel des Südens und des Nordens.

[730] Wie weit B. nun auch in dieser Auffassung von der öffentlichen Meinung und vor allem von jenen Phantasien abwich, die auf die Wiedergewinnung von ganz Lothringen und halb Burgund ausgingen, so traf er darin doch im wesentlichen mit dem Willen der Nation zusammen. Viel einsamer aber war sein Standpunkt der größeren Aufgabe gegenüber, der Herstellung des neuen Reiches. Hier hatte er die öffentliche Meinung und die Regierungen, alle Parteien, die Conservativen so gut wie die Liberalen, von den Particularisten, den Ultramontanen und Demokraten ganz zu schweigen, gegen sich, er hatte des Kronprinzen, ja, ganz besonders des Königs Widerstand zu überwinden. Fast am weitesten wich er von seinen glühendsten Anhängern ab, den Unitariern schlechthin, die, wie Heinrich v. Treitschke, den Zeitpunkt für nahezu gekommen achteten, um die Rheinbundskronen herunter zu stoßen und ein deutsches Königthum unter den Hohenzollern herzustellen. Nicht so weit ging der Kronprinz, der diese Gedanken, wenn er sie überhaupt gehabt, bereits hatte fallen lassen. Aber auch er wollte doch die deutschen Dynastien unter die Kaiserkrone herabdrücken, die er auf den französischen Schlachtfeldern zu erobern hoffte; die Titulatur und alle persönlichen Ehrenrechte und Würden wollte Friedrich Wilhelm ihnen lassen, aber die Kaiserwürde verlangte er für sein Haus, weil sie die höhere Gewalt bedeutete. Die Macht sei da, hatte der hohe Herr schon nach dem Siege von Wörth auf der Höhe der Vogesen zu Gustav Freytag gesagt, um die Widerstrebenden zu zwingen. B. hat damals und später diese Aspirationen vor allem mit einem moralischen Argument bekämpft: man dürfe nicht die Bundesgenossen, welche freiwillig herbeigeeilt seien, um Preußen zu Hülfe zu kommen, wider ihren Willen zu Concessionen zwingen; als eine un ehrliche Politik hat er es noch nach Jahren, in der Protestschrift gegen das Tagebuch Kaiser Friedrich’s bezeichnet. Und wer möchte behaupten, daß er selbst dann solche Scrupel überwunden haben würde, wenn es die Tendenz seiner eigenen Politik verlangt hätte? Statt dessen aber bewegte sich diese im schärfsten Widerspruch zu jenen Zielen. Es waren die Ideen der Erbkaiserlichen, die liberale Ausprägung des nationalen Gedankens, für die Friedrich Wilhelm sich einsetzte, die er mit dem eigenen dynastischen Ehrgeiz verband. Er wollte wirklich ein neues Deutschland, in dem die Eigenmacht der Particularstaaten aufgelöst worden wäre; das Gold der preußischen Krone selbst wollte er in die Kaiserkrone einschmelzen. Der Dualismus sollte aufhören, die preußischen Kammern allgemach verschwinden und etwa in die alten Provinzialstände zurücktreten; er dachte an ein Oberhaus, in dem die souveränen Fürsten mit den Häuptern der ehemaligen reichsunmittelbaren Geschlechter vereint Platz nehmen, an ein Reichsministerium, das dem Reichstage und der Nation verantwortlich wäre. Mit diesen Hoffnungen war er in den Krieg gezogen; sie beseelten ihn, als er vor der Waffenentscheidung die süddeutschen Höfe besuchte, als ihm auf dem Bahnhof zu Ingolstadt das Kaiserhoch entgegenklang, als er in Karlsruhe mit seinem gleichgesinnten Schwager von Baden Rathes pflog: „unser Hauptgedanke ist“, so schreibt er, „wie man nach erkämpftem Frieden den freisinnigen Ausbau Deutschlands weiter führe.“

Wir brauchen nicht zu wiederholen, daß Bismarck’s Politik auf dem entgegengesetzten Grunde aufgebaut war, und daß sie durch solche Pläne aus ihren Fundamenten gehoben wäre: er vertheidigte das Ganze seines Werkes, als er sich dem preußischen Thronfolger in den Weg warf. Zwar war auch ihm längst der Gedanke an die Kaiserkrone gekommen. Wir fanden ihn bereits in den Entwürfen von Putbus, und zwar ebenfalls in Verbindung mit der Idee des Oberhauses. Aber er hatte daran nur als an eine in der Zukunft [731] liegende Möglichkeit gedacht. In dem Rahmen seines Systems hatte er weder von dem Kaiserthum noch auch von dem Zweikammersystem etwas wissen wollen. Denn die Maschinerie würde, so schreibt er, durch ein Oberhaus zu schwerfällig werden, da abgesehen von der Masse der Landtage eine Vertretung der Souveräne in den Reichsangelegenheiten unumgänglich sei, das Reich also mit dem Zweikammersystem nothwendig drei per majora beschließende Körper, und neben ihnen das Präsidium und Oberfeldherrnthum mit unabhängigen Attributen haben werde. Er meinte, daß der Bundesrath selbst sich vielleicht einmal zu einem Oberhaus herausbilden könnte; damit müßte aber „die schärfere Ausprägung des Kaiserthums an Stelle der Präsidial- und Feldherren-Attributionen Hand in Hand gehen“. Seitdem aber war er von solchen Ideen zurückgekommen, gerade unter dem Andrang der liberalen Fluth, die in parallelen Bahnen ging, und der er sich schon im Norddeutschen Bund nur mühsam hatte erwehren können. Daß dieselbe mit dem Losbruch der Nation gegen Frankreich stieg, lag in der Natur der Dinge und mußte hingenommen werden. Aber es konnte nicht der Wunsch des Ministers sein, diese Tendenzen noch zu steigern; nur gegen den Feind, der die Unabhängigkeit Deutschlands bedrohte, wollte er den Stoß des nationalen Willens richten, nicht gegen die Bundesstaaten, die der preußischen Hegemonie bereits willig folgten.

Gleich zu Beginn des Krieges, nach dem ersten Schlachttage, an dem die Baiern ihr Blut an der Seite der norddeutschen Bundesfreunde vergossen hatten, ließ er es sich angelegen sein, die Münchener Regierung, die schon in schweren Sorgen vor dieser Richtung des nationalen Geistes und voll Mißtrauen in Preußens Absichten war, zu beruhigen. Die preußische Presse hatte bereits begonnen, von dem Kaisertitel für König Wilhelm zu sprechen; Graf B. aber, so erklärte Herr v. Thile dem bairischen Gesandten, Baron v. Perglas, habe mit Entrüstung davon gehört und Auftrag gegeben, solche Aeußerungen zu unterdrücken. „Im Namen Preußens“ und in feierlicher, fast überschwänglicher Weise gab Thile die Versicherung ab, daß Preußen niemals an die Selbständigkeit Baierns und Süddeutschlands rühren, und jedes Ansinnen, das ihm dazu von anderer Seite käme, abweisen würde; ewige Dankbarkeit werde es einem so „herrlichen Bundesgenossen“ bewahren; die Selbständigkeit Baierns habe ihre Weihe durch die Vertragstreue seines Königs erhalten, ihren festen Kitt durch das vergossene Blut der Baiern, man brauche die Einheit Deutschlands nicht zu suchen und zu machen – sie sei schon da. In derselben Richtung bewegten sich in diesen Tagen die Gedanken der preußischen Conservativen. „Daß die Baiern“, schrieb Blanckenburg an Roon, „unter unseres Kronprinzen Führung den ersten entscheidenden Schlag mit gethan haben, ist die Lösung der deutschen Frage. Die Einheit ist die beste“. Und nicht anders dachte man in der militärischen Umgebung des Königs. Man wünschte auch dort wohl eine größere militärische Einigung unter den deutschen Staaten, aber auf die politische Annäherung lege man, so versicherte der bei Wilhelm sehr einflußreiche General v. Tresckow dem Grafen Berchem, der mit Prinz Luitpold dem Hauptquartier folgte, um so weniger Werth, als man nicht hoffen könne, dieselbe aus den conservativen Kreisen angeboten zu erhalten; die radicalen Elemente aber wolle man um keinen Preis vermehren. B. stellte auch diese Frage mit unter den Gesichtspunkt der europäischen Politik. Die Eröffnungen Thile’s gegen den Baron v. Perglas waren, wie jener garnicht verhehlte, durch eine Unterredung mit Fürst Gortschakow veranlaßt worden, der in diesen Tagen in Berlin weilte; über ihren Inhalt theilte der Unterstaatssecretär dem Gesandten nichts näheres mit, aber dessen Vermuthung, daß der russische Kanzler sich für die süddeutschen Höfe verwandt habe, griff sicherlich nicht fehl. Und so waren [732] auch alle weiteren Verhandlungen Bismarck’s über die Reichsgründung mit durch die Rücksichten auf die Neutralen bestimmt. Nun muß man allerdings sagen, daß die Gefahr einer Einmischung des Auslandes, wie berechtigt sie noch zu Anfang des August gewesen sein mochte, nach Sedan sehr vermindert war; während die nationale Woge mit jedem Siege, gerade auch im Süden, täglich höher ging, und ihr Brausen immer gewaltiger zu dem König und seinem Kanzler empordrang. Es hätte damals schwerlich mehr als eines schwachen Druckes, einer kleinen Richtungsveränderung bedurft, um die drei noch widerstrebenden Höfe und ihren bureaukratischen Anhang dorthin zu bringen, wo sie der Liberalismus und seine fürstlichen Führer, der Kronprinz und der Großherzog von Baden selbst, haben wollten: daß die Neutralen in diesem Moment dagegen protestirt haben würden oder gar eingeschritten wären, ist kaum zu glauben. Soweit hatte also Friedrich Wilhelm gewiß Recht, als er am 3. November gegen Delbrück bemerkte, daß wir uns unserer Macht garnicht bewußt wären, und daß wir in dem „gegenwärtigen weltgeschichtlichen Augenblick“ das, was wir wollten, auch zweifellos könnten – „nur“, fügte er bitter hinzu, „Gott sei es geklagt, fragt es sich, was wir wollen, und wer jetzt etwas ernstlich will“. So war es in der That: an dem Willen fehlte es in den maßgebenden Kreisen viel mehr noch als an dem Bewußtsein des Könnens. Jedermann weiß ja, wie schwer es König Wilhelm geworden ist, auch nur den Titel zu vertauschen, und welche Listen B. hat anwenden müssen, um ihn und die bairische Majestät zusammen zu bringen, den Einen zum Anbieten, den Andern zum Annehmen der nationalen Krone zu bewegen; wie eine Intrigue mußte er den Act einleiten, der die Erfüllung der deutschen Sehnsucht bedeuten sollte. Man kann daher schon fragen, ob es ihm überhaupt möglich gewesen wäre, den Widerstand am Hofe und in den Kreisen seiner Partei zu überwinden. Aber vor allem, er selbst dachte garnicht daran, seine alten Freunde preiszugeben, um sich den herrischen Ansprüchen der Liberalen zu unterwerfen; sein eigenster Wille und die Summe seiner Politik trieben ihn gegen sie an. Hier jedoch ist zu bemerken, daß sich in der Politik Bismarck’s die innere und die auswärtige Richtung niemals von einander trennen lassen; es sind Theile eines Systems, die in sich verflochten sind und einander bedingen. Die Politik, zu der die Liberalen B. fortreißen wollten, drohte die nationale Strömung, der sie folgte, über die Grenze zu tragen und die Elemente der Zersetzung in dem habsburgischen Ländergebiet noch zu vermehren. Dadurch aber wären in der That die dem neuen Reiche feindlichen Parteien, vor allem die Großdeutschen, die Clericalen und Particularisten, aufgereizt und recht geflissentlich zusammengeführt worden; daß die süddeutschen Höfe in Wien und Petersburg Anlehnung suchen würden, war wenigstens zu befürchten; statt, wie B. seit Nicolsburg wollte, den Frieden zwischen dem neuen Deutschland und dem Donaustaat zu befestigen, hätte man sich auf wachsende Erbitterung hüben und drüben und auf dauernde Feindseligkeit gefaßt machen müssen.

Dennoch ging es nicht an, ganz stehen zu bleiben. Je weiter die deutschen Heere in Frankreich vordrangen, je mehr die Gefahr der Intervention zurücktrat, um so unvermeidlicher wurde es, an die dauernde Vereinigung des ganzen kämpfenden Deutschlands zu denken. Schon nach den großen Augustschlachten waren die preußischen Conservativen wie auch die Baiern davon überzeugt. Die Neutralen selbst nannten es eine politische Unmöglichkeit, daß Preußen im Siege seine auf die Beherrschung Deutschlands gerichtete Politik abdanken und die Selbständigkeit der Südstaaten verbriefen könne, ohne für sich neue Vortheile zu erwerben. In München war es ebensosehr die [733] Furcht vor dem wachsenden Druck der nationalen Strömung wie die Sorge, daß Baden die Vorhand gewinne und sich die führende Stellung im Süden erobern könne, welche Preußen Baiern zugedacht hatte, was zum Entgegenkommen antrieb: man mußte retten was zu retten war; indem man die Hand Preußens ergriff, hoffte man die eigene Stellung am besten zu wahren. Der Sieg bei Sedan, an dem die baierischen Truppen so ruhmvollen Antheil genommen, verstärkte, wie den Druck der nationalen Bewegung, so auch jene Stimmung am bairischen Hofe. Und so entschloß man sich dort, die Bedingungen zu präcisiren, unter denen der Staat der Wittelsbacher bereit sein würde, der nationalen Einigung beizutreten. Es war neben dem Erwerb der badischen Pfalz, wodurch also Baden und Württemberg von den blau-weißen Grenzpfählen umstellt und gegen den Norden sorgsam abgeschlossen worden wären, die führende Stellung in Süddeutschland, sei es in einer eigenen, dem Norddeutschen Bunde nebengeordneten, wenn auch staatsrechtlich damit verknüpften Organisation, sei es in einem neu zu errichtenden allgemein deutschen Bunde, bei dem dann auf eine größere Selbständigkeit der einzelnen Glieder, Baierns wenigstens, Bedacht zu nehmen sei. Auf den Eintritt in den unreformirten Norddeutschen Bund dagegen wollte man sich in München nicht einlassen.

Die Taktik Bismarck’s diesen Wünschen gegenüber war sehr einfach, ganz congruent seiner Haltung in der elsaß-lothringischen Frage und von bewunderungswürdiger Folgerichtigkeit. Vor allem blieb er bei dem Satz, daß Preußen Treue um Treue bewähren und seinen Bundesgenossen völlige Freiheit des Entschlusses lassen werde. In diesem Sinne wurde Rudolf Delbrück für die Vorbesprechungen instruirt, welche vom 22. bis 26. September in München unter Zuziehung des württembergischen Ministers v. Mittnacht über die Bildung eines „die sämmtlichen deutschen Staaten in sich begreifenden Verfassungsbündnisses“ gepflogen wurden. Er habe nicht den Auftrag, so erklärte Bismarck’s Stellvertreter gleich zu Beginn, Vorschläge zu machen, sondern die Propositionen der süddeutschen Regierungen entgegen zu nehmen. Freilich bemerkte er auch, daß Preußen noch keinen Anlaß gefunden habe, die Frage einer näheren Erwägung zu unterwerfen, ob mit der Gründung eines allgemeinen deutschen Bundes eine Abwandlung des Norddeutschen Bundes zu verbinden sei, und setzte es durch, daß die norddeutsche Verfassung selbst den Verhandlungen zu Grunde gelegt wurde: Paragraph für Paragraph wurden durchgesprochen und die Differenzen zusammengestellt. Kurz zuvor waren auch die Führer der Nationalliberalen, Forckenbeck und Lasker nach der bairischen Hauptstadt gekommen, wo sie begeistert aufgenommen waren; voll Freude über die patriotische Gesinnung, die sie überall im Süden gefunden, kehrten sie heim. Ihre Reise war wohl unabhängig von B. zu Stande gekommen; aber daß der Kanzler sie ungern gesehen hätte, ist nicht eben anzunehmen. Denn wenn er auch selbst der baierischen Regierung alle Wege offen ließ, konnte er doch nicht dagegen sein, daß dieselben da, wo sie von seiner eigenen Richtung abwichen, versperrt würden. Seinerseits fuhr er in seinen Bemühungen fort, den Baiern den Weg zur deutschen Einheit bequemer und anmuthiger zu machen. So durch den Gedanken einer Zusammenkunft der regierenden Herren, den er zunächst durch Delbrück vortragen und gleich darauf schriftlich durch den Grafen Tauffkirchen an König Ludwig bringen ließ; beide Monarchen sollten sich in Fontainebleau begegnen, und, was sie dort vereinbart hätten, einer Versammlung der übrigen deutschen Fürsten und der Vertreter der freien Städte zur Annahme vorgelegt werden. Dahin gehört auch die Art, wie B. die Frage der Kaiserkrone verwerthete. Am 3. September, [734] bei der Aussprache mit dem Kronprinzen in Donchéry, unmittelbar nach Sedan, hatte er sich dazu noch sehr zurückhaltend gestellt; in den folgenden Wochen begann er sich schon sympathischer zu äußern, und seit Anfang October trat er mit Nachdruck dafür ein. Indem er aber die Idee, in der sich das Einheitsstreben der Nation seit Jahrzehnten gegipfelt hatte, in seine Politik aufnahm, brach er ihr die Spitze ab, die ihr die Patrioten gegeben hatten: weniger für die Einheit des deutschen Volkes, als für die Einigkeit der deutschen Fürstenhäuser wurde in seinen Händen die Krone das Symbol; er setzte die neue Würde lediglich an die Stelle des über Süddeutschland erweiterten Bundespräsidiums, und räumte, indem er sie nur als einen höheren Titel gelten, das Wesen des Bundes aber bestehen ließ, den übrigen Bundesgliedern sogar eine noch freiere Stellung ein, als sie einem präsidirenden König gegenüber gehabt hätten, oder machte ihnen jedenfalls die Anerkennung des führenden Hauses leichter; während auf der anderen Seite der öffentlichen Meinung immerhin eine Genugthuung gewährt und ein Theil der nationalen Wünsche erfüllt wurde.

Zugleich aber unterließ er doch nicht, es den baierischen Freunden fühlbar zu machen, daß Norddeutschland nicht allein auf sie angewiesen wäre. Am 14. October konnte er bereits an Werthern nach München telegraphiren, daß er von Mittnacht und Suckow das Anerbieten bekommen und angenommen habe, behufs weiterer Besprechungen nach Versailles zu kommen; er stelle Baiern anheim, entweder daran theil zu nehmen oder Staatsminister Delbrück’s Rückkehr nach München abzuwarten. In denselben Tagen sprach man in Versailles wieder davon, einen Fürstencongreß im Hauptquartier zu versammeln, diesmal aber, wie es scheint, ohne eine vorhergehende Zusammenkunft König Wilhelm’s und König Ludwig’s zu erwähnen. Daß Baden alles unterschreiben würde, was Preußen dictire, war gewiß. Aber auch auf Hessen war kein Verlaß; am 20. October berichtete Herr v. Perglas aus Berlin, der hessische Gesandte, Herr Hofmann, habe ihm gesprächsweise mitgetheilt, daß er im Auftrage seiner Regierung vor einigen Tagen dem Präsidium des Norddeutschen Bundes die Bereitwilligkeit seiner Regierung eröffnet habe, an den Verhandlungen theil zu nehmen, welche auf Grund der Besprechungen in München den Eintritt der süddeutschen Staaten und Südhessens in einen erweiterten Norddeutschen Bund zum Ziel hätten. Als dies Schreiben in München eintraf, war Graf Bray mit dem Kriegsminister Freiherrn v. Pranckh und dem Justizminister v. Lutz schon unterwegs; die Abreise war so rasch erfolgt, daß die Herren noch gleichzeitig mit den Württembergern in Versailles eintrafen. Was blieb ihnen auch anders übrig? Nichts erschien ihnen schlimmer als die Isolirung, die den ganzen Schwall der nationalen Agitation auf Baiern gelenkt haben würde. Schon war dieselbe, zumal in München, stärker geworden, und steigerte sich noch in den folgenden Wochen; nicht bloß in der Presse, sondern auch in öffentlichen Versammlungen und scharfen Erklärungen der Bezirksvereine und Gemeindebevollmächtigten machte sie sich Luft. Die Berliner Zeitungen begannen sich gegen König Ludwig persönlich zu wenden; und wenn auch die Norddeutsche Zeitung solche Angriffe scharf abwies, so unterließ doch auch B. nicht, Herrn von Bray gleich beim Empfang in Versailles zu bemerken, daß die Verleihung des Kaisertitels an den Präsidenten des neuen Bundes seitens der Fürsten – an ihrer Spitze der König von Baiern – wünschenswerth sei, weil sonst der Reichstag, der zum November ausgeschrieben war, die den Fürsten zugedachte Rolle zu der seinigen machen würde; daß die Führer der mit B. verbündeten Parteien, Blanckenburg, Friedenthal und Bennigsen in Versailles erschienen, gab dieser Aeußerung einen gewissen Nachdruck. [735] Und dazu nun die Furcht, daß die kleineren Höfe Baiern den Rang ablaufen und sich die Vortheile sichern könnten, die man selber verscherze. So reifte allmählich in den Vertretern Baierns zu Versailles, und dann auch in München und Hohenschwangau die Erkenntniß, daß auch dem Hause Wittelsbach nichts anderes übrig bleibe, als in den Bund, in dem Preußen dominirte, einzutreten. Eine Intrigue, die vielleicht in den Kreisen der Königin Olga eingefädelt war und Anfang November Württemberg auf Baierns Seite zu führen drohte, endete resultatlos; und als nun Badens edler Fürst, seine eigenen Wünsche zurückstellend und persönlich herbeieilend, aufs wärmste für Bismarck’s Politik eintrat, und dann auch Hessen seinen Eintritt vollzog, so gab sich auch Baiern mit den Concessionen, die ihm B. bewilligte, zufrieden. Am 23. November konnte B. im Kreise seiner Tischgenossen frohaufathmend verkünden, daß das Reich gebaut sei und der Kaiser auch.

Was noch kam, kann nur als eine Reihe von Nachspielen bezeichnet werden: die Reise des Grafen Holnstein nach Hohenschwangau und die Bestätigung der Verträge und der Kaiserwürde durch den Norddeutschen Reichstag, die Kaiserfahrt seiner Deputirten unter Präsident Simson nach Versailles, und endlich das langwierigste von allen, die bis an den Morgen des 18. Januar fortgeführten Kämpfe, um König Wilhelm zur Annahme des neuen Titels und zur Proclamation des Deutschen Reiches in dem Schlosse Ludwig’s XIV. zu bewegen.

Es war ganz und gar das Werk des Einen. Wie B. den Norddeutschen Bund allein geschaffen hatte, so konnte er sich auch mit vollem Recht als den Schöpfer von Kaiser und Reich bezeichnen. Der „große Zauberer“, wie ihn Roon in dieser Zeit zu nennen pflegte, hatte es verstanden, die Kreise so zu ziehen, daß jeder, der mit ihnen in Berührung gekommen, in sie einzutreten gezwungen war. Es war wieder die Diagonale aus den sich bekämpfenden Kräften, aber sie hielt sich genau auf der Linie seiner Lebensbahn; es war die organische Fortbildung der Politik, in die er hineingewachsen, und die mit seinem eigensten Wollen und Empfinden innerlichst verbunden und verkettet war.

Recht zufrieden war in dem Moment kaum eine der Parteien, die B. zusammen gebracht hatte: aber eine jede hatte doch etwas von dem, was sie gewollt, erreicht oder behauptet. Der Kronprinz äußerte sich in herbem Spott über das „kunstvoll gefertigte Chaos“, das der Baumeister des neuen Deutschlands geschaffen habe: aber daß fortan der Glanz der Kaiserkrone auf seinem Hause ruhen werde, und daß, wie er mit romantischem Empfinden sagte, ein an Haupt und Gliedern reformirtes Reich unter dem alten Namen und dem tausendjährigen Abzeichen, aber befreit von den Schlacken des heiligen römischen Unsegens, aus sechzigjähriger Nacht ersteige, erfüllte ihn dennoch mit Freude und persönlicher Genugthuung; dankbar drückte er, als die Entscheidung gefallen war, dem alten Gegner die Hand. Wer war weiter von seinen ursprünglichen Grundlagen abgedrängt worden als diejenigen unter den Liberalen, die seit dem deutschen Kriege in der Gefolgschaft des Kanzlers waren? In dem Reichstage mußten sie Ja und Amen zu den Verträgen sagen, die ihren eigentlichen Idealen ins Gesicht schlugen; ihre Freunde im Süden, mit denen sie soeben noch an der Aufrichtung ihres Bundesstaates gearbeitet, hatten sie beschworen, von jedem Widerspruch abzusehen; und es war eine weltgeschichtliche Ironie, daß der Mann, der vor 21 Jahren dem verstorbenen König die Krone von Volkes Gnaden dargebracht hatte, jetzt dazu ausersehen ward, um die von den Fürsten schon übertragene Würde dem Monarchen noch einmal zu präsentiren, der seine eigene Krone gerade im Kampfe gegen jene Ideale [736] behauptet hatte. Aber sie theilten damit nur das Schicksal, dem ein Jeder erlag, der mit B. zum Frieden kam. Wer sich nicht in unfruchtbarer Negation verlieren wollte, mußte dem Bahnbrecher auf seiner Straße folgen. Nur im Anschluß an ihn und die Macht, die er vertrat, war es überhaupt noch möglich vorwärts zu kommen. Und vorwärts war der Liberalismus immerhin gekommen. Auch B. war den alten Gegnern näher getreten, und er war auch ferner bereit, mit ihnen zu pactiren. Freilich die Souveränität des Volkes, die entscheidende Gewalt des Parlaments hatten die Liberalen drangeben müssen; aber wenn nicht auf die Gegenwart, so mochten sie doch auf die Zukunft bauen, die unter ihrem prinzlichen Führer ihnen zu gehören schien. Ganz erschrocken waren die Altpreußen, als sie von dem Ausgang der Verhandlungen hörten, von dem „kopflosen Eintritt“ der Südstaaten, wie Blanckenburg nach der Heimkehr klagend schrieb. Sie hatten, ähnlich wie im Sommer 1866, gehofft, den Sieg über die Feinde Deutschlands für ihre Partei ausnutzen zu können, um eine „stramme und straffe Centralgewalt“ über Heer, Zoll, Handel und Diplomatie auszurichten und die Competenz des Reichstages wieder zu beschneiden. Statt dessen schien ihnen die Summe der Gewalt, vor allem das Heer selbst an die Majorität eines Reichstages ausgeliefert zu sein, der durch die liberale Fluth aus dem Süden unrettbar „verlaskert“ werden müßte; sie fühlten den Boden unter ihren Füßen schwanken. Aber auch sie gaben bereits zu, daß das Kaiserthum für den Süden nicht zu entbehren und im Gegensatz zu der Königsidee der Professoren ein „deutsch-conservativer Gedanke“ sei; und sie konnten sich doch sagen, daß, so lange B. und der König im Regimente seien, die Gefahr, von der Omnipotenz des Reichstages erdrückt zu werden, nicht allzu dringlich sein würde. Niemand war über die neue Würde unglücklicher als derjenige, dem sie Volk und Fürsten Deutschlands in nie gesehener Einmüthigkeit übertrugen, und auf dessen ehrwürdigem Haupt sie noch lange Jahre in ihrem schönsten Glanze strahlen sollte; nur der unentrinnbaren Nothwendigkeit, und nach bittern Seelenkämpfen, beugte sich König Wilhelm. Aber auch ihm bewegte es das Herz, als Eduard Simson im Namen des deutschen Volkes zu ihm sprach und als später am 18. Januar sein fürstlicher Schwiegersohn vor den siegreichen Fahnen das erste Kaiserhoch ausbrachte.

In Wahrheit vernichtete die deutsche Krone, wie hell sie glänzen mochte, die Hohenzollernkrone nicht, sondern hob sie vielmehr zu neuer Bedeutung. Das Gold, welches dem neuen Glanze Wahrheit verlieh, war noch das alte, echte Gold der Preußenkrone: die Macht Preußens und die Eigenart seiner Monarchie blieben gewahrt, wie selbstherrlich auch die neuen Elemente sein mochten, die mit ihm in Verbindung traten. Nur, weil er die Macht seines alten Staates auch in den neuen Formen gewahrt sah, hatte B. diese zugegeben oder sie selbst erdacht und geschaffen. Er blieb auch in dem neuen Reiche, der er immer gewesen, der Mann seines Königs, auf dem Boden, dem er entstammte, und auf dem er bereits vier Jahre zuvor die Grundpfeiler des neuen Deutschlands errichtet hatte. Wie er einst in Baden-Baden seinem Könige das Bild eines zukünftigen Deutschlands gezeigt hatte, so war es jetzt gestaltet. In zwei Lagern war die nationale Macht gesammelt: in dem einen das Altgewohnte, die territorialen Gebilde, welche sich aus dem Chaos des alten Reiches durch so viele Revolutionen hindurch gerettet hatten; in dem andern die Elemente des neuen Zeitalters, die unter dem Andrang der fremden Weltmächte aus dem Schoße der Nation geborenen, nach Luft und Licht verlangenden Kräfte. Unter diese sollte sich Jedermann beugen, Preußen so gut wie Baiern oder Lippe-Detmold, Regierende und Regierte: alles, was die Macht und die Wohlfahrt des Ganzen förderte, die Zukunft der Nation verbürgte, [737] Waffen und Politik, Recht und Rechtsgang, und die nationale Wirtschaft vor allem sollte nach Bismarck’s Willen einheitlich gebildet, im übrigen aber erhalten bleiben, was im Laufe der Jahrhunderte erwachsen und in eigenen Machtkreisen selbständig sich entwickelt hatte. Er, der vier Jahre zuvor mit den deutschen Gegnern, gleichviel ob König oder Kurfürst, Herzog oder Republik, rücksichtslos aufgeräumt hatte, nahm nach dem größten aller Siege Preußens kein Dorf mehr für seinen König in Anspruch. Wunderbarer Tact, das Positive der Macht zu begreifen! Darum diese Gleichgültigkeit Allem, was bloße Form war, gegenüber, diese Bereitwilligkeit, den Bundesgenossen solche Embleme und Rechte zu lassen, die ihrer Selbstherrlichkeit einen sanften Schein verliehen, ohne die Macht des Ganzen in ihrem Wesen zu verletzen. Wo es aber galt neue Klammern für das Reich im Krieg und Frieden zu schaffen, da war B. immer zu finden; wie Vieles, was ihm besonders am Herzen lag, ist unausgeführt geblieben!

Denn allzu tief waren doch die dem nationalen Staate feindseligen Elemente in die politischen wie die socialen Ordnungen eingesenkt und in der Seele des Volkes selbst zu fest verankert, als daß der Sturm des großen Jahres sie hätte herausreißen können. Schon waren sie in der Sammlung begriffen; gerade der Sieg der Gegner, die Nöthigung, sich zu wehren, und die Hoffnung, Raum unter den neuen Formen für sich selbst zu gewinnen, lockte sie hervor.

Kulturkampf; Bund und Bruch mit den Liberalen.

Das Erworbene im Frieden auszubauen, war auch im neuen Reich der Wille Kaiser Wilhelm’s und seines Kanzlers, und die Aufgabe, die sie der geeinigten Nation stellten. So gelobte es der sieggekrönte Herrscher in der Kaiserproclamation von Versailles, und so verkündigte er es im März bei der Eröffnung des ersten deutschen Reichstages. Und von Außen her blieb der Friede gewahrt. Zu scharf hatten die Hiebe des deutschen Schwerts gesessen, als daß die Besiegten es hätten wagen dürfen, noch einmal auf den Plan zu treten; und wie die Stimme des Propheten in der Wüste war es, als Pio Nono von dem Steinchen sprach, das sich vielleicht bald von dem Gipfel lösen und die Füße des Colosses zertrümmern werde. Aber im Innern, aus der Nation selbst, die soeben einmüthig gegen den Erbfeind des deutschen Namens ausgezogen war, erhoben sich die Geister des Zwiespalts. Eine Opposition bildete sich aus, so stürmisch im Angriff, so unerschütterlich in der Vertheidigung, und so grundsätzlich in ihrer Feindschaft gegen das Neugeschaffene, daß alle Gegner, die B. bisher auf seinen Wegen gefunden hatte, davor zurücktraten. Sie war ihrerseits wieder in zwei Lager gespalten, die nach Ursprung, Ziel und Charakter weit auseinander wichen; aber der gemeinsame Haß gegen das neue Reich und die Internationalität ihrer Politik überbrückten diese Kluft, und sie mochten um die Palme streiten, wer von ihnen es in der Reichsfeindschaft dem andern zuvorthue. Auch hingen sie in der Wurzel doch enger zusammen, als ihre Programme es anzeigten; wie denn der neue Führer der Socialdemokraten, August Bebel aus Cöln, als Agitator der katholischen Gesellenvereine emporgekommen war. Sie zogen beide ihre stärksten Kräfte aus der Masse; die Leidenschaften, die in der Tiefe geschlummert hatten, wurden durch sie ans Licht gebracht; sie waren demokratische Bildungen, und demagogisch die Waffen, die sie benutzten; darum kam auch das Wahlrecht, das von der [738] Demokratie geschaffen war, beiden zu Statten. Von Anfang an respectirten sie, wenn sie sich nicht direct verbündeten, gegenseitig ihren Besitzstand.

Zuerst und am besten gerüstet erschienen die Clericalen auf dem Kampfplatz. Sie waren, wie ihr verschmitzter Führer, der Advocatus Ecclesiae von Meppen später von sich selbst ausgesagt hat, in der That am frühesten aufgestanden. Während Deutschlands beste Söhne noch in Frankreich kämpften, unmittelbar nach den großen Siegen über das Napoleonische Kaiserreich, zur Zeit, da B. die Fundamente des neuen Reiches legte, sammelte sich daheim ihr Heerbann; als im März der Reichstag zusammenkam, traten sie mit einem festgeschlossenen Fähnlein von 57 Abgeordneten in denselben ein: an ihrer Spitze neben Reichensperger und Mallinckrodt der alte Welfenminister und der preußische Diplomat, der im Juni 1866 dem deutschen Bunde und seiner katholischen Vormacht den Fehdebrief ausgeliefert hatte, der Jugendfreund Bismarck’s, Charles Savigny, in dessen Adern das Hugenottenblut seines Vaters sich mit dem katholisch-romantischen Blute der Brentanos mischte, und den nun gekränkter Ehrgeiz den Todfeinden seines Vaterlandes in die Arme trieb. Sie waren aus den verschiedensten Elementen gebildet, zum Theil solchen, die in dem ganzen Verlauf der deutschen Geschichte sich niemals berührt hatten: Polen und Welfen, Preußen und Rheinbündler, Feudale und Demokraten waren in ihrer Fraction vereinigt oder ihr verbündet; aber der gemeinsame Haß gegen das neue Reich kittete sie fester zusammen als jede Partei, die auf nationalem Boden stand. Es waren die Besiegten, die Unterworfenen, die sich um das Banner der streitenden Kirche scharten, welche, wie B. schon in Frankfurt geschrieben hatte, „Preußen bis auf seine Existenz als ketzerischen Mißbrauch bekämpfte“. Ihre Programme waren so nichtssagend und in allen Farben schillernd, daß auch andere Parteien sich dazu hätten bekennen können; gerade die nationalen und liberalen Schlagworte eigneten sie sich an, und behaupteten dennoch, daß die conservativen Interessen bei ihnen besondere Pflege fänden. Ja sie verleugneten den Namen selbst, den ihnen alle Welt gab, und das Ziel, dem sie mit allen Kräften zustrebten: „Wir sind nicht confessionell“, erklärte ihr Führer im Reichstage.

B. kannte den Geist, der ihm hier den Weg vertrat, aus dem Grunde, er hatte ihn schon in Frankfurt, damals dem Hauptquartier der Ultramontanen, studirt, und niemand wußte besser als er, wie tief die Kluft war, die sich von neuem aufthat. Dennoch hatte er niemals daran gedacht, die Kämpfe des confessionellen Zeitalters zu erneuern; sein Rath war stets gewesen, zwar jedes unnöthige Entgegenkommen zu vermeiden und nie den Eindruck der Hülfsbedürftigkeit zu machen, sonst aber innerhalb der Bollwerke des Staates den Angriff abzuwarten, mit dem unbedingten Entschluß, jeden Zollbreit des Besitzes auch anscheinend billigen Forderungen gegenüber zu vertheidigen.

Bisher war der Friede durch die Haltung des Clericalismus noch immer möglich geblieben. Unter dem sanften Scepter Friedrich Wilhelm’s hatte die streitende Kirche den Staat Friedrich’s des Großen schließlich in Ruhe gelassen; sie hatte ja Ursache genug, mit dem Regiment des romantischen Königs zufrieden zu sein. Aber auch in der neuen Aera war ihr Verhältniß zu der Regierung im wesentlichen ungetrübt geblieben: die Liberalen hatten, wie sehr sie sich des Gegensatzes gegen den Romanismus bewußt sein mochten, doch zu viel Selbstvertrauen, um ihn zu fürchten, und überdies lagen ihrer eigenen Politik Tendenzen zu Grunde, die der römischen Kirche nicht schädlich waren; und noch mehr fanden die Clericalen im Conflict ihre Rechnung, mochten sie sich nun zu der Linken oder, wie die Reichensperger, mehr auf der Seite des Thrones halten. Das Jahr 1866 brachte auch hier die Wendung. [739] Der Zusammenbruch der Vormacht des katholischen Deutschlands ward in den ultramontanen Kreisen mit Recht als die schwerste Niederlage empfunden. Aber in den Jahren, da sich der Kampf mit Frankreich vorbereitete und der Einheitsdrang der Nation unhemmbar dem nahen Ziele zustrebte, standen die Sterne für sie nicht günstig: der ghibellinische Geist, der durch Deutschland ging, drohte in die Kirche selbst einzubrechen; alte Vorkämpfer der Partei wurden von ihm ergriffen, sogar in den Domcapiteln und den Facultäten schien eine Strömung einsetzen zu wollen, die von Rom hinweg lenkte. B. widerstand dennoch der Versuchung, den Gang des Concils, in dem der Papst die entgegengesetzten Elemente seiner Kirche zum Siege führen wollte, zu beeinflussen; er wies den Antrag des Grafen Harry von Arnim, bevollmächtigte Vertreter der Regierungen nach Rom zu entsenden, zurück. Und nicht bloß, weil er die Maßregel für unpraktisch und nutzlos ansah, sondern weil eine solche Einmischung in das Leben der Kirche dem protestantischen Charakter Preußens selbst widerspräche. Nur wenn man in Rom bindende Normen über das Verhältniß von Staat und Kirche aufstellen würde, ohne den bei diesen Dingen interessirten Staat als gleichberechtigten Factor hinzuzuziehen, oder wenn die deutschen Bischöfe selbst Hülfe suchten, war B. entschlossen und bereit, die Macht des Staates zur Geltung zu bringen. Er vertraute diesmal der Macht der öffentlichen Meinung und dem ausgebildeten Bewußtsein der Nation: von ihnen unterstützt würde die Regierung auf dem Felde der Gesetzgebung die Mittel finden, um jede Krisis zu überwinden, und die gegnerischen Ansprüche auf das Maß zurückzuführen, welches sich mit dem Staatsleben vertrüge.

Jedoch wagten sich die Bischöfe nicht von ihrem römischen Stamm und Grunde fort, und ihr innerkirchlicher Widerstand zerschellte an der rücksichtslosen Offensive der von den Jesuiten geleiteten Curie: in dem Moment, wo sich Deutschland in den Kampf um seine Freiheit und Größe warf, wurde in Rom das Dogma verkündigt, das dem theokratischen Absolutismus, der an der Tiber seinen Sitz seit Jahrhunderten hatte, die letzte Weihe gab. Sechs Wochen später hatte das Gottesgericht von Sedan für den Ketzerstaat entschieden; auch die zweite Großmacht des Katholicismus war niedergebrochen, und die Vollendung des italienischen Einheitsstaates raubte bald der Kirche den letzten Rest ihres weltlichen Besitzes. Zugleich griffen die antirömischen Stimmungen in dem katholischen Deutschland weiter um sich. Zwar die Bischöfe waren stumm geworden, und machten sich zum Theil bereits zu Executoren des päpstlichen Willens; aber die akademische Welt protestirte um so lauter gegen das neue Dogma, das sie als Verfälschung des alten und echten Katholicismus bezeichnete; Religionslehrer an den katholischen Gymnasien und die Theologen in den Facultäten weigerten sich ihren Bischöfen zu gehorchen, als diese die Anerkennung der neuen Lehre von ihnen forderten, und suchten bei ihren Regierungen Schutz. In Baiern war die Bewegung noch stärker und allgemeiner als in Preußen. Der größte Gelehrte der katholischen Welt, der ein langes Leben der Vertheidigung seiner Kirche gewidmet hatte, Ignaz v. Döllinger, wandte sich von ihr ab und stellte sich an die Spitze ihrer Gegner. „Als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger“, so erklärte er am 28. März, „kann ich diese Lehre nicht annehmen“. Ihn traf dafür die Excommunication, aber seine Universität wählte ihn zu ihrem Rector; das Ministerium und König Ludwig selbst bezeugten ihm ihre Sympathie.

B. hoffte bei alledem anfangs noch den Kampf vermeiden zu können. Da sich ihm die deutschen Bischöfe versagten, versuchte er es bei der Curie [740] selbst; und fast schien es, als ob man in Rom geneigt sein könnte, es mit dem Sieger zu halten. Den Verhandlungen, die Ledochowski Anfang November in Versailles im directen Auftrage Antonelli’s geführt hatte, folgte im März ein Glückwunschschreiben des Papstes an den Kaiser, in dem der Hoffnung auf Freundschaft zwischen Reich und Kirche Ausdruck gegeben war. Bei den ersten Debatten im Reichstage, die gleich einen sehr erregten Ton annahmen, hielt sich Bismarck zurück, und denuncierte statt dessen in Rom die neue Oppositionspartei, deren wenig tactvolle Art der antipäpstlichen Bewegung die Sympathien auch solcher Kreise zuführe, denen solche früher fremd gewesen seien – eine Wendung, welche auf die altkatholische Bewegung gehen konnte und jedenfalls so verstanden werden sollte. Und er hatte wirklich die Genugthuung, daß sich der Cardinalstaatssecretär mißbilligend über das schroffe Vorgehen der neuen katholischen Fraction äußerte. Aber die Gegensätze, die hier versöhnt werden sollten, waren viel zu groß, als daß die Diplomatie noch hätte helfen können; und es war doch nicht bloß, wie B. gemeint hatte, Schwäche, wenn die Curie sehr bald die hingestreckte Hand wieder zurückzog; sie folgte dabei ihrem eigenen Interesse und dem Geist und Ziel der Kirche, über die sie herrschte. An der platonischen Freundschaft des neuen Kaiserreiches lag dem Papst und seinen Monsignori nichts; sie dachten nicht daran, Rom zu verlassen und das Asyl in Deutschland, das B. ihnen angeboten hatte, anzunehmen. Sie wollten, wie es Ledochowski schon im November verlangt hatte, vielmehr Hülfe gegen den Räuberkönig, der den heiligen Vater zum Gefangenen im eigenen Hause gemacht hatte. B. war Italien keineswegs freundlich gesinnt, und hatte nach dem, was im Kriege geschehen war, wahrlich keine Veranlassung dazu; daß Rom Italiens Hauptstadt geworden war, lag nicht einmal so sehr im deutschen Interesse. Aber soviel wie die Curie wollte, konnte er nicht bieten; mit den Romfahrten war es unter dem nationalen Kaiserthum allemal zu Ende. Er konnte diese Forderung ebensowenig erfüllen wie die andere, welche die Centrumspartei im Reichstage stellte, die unklaren und schillernden Bestimmungen der preußischen Verfassung über das Verhältniß zwischen Staat und Kirche auf das Reich zu übertragen: beides widersprach von Grund aus den Principien, auf denen das neue Reich ruhte. Und wie hätte sich Preußens Regierung den Bitten ihrer eigenen Unterthanen entziehen können, sie gegen ihre kirchlichen Oberen in ihrem Gewissen und bei ihren Rechten zu schützen, die zugleich die Rechte ihres Königs waren! Keinen Augenblick hatte sie gezögert, denselben zur Hülfe zu kommen. „Die Staatsregierung ermißt auch die rechtliche Stellung der Professoren der katholischen Theologie lediglich nach den vom Staate selbst errichteten gesetzlichen Bestimmungen“, so hieß es in dem Rescript, das der Cultusminister v. Mühler, der selbst alles andere eher war als ein Liberaler, noch vor Ende 1870 den Erlassen des Erzbischofs von Cöln gegen die Bonner Theologen entgegensetzte. Auch in Breslau und Braunsberg trat der Minister für die angefochtenen Lehrer ein: die Schüler sollten den Unterricht, den ihnen ihre Präceptoren böten, annehmen oder die Schule verlassen, da die Entziehung der missio canonica keine staatliche Wirkung habe. Die Summe des Conflicts fand darin bereits ihren Ausdruck.

Mußte nun aber gefochten werden, so war es nicht Bismarck’s Art, seinen Gegnern den Vorstreich zu lassen. Schon im April kündigte er in einem Erlaß an Herrn v. Werthern an, daß die aggressive Tendenz der neuen Fraction die Regierung vielleicht zwingen werde, um wirksamer Abwehr willen auch ihrerseits aggressiv gegen die Partei aufzutreten. Im Juni, unmittelbar nach Schluß des Reichstages, schien ihm dieser Moment gekommen. Noch bevor die [741] Curie aus ihrer Reserve ganz herausgekommen war und Farbe bekannt hatte, ließ er durch die Kreuzzeitung aggressive Maßregeln verkündigen; am 8. Juli, vier Tage nachdem Bischof Krementz von Ermland über den einen der widerspenstigen Lehrer, Professor Wollmann in Braunsberg, die große Excommunication verhängt hatte, erfolgte der erste Schlag, die Aufhebung der katholischen Abtheilung im Cultusministerium.

Respect vor der öffentlichen Meinung war sonst nicht Bismarck’s Stärke, und daß er den Kampf mit ihr nicht scheue, hatte er bewiesen. Aber zu einer regelmäßigen Staatseinrichtung hatte er den Conflict niemals machen wollen; er hatte den Kampf aufgenommen, weil er sein Ziel nicht anders erreichen konnte. Nun, nachdem der Sieg erfochten, rechnete auch er mit den populären Strömungen; eben in dem Reichstage und dem allgemeinen Stimmrecht hatte er ihnen die Organe verliehen. Wollte er also den Kampf führen, so mußte er sich an die parlamentarischen Parteien halten. Wären ihm die Conservativen treu geblieben, so wäre er gewiß mit freudigerem Sinne hineingegangen; er hätte den Boden gehabt, der ihm annehmlich war. Es geschah auch mit Rücksicht auf sie, wenn er zögerte. Und noch im Moment des Bruches rechnete er auf die alten Freunde; in dieser Absicht wählte er die Kreuzzeitung aus, um die Kriegserklärung gegen das Centrum zu bringen. Aber die Partei ließ ihren einstigen Führer im Stich und zwang ihm dadurch geradezu die Allianz oder, wie Roon es nannte, die Mesalliance mit den Liberalen auf.

So begann der Kampf, der die Nation aufs neue bis in ihre Tiefen aufwühlen sollte und die Leidenschaften zu einer bis dahin kaum erhörten Siedehitze, bis zu dem Attentat gegen den nationalen Heros selbst trieb – um schließlich im Sande zu verlaufen. Weshalb ist er gescheitert? Oder ist es nicht wahr, daß B. in ihm seine erste Niederlage erlitten hat? Hat er erreicht, was er wollte? Seinen Willen durchgesetzt? Die staatlichen Bollwerke, gegen welche der Clericalismus anstürmte, behauptet? Oder gar neue hinzu erobert? Die Antwort wird verschieden lauten, je nachdem man fragt, was B. und was die Parteien, die im Kampf miteinander standen, von ihm erwartet haben. Die Führer der nationalen Bewegung, die Liberalen aller Schattirungen stellten sich das Ziel von Anfang an anders als der Reichskanzler. In diesen Kreisen, zumal in der gemäßigt liberalen Gruppe, wo die Wortführer der Nation in ihrem Einheitsringen gestanden hatten, hoffte man jetzt in der That, daß der Niederwerfung der beiden katholischen Weltmächte die Zertrümmerung des römischen Geistes im Vaterlande Martin Luther’s folgen würde. Auch unter ihnen wollte niemand den katholischen Landsleuten die Form ihres Gottesdienstes und ihres Glaubens rauben; aber den Geist des deutschen Katholicismus hofften sie umzugestalten, den hohen Ideen wollten sie ihn unterwerfen, die den deutschen Geist seit Jahrhunderten befruchtet und unser Staatsleben ganz durchdrungen hatten. Ihr Einfluß kam zur Geltung in einem Theil der Maigesetze, von dem Schulaufsichtsgesetz ab bis zu der Vorschrift des dreijährigem Studiums der katholischen Theologen auf deutschen Universitäten und ihrer Unterwerfung unter eine Staatsprüfung in den historischen Studien. B. steckte seine Ziele nicht so weit – nicht weil er dem römischen Geiste näher gestanden hätte, sondern weil sie seinem realpolitischen Blicke zu weit ablagen, und auch wohl, weil er fürchtete, daß die liberale Fluth weiter greifen, ihm den eigenen Acker überschwemmen könnte. Er hat in der Folge oft darüber geklagt, daß die liberalen Juristen ihm das Concept verdorben hätten, und seinen Antheil an den Gesetzen fast abgeleugnet. Und man kann zugeben, daß er sich um das Einzelne wenig gekümmert, daß er manches Gesetz erst nachträglich im Zusammenhang studirt und mehr als einen Paragraphen gleich [742] anfangs als unpraktisch aufgefaßt hat. Aber wir würden ihn ganz verkennen, wenn wir bestreiten wollten, daß er die Richtung angegeben habe, daß, wie Blanckenburg sich ausdrückte, Falk die Pace ging, die B. ihm vorschrieb. Viel zu groß war die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, als daß er sie aus der Hand hätte geben dürfen. Das Einzelne der Gesetze mag von Falk und seinen Räthen ausgearbeitet und vertreten sein: die Ziele steckte ihr Herr und Meister, und vertrat sie mit der ganzen Wucht seines Willens. Einzelne Gesetze hat er, wie seine Alliirten, von Anfang nur als Kampfgesetze betrachtet. Aber auf ein Menschenalter, so verkündigte er auf der Höhe des Conflictes, habe er den Kampf berechnet. Den Frieden faßte er gleich im Beginn ins Auge; aber so, wie er ihn brauchen konnte, als den Frieden mit den Unterworfenen. Und wie auch immer der große Minister sich die Zukunft vorgestellt haben mag, das wird man dennoch sagen dürfen, daß er den Fremdkörper, der sich in seinem Werke eingenistet hatte, aus dem Wege räumen, daß er die Fraction, die mit der preußischen Staatsidee wie mit dem Princip des neuen Reiches selbst stärker als jede andere Partei contrastirte, hat zerbrechen wollen. Daß die Zeit kommen würde, wo gerade sie die ausschlaggebende Macht in der nationalen Politik besitzen, ja auch nur, daß er noch einmal mit ihr werde pactiren müssen, hat er sicherlich nicht erwartet, als er den nationalen Genius zum Kampfe gegen sie aufrief.

Es dauerte aber nicht lange, bis er einsehen mußte, in welche Mühsal er sich verstrickt hatte. Die Hirten der katholischen Heerde, eine Reihe von Bischöfen, viele Hunderte von Pfarrern wurden abgesetzt oder wanderten ins Gefängniß; ihre Kanzeln blieben leer, ihre Gläubigen verwaist, und immer höher schwoll die Fluth des Hasses und der Anklagen empor gegen die „diocletianische“ Verfolgung der Kirche. Und Gesetz hing sich an Gesetz. Immer tiefer drang die politische Gewalt in das Gefüge der katholischen Kirche, Dogma, Cultus und Verfassung hinein – und immer trotziger, unbeugsamer wurde die Kraft, auf die sie stieß. Was nutzte es, tausendmal zu wiederholen, daß Regierung und Majorität des Reichstages den Glauben nicht antasten wollten, daß die katholischen Unterthanen dem Herzen des Kaisers so nahe ständen wie die evangelischen, daß sein Kanzler nichts als das Recht des Staates, sich die Grenze selbst zu setzen, behaupten, gegen willkürlich begonnene Angriffe ihn sichern wolle? Es war keine Toleranz mehr, war es nie gewesen, konnte es garnicht sein. Es war der innere Widerspruch zwischen der politischen Gewalt, die Deutschland geeinigt, und der römisch-katholischen Ideenwelt, die ihr unterthan geworden war, der mit elementarer Kraft hervorbrach: der Geist der Gegenreformation war lebendig geblieben in unserem Volk, und er war es, der sich aufbäumte gegen den Ketzerstaat, den die Waffen zum Sieger gemacht, und der nun der Nation seinen Geist mittheilen wollte. Immer deutlicher trat der protestantische Charakter des Kampfes ans Licht. Darauf eben kam es an: ob der Geist der Reformation, wie er in der Macht und Cultur des neuen Deutschlands Wesen gewonnen hatte, über den römischen Geist in unserem Volke triumphiren sollte. Die Staatsgewalt hätte so unbarmherzig sein müssen, wie die Bischöfe und ihre Pfarrer es waren, die ihre Sprengel lieber verwaisen ließen, statt sich zu unterwerfen, alle Gefahren für die Seelen und die öffentliche Ordnung duldeten, ja heraufbeschworen, die Revolution anriefen und den Untergang des Kolosses prophezeiten. Was kümmerte die Kirche der Staat dieser Welt und seine Angelegenheiten! Also hätten auch Regierung und Parlament, wollten sie siegen, sich des evangelischen Charakters ihrer Gewalt ganz und gar bewußt werden, und im Namen Gottes, [743] wie die Väter, das Papstthum ausfegen, den Kampf gegen Rom als den Erbfeind des evangelischen Glaubens durchführen müssen.

Durften sie das? War das nicht wieder ein Bruch mit den Principien, auf denen der moderne Staat ruhte? Verletzte er nicht schon jetzt tausendfach die Freiheit der Gewissen, die er als den Kern der Reformation und die sittliche Basis seiner Macht anrief? Hatte er ein Recht darauf, gegenüber dem Unglauben und der Skepsis der modernen Welt, den Mächten der Zerstörung, welche die evangelische Kirche selbst von allen Seiten umrauschten, für die Principien des 16. Jahrhunderts einzutreten? Bestanden diese überhaupt noch zu Recht? Hatten sie die Kraft der Existenz und die Energie der Ueberzeugung, die den Sieg verspricht, für sich? Oder mußten nicht gerade mit dem fortschreitenden Sturm die negirenden Elemente aus dem Boden emporsteigen und das, was Millionen in dem eignen Lager bekannten, voran der Kaiser selbst und seine Gemahlin, umdrängen und zerstören?

Und je weiter der „verwegene Steuermann“, wie Roon in unwilliger Resignation sagte, vordrang, desto mehr bröckelte Alles um ihn her, was ihn einst gehalten hatte. Schon im December 1872 schrieb B. an Roon, um ihn im Dienste zu halten, fast verzweifelnd über sein Gewerbe, das ein solches sei, in dem man viele Feinde gewinne, aber keine neuen Freunde – „sondern die alten verliert, wenn man es zehn Jahre lang ehrlich und furchtlos treibt“. Es waren die Freunde aus den Jahren, da er entladen gewesen war von allem Qualm der Politik, die Schildhalter in seinen ersten Waffengängen als Minister, die alten Glaubensgenossen, Männer wie Kleist und Blanckenburg und der alte Thadden, die sich nun den längst Abgefallenen, einem Gerlach und Senfft-Pilsach zugesellten. Den Kriegsminister gelang es noch einmal auf kurze Zeit festzuhalten, derselbe ließ sich sogar bestimmen, den Vorsitz im Ministerium zu übernehmen, nicht bloß um den Kanzler zu entlasten, sondern um der Regierung das conservative Gepräge zu erhalten. Aber vergebens warb B. um Blanckenburg; zweimal, Ende 1872 und wieder ein Jahr darauf, lehnte dieser ab, vor allem doch, weil er die liberalisirende Politik nicht mitmachen wollte. „Bismarck“, so schrieb er im November 1875 an Roon, „hat in Pommern jede Brücke, die ich noch wieder hätte bauen können, abgebrochen“. Es war der preußische Particularismus, der aus diesen Worten sprach, der „junkerliche Geist“, dem die deutsche Idee immer fremd und unheimlich gewesen war. Zugleich war in diesen Kreisen eine Religiosität heimisch, welche mit dem Christenthum der katholischen Fronde fast mehr Fühlung hatte als mit dem der antirömischen Parteien; durch die Bekämpfung der katholischen Kirche hielten sie ihren eigenen Glauben, alle festen Ueberlieferungen für erschüttert; ein Zeitalter des völligen Unglaubens und anarchischer Zerrüttung sahen sie im Anzuge. Auch den treuesten Gefährten des Kanzlers, Roon und dem Kaiser selbst wurde schwül zu Muth. In der Umgebung des kaiserlichen Herren wurden wieder alle dem Kanzler feindseligen Stimmen laut. Die Kaiserin, einst die Patronin der liberalen Interessen, war jetzt im katholisirenden Fahrwasser, ihr Freund der Bischof, der am allerschroffsten der Regierung entgegengetreten war. Am kronprinzlichen Hoflager wehte zwar ein freierer Geist; man fühlte dort wie die liberalen Freunde: aber dem führenden Staatsmann blieb man ungeneigt. Dazu nun das quälende Leiden, welches seit dem schlimmen Herbst in Putbus von B. nie ganz gewichen und ihn mit einer durch die Regellosigkeit seiner Lebensführung sich steigernden Gewalt heimsuchte. Immer länger wurden die Zeiten, in denen er sich in der Einsamkeit von Varzin verbarg. Aber die Geschäfte folgten ihm auch dorthin, und vor allem er selbst war doch immer bedacht, die Hand über den Karten zu halten; [744] wie oft ihn die Sehnsucht überkommen mochte, die ganze Last von sich zu werfen, er blieb an sein Amt geschmiedet; er mußte sein prometheisches Schicksal weiter tragen: das Werk, das er geschaffen hatte, verlangte seinen Meister.

Von der anderen Seite aber gingen die liberalen Alliirten darauf aus, die Woge, die sie emporgebracht, für sich selbst zu benutzen. Auch sie gehörten zu den Besiegten, aber schon die Niederwerfung Oesterreichs, und wie viel mehr die Glorie von 1870 war ihnen mehr als jeder anderen Richtung zum Guten ausgeschlagen. Ihre Kräfte lagen besonders in den neuen Provinzen Preußens und in den Bundesstaaten; von dort her kamen ihre glänzendsten Führer, und die idealen Tendenzen, welche in den nationalen Siegen triumphirt hatten, die in ihren Programmen von jeher verkündigt waren, beherrschten noch immer die Massen der Wähler. In den Wahlen zu den beiden ersten Reichstagen kam es zum Ausdruck. Das Centrum selbst gelangte zwar im zweiten Reichstag weit über seine frühere Ziffer hinaus; aber erst nach seinem Siege hat es die Zahl erreicht, die es seitdem behauptete. Die Socialdemokraten waren im Parlament zunächst nur ein kleines Häuflein, Elsaß-Lothringen unvertreten, und auch der Polen waren es weniger als später. Die Nationalliberalen hatten eine überwältigende Majorität. Noch immer war in ihren Programmen ein Rest der achtundvierziger Ideale; Reichsministerium und Wahrung der Volksrechte, Ausbau der parlamentarischen Gewalt, wie in den Einzelstaaten, so im Reiche waren ihre Ziele geblieben; sie wollten den Kanzler unterstützen, aber ihn zugleich in ihre Richtung zwingen. Bei jeder Gelegenheit ließen sie ihn den Zwiespalt und ihre Macht fühlen. Die Reibungen begannen schon wieder unmittelbar nach dem Kriege. Im Sommer 1873 kam es zu einem heftigen Zusammenstoß, als Lasker, der Wortgewandte, bei der Debatte über das Militärgesetz von Volksrechten, die zu wahren seien, sprach. Es war der alte Gegensatz, den die Parteidoctrin Jahrzehnte hindurch fast als die Basis ihres Glaubens betrachtet hatte. Der ganze Conflict zwischen dieser Lehre und Bismarck’s Machtidee kam in der Antwort zu Tage, die der Kanzler auf diese „deklamatorische Abschweifung“ gab. „Das sind“, so rief er unter stürmischen Protesten der Angegriffenen, „Reden aus vergangener Zeit, die ich berechtigt bin declamatorisch zu nennen.“

B. war, wie immer, bereit, die Dienste der Gemäßigtliberalen anzunehmen. Auch hatten sie ihm, soweit seine Pläne mit ihren unitarischen Zielen übereinstimmten, wie z. B. in der Gewerbeordnung oder in der Geld- und Münzreform, mit Hingebung geholfen. Aber je weiter man darin gelangte, um so eher konnte B. Alliirte entbehren, die ihre Dienste so ungern umsonst thaten. 1874, bei der großen Militärdebatte, war man, wie Blanckenburg frohlockend an Roon schrieb, bereits kurz vor dem „Zusammenknall“. Es gelang noch einmal, den Riß zu verkleben, durch das Compromiß, das die Stärke der Armee auf sieben Jahre festlegte; aber das Bündniß war bereits weit gelockert, und jede Annäherung der früheren Freunde begrüßte B. ganz offen. So, als die neu-conservative Gruppe, die sich gebildet hatte, im April 1875 für das Sperrgesetz eintrat: „Es ist das“, erklärte der Kanzler, „eine Brücke für mich, um alte Beziehungen wieder anzuknüpfen.“ „Bismarck will los von den Liberalen“, so meldete im Herbst darauf Blanckenburg an Roon. Gerade in diesen Jahren war der Culturkampf auf der Höhe und nahm der Zwist Bismarck’s mit den alten Freunden die schlimmsten Formen an. Es waren die Zeiten des Arnim-Processes und der Declarantenpresse; mit niedrigen Schmähungen, mit gemeinen Verdächtigungen, in einer Weise wie die liberalen Parteien es zu keiner Zeit gethan, führten die haßerfüllten Neider und die von ihm Geschädigten mit dem ihnen zu mächtig Gewordenen den Kampf. Aber [745] merkwürdig genug, als sich der Staub und Schmutz, der dabei aufgewirbelt war, gelegt hatte, war das Gros der conservativen Gegner nahezu bei Bismarck. Im Mai 1876 nahm Delbrück seinen Abschied. Seit dem Juni trat die Norddeutsche Allgemeine Zeitung nachdrücklich für die conservative Richtung ein; im Juli kam das Programm der deutsch-conservativen Fraction heraus: der preußische Particularismus war überwunden. Gleich die nächsten Wahlen brachten den Lohn: im Januar 1877 zogen 35 Conservative in den Reichstag, 13 mehr als in der vorigen Periode; die Freiconservativen waren um fünf Mitglieder vermehrt, die Nationalliberalen um 25 vermindert. Ihnen hatte schon die Socialdemokratie ihre Sitze streitig gemacht; ein volles Dutzend stark nahmen deren Führer in der nationalen Vertretung Platz. Im Februar constituirte sich die deutsch-conservative Partei, und B. hieß sie freudig willkommen.

Dazu kam nun die neue Wirthschaftspolitik, mit deren Programm B. 1878 hervorkam. Auch sie hatte ihre Schatten lange vorausgeworfen, und der Druck, den die Krisen in der Industrie und die Noth der Landwirthschaft hervorgerufen hatten, hat gewiß auf die Entschließungen Bismarck’s eingewirkt; aber das entscheidende Gewicht kommt auch ihm nicht zu. Hatte sich auch die Freihandelstheorie nach dem englischen Vorbilde und vorzugsweise in liberalen Kreisen ausgebildet, so hatte sie doch bisher die Parteien nicht geschieden, und gerade die industriell mächtigsten Kreise, die jetzt nach dem Schutzzoll riefen, waren durch die Nationalliberalen vertreten. Freilich hatte Windthorst das Glück, seinen Heerbann aus industriellen und agrarischen Provinzen zu vereinigen, und die protestantisch-agrarischen Wahlkreise, auf welche B. rechnete, als er seinen großen Schlachtruf, Schutz der gesammten nationalen Production, der Industrie und der Landwirthschaft, erhob, waren gerade in den Händen der Conservativen; ohne Frage hat diese Erwägung mitgewirkt, als er jenes Programm aufstellte. Dennoch machte er, nach seiner Gewohnheit, bevor er sich entschied, noch einmal den Versuch, auf dem Wege des Compromisses sein Ziel zu erreichen: er berief das Haupt der nationalliberalen Partei, Rudolf von Bennigsen, nach Varzin und bot ihm einen Sitz im Ministerium an. Die Verhandlung darüber stellte er auf den wirthschaftlichen Boden; ohne seine eigenen Absichten näher zu entwickeln, ließ er sich von seinem Gast mittheilen, wieviel neue Steuern und in welcher Form die Liberalen sie bewilligen wollten; von dem Tabacksmonopol ist nach der bestimmten Versicherung Bennigsen’s garnicht gesprochen worden, wohl aber von einer erheblich höheren Besteuerung des Tabacks. Bennigsen gab bereitwillig Auskunft und erklärte sich über Tabacks-, Einkommen- und Klassensteuer so, daß ihm selbst eine Verständigung erreicht oder erreichbar schien. Aber er begnügte sich nicht damit, die Frage in den engen Rahmen zu spannen, der B. genehm war: er erklärte, daß er allein nicht in die Regierung eintreten würde, sondern die Herren v. Forckenbeck und v. Stauffenberg als Collegen haben müßte, weil, so war sein Hauptargument, sonst die Absicht, eine feste Reichs- und preußische Regierung, gestützt auf eine sichere, nachhaltig vorhandene, große Mehrheit des Reichstages und Preußischen Abgeordnetenhauses herzustellen, nicht erreicht werden könne. Der Eintritt Bennigsen’s wäre B. damals ohne Frage sehr nach dem Sinne gewesen; wie er es auch in seinen Erinnerungen erzählt: „Er hätte den aufrichtigen Wunsch“, so habe er zu seinem Gast gesprochen, „ihn zu überreden, daß er zu ihm in das Schiff springe und ihm bei dem Steuern helfe; er läge am Landungsplatz und wartete auf sein Einsteigen.“ Aber für die mehr linksstehenden Führer der Partei hatte B. in seinem Schiffe keinen Platz; und auch Bennigsen mochte fürchten, mehr beim Segelstellen als beim Steuern verwendet zu werden. Der Eine wollte die Partei sich unterwerfen [746] und die Gruppe um Lasker abspalten, der Andere ihre Einheit behaupten und ihre Macht verstärken. Bennigsen, der zweimal in Varzin war, im Sommer 1877 und am Schluß des Jahres, scheint dennoch von dem Kanzler mit dem Eindruck geschieden zu sein, daß eine Vereinbarung auch in der politischen Frage möglich sei: B. habe den Eintritt Forckenbeck’s in das preußische Ministerium, Stauffenberg’s in ein hohes Reichsamt zugestanden; den Gedanken an das Tabacksmonopol schien er ihm aufgegeben zu haben. B. erzählt, daß er die Verhandlungen zunächst in suspenso gelassen habe. Auch Camphausen, der als preußischer Finanzminister bei der Steuerreform das erste Wort mitzusprechen hatte, sah die Luft als geklärt an, um so mehr, da er noch Anfang Januar zum ersten Mal seit dem Rücktritt seines Freundes Delbrück und beinahe demonstrativ als Vicepräsident des Ministeriums mit der Eröffnung des Landtages beauftragt wurde. Daß B. anders dachte, und daß er viel eher den Kampf als den Frieden vor sich sah, ist kaum zu bezweifeln; und es hat schwerlich noch des Anstoßes von Berlin her bedurft, von wo der König, der nichts von Allem gewußt hatte, von Eulenburg aufgestachelt, in einem sehr ungnädigen Brief, der aber schon nach Bennigsen’s Abreise, am 30. December, geschrieben war, sein Mißfallen über die hinter seinem Rücken geführte Verhandlung zu erkennen gab. B. war kaum nach Berlin zurückgekehrt, als er die Entscheidung herbeiführte. Es war in der Reichstagssitzung vom 22. Februar, als das neue Tabacksgesetz zur Berathung stand. Die Regierungsvorlage war so gestellt, daß sie das Monopol ausschloß, und der Finanzminister gedachte desselben mit keinem Worte. Auch die Motive ließen im allgemeinen den Plan nicht erkennen. Nur eine Stelle war so gefaßt, daß man eine Hindeutung auf eine spätere Aufnahme des Projectes herauslesen konnte. Gerade diese aber griff der erste Redner, der nach dem Minister zu Worte kam, auf. Es war Freiherr von Stauffenberg, den Bennigsen für das Amt des Reichsschatzmeisters ins Auge gefaßt hatte. Er machte dem Finanzminister ausdrücklich den Vorwurf, daß er mit Absicht die Zweideutigkeit in dem Entwurf habe stehen lassen. Diese Bemerkung wirkte, wie Lasker später in einem Rückblick auf die Geschichte der Partei schrieb, wie ein Schuß in eine verdeckte Pulverladung. In heftigster Bewegung erklärte Camphausen, daß ihm nichts ferner gelegen habe, als ein illoyales Verschweigen: er glaube freilich, daß der Taback noch eine größere Auflage vertragen könne, als der Entwurf fordere; auch die Frage des Monopols sei noch nicht definitiv abgeschlossen, er halte es aber für rathsam, das Gesetz anzunehmen, gerade um dem Monopol vorzubeugen. Auch diese Worte waren noch geeignet, den Zwiespalt zu verdecken. Aber, wie sie die Parteien nicht beruhigten, so gab sich auch der Reichskanzler nicht damit zufrieden. Er ergriff das Wort: „Ich habe“, so erklärte er mitten in der Rede ganz abrupt, „mich mit meinen preußischen Collegen, und insbesondere dem Herrn Finanzminister dahin geeinigt, daß diese Vorlage als ein Durchgangspunkt zu den höheren Einnahmen aus dem Taback, die ich erstrebe, dienen soll; ich halte es aber nicht für überflüssig, offen zu bekennen, daß ich dem Monopol zustrebe“. Es war nicht bloß das stärkste Désaveu des Finanzministers, sondern die Ankündigung, daß mit der liberalen Aera gebrochen werden sollte. Hätte B. geschwiegen, so wären die Gegensätze noch einmal vertuscht worden. Aber der Ausfall Stauffenberg’s, den der Kanzler vielleicht erwartet hatte, reizte ihn auf: er wurde ihm der Anlaß, um ein für allemal ein Ende zu machen.

In denselben Tagen war der längst erwartete Wechsel in der Regierung der Kirche eingetreten: am 8. Februar[4] war Pio Nono gestorben, am 20. Cardinal Pecci auf den heiligen Stuhl erhoben; der Brief, in dem der [747] Neuerwählte noch am selben Tage dem Kaiser seinen Regierungsanttitt anzeigte und in sanfteren Worten, als man sie lange von Rom gehört hatte, den Frieden anbot, könnte schon in Bismarck’s Händen gewesen sein, als er im Reichstage sprach. Ich will nicht geradezu behaupten, daß zwischen beiden Ereignissen ein unmittelbarer Connex bestehe, aber es wird immerhin erlaubt sein, auf das merkwürdige zeitliche Zusammentreffen hinzudeuten. Von nun ab entwickelte sich die Krisis rasch. Camphausen mußte vom Platz; auch der Handelsminister, Dr. Achenbach, folgte ihm bald. Ihre Nachfolger, Hobrecht, von Anfang an ein Verlegenheitscandidat, und Maybach, waren politisch wenig ausgeprägte Persönlichkeiten. Das Ministerium des Innern aber, das von Bennigsen Forckenbeck zugedacht war, wurde in die Hände eines Führers der Conservativen gelegt, des Grafen Botho von Eulenburg.

Wenige Wochen darauf erfolgten die beiden Attentate gegen den Kaiser. Die neue Richtung in Bismarck’s Politik konnte dadurch nur verstärkt werden. Schon das erste, im Mai, bewog ihn, mit einem Ausnahmegesetz gegen die Partei, deren revolutionäre Agitation jene Verbrechen verschuldet hatte, vor den Reichstag zu treten. Der Widerstand der Liberalen, die damit alle ihre Principien verletzt sahen und darum nur auf eine Revision der Strafgesetze einzugehen gewillt waren, brachte den Antrag zum Scheitern. Kaum aber war der Reichstag geschlossen, so erfolgte der Anschlag Nobiling’s auf das Leben des geliebten Herrschers. B. war in seinem Sachsenwalde, als ihm Geheimrath Tiedemann das Telegramm überbrachte. Sein erstes Wort war: „Jetzt lösen wir den Reichstag auf!“ Blitzschnell, so erzählt Tiedemann, combinirte er alle Folgen, die das erschütternde Ereigniß auf den Gang unserer inneren Politik haben konnte. Dann erst erkundigte er sich theilnehmend nach dem Befinden des Kaisers und nach den Einzelheiten des Attentats. Am 3. Juni, dem Tage nach der Blutthat, wurden die Abgeordneten nach Hause geschickt. In dem neuen Reichstage, der im Herbst zusammentrat, um das Ausnahmegesetz gegen die revolutionären Bestrebungen zu berathen, willigten die Nationalliberalen, unter dem Druck der tiefen Erregung, welche die Schandthaten in der Nation hervorgerufen hatte, in das Gesetz, das sie soeben noch verworfen hatten. Ihre Selbständigkeit war dadurch gebrochen, ihr inneres Gefüge erschüttert, die parlamentarischen Reformideen, die seit Jahren in ihrem Programm gestanden hatten, blieben fortan in den Rauch geschrieben. Die Spaltung, welche Bennigsen in Varzin noch einmal vermieden hatte, um den Preis der Freundschaft mit dem Reichskanzler, war nicht mehr abzuwehren; bald genug löste sich der linke Flügel ab, um eine Sonderexistenz zwischen den beiden Gruppen der früheren Freunde zu führen, und der Rest mußte sich nur noch enger an B. anschließen – ohne den Führer im Ministerium zu haben. B. aber konnte nun wieder regieren; er sah die Möglichkeit vor sich, um auf seinem Wege vorwärts zu kommen. Der Kronprinz, der für den verwundeten Kaiser die Stellvertretung übernommen hatte, konnte, wie sehr er auch mit den Liberalen noch immer sympathisirte, ihm nicht entgegentreten: er durfte sich nicht Beschlüssen widersetzen, welche seinen Vater und den Thron selbst vor Mord und Umsturz schützen wollten; und die rasche Genesung des Kaisers zerstörte die Hoffnungen, die etwa die Liberalen aus dem blutigen Zwischenfall hätten schöpfen können.

In einem Schreiben, das B. im August aus Kissingen, wohin er Mitte Juli, nach dem Schluß des Berliner Congresses, gegangen war, an König Ludwig richtete, hat er in der Geschlossenheit der Gedanken, die wir an allen seinen Denkschriften bewundern, das Programm der Reichspolitik entwickelt, [748] die er fortan befolgen wollte. Die Verhandlungen mit der Curie, die er dort in directem Verkehr mit dem Nuntius Masella wieder aufgenommen hatte, zeigten ihm, wie schon die Correspondenzen im Frühjahr, zunächst wenig Aussicht auf Erfolg: das Centrum erschien ihm noch zu stark und der Papst zu einflußlos, um einen Abschluß bereits zu erlauben. Aber in der Verstärkung der conservativen Partei und in dem Umschwung der öffentlichen Meinung erblickte er dennoch eine Gewähr dafür, daß die auflösenden Elemente nicht aufs neue die Oberhand gewinnen würden. Und vor allem, er rechnete, wie er dem König schrieb, als Folge der gelockerten Beziehungen zu den liberalen und centralistischen Abgeordneten auf ein festeres Zusammenhalten der verbündeten Regierungen untereinander. Das Anwachsen der revolutionären Richtungen und die Versagung der Unterstützung dagegen seitens des Reichstages dränge schließlich den deutschen Fürsten, ihren Regierungen und allen Anhängern der staatlichen Ordnung eine Solidarität der Nothwehr auf, welcher die Demagogie der Redner und der Presse nicht gewachsen sein würde, wenn die Regierungen so einig und entschlossen blieben, wie sie es bisher waren. „Der Zweck des deutschen Reiches ist der Rechtsschutz; die parlamentarische Thätigkeit ist bei der Stiftung des bestehenden Bundes der Fürsten und Städte als ein Mittel zur Erreichung des Bundeszweckes, aber nicht als Selbstzweck aufgefaßt worden.“ Es war einer der Grundgedanken seiner Denkschrift von 1861. Je weniger B. sich auf die Volksvertretung verließ, um so mehr suchte er in der Föderation der Staaten seinen Rückhalt zu gewinnen. Schon faßte er eine abermalige Auflösung der etwa widerspenstigen Versammlung ins Auge. Die wirthschaftliche und finanzielle Reformfrage würde, schreibt er, bei dem erneuten Appell an die Wähler ein Bundesgenosse für die verbündeten Regierungen werden.

Die Beschlüsse des Reichstages machten diese Entscheidung unnöthig. Die Zollreform, die B. seit Jahren erwogen und in gewaltiger Arbeit in allen ihren Theilen ganz persönlich durchdacht und gestaltet hatte, wurde in einer neuen Session, so wie er es wünschte, gebilligt. Auch die Curie kam jetzt näher, und selbst das Centrum machte Miene, als wollte es willfähriger werden. Die Entlassung Falk’s, mit dem auch Hobrecht und Friedenthal gingen, führte zu dem entscheidenden Siege der neuen Richtung; und so entschloß sich B., mit dem Abbruch der Gesetze zu beginnen, durch die er den römischen Geist in der Nation hatte unterbinden wollen, ohne die Partei, die sich im Kampfe dagegen nur noch gefestigt hatte, beseitigt zu haben.

Soviel verschiedene Factoren haben mitgeholfen, um den Umschwung herbeizuführen: nicht die wirthschaftlichen Interessen allein, oder die Unbesieglichkeit des Centrums und der Wechsel im Papstthum, oder die inopportunen Ansprüche der Liberalen, nicht bloß der Widerstand der preußischen Conservativen, die Umtriebe am Hofe, die Agitation der Socialdemokraten, die Mordversuche gegen das ehrwürdige Haupt des Kaisers – sondern Alles zusammen hat dazu mitgewirkt. Der Schöpfer des Reiches, das ist die Summe, wollte die Grundlagen seines Werkes sichern: er wollte durchführen, was ihm nöthig erschien, um das Reich reich zu machen, seine Klammern fester zu schmieden, die Staatsgewalt und ihre altbewährten Substructionen zu erhalten. Die Macht, die er für Preußen und für die Nation errungen, wollte er behaupten und ausbauen – so ging er in das letzte Jahrzehnt seiner Regierung hinein.

[749]

Auswärtige Politik im Neuen Reich.

Der Epoche der europäischen Revolutionen, die mit dem Jahre 1851 abschloß, war eine Epoche europäischer Kriege gefolgt: fünf Mal in zwanzig Jahren wurde der Erdtheil von ihnen erschüttert, vom Ural bis zum schottischen Hochland, und vom Bosporus bis zum Belt war Europa daran betheiligt und nur ein paar neutralisirte oder ohnmächtige Staaten blieben ganz unberührt. Es war die Zeit des Kaiserreiches, das mit dem Anspruch aufgetreten war, der Friede zu sein. Der Sturz Napoleon’s und der Zusammenbruch Frankreichs machten ihr ein Ende, und was in dem Munde des französischen Cäsar, sei es Trug oder Irrthum gewesen, wurde unter Kaiser Wilhelm zur Wahrheit: die Macht, die er erworben, sicherte den Frieden unter den Culturnationen Europas. Schon im Krimkriege hatte die Neutralität Preußens die Mitte Europas in Ruhe erhalten; daß der Westen und Osten zusammenprallten, hatte sie nicht verhindern können. An dem Felsgefüge des neuen Deutschlands aber brachen sich alle Stürme; auch die brennendste der europäischen Fragen blieb im russisch-türkischen Kriege auf die Balkanländer beschränkt, und seitdem konnten sich unsere Nationen aller Segnungen des Friedens erfreuen, wenn drunten in der Türkei die Völker aufeinander schlugen. Nur jenseits der gemeinsamen Grenzen fanden die Mächte noch Raum, sich zu entfalten. Hier aber sind die starken unter ihnen in unaufhaltsamer und unerhörter Ausdehnung begriffen; rund um den Erdball brausen die aus ihrem Schoß entwickelten gigantischen Kräfte. Auf den fremden Continenten liegen heute die Brennpunkte der politischen Constellationen, und dort müßten, so scheint es heute, die Conflicte sich entzünden, welche, auf das Centrum zurückwirkend, auch die alten eingeschlummerten Fragen unseres Continentes zu neuem Leben erwecken würden.

B. hat es sich stets als ein besonderes Verdienst angerechnet, daß er, der seinem Könige zu drei Kriegen gerathen, nach dem Siege über Frankreich alle seine Anstrengungen auf die Erhaltung des Friedens gerichtet habe. Und in der That war dies die Summe seiner auswärtigen Politik seit dem Vertrage von Frankfurt. Es war die Inversion seiner früheren Stellung. Auch darin, daß er nach 1870 die Sicherung Deutschlands ebenso sehr durch Bündnisse wie durch Verstärkung des eigenen Schwergewichts zu erreichen suchte. In der Zeit, da er auf die Erhöhung Preußens ausging, hatte er die Isolirung niemals gefürchtet. In dem Krimkriege, in dem Kriege von 1859, in der polnischen Revolution hatte er sie geradezu aufgesucht: mit 400 000 Mann, so hatte er 1854 seinem Minister geschrieben, brauche man nicht zu fürchten allein zu stehen, besonders so lange die anderen sich schlügen; Preußen werde jedem ein willkommener Bundesgenosse sein, sobald es seine etwaige Isolirung und strenge Neutralität aufgeben wolle. Daß er richtig gesehen, hatten der Feldzug von 1864 und der Krieg gegen Oesterreich bewiesen: ungerufen, kaum daß Preußen den guten Willen gezeigt, hatten sich die Bundesgenossen ihm zur Seite gestellt. Aber nur für den Kampf hatte B. ihre Hülfe beansprucht, und er war weder für Oesterreich noch auch für Italien zu weiteren Diensten zu haben gewesen. Hingegen die Bündnisse, die Bismarck für das neue Reich abschloß, waren bestimmt, den Krieg zu vermeiden; die Furcht, daß der Friede gebrochen werden, daß sich eine übermächtige Coalition gegen Deutschland bilden könnte, hat sie dictirt. Der Grund des Umschwungs lag, wie schon [750] bemerkt, in den Siegen selbst, in der Abwandlung der europäischen Constellation, die sie herbeiführten. Unter dem Norddeutschen Bund, in jeder Hinsicht einer Epoche des Ueberganges, war auch darin noch nicht Alles fest gewesen; Napoleon wenigstens mochte nicht völlig von den Hoffnungen lassen, die er einst auf Preußen gesetzt hatte, so lange die süddeutschen Staaten noch unabhängig waren und auf der Engelsburg Frankreichs Tricolore wehte. Daß aber Bismarck’s Besorgnisse schon in jenen Jahren nicht grundlos waren, dafür haben wir heute den actenmäßigen Beweis in der Enthüllung der Umtriebe, die damals zwischen den Höfen von Paris, Wien und Florenz gesponnen wurden.

Solchen Gefahren gegenüber blieb Rußland Preußens und seiner Verbündeten bester Rückhalt. Es gab zwischen ihnen keine eingeborenen Gegensätze; die kleinen deutschen Höfe standen dem Zaren fast noch näher als der Berliner. Es gab nichts, was den Ehrgeiz der einen oder der anderen Partei jenseits der gemeinsamen Grenzen reizen konnte: in Petersburg dachte man so wenig mehr an Königsberg wie in Berlin an Warschau; die baltischen Provinzen, blühend durch deutsche Cultur, waren doch für den deutschen Staat entbehrlich, während ihr Besitz ein Lebensinteresse Rußlands war; und auf der Balkanhalbinsel blieb Deutschland immer die am wenigsten interessirte Macht. Freilich lag in der geringen Reibungsfläche beider Reiche selbst ein gewisses Hinderniß für ihre Annäherung aneinander: wenn Deutschland nichts zu fordern hatte, so hatte es auch nicht viel zu bieten, zumal wenn sein Interesse auf den Frieden gerichtet war; und mit platonischer Freundschaft war Rußland in der That wenig gedient, als es sich nun aus der Ruhe, die ihm der Pariser Friede aufgedrängt hatte, erhob und sich den nie vergessenen Zielen seiner Orientpolitik von neuem zuwandte. Also waren es doch nicht allein die Intriguen des in seiner Eitelkeit verletzten Fürsten Gortschakow, wodurch der deutschen Politik Steine in den Weg geworfen wurden, sondern dahinter lagen tiefere Strömungen des russischen Volksgeistes, dieselben, die Rußland schon unter Paul I. und seinem Sohne, und neuerdings in der polnischen Revolution an Frankreich herangebracht hatten. Wenn aber B. in Frankfurt die Idee hatte fassen können, daß Preußen sich einem solchen Bunde zugesellen müsse, so war daran seit 1870, und zumal seit der Besitzergreifung von Elsaß-Lothringen nicht mehr zu denken: Frankreich war fortan nur auf Seiten der Feinde Deutschlands zu suchen. Wie aber, wenn nun die andere Macht, die Preußen erlegen war, wenn Oesterreich als Dritter in das Geschäft eintreten würde? Freilich war die Aussicht, sich mit der Vormacht der Slaven zu alliiren, für das Haus Habsburg nicht eben verlockend. Aber andererseits gab ihm ein solcher Dreibund Hoffnung, seine deutsche Stellung wieder zu gewinnen; und die Balkaninteressen ließen sich am Ende ausgleichen, die panslavistischen Tendenzen in St. Petersburg vielleicht noch besser durch Freundschaft als durch Widerstand dagegen paralysiren. Zwischen Frankreich und Oesterreich aber war der Conflict, der sie Jahrhunderte getrennt hatte, aus der Welt, seitdem die Italiener in San Marco und im Quirinal waren; die clericale Tendenz, die in Paris, nachdem auch die Republik Frankreich nicht hatte retten können, bald wieder sehr stark hervortrat, konnte wol eher beide Mächte auch südlich der Alpen zusammenführen; wenigstens die Neutralisirung Italiens, das seine Frontstellung gegen Trient und Triest noch immer nicht aufgegeben hatte, war zu erwarten, während die Hoffnung auf Revanche für die Besiegten der beste Kitt eines gegen Deutschland gerichteten Bündnisses zu werden versprach. Es wäre die Coalition geworden, durch die einst der große Minister Maria Theresia’s den Eroberer Schlesiens zu einem Kampf auf Leben und Tod gezwungen [751] hatte. König Friedrich hatte sich dagegen auf England stützen müssen. Sein Nachfolger aber durfte auf die britische Hülfe nicht mehr rechnen. Wichen die deutschen und englischen Interessen auch nicht geradezu auseinander, so liefen sie doch nichts weniger als parallel; die Zeiten der continentalen Politik Englands waren überhaupt vorüber; und nur, wenn Deutschland auf jede Unabhängigkeit hätte verzichten und sich den weiten Zielen des Inselreichs blindlings hätte unterwerfen wollen, wäre es vielleicht als Bundesgenosse an der Themse angenommen worden. Um der großen Gefahr zu entgehen, blieb nichts anderes übrig, als Rußland und Frankreich auseinander zu halten und die Freundschaft des Besiegten von 1866 selbst wieder aufzusuchen. Die Rückkehr zu dem Dreibunde der Ostmächte, dessen Auflösung die Voraussetzung für Bismarck’s Politik bis 1866 gewesen, ward das Ziel, dem er nach dem Siege mit allen Kräften zustrebte.

Wann der große Minister diesen außerordentlichen Geßanken zuerst gefaßt hat, läßt sich nicht sagen. Wahrscheinlich doch lange bevor er die ersten Schritte that, um ihn zu verwirklichen; da derselbe nur wieder die Consequenz seines Systems war und sich in dessen Grundlinien völlig einfügt. Die Schonung Oesterreichs in Nikolsburg, die strenge Enthaltsamkeit gegenüber dem Nationalitätenstreit Oesterreichs, die sich B. sofort zur Pflicht machte, und seine grundsätzliche Neutralität in allen Balkanfragen lagen bereits ganz in dieser Richtung. In den Memoiren, die für diese Verhältnisse eine Quelle ersten Ranges sind, berichtet B., daß er schon von Meaux aus, d. h. vierzehn Tage nach Sedan, in Wien und Petersburg über einen Bund der drei Kaiser, mit dem Hintergedanken des Beitritts Italiens, sondirt habe; und diese Angabe wird uns von anderer Seite bestätigt. Es war in den Tagen, als Thiers an den europäischen Höfen umherreiste, um sie zur Intervention zu vermögen. Der Schritt Bismarck’s war offenbar mit dazu bestimmt, seine Bemühungen zu durchkreuzen. Tag und Nacht, schreibt er, habe ihn diese Gefahr beunruhigt. Sie beherrschte ihn auch bei den Verhandlungen mit den Südstaaten und war ein Motiv mehr für den raschen und schonenden Abschluß derselben; und sie erklärt zum guten Theil die nervöse Unruhe, in die B. über die Verschleppung der Belagerung der französischen Hauptstadt gerieth, und die ihn zu dem Conflict mit den „Halbgöttern“ im Generalstab in der Frage der Beschießung führte.

Mochten sich nun auch die Neutralen scheuen, das heiße Eisen der Intervention zu berühren, so hielten sie sich doch, so lange der Krieg währte, von dem Sieger fern. Beust richtete sogar noch im October seine Anstrengungen auf einen Congreß, und Gortschakow dankte es B. kaum, als dieser ihn einlud, Rußland von der demüthigenden Stipulation des Pariser Friedens, die ihm die Herrschaft über das Schwarze Meer genommen hatte, zu befreien. Als aber der Friede erfochten und das Reich gegründet war, hatte B. besseren Erfolg. In Wien kam Beust zu Fall; und obschon der Vielgewandte für seine Person wol den Weg nach Berlin gefunden haben würde, so war doch immerhin mit ihm ein störendes Element ausgeschaltet. Daß dadurch die feudal-clericale Partei in Cisleithanien gestärkt wurde und erst die Tschechen, dann die Polen hoch kamen, schadete nicht viel, zumal da ihnen die Deutsch-Liberalen doch noch die Wage hielten und die Ungarn durch Graf Andrássy die Führung der Reichspolitik in die Hand bekamen. Die conservative Tendenz, die B. dem Bunde gab, konnte in Wien eher willkommen sein. Denn sie verhinderte, daß die Elemente der Zersetzung mit den verwandten Kräften jenseits der Grenzen in Verbindung traten, schränkte sie auf den Boden der Monarchie ein und gab der Regierung eine festere Stellung und freiere [752] Hand gegenüber den Parteien; und sie gewährte ihr nach Außen eine Sicherung, wie B. sie ihr in den früheren Jahren niemals, weder in Schönbrunn noch in Gastein, bewilligt hatte, ebensowol Italien als ihren Bundesfreunden selbst gegenüber. Freilich war es für Oesterreich eine Politik der Resignation. Aber das war nun einmal das Schicksal des Besiegten, und überdies, wenigstens für alle östlichen Fragen, dieselbe Politik, die der Donaustaat unter Fürst Metternich als die ihm gemäßeste Jahrzehnte lang verfolgt hatte.

Auch in Petersburg hatte man ein Interesse an der Erneuerung der alten Allianz. Oesterreichs natürliche Polenfreundschaft war dadurch gebunden, eine Wiederkehr der Verhältnisse von 1863 ausgeschlossen; die conservativen Tendenzen der zarischen Politik schienen nicht besser gewahrt werden zu können. B. legte auf die Gemeinsamkeit der monarchischen Interessen um so größeres Gewicht, als es so ziemlich das Einzige war, was er den alten Freunden an der Newa bieten konnte. Aber wie ähnlich immer das neue Dreikaiserverhältniß, das im Sommer 1871 hergestellt war und in den Entrevuen der drei Monarchen in diesem und den folgenden Jahren sich glänzend repräsentirte, der heiligen Allianz sein mochte, gleichartig war es ihr nicht. Unter Zar Nicolaus war die Gefahr der allgemeinen Revolution doch sehr viel größer gewesen als jetzt. Und damals hatte sie Preußen und Oesterreich an Rußland herangetrieben; sein Thron war der Fels gewesen, zu dem die Hülfsbedürftigen geflüchtet waren, der Zar selbst der Protector, sein Reich bis an den Rhein und die Donau die vorwaltende Macht. Davon war aber im neuen Bunde keine Rede; das Schwergewicht lag jetzt viel eher in Berlin als in Petersburg. Und vor allem, es fragte sich, ob das Band der Monarchen-Freundschaft wirklich stark genug sein würde, um die entgegenstrebenden Kräfte in Rußland selbst in Schranken zu halten. Mit den Polen konnte man dort schließlich auch allein fertig werden; ja in dem Panslavismus lag eine Waffe, mit der man, wenn man nur wagte sie zu ergreifen, sich selbst weite Bahn machen konnte, und deren man nun beraubt war. Mehr aber noch waren es die eigentlich moskowitischen Instincte, welche sich durch die conservative Politik des Petersburger Hofes eingeengt und verletzt fühlten, der altrussische Ehrgeiz, der noch immer in der Richtung lief, in die Peter der Große hingewiesen hatte, und davon träumte, das griechische Kreuz wieder auf die Hagia Sophia zu pflanzen. In Deutschland war der Friede ein nationales Interesse, das Kaiser und Reich zusammenband; und auch für Oesterreich war die Sorgenlosigkeit, die der Dreibund gewährte, noch immer der wünschenswertheste Zustand: in Rußland aber drohte gerade der Friede Zar und Volk auseinander zu bringen, und die nationalen Leidenschaften, da er sie nicht erfüllen konnte, gegen den Thron selbst zu kehren.

Hier lag der wunde Punkt in dem Dreikaiserverhältniß. Das Unbehagen weiter russischer Kreise kam zum ersten Mal im Mai 1875 zum Ausdruck, als die clericalisirende Regierung in Paris den Frankfurter Frieden in Gefahr gebracht hatte, und Gortschakow, der mit dem Zaren nach Berlin gekommen war, von dort jenes Rundschreiben erließ, in dem er sich als den Retter des von Berlin her angeblich bedrohten Frankreichs hinstellte. Die Franzosen mochten daraus sehen, daß sie noch Freunde in der Welt hatten; kamen dann erst die Legitimisten in Paris ans Ruder, so konnte man dort hoffen, auch wieder bündnißfähig für das legitime Rußland zu werden. Indessen entwickelten sich die Dinge zunächst in anderer Richtung. Im Juli 1875 brach der Aufstand in der Herzegowina aus; im Frühling darauf hatte das Feuer Serbien und Bulgarien ergriffen; und nach abermals einem Jahre führte der Zar selbst seine Armeen über die Donau. Je tiefer aber Aufruhr [753] und Krieg in den Balkanländern um sich griffen, desto größer wurde die Spannung zwischen den beiden Freunden Deutschlands, desto unsicherer die Grundlage, auf der B. seine Friedenspolitik aufgebaut hatte. Dennoch hat er, so weit wir sehen können, kaum etwas gethan, um den Kampf zu verhindern, und, als er entbrannt war, daran fest gehalten, daß Deutschland zu irgendwelcher Demüthigung Rußlands nicht die Hand bieten dürfe. Es kam ihm sogar mehr darauf an, Rußland gefällig zu sein, als Oesterreich, gerade um das Petersburger Cabinet von Transactionen mit dem Wiener Hof, die dann eine Brücke nach Frankreich hätten bilden können, zurückzuhalten. Sein oberster Grundsatz blieb, Deutschland aus dem Spiel zu halten und es zunächst den internationalen Gegensätzen zu überlassen, sich aus sich selbst zu entwickeln. Zu einer Politik jedoch, die ihm die Freundschaft Oesterreichs gekostet hätte, wollte er sich nicht verstehen. An diesem Punkte lag die Grenze auch für sein Wohlverhalten gegen Rußland. Schon im Herbst 1876 ließ er dem Zaren darüber keinen Zweifel, in der Antwort auf die von Livadia her wiederholt gestellte Frage, ob Deutschland neutral bleiben werde, falls Rußland mit Oesterreich in Krieg geriethe. Die Instruction, mit der B. im October von Varzin aus den Botschafter General Schweinitz an das russische Hoflager zurücksandte, betonte noch einmal das Bedürfniß, daß Deutschland daran habe, die Freundschaft zwischen den Monarchien zu erhalten, welche der Revolution gegenüber mehr zu verlieren, als im Kampfe untereinander zu gewinnen hätten; wenn dies zwischen Rußland und Oesterreich nicht möglich sei, so könnte Deutschland zwar ertragen, daß seine Freunde gegen einander Schlachten verlören oder gewönnen, aber nicht, daß einer von beiden so schwer verwundet und geschädigt werde, daß seine Stellung als unabhängige und in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde. Dem Wortlaut nach war hier das Gewicht der deutschen Freundschaft auf beiden Seiten ganz gleich vertheilt; man konnte nicht unparteilicher sprechen. Da aber die Russen schwerlich fürchteten, daß Oesterreich dem Stoß ihres kriegsbereiten Heeres widerstehen würde, so eröffnete B.’s Antwort ihnen die Aussicht, daß sie Deutschland eventuell an Oesterreichs Seite finden würden; der Weg nach Konstantinopel über Wien war ihnen verstellt. Wie B. es in den Erinnerungen beschreibt: diese Erklärung hatte zur Folge, daß das Gewitter sich nach dem Balkan hin verzog, und daß Rußland die schon im Sommer in Reichstadt mit Oesterreich begonnene Verhandlung über die Occupation von Bosnien und Herzegowina zum Abschluß brachte, die ihm in dem Kriege an der unteren Donau den Rücken sicherte. Der plötzliche Zusammenbruch der Türkei nach dem endlichen Fall von Plewna, der Vormarsch der Russen über den Balkan mitten im Winter, die Bedrohung Konstantinopels brachten den Conflict, der sich bis dahin innerhalb der Sphäre des Dreibundes gehalten hatte, zur vollen Entfaltung. England trat aus seiner lange gehüteten Reserve hervor und schickte seine Schiffe durch die Dardanellen. Das in St. Stephano erschütterte Gleichgewicht stellte der Berliner Congreß wieder her. Seine Beschlüsse rechtfertigten aufs glänzendste die Weisheit der Friedenspolitik des deutschen Reichskanzlers, dem das vereinigte Europa den Vorsitz übertragen hatte. Aber wie vorsichtig B. auf der schmalen Linie, die Krieg und Frieden Europas von einander schied, sich bewegen mochte, durchaus als der „ehrliche Makler“ und sogar bemüht, die Forderungen der Russen nach Möglichkeit zu unterstützen, genug thun konnte er diesen doch nicht. Sie verlangten von dem Freunde mehr als bloße Gerechtigkeit; sie wollten einen Alliirten, der Europa in Schach hielte, während der Orient ihnen zur Beute fiele. Der Sturz Schuwalow’s, der sich um den Congreß besonders verdient gemacht hatte, die erneuten Rüstungen Rußlands, die sich [754] jetzt gegen die Westgrenze richteten, und die Angriffe der russischen Presse auf die deutsche Politik zeigten B., wohin man in Petersburg steuerte. Als der Zar im August 1879 direct bei Kaiser Wilhelm über die Parteilichkeit der deutschen Commissare bei den Verhandlungen über die Ausführung des Berliner Friedens in den Balkanländern Klage führte, in einem Briefe, der an zwei Stellen eine kaum verhüllte Drohung gegen Deutschland enthielt, glaubte B. nicht mehr länger seine Politik in der Schwebe halten zu können. Vor die Wahl gestellt, zwischen Petersburg und Wien zu optiren, trat er auf die Seite der materiell so viel schwächeren Macht, die aber den Frieden wollte, hinüber.

Die Bedenken gegen einen Bund, bei dem, wenn er zum Kriege führte, die Vortheile weit mehr auf Oesterreichs als auf Deutschlands Seite liegen mußten, waren B. unverborgen. Aber Krieg zu führen war ja auch nicht seine Absicht: auf die stricteste Defensive war Alles gestellt. Und um den neuen Bundesgenossen von Seitensprüngen abzuhalten, war Deutschland mächtig genug: die Führung, die Unabhängigkeit seiner Politik, welche eine Allianz mit Rußland in Gefahr gebracht hätte, blieb ihm in dem neuen Bunde gewahrt. In Rußland warf man B. vor, er lasse sich durch persönliche Empfindungen, durch seinen Aerger über Gortschakow gegen die alten Freunde einnehmen; der Zar selbst ließ in seinen Brief an den Kaiser eine derartige Andeutung einfließen. Und gewiß war der Zorn Bismarck’s über den intriganten Collegen echt und unverhüllt; seine Erinnerungen geben davon beredtes Zeugniß. Aber wie persönlich auch die Farbe seiner Entschließungen zu allen Zeiten war, und wie sehr die durch quälende Krankheit gesteigerte Leidenschaftlichkeit seines Temperaments mit der Größe seines Ruhmes und seiner Stellung gewachsen sein mochte, wäre es doch kindisch, zu denken, daß der große Staatsmann sich dadurch zu einem Wechsel der strategischen Stellung hätte hinreißen lassen, wie er ihn noch niemals vollzogen hatte. Nur die zwingendsten Gründe, die kälteste Ueberlegung, die absolute Ueberzeugung von der Nothwendigkeit haben ihn dazu vermocht, den Eckstein seiner bisherigen Politik umzustoßen. Jene Insinuation war darauf berechnet, Kaiser Wilhelm bei dem Zaren festzuhalten, ihn von seinem Kanzler abzuführen. Und sehr verständlich ist es, daß der greise Herrscher, dem die Treue das Höchste war, es aufs Schwerste empfand, der Politik zuliebe ein Freundschaftsverhältniß auf geben zu müssen, das er als ein Vermächtniß seiner Eltern betrachtete und von seiner Kindheit her, durch soviel Wechselfälle des Lebens und der Politik allezeit aufrecht erhalten und gepflegt hatte. So kam es zwischen ihm und seinem Minister noch einmal zu einem Kampfe, der, wie er der letzte große Conflict zwischen Beiden war, so auch für Wilhelm vielleicht der schwerste von allen gewesen ist, auch deshalb, weil er ihn fast allein durchfechten mußte. Denn diesmal standen der Kronprinz und die öffentliche Meinung ganz auf Seiten des Reichskanzlers. Alle deutschen Parteien fanden in dem neuen Bunde ein Stück ihrer Wünsche, ihrer alten Ideale erfüllt. Im Westen und Süden waren die Sympathien noch lebhafter als in den altpreußischen Kreisen. Als B. nach den einleitenden Verhandlungen, die er mit Andrássy in Gastein geführt hatte, im September über Linz nach Wien kam, um das Bündniß zum Abschluß zu bringen, wurde er von der Bevölkerung mit einer nicht endenwollenden Begeisterung empfangen; man feierte das Ereigniß wie eine Wiedervereinigung mit Deutschland; Kaiser Franz Joseph selbst huldigte durch einen persönlichen Besuch dem Staatsmann, der ihm die deutsche Hegemonie entrissen hatte. Nur Kaiser Wilhelm wollte sich nicht unterwerfen. Er hatte anfangs gemeint, in persönlicher Verhandlung mit dem [755] kaiserlichen Neffen, den er dazu in Alexandrowo am 3. September aufsuchte, die Sache ins Geleise bringen zu können. Dennoch willigte er in den Abschluß des Bundes. Aber als er sich nun entschließen sollte, seine Unterschrift zu geben, überkamen ihn wieder die Scrupeln und Sorgen. B. sah sich noch einmal gezwungen, die Cabinetsfrage zu stellen; nur die Abneigung gegen einen Personenwechsel im Ministerium, erzählt er, habe den Kaiser zur Ratification bewogen.

Aus der Fülle der Acten, die über die Verhandlungen entstanden, denn sie wurden, da Kaiser und Kanzler in diesen Wochen getrennt waren, meist schriftlich geführt, besitzen wir bisher nur wenige Bruchstücke, aber Bismarck’s Erinnerungen spiegeln ihren Inhalt deutlich wieder. Unter den Motiven, die er seinem kaiserlichen Herrn vortrug, wird nicht das geringste gewesen sein der Hinweis auf die Gefahr, durch längeres Zuwarten nicht bloß den einen, sondern auch den andern Freund zu verlieren. Er wußte bereits, daß Rußland bei Frankreich und Italien angefragt habe, ob es im Kriegsfall bei ihnen Beistand finden werde. Diese Bemühungen hatten allerdings nicht zum Ziel geführt: Frankreich hatte, wie die deutsche Diplomatie ermittelte, erklärt, daß es zur Zeit keinen Krieg wolle und im Bunde mit Rußland allein sich nicht stark genug für einen Angriffskrieg auf Deutschland halte: und mit Italien allein war nichts zu machen. Wenn aber Oesterreich hinzutrat, so hätte Frankreich (seine Antwort wies schon darauf hin) seine Zurückhaltung wol aufgegeben, und dann wäre die Coalition, gegen welche B. den Dreikaiserbund gestiftet hatte, fertig gewesen. Daß Rußland in Wien dahin arbeite und daß es vielleicht schon Gehör gefunden habe, darauf schien B. unter anderm der Umstand hinzudeuten, daß jener drohende Brief des Zaren fast bis auf den Tag mit der Verabschiedung Andrássy’s zusammenfiel. Dieser Argwohn vor allem trieb ihn an, Oesterreich die Hand anzubieten; als er erfuhr, daß seine Besorgniß unbegründet sei, und daß man in Wien gegenüber der Unruhe der russischen Politik dasselbe Unbehagen empfände wie in Berlin, schloß er ab; er wollte es nicht wagen, Oesterreich abermals dem Druck der russischen Drohungen auszusetzen, dem es schon vor dem türkischen Kriege nachgegeben, und dem es, wenn er weiter zögerte, kaum noch hätte ausweichen können. Zumal da das neue Deutschland auch die andere Chance, die sich für Oesterreich vielleicht noch geboten hätte, dessen Anschluß an Frankreich und England nicht ertragen konnte. Denn eine solche Coalition würde sich, im Gegensatz zur Epoche Napoleon’s III., in erster Linie gegen Deutschland gewandt haben: die Politik der Neutralität, in der B. zur Zeit des Krimkrieges das Heil Preußens gesehen hatte, war bei der neuen Weltlage unmöglich geworden; um nicht völlig isolirt zu werden, hätte Deutschland sich dann in der That an Rußland anlehnen und sich an die gefährlichen Bahnen der russischen inneren und äußeren Politik fesseln lassen müssen; es würde die Entscheidung seiner Geschicke nicht mehr in der eigenen Hand gehabt haben.

Bei alledem dachte B. nicht daran, die Brücke nach Petersburg abzubrechen. Er war entschlossen, das Verhältniß mit Rußland auch ferner sorgfältig zu pflegen und ihm auf der Balkanhalbinsel soviel Raum zu gewähren, als es nur irgendwie mit der Schonung des europäischen Friedens vereinbar war. Sein Ziel blieb, Oesterreich, wenn möglich, aus allen Balkanfragen fern zu halten: er wollte ihm Schutz gewähren, aber nicht seinem Ehrgeiz dienen.

Soweit ging er ganz mit seinem kaiserlichen Herrn zusammen, und widersetzte sich daher, wie es scheint, nicht so sehr dessen Wunsch, dem Verwandten und Freunde über die Verhandlungen mit Oesterreich, in denen Wilhelm, [756] zumal nach Alexandrowo, fast eine Illoyalität gegen den Zaren sehen wollte, Rechenschaft zu geben. Es geschah in einem Brief vom 4. November, der bei aller Wärme des Tones von den Verhandlungen selbst freilich ein sehr unvollkommenes Bild gab, und der von Seiten des Zaren entsprechend beantwortet wurde. Aber die persönlichen Stimmungen der Herrscher, wie gut sie gemeint sein mochten, hielten vor der Brutalität der Thatsachen nicht mehr stand. Die Trennung wurde von Tag zu Tage schärfer; wetteifernd drangen Panslavisten und nihilistische Revolutionäre gegen den wankenden russischen Thron vor; über den Leichnam des gräßlich hingemordeten Kaisers hinweg schritt das Moskowiterthum zu immer stärkeren Drohungen gegen die deutschen Verbündeten, und streckte immer dreister und bereiter die Hand zu den Republikanern an der Seine hinüber.

So schuf die neue Constellation dem Reiche eine Belastungsprobe schwerster Art. Ein wenig vermindert wurde dieselbe, als Italien dem neuen Bunde beitrat; die beiden Mächte, die im Juli 1870 drauf und dran gewesen waren, Deutschland in den Rücken zu fallen, deckten ihm fortan die Flanken. Dadurch wurde auch England, auf das B. von Anfang an gerechnet hatte, und das sich in Malta durch die Aufstellung der Franzosen in Biserta genirt sah, näher heran gebracht; indem es, die continentale Spannung rasch und kraftvoll benutzend, seine Hand auf Aegypten legte, mußte es froh sein, wenn das vereinigte Mitteleuropa ihm die beiden Mächte vom Leibe hielt, mit denen es auf den weiten Feldern seiner colonialen Interessen am stärksten rivalisirte. Aber in Frankreich wurde dadurch wieder die Hoffnung genährt, in einem Kriege der Rache die Großmacht des Ostens zur Seite zu haben; die Russen selbst schürten unaufhörlich das noch glühende Feuer am Balkan; wenigstens die bulgarische Beute wollten sie nicht fahren lassen und auf ihr Schwert gelehnt zusehen, wie die Gegner sich in den Ländern des Halbmondes häuslich einrichteten und am goldenen Horn allen Einfluß an sich rissen; und der Regierungswechsel in England, der Gladstone ans Ruder brachte, war auch nicht eben dazu angethan, den Continent zu beruhigen. Es gehörte die volle Meisterschaft Bismarck’s dazu, um den Felssturz, den ein falscher Schritt hätte herbeiführen können, abzuwehren. Daß er es vermochte, ist das letzte unsterbliche Verdienst, das er sich um den Frieden des Reiches, ja der Welt erworben hat. Schwer genug wurde es ihm gemacht, von der öffentlichen Meinung in Deutschland, die, soweit sie liberal war, überwiegend bei dem ritterlichen Bulgarenfürsten stand, der dem unerträglichen Druck seines russischen Zwingherrn durch die Zerreißung des Berliner Vertrages zu entgehen suchte und dadurch erst recht die Katastrophe über sich herbeizog, von Seiten Oesterreichs, dessen magyarische Leitung Rußland aufs äußerste reizte, und von Seiten des Zaren und der revolutionären Strömungen, die in dem Slavenreiche mächtig geworden waren. Immer wieder verkündigte B. in seinen Reden, in der Presse und in diplomatischen Noten, daß Deutschland kein Interesse habe an Bulgariens Wohl und Wehe, daß Rußland ruhig weiterschreiten könne, und käme es bis Konstantinopel, ohne Deutschland auf seinem Wege zu finden, daß Deutschland (wie er nach Pest gewandt sagte) sich von Niemand das Leitseil um den Hals werfen lassen werde.

Der beste Schutz blieben die eigenen Waffen; auf ihre Verstärkung richtete daher der große Minister vor allem seine Anstrengungen. Im Winter 1887 brachte er die dritte Septennatsvorlage an den Reichstag. Die Majorität, von Windthorst und Richter geführt, erklärte, alles bewilligen zu wollen, was die Regierung verlange; aber um die Dauer des Gesetzes, die das Heer ihrem Einfluß aufs neue entziehen sollte, wagte sie noch einmal den Kampf. Da [757] löste B. das Haus auf. Die Wahlparole von der nationalen Gefahr verschaffte ihm einen parlamentarischen Sieg, wie er ihn noch niemals erfochten hatte; eine Majorität, wie er sie sich immer gewünscht hatte, gemischt aus allen fügsamen Elementen der Parteien, stellte die stark vermehrte Armee auf neue sieben Jahre in die Hände der Regierung; sie bewilligte die für den Umbau der Festungen, den Bau der strategischen Bahnen geforderten Millionen; und sie suchte durch das Decret über die verlängerte Wahlperiode der Regierung und sich selbst die Zukunft zu sichern.

Wie im Innern, so erreichte es B. auch im Auslande, in den Lagern der Feinde Deutschlands selbst, die gemäßigten Elemente zu sammeln, die Gegner seiner Politik zu verdrängen. Unverhüllte Drohungen und rechtzeitige Nachgiebigkeit, die sich doch nichts vergab, miteinander verbindend, zähmte er die französische Kriegspartei und stürzte ihren ehrgeizigen Führer, der sich durch die Entflammung des Durstes nach Rache an die Spitze seiner heißblütigen Nation gebracht hatte; den Stimmen der Mäßigung verschaffte er jenseits der Vogesen wieder Gehör. Er führte einen starken Schlag gegen Rußlands Finanzen, als er den Kurs seiner Anleihen fast um die Hälfte herabdrückte; er enthüllte durch die Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Bündnisses vor aller Welt die Umrisse des mächtigen Bollwerkes, das er im Herbst 1879 zum Schutze des Friedens errichtet hatte – und entwaffnete dennoch das Mißtrauen des Zaren, als er vor seinen Augen mit rascher Hand das Gewebe der Intriguen zerriß, das orleanistische Hände gewoben hatten. In allen diesen Actionen entfaltete er die glänzendsten Eigenschaften seiner unvergleichlichen Staatskunst: sicherste Berechnung und rasche Benutzung des Moments, stahlharte Energie und unerschütterliche Kaltblütigkeit, tiefes Verständniß für die Regungen der Volksseele, der deutschen wie auch der fremden, eine Vorsicht, die sich durch keine List des Feindes und nicht durch Vorspiegelungen der eigenen Leidenschaft täuschen ließ, und jene Kühnheit, die die Gefahr selbst aufsucht und die Gegner spaltet, indem sie sie zwingt, eine Probe ihres Muths zu geben: sie zeigen ihn auf der vollen Höhe seiner heroischen Politik.

Unter dieser Constellation haben wir Deutschen begonnen, Colonialpolitik zu treiben.

Auch in ihr kamen zunächst mehr die nationalen Stimmungen als das Gewicht realer Interessen zu Worte; der Eifer eines welterfahrenen Missionars und der frische Wagemuth junger Akademiker haben mehr dazu gethan als der Unternehmungsgeist unserer Kaufleute; nur ein paar kleinere Firmen waren anfangs dabei interessirt.

B. selbst war von Haus aus nicht allzu eifrig, Unternehmungen zu fördern, die soweit über den Rahmen der europäischen Politik hinausreichten. Daß die nationale Wirthschaft noch für lange vorwiegend andere Bahnen aufsuchen, daß ihr der Gewinn von ein paar culturlosen tropischen Gebieten vorläufig wenig nützen würde, daß der deutsche Kaufmann und Fabrikant sich vor allem den Markt in den englischen Colonien und in den der Cultur längst erschlossenen Regionen über See sichern müsse, blieb ihm unverborgen. Indessen zögerte er doch nicht, die tapferen Männer zu unterstützen. Er sah, daß sie ein reales Interesse vertraten und den Willen hatten, etwas zu wagen; das nationale Kraftgefühl, das ihre Pläne athmeten, machte auf ihn Eindruck. Der Widerspruch aber, den seine parlamentarischen Gegner gegen die colonialen Abenteuer erhoben, ihre Warnungen vor einer Politik, die keine Sicherung gegen englische „Nasenstüber“ böte, trieben ihn eher vorwärts; die wachsende Theilnahme der Nation für jene Bestrebungen wurde für ihn ein neues Machtmoment im Kampf gegen die Opposition. Vor englischen Flottendemonstrationen hatte er sich niemals [758] gefürchtet; er wäre ja auch sonst nicht weit auf seiner Bahn gekommen. Es gab noch andere Mittel, um Englands Uebelwollen zu besiegen, als Schlachtschiffe, und B. wußte vom dänischen Kriege her, daß der Deutsche nicht gleich bei jedem Stirnrunzeln des englischen Vetters an die Gefahren eines Krieges zur See zu denken brauche. Unter der Aegide des Dreikaiserbundes hätte auch er vielleicht Bedenken getragen, unsere Colonieen überall dort anzulegen, wo sie direct in die englische Interessensphäre einschnitten. Aber eine Macht, die soeben Aegypten unter sich gebracht und dort wie in Hinterindien, am Senegal und am Congo, im Mittelmeer und im indischen Ocean mit Frankreich zusammenstieß, während zugleich in Asien ihre eigene und die russische Interessenspäre in rastloser Ausdehnung und wie mit Naturgewalt einander entgegen getrieben wurden, konnte nicht wol das stärkste Mitglied in dem mitteleuropäischen Bunde so behandeln, wie den Khedive von Aegypten. B. sprach gern von den althergebrachten freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und England, und pflegte einen Unterschied zu machen zwischen der mißgelaunten Verwunderung des englischen Volkes über diese Landratte von Vetter, der plötzlich zur See fahre, und der Vorurtheilslosigkeit hoher und höchster Kreise in London. So entsprach es den Rücksichten, die er auf die Macht, die hinter dem neuen Dreibund stand, zu nehmen hatte. Aber er verhehlte garnicht, daß Deutschland, wenn die englische Regierung sich die Beurtheilung mancher ihrer Unterthanen in Betreff der deutschen Colonialpolitik vollständig aneignen sollte, in andern Fragen, die England nahe interessirten, kaum im Stande sein würde, ohne Mißbilligung von Seiten der deutschen Bevölkerung die englische Politik zu unterstützen. „Wir würden“, sprach er, „vielleicht genöthigt sein, diejenigen, die ohne es zu wollen, Gegner von England sind, zu unterstützen und irgend ein ‚do ut des‘ herzustellen“. Und als trotzdem Lord Granville der deutschen Politik Schwierigkeiten zu machen fortfuhr, verstärkte B. jenen Ton soweit, daß er im Reichstag gerade heraus Aegypten als den wunden Punkt der englischen Politik bezeichnete und in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung eine scharf gewürzte Betrachtung über das „allen diplomatischen Traditionen widersprechende“ Verhalten der Londoner Regierung anstellen ließ.

Schon vorher hatte Frankreichs Politik, nicht ohne Einwirkung von Seiten Bismarck’s, eine Richtung angenommen, die es von England abzog und bereits, auch ohne es eigentlich zu wollen, mit Deutschland zusammenführte. Es ist bekannt, wie wenig B. gegen die Occupation von Tunis einzuwenden hatte, durch welche den italienischen Staatsmännern der Weg nach Friedrichsruh so sehr erleichtert wurde, und daß ihm auch die Festsetzung der Franzosen im östlichen Siam und in Tongking nur Freude machte. Noch deutlicher markirte sich die Interessengemeinschaft beider Mächte, als England im Februar 1884 den Vertrag mit Portugal schloß, der die Congogesellschaft von dem Atlantischen Ocean ausschloß, und, wie jüngst das Mündungsgebiet des Nil, so auch das des zweiten Riesenstromes Afrikas in die englische Hand zu bringen drohte. Deutschland war die erste Macht, die dem Vertrage widersprach; mit Frankreich vereinigt, lud es die betheiligten Mächte abermals nach Berlin ein; in der Congoconferenz (October 1884) wurden, wie die volle Handelsfreiheit im Strombecken des Congo, so auch die Normen festgestellt, welche fortan für die Besiedelung des dunkeln Continentes gelten sollten – einer der stärksten Dämme, die gegen die englische Ueberfluthung Afrikas errichtet worden sind.

In dies System der Gegengewichte gegen die internationale Spannung, welche seit den deutschen Siegen über dem Continente lag, gehören auch die Verhandlungen Bismarck’s mit dem Petersburger Cabinet, in denen er trotz [759] der feindseligen Haltung der russischen Politik nicht müde wurde – zumal der Rückversicherungsvertrag, der Rußland ebenso gegen Oesterreich zu schützen versprach, wie letzteres gegen einen russischen Angriff. Nur, daß B. dabei nicht so offen verfahren durfte, wie bei dem Auftreten gegen England an der Seite Frankreichs. Während Rußland Einsicht in das Wiener Bündniß erhielt, wurde der deutsch-russische Vertrag vor Oesterreich geheim gehalten; erst nach seiner Entlassung hat B. ihn bekannt gemacht, als sein Nachfolger ihn bereits längst preisgegeben hatte.

Auch B. hat sein Vertrauen niemals allein auf Verträge gesetzt; in der Gemeinsamkeit der Interessen sah er jederzeit das festeste Band für Frieden und Bündnisse. Es war überhaupt nicht seine Art, seine Berechnungen auf langfristige Perioden auszudehnen. Sein Sinn ging auf die Ergreifung des Moments; indem er die Gegenwart sicherte, hoffte er auch der Zukunft vorzubauen. Auch die Spannkraft der neuen Drähte, die er von Berlin nach Paris und Petersburg zog, überschätzte er nicht. Niemals konnten sie ihn bestimmen, die Beziehungen zu Oesterreich und Italien zu lockern; er bemühte sich vielmehr, diese noch fester zu machen: immer freilich so, daß der Zweck des Dreibundes, die Sicherung des allgemeinen Friedens, an dem Deutschland das stärkste Interesse hatte, erhalten blieb. Die Russen und Franzosen rechneten nicht anders; trotz Tongking und Skierniewice, trotz Congoconferenz und deutsch-russischer Rückversicherung rückten sie einander näher und näher. Und dennoch (oder sollen wir sagen, deshalb?) ließ die Spannung, die im Jahr 1887 den höchsten Grad erreicht hatte, von da ab allmählich nach. Die Franzosen waren eben längst „Gegner Englands, ohne es zu wollen“, und die Russen wurden es immer mehr, je näher sie den Grenzen Indiens kamen. Von Anfang an hatte dies Moment auf ihr Zusammengehen mit eingewirkt; je weiter die Ereignisse von 1870 zurückwichen, je stärker Deutschland wurde, je mehr sich die Zustände am Balkan befestigten, und je größer der Wetteifer, je drohender der Zusammenstoß zwischen beiden Mächten und dem seegewaltigen Inselreich auf den fremden Continenten wurde, um so mehr mußte dasselbe hervortreten. Und damit kam nun doch eine Abwandlung in der Constellation der großen Mächte zu Stande. Ohne daß ihre Form sich zunächst änderte, schob sich ihr Schwergewicht über die Grenzen Europas hinweg, und begannen die Gegensätze innerhalb des Erdtheils, welche bis dahin die großen Katastrophen hervorgerufen hatten, sich zu beruhigen.

Es war bis zu einem gewissen Grade eine Rückwendung zu Combinationen, welche vergangene Epochen beherrscht hatten. Die Verbindung Preußens mit Frankreich war der Welt lange Zeit ebenso natürlich erschienen, wie späterhin seine Allianz mit den Ostmächten. Als sich letztere auflöste, in den Jahren von der deutschen Revolution bis zum Krimkriege, war B., wie wir wissen, bereits auf den Gedanken gekommen, daß Preußen fortan seine Stellung zwischen Rußland und Frankreich nehmen müsse und unter Umständen selbst den Bund mit ihnen nicht scheuen dürfe. Und ähnliche Ideen hatte der französische Kaiser dem preußischen Bundestagsgesandten vorgetragen, als er ihn im Frühling 1857 bei sich empfing; die Mittelmeerpolitik, in der Napoleon, wie B. damals von ihm erfuhr, das eigentliche Feld seines Ehrgeizes erblickte, mußte es ihm nahe legen, im Norden Deutschlands eine nicht zu große, aber wohl befestigte Macht, die auch zur See einiges bedeuten könnte, zur Seite zu haben. Er betrachtete sich auch darin nicht mit Unrecht als der Erbe seines großen Oheims, der ebenfalls die Herrschaft über das Mittelmeer als die eigentliche Basis seiner Politik angesehen und immer gewünscht hatte, die norddeutsche Militärmacht neben sich, zu seiner Verfügung zu haben. Aber [760] beide Bonapartes hatten mit Factoren gerechnet, die in der Epoche der Nationalitätskämpfe nicht mehr wirksam waren. Und da auch Rußlands Intimität mit Preußen zu jeder Zeit mehr dem Particularstaate der Hohenzollern gegolten hatte, als dem Kaiserreiche deutscher Nation, so ist es er klärlich genug, daß der Baumeister des neuen Deutschlands Mühe hatte, beide Nachbarn davon zu überzeugen, daß die Nation, die Gott zwischen sie gestellt, ein Recht darauf habe, sich die ihr genehmen Lebensformen selbst zu schaffen. Nicht durch Ueberredung und durch Verträge, auch nicht durch das Band, welches persönliche Zuneigung und Verwandtschaft geschaffen hatten, sondern ganz allein durch Politik und Waffen, durch „waffenmäßige Großmachtspolitik“, wie Bismarck’sche Prägnanz es bezeichnete, war es möglich geworden. Nachdem aber diese Argumente ihres Eindrucks nicht verfehlt hatten, konnten Frankreich und Rußland ihrer Politik wieder ausschließlicher eine Richtung geben, welche, wenn sie auch nicht ganz auf den früheren Linien lief, dennoch großen und alten Traditionen beider Reiche entsprach, und konnten damit eine Stellung zu den Mächten Mitteleuropas gewinnen, welche zwar nicht die Rückkehr, aber doch immerhin eine Wiederannäherung an frühere Zeiten bedeutete. Damit war die Last von Deutschlands Schultern genommen, die es nach seinen Siegen so lange gedrückt und seine Kraft gebunden hatte. Jetzt erst war es wahrhaft frei geworden, das heißt mächtig genug, um neben den großen Nationen, unabhängig wie sie und ihnen ebenbürtig, seine weltumspannende Bahn zu ziehen.

Innere Politik im letzten Jahrzehnt.

Erinnern wir uns noch einmal der Stellung, welche B. der Institution, die er der Revolution entlehnte, der Nationalvertretung, in seiner Reichsverfassung angewiesen hatte: als das vielleicht einzige Bindemittel, welches den divergirenden Tendenzen dynastischer Sonderpolitik ein ausreichendes Gegengewicht zu geben vermöge, hatte er sie in der Denkschrift von Baden-Baden bezeichnet. Er hatte sich darin völlig getäuscht. Der Reichstag war zum Tummelplatz aller seiner Gegner geworden, und ihre schärfste Waffe das Wahlrecht, von dem er die Verstärkung der nationalen wie der regierungstreuen Elemente erhofft hatte; ihre Fractionen bildeten ebensoviele Barrieren, welche das Bett, in dem B. den Strom der nationalen Macht eingefangen hatte, nach seiner ganzen Breite und Tiefe durchsetzten. Aber immer nur als Hülfskraft hatte der Schöpfer des Reiches das unmittelbare Organ des nationalen Willens angesehen. Der Grund, auf dem er baute, blieb für ihn die Fürstenmacht, und die Gleichartigkeit und Interessengemeinschaft der Territorialstaaten, sowie die Institutionen, welche die nationale Sicherheit und Wohlfahrt verbürgten, die stärksten Pfeiler, die den Bau trugen. In den Umkreis dieser Gewalten mußte sich einfügen, wer an der Macht Theil haben wollte; wer daran rüttelte, hatte den Baumeister zum Feinde bekommen. Alle Parteien hatten dies erfahren, Conservative und Ultramontane, Polen und Radikale, und zuletzt auch die Gemäßigt-Liberalen, die mit ihm das Reich errichtet hatten. Seine eigenen Ansichten und Pläne wandelten sich demgemäß; den Kampf gegen die Ultramontanen selbst brach er ab, als derselbe ihn in Bahnen zu drängen drohte, die von jenem Ziele abwichen. Denn das Erste, was Noth that, war die Befestigung des Reiches auf den einmal gelegten Fundamenten. Das war der Compaß, der Polarstern, der einzige, nach dem [761] er steuerte, die Salus publica, die er im Sturm der Parteikämpfe anrief, mochten die Wogen von rechts oder von links her andringen. Dieser Aufgabe hatte er seine ganze politische Thätigkeit untergeordnet, seitdem er die Grundmauern seiner Schöpfung in den durch das deutsche Blut getränkten Boden der Nation eingesenkt hatte. Vor ihr verschwanden ihm alle Unterschiede der Parteiprogramme, mochten sie sich liberal nennen oder conservativ. Sie wurden ihm dann alle zu Doctrinen, – „und die Doctrin,“ sagte er, „gebe ich außerordentlich wohlfeil.“ „Schaffen wir zuerst einen festen, nach Außen gesicherten, im Innern festgefügten, durch das nationale Band verbundenen Bau, und dann fragen Sie mich nach meiner Meinung, in welcher Weise mit mehr oder weniger liberalen Verfassungseinrichtungen das Haus zu möbliren sei, und Sie werden vielleicht finden, daß ich antworte: Ja, ich habe darin keine vorgefaßte Meinung, machen Sie mir Vorschläge, und wenn der Landesherr, dem ich diene, beistimmt, so werden Sie bei mir principielle Schwierigkeiten wesentlich nicht finden. Man kann es so machen oder so, es gibt viele Wege, die nach Rom führen. Es gibt Zeiten, wo man liberal regieren muß, und Zeiten, wo man dictatorisch regieren muß; es wechselt alles, hier gibt es keine Ewigkeit. Aber von dem Bau des Deutschen Reiches, von der Einigkeit der deutschen Nation, da verlange ich, daß sie fest und sturmfrei dastehen und nicht bloß eine passagere Feldbefestigung nach einigen Seiten hin haben soll.“ Er machte kein Hehl daraus, daß er nach dem Siege über Oesterreich zum Absolutismus gegriffen haben würde, wenn er sein Ziel auf keinem anderen Wege hätte erreichen können, sowenig wie er später den Vorwurf der Freisinnigen scheute, daß er mit seinen Arbeiterwohlfahrtsgesetzen das Reich dem Socialismus ausliefere: „Nennen Sie das Socialismus oder nicht, es ist mir das ziemlich gleichgültig.“ Das seien mehr oratorische Ornamente, die keinen Hinterhalt haben; es sei ein ziemlich wohlfeiles Spiel mit dem Schatten an der Wand. Wer ihn unterstützte, war ihm willkommen; für den hatte er auch Concessionen bei der Hand – nur daß sie ihm nicht das Steuer verrücken durften; die Regierung, sagte er, laufe Niemandem nach. Die alten Freunde blieben ihm die liebsten Bundesgenossen; aber da sie sich ihm versagten, wurden es die Liberalen und danach an ihrem Theil die Clericalen unter ihrem welfischen Führer. Und so wenig er den Conflict wünschte, fürchtete er auch ihn nicht mehr, als er sah, daß die Regierungen ihm stärkere Bürgschaften für das Reich darboten als das Parlament; er war entschlossen, eher den Reichstag aufzugeben als den Bund der Fürsten und Städte. Wohl hatte er Momente, wo er den Stab niederlegen wollte, wo er sich müde fühlte, todmüde, sagte er, verlassen und isolirt, erschöpft durch Krankheit, abgemattet immer noch mehr durch die Frictionen am Hof und in den Ministerien als durch die parlamentarischen Kämpfe. Aber diese dunkeln Stunden gingen vorüber, und mit erneutem Muth drang der Held vorwärts. Und es war doch nicht bloß der Wunsch und Wille seines Kaisers, der von seinem alten Diener nicht lassen wollte, was B. zum Aushalten zwang, auch nicht nur das „neue Band der Pflicht“, an das er sich gefesselt sah, das Gelübde, das er sich gab, als er den greisen Herren von Mörderhand verwundet liegen sah: ebensosehr war es der Wille, sein Werk zu behaupten, war es der Glaube an den Sieg, und nicht zum wenigsten der Kampfeszorn des alten Streiters, der die Gegner gerade da mit verdoppelter Kraft anfiel, als er sah oder zu sehen glaubte, daß sie an der Arbeit wären, ihn vom Platz zu stoßen.

An diesem Punkte haben wir die primäre Ursache für die große Wendung in Bismarck’s innerer Politik am Ende der siebziger Jahre zu suchen, und alle die andern Motive, die wir nannten, rangiren hinter ihr in zweiter oder [762] dritter Linie. Daß das Reich ausgebaut und auf eine stärkere Basis gesetzt werden müsse, war ja freilich die gemeinsame Ueberzeugung aller Parteien, die sich zu ihm bekannten, zumal derjenigen, welche sich bei ihrem ersten Auftreten als die nationale Partei schlechthin bezeichnet hatte; und auch darüber war kein Streit, daß das erste Bedürfniß die finanzielle Selbständigkeit des Reiches wäre. Dieses Bedürfniß war, wie B. bei der großen Debatte über die Zollreform am 2. Mai 1879 hervorhob, schon bei der Gründung des Reiches anerkannt worden: die Reichsverfassung selbst setze voraus, daß der Zustand der Matricularbeiträge ein vorübergehender sein solle, bis Reichssteuern eingeführt wären. Er erinnerte an die Verhandlungen, die in dem constituirenden Reichstage darüber gepflogen waren, namentlich an die sehr eindringliche und überzeugende Rede, die Miquel damals gegen die Matricularumlagen gehalten habe; sie seien, hatte der nationale Führer erklärt, gleichbedeutend mit der finanziellen Anarchie in ganz Deutschland. Erst über die Frage der Beschaffung der Mittel und die damit zusammenhängenden organisatorischen Fragen erhob sich der Zwiespalt.

Als sein eigenes Steuerideal hatte B. seit Jahren das indirecte System bezeichnet; schon in seinem ersten Steuerprogramm, von 1869, waren die Artikel des Massenverbrauchs, Bier, Branntwein, Wein, Thee, Kaffee, Taback als die passenden Objecte genannt worden. Seine Ansicht pflegte der Kanzler damit zu begründen, daß die indirecten Steuern weniger drückend empfunden würden, als die directen, die mit einer gewissen eckigen Brutalität auf den Pflichtigen lasteten, und daß die unteren Schichten in demselben Maaße, wie die indirecten Steuern wüchsen, von den directen befreit oder erleichtert werden könnten. Die Klassensteuer, dies „barbarische“ System, das Preußen nur noch mit Rußland und der Türkei gemeinsam habe, diese Besteuerung des „Kopfes, des Lebens, des Athems“, wollte er ganz abschaffen, die Einkommensteuer nur als eine Ehren- und Anstandssteuer für die reichen Leute bestehen lassen. Man solle, sagte er, seitens der Parteien doch nicht immer bloß darauf sinnen, wie man Bürgschaften gegen eine der Verfassung nicht treue Regierung finde; auf beiden Seiten müsse man doch eine ehrliche, vernünftige, gesetzliche und verfassungstreue Gesinnung und Absicht voraussetzen, sonst komme man ja überhaupt aus den Hemmnissen, aus dem gegenseitigen Mißtrauen, aus einem gewissen gegenseitigen Verschanzungskampfe und Ringen nach Macht im Innern gar nicht heraus, komme über diesen Streitigkeiten nicht dazu, zu erwägen: wie sitzt der schwere Steuerrock dem Volke am bequemsten, oder vielmehr, wie läßt er sich am bequemsten tragen? Denn ganz bequem sitzt der Steuerrock niemals. Es ist immer besser, man hat keinen.

Aber gerade mit diesen Worten, die er im Beginn der Krisis, im März 1877 gebrauchte, wies B. auf die zu Grunde liegende, tiefere Differenz hin. Die indirecten Steuern, mochten sie sich nun als Zölle, Auflagen oder Monopole darstellen, bedeuteten in jedem Falle eine Machtvermehrung für die Regierung und eine Schwächung des Parlamentes, denn sie hemmten die parlamentarische Controle und trugen durch die Organisation, die sie nöthig machten, durch das Heer von Beamten und Angestellten aller Art, ohne die besonders die Verwaltung der Monopole garnicht denkbar war, den Einfluß der Regierung in Kreise, die ihr bisher verschlossen waren; das Erwerbsleben breiter socialer Schichten machten sie unmittelbar von ihr abhängig. Während sie aber die Macht der Centralregierung so gewaltig verstärkten, waren sie dennoch auch den Einzelstaaten willkommen. Denn schon die neuen Einnahmen aus den Zöllen, die im Laufe eines Jahres um das Vierfache stiegen, entlasteten diese nicht nur von den Matricularbeiträgen, die mit den Jahren [763] immer drückender geworden waren, sondern brachten sie sogar durch die Frankenstein’sche Clausel in die glückliche Lage, die Ueberschüsse des Reiches in die eigenen Cassen fließen zu sehen. Auch mußte es wol von den Regierungen zu Stuttgart oder München ebenso angenehm empfunden werden wie in Berlin, ihren eigenen Kammern gegenüber unabhängiger dazustehen. Vor allem aber entsprach das indirecte System dem föderativen Charakter des Reiches. Es gehörte zu den Institutionen, an denen die Bundesstaaten, ein jeder nach dem Maaße seiner Macht und als ein geschlossenes Ganzes, unmittelbar betheiligt waren, und die ihnen, indem sie sie an das Reichsinteresse fesselten, dennoch innerhalb der gemeinsamen Schranken ihre Selbständigkeit verbürgten. So kam es, daß die neuen Steuervorlagen von den Ministern der Einzelstaaten in besonderen Conferenzen vorberathen und danach von dem Bundestage meist einmüthig vor dem Reichstage vertreten wurden; derselbe schwäbische Minister, der beim Ausbruch des deutschen Krieges Preußen mit dem Schicksal Roms nach der Schlacht an der Allia bedroht hatte, wurde jetzt der Vorsitzende der Zollcommission und der intime Berather Bismarck’s. Nicht einmal der Monopolgedanke that den Einzelstaaten sonderlich weh; und wenn die süddeutschen Regierungen außer Württemberg im Bundesrath gegen das Tabacksmonopol votirten, so folgten sie dabei wesentlich dem Druck, den ihre durch die Tabacksinteressenten beherrschten Kammern auf sie ausübten. Nur das Eisenbahnmonopol, das Bismarck’s Machtwille ebenfalls für das Reich gewinnen wollte, stieß auch bei den Mittelstaaten auf Widerstand; denn dies brachte ihnen doch die centrale Gewalt allzu nahe und drohte in das Räderwerk ihrer eigenen Verwaltung störend einzugreifen. Sie kauften, um der Gefahr zu entgehen, schleunigst die Privatbahnen innerhalb ihrer eigenen Grenzen auf und zwangen B. dadurch zu dem Umwege, zunächst nur für Preußen die Verstaatlichung der Bahnen durchzuführen.

Wären die Liberalen consequent geblieben, so hätten sie die Gesammtheit der indirecten Steuern bekämpfen müssen, denn ihren ersten und obersten Zielen widersprach ein System, welches die föderative Grundlage des Reiches soviel stärker machte, durchaus. Gerade die nationalliberale Partei hatte einst ihren Ruhm darin gesucht, die nationale Einheit, die Centralgewalt, welche dem „öden Sonderthum“ ein Ende machen sollte, aufzurichten; nur als einen „ersten unentbehrlichen Schritt auf der Bahn zu dem in Freiheit und Macht befestigten deutschen Staate“ hatte ihr Programm vom Juni 1867 das im Norddeutschen Bund geschaffene Werk bezeichnet. „Der Beitritt Süddeutschlands,“ heißt es darin, „welchen die Verfassung offen hält, muß mit allen Kräften und dringlich befördert werden, aber unter keinen Umständen darf er die einheitliche Centralgewalt in Frage stellen oder schwächen.“ Und nun wurden ihnen Pläne vorgelegt, welche nicht nur ihren unitarischen Wünschen ein Ende machten, sondern auch alle „Unvollkommenheiten“, die sie mit der Zeit auf „verfassungsmäßigem Wege“ ausmerzen wollten, das mangelhafte Budgetrecht, das Fehlen verantwortlicher Reichsminister, die Gefahren bureaukratischer Bevormundung und Reglementirung zu verewigen drohten.

Aber das Unglück wollte, daß das Reich bereits bei seiner Gründung auf die indirecten Steuern angewiesen war, und nur den Einzelstaaten die directen überlassen waren. Also hätten die Liberalen, wenn sie auf einem Wege, der mit ihren Principien besser übereinstimmte, größere Einnahmen erzielen wollten, die Verfassung des Reiches ändern müssen; sie hätten die Positionen, die B. geschaffen hatte und die er nicht mehr, wie einst die preußische Krone allein, sondern an der Spitze sämmtlicher Regierungen vertheidigte, erstürmen müssen. Daran war nun freilich ebensowenig zu denken [764] als daran, die Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen. Es mußte etwas geschehen; das Reich selbst hätte sonst nicht mehr bestehen können; und also mußte, wer nicht auf den Standpunkt absoluter Negation treten mochte, sich eben fügen. So lange die Milliardenfluth währte, konnte man sich am Ende noch über den Grundschaden hinwegtäuschen; als sie, nur allzu bald, verlaufen war, klaffte der Zwiespalt um so weiter auf. Ohne Frage müssen wir uns aus diesem Zwang der Lage zum guten Theil die Unfruchtbarkeit erklären, mit der die Steuerpläne der vorwaltenden liberalen Gruppe und der ihr affiliirten Minister geschlagen waren, und den Charakter der Halbheit, den sie alle an sich trugen. Bezeichnend dafür ist der Antrag, für den Rudolf v. Bennigsen einmal eintrat, den Kaffeezoll zu bewilligen, aber denselben der jährlichen Controle des Reichstages zu unterwerfen.

Es war eine Wiederholung der Vorgänge von 1860. Wie damals Regierung und Liberale über die Nothwendigkeit der militärischen Verstärkung Preußens einig gewesen waren, so waren sie es jetzt über die der finanziellen Befestigung des Reiches. Und wie damals der Streit erst bei der Frage der Organisation begann, so auch jetzt: was in Preußen die Militärreform, das wurde im Deutschen Reich die Steuerreform, der Anstoß, der die Krisis zum Ausbruch brachte, der Brennpunkt, um den sich die feindlichen Kräfte sammelten. In beiden Fällen waren es technische Fragen, um die sich der Streit drehte. Aber das Wesen des Conflictes war darin nicht erschöpft, sein Kern lag tiefer. Unter der alten „Neuen Aera“ war es Preußens Krone gewesen, die sich in ihrer Macht bedroht, in ihrer Eigenart von dem Liberalismus angegriffen sah: unter der im Reich war es die verbündete Macht der deutschen Territorialstaaten, die sich gegen den erneuten, freilich schon matt gewordenen Andrang des Liberalismus zur Wehre setzte. In beiden Fällen stand das monarchische Princip dem parlamentarischen, und der particulare Wille dem unitarisch gerichteten gegenüber.

Aber noch viel mehr als in dem alten, ging in dem neuen Conflict der Strom gegen den Liberalismus. Denn nicht bloß das Reich, sondern auch die nationale Wirthschaft drohte der Blutarmuth zu verfallen. Wir erörtern hier nicht, ob die seit 1873 so plötzlich und gewaltsam eintretende industrielle Krisis in Deutschland durch das allzulange Verharren im Freihandel, wie B. meinte, hervorgerufen war, oder ob nicht vielmehr die Handelsconjunctur und die Ueberspannung des Creditwesens die wesentlichen Ursachen waren – genug, daß die Auffassung, welche B. geltend machte, in den industriellen Kreisen selbst weithin getheilt wurde und, wie in der öffentlichen Meinung, so unter den Reichstagsparteien überzeugte und eifervolle Anhänger fand. Indem dann aber B. diese Strömung benutzte und seiner Politik dienstbar machte, brachte er, zumal als er damit die wachsende Noth der deutschen Landwirthschaft combinirte und das Schlagwort von dem Schutz der gesammten nationalen Production unter die Massen warf, das Quecksilber der Zersetzung in die ihm widerstrebenden Richtungen und sammelte von rechts und links einen Heerbann, der ihm jubelnd auf dem Wege, den er bahnen wollte, folgte. Die conservativen wie die liberalen Parteien wurden davon in gleicher Weise ergriffen; ihre alten Namen blieben, aber ihr Wesen und ihre Programme wandelten sich unter dem Druck der von dem Kanzler geleiteten Bewegung. Die Aussicht, Schutz für ihre landwirthschaftlichen Producte zu gewinnen, zog die alten Freunde Bismarck’s fast als die Ersten aus ihrem Schmollwinkel herbei; diese Hoffnung ward für sie vielleicht der stärkste Antrieb, um die Versöhnung mit ihm und dem Reichsgedanken, die er so lange vergebens angestrebt hatte, herbeizuführen. Zugleich erweiterte sich dadurch der Kreis ihres Einflusses über die [765] preußische Sphäre hinweg; blieben die ostelbischen Provinzen auch ihre Domäne, so fanden sie doch auch im Westen und Süden neue Anhänger und rechtfertigten auch dadurch den Namen einer deutsch-conservativen Partei. Wie das particularistische Element in derselben zurücktrat, so änderte sich auch ihr socialer Charakter. Den Kern bildeten immer noch die alten Standesgenossen des Kanzlers, aber das gemeinsame agrarische Interesse führte ihnen, unter der Mitwirkung der antisemitischen Bewegung, aus den Schichten der bürgerlichen Grundbesitzer und bald selbst der Bauern und der Kleinbürger Bundesgenossen in Massen zu, Kreise, die während des Conflicts, zur Zeit, als der Freihandel den agrarischen Interessen gedient hatte, ihnen meist fern und vielfach auf Seiten der Opposition gestanden hatten. In den großen Industriebezirken des Westens waren es die kapitalkräftigsten Elemente der nationalliberalen Partei, die Fabrikanten, welche durch die Parole des Schutzzolls für die Politik Bismarck’s gewonnen wurden und einen nicht unbedeutenden Theil ihrer politischen Freunde hinter sich herzogen. Die Spaltung in der Partei, die seit ihrer Gründung niemals ganz gehoben war, trat dadurch immer schärfer hervor. Auf der andern Seite mußte, wer noch an den alten politischen Zielen des Liberalismus festhielt, immer mehr den commerciellen und capitalistischen Interessengruppen zugedrängt werden, welche sich durch die neue Wirthschaftspolitik des Kanzlers direct bedroht glaubten und den Doctrinen huldigten, die von jeher ein specifisch liberales Gepräge getragen hatten. Dadurch wurden auch sie in die Entwicklung hineingezogen, welcher die mehr nach rechts stehenden Richtungen erlagen, der Durchsetzung ihrer politischen Programme mit wirthschaftlichen Fragen; der Spiritus der politischen Ideale verflog allenthalben, und das Phlegma der materiellen Interessen blieb zurück.

Dem Kanzler konnte diese durchgehende Abwandlung nicht unwillkommen sein. Entsprach sie doch im Grunde dem Zweck und der Competenz, die er von jeher der Volksvertretung gesetzt hatte. Es waren die Sachen, quae numero et pondere dicuntur, die er schon in Frankfurt als dem deutschen Landsmann besonders werthvoll angesehen hatte, der Interessenkreis, dessen Wahrung er in der oft genannten Denkschrift von 1861 als die wesentliche Aufgabe des nationalen Parlamentes angesehen hatte. Und diese Fragen umschlossen in der That das Ziel, das er gerade jetzt seiner inneren Politik stellte: es galt nicht mehr, die Grundfragen der nationalen Politik zu lösen, sondern alle die Wohlfahrt und Kraft der Nation verbürgenden Elemente zu sammeln und zu entwickeln. „Das Volk ist es müde,“ rief er seinem Gegner auf der Linken zu, „sich mit hoher Politik und mit Fractionspolitik zu beschäftigen. Es will seine praktischen Interessen wahrgenommen sehen, die Streitigkeiten der Fractionen halten es davon ab und sind ihm langweilig, und das werden Sie finden bei dem Ausgange der Wahlen, und wenn nicht bei diesen, dann bei den folgenden“ (5. Mai 1881).

Dies ward der Schlachtruf, mit dem der Kanzler die Elemente um sich sammelte, aus denen er sich in diesen Jahren eine Majorität zu schaffen suchte, und den er soweit verschärfte, daß er fast wie ein Appell an die Besitzenden lautete. Alles, was an der staatlichen Ordnung hängt, alles, was an dem wirthschaftlichen Flor der Nation interessirt ist, ruft er herbei. Ihnen stellt er das „gelehrte Proletariat“ gegenüber, aus dem sich die „Vorarbeiter der Revolution“ rekrutiren, die „Klopffechter in den Volksversammlungen“, die „gewerbsmäßigen Volksvertreter“, die „Fractionsparticularisten“, welche über der Partei die Nation vergessen. „Es sind“, so schreibt er an König Ludwig, „die studirten und hochgebildeten Herrn, ohne Besitz, ohne Industrie, ohne Erwerb, welche entweder vom Gehalt im Staats- und Gemeindedienst oder von der Presse, [766] häufig von beiden, leben und welche im Reichstage erheblich mehr als die Hälfte stellen, während im wählenden Volke ihre Anzahl einen geringen Procentsatz nicht überschreitet. Diese Herren sind es, welche das revolutionäre Ferment liefern und die fortschrittliche und nationalliberale Fraction und die Presse leiten.“ Sie gilt es, abzusprengen, und die wirthschaftliche Reform selbst muß das Mittel werden: „Die Sprengung ihrer Fraction ist nach meinem unterthänigsten Dafürhalten eine wesentliche Aufgabe der erhaltenden Politik, und die Reform der wirtschaftlichen Interessen bildet den Boden, auf welchem die Regierungen diesem Ziele mehr und mehr näher treten können.“

Seine Hoffnungen betrogen ihn, soweit es die auf dem nationalen Boden stehenden Fractionen betraf, nicht. Der Riß in der nationalliberalen Partei wollte sich nicht wieder schließen, und ebenso mißlang der Versuch, die Secession und den Fortschritt zu einer großen liberalen Partei zu verbinden. Vereinigt wurden sie erst recht in die Enge getrieben und an die Wand gedrückt. Die Nationalliberalen fanden ihrerseits nach schweren Verlusten im Anschluß an die Regierung wieder ein Mittel, um vorwärts zu kommen; aber aus ihrem Programm war mittlerweile fast Alles verschwunden, was an ihre liberale Vergangenheit, an die weitgesteckten Ziele ihrer ersten Zeit erinnerte, und weder an Zahl noch an innerer Bedeutung konnten sie sich wieder auf ihre frühere Höhe erheben.


Nur zwei Parteien gegenüber versagte Bismarck’s Politik vollständig. Das waren diejenigen, die in den siebziger Jahren von ihm und den Liberalen als die rothe und die schwarze Internationale stigmatisirt waren, und die sich in der That als die unversöhnlichen Feinde des großen Kanzlers und seines Werkes gezeigt hatten.

Auch ihnen suchte der Meister der Staatskunst durch Spaltungsmanöver beizukommen. Und wenige Parteien boten auf dem Felde der wirthschaftlichen und socialen Interessen so viele schwache Stellen dar, als das Centrum. Aber hier sollte sich noch zeigen, was die Doctrin im politischen Leben vermag. Das ideale Interesse, das die schwarze Schaar zusammenhielt, war stark genug, um die schlesischen Magnaten und die rheinischen Fabrikanten, Agrarier und Städter, Gelehrte und Ungelehrte, Arbeiter und Bauern unter demselben Banner zu vereinigen. Daß die particularistischen Elemente der Partei in diesen Jahren, noch unter der Führung ihres welfischen Chefs, mehr zurücktraten, diente nur dazu, ihre Einheit zu befestigen; und das föderative Princip gaben sie darum nicht auf, es blieb einer der Paragraphen ihres Programms: beides Momente, die ihnen für die Verhandlungen mit dem Kanzler nützen mußten; sie hatten ihm dadurch etwas zu bieten. Die Zersetzung innerhalb der conservativen und liberalen Fractionen gereichte ihnen zu neuem Vortheil; in ihrer festen Geschlossenheit waren sie, wenigstens im Moment der Wahlen, willkommene Bundesgenossen für den, der mit ihnen sich einzulassen den Muth oder die Klugheit hatte. So blieb das Centrum die gegen das Reich aufgeführte „Breschbatterie“, wie B. es im Beginn des Kampfes genannt hatte, der „Belagerungsthurm“, wie er jetzt sagte, auf welchen auch andere Feinde der Regierung hinaufspringen konnten, „um den Mauerbrecher gegen sie einzusetzen“, und der in sich selbst so beweglich war, daß er nach Belieben hin und her gerollt und auf jeden schwachen Punkt der Bastionen des Staates gerichtet werden konnte.

Auch B. suchte wiederholt mit dem Centrum Fühlung zu gewinnen und es für seine augenblicklichen Pläne auszunutzen. Denn so gut er wußte, daß mit der clericalen Partei kein ewiger Bund zu flechten sei, gab es doch Momente [767] in seiner Politik, wo ihm mehr daran gelegen war, sie, für den Augenblick wenigstens, als Ganzes auf seiner Seite zu haben, statt die Sprengungsversuche fortzusetzen: war es auch nur, um sie von ihren Bundesgenossen loszureißen; von seiner fremden Besatzung entblößt, mochte er hoffen, den Belagerungsthurm dann in die eigenen Mauern hineinziehen oder mit ihnen verbinden zu können. Es war das Manöver, das ihm bei den Nationalliberalen so überraschend geglückt war. Aber den Ultramontanen gegenüber versagte es völlig. Ihre Situation war so günstig, ihre Disciplin so vortrefflich, die Taktik ihres Führers so gewandt, daß sie sich den Griffen ihres großen Gegners stets entwanden und bei jedem Stellungswechsel immer in gemessener Entfernung und mit voll entwickelter Front ihm gegenüber standen. B. dachte wol auch an sich selbst, als er im Mai 1880, nach der ersten großen Enttäuschung, die ihm von diesem gefährlichsten seiner Gegner bereitet war, die Fractionen im Reichstage an die Erfahrungen erinnerte, die sie mit diesem Bundessgenossen erlebt hätten. „Ich wende,“ sprach er, „meine Klage gegen keine Fraction insbesondere; jede hat geglaubt, ab und zu am Centrum eine feste Anlehnung nehmen zu können, und hat sich gewundert, aber nach kurzer Zeit gewundert, wenn die Wand, an die sie sich zu lehnen glaubte, eine Schwenkung machte. Jeder greife da in seinen eigenen Busen!“

Da er die Gegner in der Front nicht fassen konnte, hoffte er sie durch Umgehung zu fangen, durch den Einbruch in ihr innerstes Lager. Er suchte die Stelle auf, an der die Entscheidung über die katholische Kirche lag. Die Freiheit der Kirche war es, für die Jene fochten oder zu fechten vorgaben. Wenn er nun den Herrn der Kirche für sich gewann, für dessen Freiheit und Unabhängigkeit sie gerade eintraten, als dessen unbedingte Diener sie sich gerirten, konnte er da nicht hoffen, ihre Schlachtreihen zu zersprengen? Mußte nicht ein Wort, auch nur der diskretesten Abmahnung, vom Papst gesprochen, genügen, um diesem unnatürlichen Bunde des katholischen Adels und der Priester mit allen Radikalen ein Ende zu machen? Konnte man dies nicht von der Weisheit des heiligen Vaters erhoffen, der nicht aufhörte, seine Friedensliebe mit immer gleicher Freundlichkeit zu erklären? Ließ sich nicht am Ende erwarten, daß die Curie, wenn nicht anderen Erwägungen, so vielleicht dem Druck, den die durch den neuen Dreibund so stark veränderte Constellation auf sie ausübte, zugänglich sein würde? Seitdem er mit Masella verhandelt, ließ B. nicht nach, die Sonde an dieser Stelle anzusetzen. Im September 1879, in der Pause zwischen den Besprechungen mit Andrássy über das deutsch-österreichische Bündniß und seinem Abschluß in Wien, empfing er in Gastein den Wiener Nuntius, Cardinal Jacobini, mit dem dann der Botschafter Fürst Reuß die Verhandlungen den Winter hindurch fortführte; im Februar 1882 wurde die Gesandtschaft an der Curie durch Herrn v. Schlözer, der schon früher bei diesen Verhandlungen thätig gewesen war, neu besetzt; drei Jahre später übertrug B. zum Erstaunen aller Welt dem Papste das Schiedsrichteramt in dem so plötzlich entfachten Streit mit Spanien über die Carolinen; und abermals zwei Jahre darauf appellirte er an die römische Autorität sogar in der eigensten Angelegenheit der Nation: er erwirkte einen Spruch, in dem der heilige Vater seinem deutschen Gefolge klar machte, daß die Unterwerfung unter das neue Militärgesetz Pflicht frommer Söhne der Kirche sei.

Zugleich aber lieferte B., eins nach dem andern, der päpstlichen Kirche die Bollwerke aus, die er im Kampf gegen sie errichtet hatte. Zwar einige, und nicht die unwichtigsten Positionen behauptete er; und stärker als sie vor dem Ausbruch der Fehde gewesen war, blieb die Regierung. Und immer war der Meister der Diplomatie darauf bedacht, das eine Schwert durch das andere [768] in der Scheide zu halten. Aber er zögerte doch nicht lange, auch dann noch entgegenzukommen, wenn der Gegenpart zähe und zweideutig blieb. Er zeigte unverhohlen, daß er den religiösen Frieden wiederherstellen, daß er den Gewissensdruck, der auf den katholischen Unterthanen lastete, von ihnen nehmen wollte. Darum begann er mit den praktischen Concessionen: die Bischöfe durften aus dem Gefängnis, aus der Internirung zurückkehren; viele Hunderte von Pfarrern wurden in ihre Stellen wieder eingesetzt; aller Orten begann man wieder die Messen zu lesen, die Sacramente zu spenden. Die Absicht in Allem war, die katholische Fraction zu isoliren, ebenso sehr den Massen ihrer Wähler wie dem Papste und, wo möglich, auch den Bischöfen gegenüber. B. wollte den preußischen Katholiken den Beweis liefern, daß er im Einverständniß sei mit dem Papste, der höchsten Autorität ihres Bekenntnisses, und daß es nur noch der „Fractionsparticularismus“ der Parlamentsredner sei, der sich dem Frieden entgegenstemme. Auch hier gelang es ihm, die andern Parteien, selbst diejenigen, die ihm im Kulturkampf den lautesten Beifall gezollt hatten, hinter sich herzuziehen. Am sprödesten war das Centrum selbst; gegen sein Votum kam am 28. Juni 1880 das erste Friedensgesetz, das die Diöcesanverwaltung neu ordnete und die Beseitigung des Priestermangels ermöglichte, zu Stande. Als aber der preußische Episkopat unter Bischof Kopp’s kluger Leitung für die Regierung gewonnen und die Anzeigepflicht endlich erlangt war, wurde auch die clericale Fraction williger, und im Frühling 1886 konnte B. im Herrenhaus verkündigen, daß der Friede geschlossen und die Grenzlinien zwischen Staat und Kirche neu gesichert seien.

Wenn aber der Kanzler wirklich je gehofft hatte, die „unpolitische“ Partei, die sich in die Bezirke des nationalen Staates eingedrängt hatte, zu beseitigen, so war sein Ziel nicht erreicht. Weder wurden die Wähler den Wortführern des deutschen Katholicismus im Parlamente untreu, noch das Band, das sie mit dem Herrn ihrer Kirche verknüpfte, auch nur um Weniges gelockert. Sie legten ihre Rüstung nicht ab, und dieselbe bot beim Abschluß des Kampfes an keiner Stelle auch nur den leisesten Riß, in den das Schwert des Staates hätte eindringen können. In jedem Moment mußte der Kanzler darauf gefaßt bleiben, die stärkste der Parteien so geschlossen wie nur je mitten unter den radicalsten Gegnern des Reiches zu finden.

Hatte B. bei dem Centrum die Künste der Diplomatie in Anwendung gebracht, immer darauf bedacht, eine Brücke des Verständnisses zu bauen, so war seine Loosung gegen die Socialdemokratie gerade umgekehrt der Kampf; ihr gegenüber hatte er alle Brücken abgebrochen. Denn von den wirthschaftlichen Interessen aus den Keil einzusetzen, war gegen diesen Gegner von vorn herein ausgeschlossen, da dieselben ja gerade das Ferment bildeten, das die Partei zusammenschloß. Sie war die Partei des Proletariats, der wirklich Besitzlosen, der Enterbten, der im rohen Spiel der wirthschaftlichen Kräfte Verlorenen, die sich gegen die Drohnen, die Satten in der Gesellschaft auflehnten und sich an ihre reichbesetzte Tafel drängen wollten. Die Gleichheit der materiellen Interessen war der festeste Kitt für die Massen, viel stärker als die revolutionären Programme, durch welche ihre Führer die Flammen der Zwietracht zu schüren suchten. Ich weiß nicht, ob B. jemals erwartet hat, daß auch dies Feuer in sich ausglühen könnte; jedenfalls aber richtete er seit den Mordanfällen auf den Kaiser alle seine Gedanken darauf, es niederzutreten. Dies ward der stärkste Schlachtruf, durch den er den Heerbann der Ordnungsparteien zusammenrief, ein neues Mittel zugleich, um die Elemente der bürgerlichen, besitzenden Classen, die seinen Zielen widerstrebten, von den ihnen politisch nahestehenden Schichten weiter abzudrängen.

[769] Dennoch verzweifelte B. auch diesem Feind gegenüber nicht daran, ihn in sich selbst zu zerspalten. Die politische Organisation sollte zersprengt werden; gegen die Führer der Partei, die eigentlichen Revolutionäre, kannte er keine Gnade: aber die Masse der Partei hoffte er von ihnen ablösen zu können und für den nationalen Gedanken zu gewinnen, zu Mitinteressenten an der Macht, die er aufgerichtet hatte, zu machen. In diesem Sinne begann er das Werk, das, der Idee nach, vielleicht als sein größtes bezeichnet werden muß, das Werk der socialen Reformen. Auch in ihm knüpfte er an Ideen seiner früheren Jahre, an die großen Traditionen der preußischen Krone an, in denen er aufgewachsen war. Ihre werbende Kraft sollte sie wiederum den Massen gegenüber bethätigen, die mehr noch durch die wirthschaftlichen Evolutionen des Jahrhunderts als durch die revolutionären Ideen und die politischen Umwälzungen von dem Stamme, mit dem sie einst so fest verbunden gewesen, abgelöst worden waren. Diese Gedanken hatte er schon im Beginn seines Ministeriums vertreten, damals im Verein mit seinen altconservativen Freunden Blanckenburg und Wagener, der ihm darin vor Anderen in diesen Jahren zur Hand ging. Schon im Frühjahr 1863 hatte er die Schaffung von Altersversorgungsanstalten angeregt und eine Commission durchgesetzt, welche die Arbeiterfrage discutirte; über Arbeitszeit und Arbeitslohn, über Frauen- und Kinderarbeit, über Nachweis und Verschaffung von Arbeitsgelegenheit, über Sicherstellung der Arbeiter im Falle von Krankheit, Unfällen und Invalidität hatte er längst Erhebungen anstellen, Denkschriften ausarbeiten lassen. Im Zusammenhang mit diesen Ideen war er eben auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gekommen, als eines Mittels, „um die gesunden Elemente, welche den Kern und die Masse des Volkes bilden, wieder in Berührung mit der höchsten Gewalt zu bringen“. Immer war es die Pflicht der Monarchie, wodurch er sich leiten ließ. Das war der Sinn der stolzen Antwort, die er auf der Höhe des Conflictes der in die Doctrinen der Bourgeoisie verliebten Opposition gab, als sie ihm den Empfang der hungernden schlesischen Weber durch den König vorwarf; er erinnerte sie an das Wort des jungen Friedrich: Quand je serai roi, je serai un vrai roi des gueux.

Hier aber sah auch er die Schranke dieser Pläne. Denn das Höchste, das unbedingt zu Erhaltende blieb die Macht, weil sie die Bedingung war für alles Andere: die Macht des Staates, die Wohlfahrt der Nation durfte nicht in Frage gestellt werden: nur innerhalb ihrer Grenzen konnten die Reformen zur Ausführung gelangen. Demgemäß stellte B. solche Pläne zurück, welche der Revolution Waffen geliefert, die Organisation, die er zerstören wollte, gestärkt hätten, um desto mehr die Reformen zu betreiben, welche die positiv schaffende Macht des Staates für sich verlangten und damit sie selbst erhöhten.

Der Kaiser stand diesmal ganz bei seinem Kanzler; mit freiem Verständniß, mit dem warmen Eifer seines reinen Herzens und seines monarchischen Pflichtgefühls unterstützte er die heroische Unternehmung. Aber er war auch, wie B. in bitterem Humor sagte, sein „einziger Fractionsgenosse“. Den Parteien gegenüber stand B. auch jetzt wieder so einsam da wie jemals früher; er war wieder der „Kugelfang für alle Geschosse der Reichsfeinde“. Die Linksliberalen sahen sich selbst bedroht; wie die Reform denn in der That für B. ein neues Mittel wurde, um jene noch weiter von ihren rechtsstehenden Freunden hinwegzutreiben; sie warfen seinen Ideen Verwandtschaft mit den Utopien der Socialisten vor, die er dadurch gerade bekämpfen wollte, und prophezeiten laut das rettungslose Hinabgleiten des Staates in den Abgrund der socialistischen Revolution. Aber auch bei den eigenen Anhängern fand er nur lau und langsam Hülfe. [770] Angst und Mißtrauen vor der Verwegenheit seiner Pläne begegneten ihm von allen Seiten. Die Großindustriellen folgten wohl nur, weil Bismarck’s Zollpolitik sie an ihn fesselte, die Großgrundbesitzer im Osten, weil ihre wirthschaftlichen und politischen Interessen durch ihn gesichert wurden. Er aber verlor keinen Augenblick den Glauben an sein Werk, und den Willen zu siegen. Die Niederlage, die er gleich bei der ersten Vorlage des Krankenkassengesetzes erlitt, erschreckte ihn nicht. Nur um so höher wuchs der Muth des gewaltigen Kämpfers. Durch seinen Kaiser und die verbündeten Regierungen gedeckt, achtete er nicht die Warnungen der Freunde, die Drohungen der Gegner, den Hohn, mit dem die Socialdemokraten die „Bettelrenten“, die „Almosen“ des Staates zurückwiesen. Gerade jetzt bewog er den Kaiser, in den erhabenen Worten der Botschaft vom 17. November 1881 das ganze Programm der Reformen zu verkündigen; bei seiner kaiserlichen Pflicht und vor Gottes Angesicht erklärte der greise Herrscher, daß er aus der Welt mit dem Bewußtsein zu scheiden hoffe, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hülfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.

Was schließlich erreicht wurde, war lange nicht das, was B. erwartet und gewollt hatte. Er wollte das Reich unmittelbar als den Distributor der Gelder an die Invaliden der Arbeit aufstellen; in großen Reichsanstalten oder vom Reich geleiteten Corporationen sollte ihr Strom ein- und ausfließen; Reichsauschüsse sollten ihn verstärken. Statt dessen gingen aus dem Hader der Parteien drei Organisationen hervor, lückenhaft und schwerfällig, und schlecht in einander sich fügend. Die Einen bekämpften die Reichszuschüsse, die Anderen die Reichsanstalt, und fast Alle zusammen das Tabacksmonopol, das B. die Mittel für die Reform bringen sollte. Dennoch ist es ein Werk geworden, daß seinen Meister loben wird, so lange unsere Staaten vor die Aufgabe gestellt sein werden, Macht und sociale Wohlfahrt mit einander zu verbinden. Und Niemand wird dem Schöpfer unseres Reiches jemals den Ruhm streitig machen können, unter den Socialreformatoren aller Zeiten als einer der Ersten genannt zu werden.

Aber das nächste Ziel, das er sich gesteckt hatte, erreichte er auch auf diesem Felde nicht: die Heeresmassen, die der rothen Fahne folgten, vermochte er nicht aufzulösen. Der Rückgang der socialdemokratischen Stimmen, den die Reaction der öffentlichen Meinung gegen die fluchwürdigen Attentate und danach die Zertrümmerung der Parteiorganisation zur Folge hatten, war bald überwunden, und seit den Wahlen von 1884 blieb die Partei in unaufhaltsamem Vordringen. Ihre revolutionären Manieren blieben fort oder wurden gemildert, weniger wohl noch unter dem Druck des Ausnahmegesetzes und des meist leicht zu ertragenden Martyriums der von ihm betroffenen Führer, als durch die Ausbreitung selbst in den breiten Schichten, die nicht sowol von den radicalen Doctrinen als von dem Classenbewußtsein und der Hoffnung, ihre nächsten wirthschaftlichen Interessen so am besten zu sichern, geleitet und getragen wurden. Der Haß der Führer aber gegen den Verfolger blieb unvermindert, die Disciplin der Massen unerschüttert, und die Organisation allen Schlägen zum Trotz, die auf sie niederfielen, unzerbrochen. Auch 1887 war der Wahlsieg Bismarck’s über die Socialdemokratie nur ein Scheinerfolg; der Ruf, daß das Vaterland in Gefahr sei, mußte wol die Parteien, die sonst Seite an Seite mit den Feinden des nationalen Gedankens an der Urne erschienen waren, von ihnen fort zwingen, und so verloren die Socialdemokraten, gemeinsam bekämpft, eine Anzahl ihrer neu eroberten Sitze. Aber ihre Wählerzahlen waren größer als jemals zuvor, um in drei weiteren Jahren sich zu verdoppeln.

[771]

Ausgang.

Dennoch konnte der große Minister auf diese letzten Jahre seiner Kämpfe mit berechtigtem Stolze zurückblicken. Der Aufstieg seiner Politik war doch unaufhaltsam gewesen; zum ersten Mal in seinem Leben sah er eine Majorität im Reichstage um sich, die ihm folgte, ohne ihn zugleich ihre Macht fühlen zu lassen. Immer höher wuchs seine wuchtige Gestalt über der Nation empor, immer breiteren Raum nahm sie in den Herzen der nationalen Jugend ein; in diesen Jahren konnte der Gedanke Platz greifen, daß es nur eine nationale Partei geben dürfe, die Partei Bismarck’s schlechthin; Keiner machte ihm mehr das Herz seines Kaisers streitig; innig verbunden, wie der Freund zum Freunde, hielt der greise Herrscher zu seinem Kanzler. Glorreich ging die Lebenssonne Kaiser Wilhelms unter, wie schwer sie auch umdüstert ward durch das persönliche Leid, das den Ehrwürdigen, den Vater des Vaterlandes traf, der Tod des blühenden Enkels und die schreckliche Krankheit, die das tragische Geschick seines Sohnes vollendete.

Würde das System, das B. errichtet und das mit Sieg gekrönt schien, die Katastrophe überdauern? Das war die Frage, vor die der Tod des alten Kaisers ihn und die Nation stellte. Die Regierung Kaiser Friedrich’s war zu kurz, und er selbst zu krank, als daß sie schon unter ihm hätte entschieden werden können. Auch er war in den letzten Jahren dem Kanzler näher gekommen; seine Ueberzeugungen hielten jetzt etwa die mittlere Linie ein, auf der die Parteien des Cartells sich bewegten; in der auswärtigen Politik stand er bei B., in der Frage der bulgarischen Heirath unterwarf er sich dessen Rathschlägen, wie schwer es auch seinem zarten und treuen Herzen ankommen mochte, den Interessen des Staates die Wünsche der Seinen zu opfern. Wäre Hoffnung auf seine Gesundung gewesen, so wären auch unter ihm die Conflicte zwischen ihm und dem Kanzler schwerlich ausgeblieben; die Entlassung des Ministers von Puttkamer deutete bereits auf neue Stürme hin. Aber die Tage des edlen Fürsten waren gezählt, und in dem Enkel Kaiser Wilhelm’s schien ein Herrscher zu kommen, der entschlossen war, auf den Bahnen seines Großvaters mit dem Kanzler zu gehen.

Schon aber kündigten sich neue Kämpfe an. Nur, wenn das Cartell zusammen blieb, konnte B. darauf rechnen, seiner inneren Gegner Meister zu bleiben. Und selbst dann wäre es ihm schwer geworden, ihrem Andrange zu widerstehen. Denn die Majorität, über die er gebot, war klein genug, und die Vereinigung seiner Gefolgsgenossen brachte auch die Gegner dazu, sich um so fester aneinander zu schließen. Die Mittellinie des Cartells lag doch mehr nach der Seite der Nationalliberalen hin. Gerade diese aber wurden von den Feinden am heftigsten bedrängt, und ihre Wahlkreise lagen meist mitten in deren Bezirken; es war evident, daß sie bei den nächsten Wahlen nicht nur den stärksten Anprall aushalten müßten, sondern auch zum guten Theil erliegen würden, und schon darum kaum noch zu erwarten, daß eine neue Majorität auf der alten Grundlage zu Stande kommen würde. Auch war nicht zu hoffen und nicht einmal zu wünschen, daß das Schlagwort, das die Wahlen von 1887 so glänzend gestaltet hatte, abermals gebraucht werden könnte; denn der europäische Friede, der doch die Grundlage für Bismarck’s Politik bildete, war zu keiner Zeit gesicherter gewesen. Der Kanzler aber war, wie wir wissen, nicht der Mann, um sich einer Partei ganz zu ergeben: über dem Willen der Parteien stand ihm jeder Zeit der Wille des Staates. Das Bündniß zwischen den conservativen und den liberalen Gruppen, das er geschaffen, war auf den Moment berechnet gewesen. Falls die Conjunctur sich [772] änderte, mußte auch sein Interesse an dem Cartell geringer werden. Sehr bald wurde es deutlich, daß das Gleichgewicht, das B. zwischen den „staatserhaltenden“ Parteien geschaffen hatte, nicht mehr aufrecht zu erhalten war; schärfer und schärfer traten die eingeborenen Gegensätze heraus, und gerade aus den Kreisen der ältesten Freunde des Kanzlers, und die ihm noch immer nahe standen, wurden die Steine auf die verbündete Partei hinübergeworfen.

Parallel damit gingen Zersetzungserscheinungen in den oberen Regionen des preußischen Staates, Conflicte, in denen höfische Intriguen und Parteicabalen zum Ausdruck kamen; die Frictionen, die in den letzten Jahren des alten Kaisers fast eingeschlummert waren, kündigten sich von neuem an. Doch schien es zunächst, als ob das Vertrauen, das B. auf den neuen Herrn gesetzt hatte, gerechtfertigt bleiben würde; bei mehr als einer Gelegenheit, auch da, wo, wie in dem Falle Geffcken, der heiße Zornmuth des Kanzlers aus den Schranken brach, hielt der junge Herrscher zu ihm. Wir fragen nicht, ob dem sonst so klaren Blicke des Ministers die neuen Verhältnisse in Berlin, dem er in dieser Zeit meist fern blieb (er war fast ununterbrochen auf seinen Gütern), nicht mehr so deutlich gewesen sind wie die alten; viel zu wenig können wir heute schon darüber sagen; auch ziemt es sich kaum, schon jetzt tiefer in dieselben einzudringen. Genug, daß die Krisis, die sich lange vorbereitet hatte, seit dem Herbst, als die Regierung sich zur letzten Session des Reichstages rüstete, und die neuen Wahlen, die zum ersten Mal die Volksvertretung auf fünf Jahre constituiren sollten, vor der Thüre standen, unabwendbar heranzog.

Der Conflict, der nun entbrannte und schon im März zu der Katastrophe führte, hatte aber doch nicht bloß, wie man zu sagen pflegt, in den Persönlichkeiten, in dem natürlichen Gegensatz zwischen dem thatkräftigen jungen Monarchen und dem herrschgewohnten Kanzler seine Ursache, sondern er war in der Lage des Staates selbst begründet. Es fragte sich, ob der Minister den Kaiser auf dem Wege, den er als unvermeidlich voraussah, und den er zu gehen entschlossen war, hinter sich herziehen würde. Mochte auch die parlamentarische Taktik wechseln, so war B. dennoch gewillt, die Frontstellung, die er gegen die radicalen Feinde seines Systems seit zehn Jahren eingenommen hatte, zu behaupten. Darauf deutete der Beschluß im October hin, das Gesetz, das die Socialdemokraten außerhalb des staatlichen Friedens setzte, nicht bloß aufrecht zu erhalten, sondern es dauernd zu gestalten; in diesem Sinne erging die Vorlage darüber an den Reichstag. Von den Cartellparteien waren Nationalliberale und Freiconservative bereit, sie anzunehmen, jedoch unter der Bedingung, daß der schärfste Zahn des Gesetzes, der Ausweisungsparagraph, aufgegeben würde. Für die Conservativen gab ihr Führer, Herr v. Helldorff, bei der zweiten Lesung am 23. Januar die Erklärung ab, daß sie das Gesetz in dieser Form bei der Schlußabstimmung ablehnen müßten. Aber er fügte hinzu: „Es gibt nur einen Fall, in welchem wir dafür stimmen werden, wenn nämlich die Regierung ausdrücklich im Hause erklärt, daß sie das Gesetz auch abgeschwächt annehmen wird. Dann müssen wir natürlich aussprechen: nicht wir regieren, sondern die Regierung, und wir werden zustimmen.“ Unter diesem Vorbehalt, den der Redner noch mit ein paar anderen Sätzen wiederholte, votirte die Partei an diesem Tage mit Ja, wodurch die Majorität hergestellt wurde. Am nächsten Tage, kurz vor 2 Uhr, traf B. aus Friedrichsruh in Berlin ein, wie es heißt, durch ein Telegramm seines Sohnes, des Grafen Herbert, herbeigerufen. Jedenfalls war der Entschluß zur Reise sehr plötzlich gefaßt worden; man hatte den Kanzler erst zum 27., dem Geburtstage des Kaisers, erwartet. Nachdem er dem Kaiser Vortrag gehalten, präsidirte er einer Sitzung des Staatsministeriums, in der die Haltung der Regierung bei der dritten Lesung, [773] die schon auf den 25. Januar anberaumt war, zur Berathung stand. Schon in ihr begegnete der Kanzler, wie versichert wird, abweichenden Meinungen unter seinen Collegen; sie zeigten sich geneigt, die abgeänderte Vorlage passiren zu lassen. Nicht anders soll, entgegen den Ausführungen Bismarck’s, die Stimmung im Kronrath gewesen sein, der um 6 Uhr unter dem Vorsitz des Kaisers zusammentrat; man sei, so heißt es, schließlich übereingekommen, von einer Erklärung im Reichstage abzusehen, falls aber sich die Majorität für die Beschlüsse der zweiten Lesung entscheide, das Gesetz anzunehmen. Ich wage nicht, über Vorgänge, die so wenig aufgehellt sind, etwas Sicheres zu sagen. Die Haltung der Regierung in der Debatte des folgenden Tages steht damit jedenfalls nicht im Widerspruch; Fürst B. war gar nicht erschienen, und der Minister des Innern replicirte zwar scharf gegen die Ausfälle Bebel’s, aber den entscheidenden Punkt berührte er nicht. Die Conservativen aber handelten jetzt so, wie Herr v. Helldorff es angekündigt hatte: da von dem Tisch des Bundesraths die Erklärung, der sie sich hatten unterwerfen wollen, nicht erfolgte, stellten sie sich auf die Seite der Ultramontanen und der Radicalen; mit 169 Stimmen gegen 98 wurde das abgeänderte Gesetz verworfen.

Hat nun, das ist die noch ungeschlichtete Frage, die conservative Partei bei einem Beschluß, der Bismarck’s letzte parlamentarische Schöpfung, das Cartell, zerbrach, selbstständig und durchaus unbeeinflußt gehandelt, oder glaubte sie dem Kanzler damit zu Willen zu sein, ist sie am Ende gar von ihm selbst irgendwie dahin dirigirt worden? Der Sinn einer so folgenschweren Entschließung kann nur gewesen sein, eine Verschärfung des Kampfes gegen die Socialdemokratie zu erreichen, den die Haltung der bisher befreundeten Fractionen und die arbeiterfreundlichen Pläne des Kaisers abzuschwächen bestimmt waren. Und daß hier die Differenz zwischen dem Kaiser und dem Kanzler lag, steht außer Frage. Hat B. also eine Politik einleiten wollen, die aus dieser Richtung hinwegführen mußte? Hat er das Cartell aufgeben oder es wenigstens in seine Bahn zwingen wollen? Hat er daran gedacht, sich eventuell wieder auf eine conservativ-clericale Combination zu stützen? Ist die Verhandlung mit dem Führer des Centrums am 12. März in diesem Sinne zu deuten? Hat der Kanzler vielleicht darauf gerechnet, daß ein Umschwung in der Stimmung des Landes erfolgen und ein verschärftes Socialistengesetz erlangt werden könnte? Daß die socialdemokratische Ueberschwemmung, welche die Wahlen des 20. Februar in drohende Nähe rückten, der Schreck vor revolutionären Gefahren die Massen der Wähler doch wieder im Falle einer Auflösung des neuen Reichstages der Regierung zutreiben könnte? Hat er vielleicht schon damit gerechnet, auf den Bundesrath, den Willen der vereinigten Regierungen gestützt, einer feindseligen Majorität des Reichstages dauernd entgegenzutreten? Daß er den Conflict an sich nicht scheute, wissen wir zur Genüge; er hatte ihn schon im Sommer 1879, im Beginn seiner letzten Kampfesperiode, in’s Auge gefaßt. Dann also hätte der junge Kaiser fast im Beginn seiner Regierung die Stellung zu der Vertretung der Nation einnehmen müssen, in die sein Großvater in der äußersten Noth gedrängt war. König Wilhelm hatte damals die Hand Bismarck’s ergriffen, weil ihm dieser allein von allen seinen Dienern in der ihm heiligsten Angelegenheit seines Lebens Hülfe versprach, und es war zu seinem Heil geschehen. Sein Enkel aber fürchtete gar keinen Conflict; er hoffte vielmehr durch eine Politik des Entgegenkommens, durch die Fortführung der socialen Reformen die Gefahren besiegen, die dem Staate feindseligen Massen zurückgewinnen zu können. Wir fragen nicht danach, für welche der genannten Eventualitäten wir uns entscheiden müssen. Viel zu brüchig ist der Boden, auf dem wir stehen, und zu [774] vagen Vermuthungen haben wir nicht zu greifen, wenigstens nicht auf diesen Blättern, für die der Grundsatz „Facta loquuntur“ die Regel sein muß. Und so mögen wir auch über die Ereignisse hinweggehen, die der Katastrophe unmittelbar vorangingen; denn nur im Lichte jener Fragen könnten sie aufgeklärt werden. Wie aber auch Alles sich entwickelt haben mag, daran werden wir wol festhalten dürfen, daß in jener klaffenden Divergenz der politischen Richtungen der Conflict zwischen Kaiser und Kanzler gegeben war, der zu der tragischen Lösung des 18. März geführt hat.

Wir stehen am Ende. Denn auch über der noch allzu frischen Wunde, welche der Sturz unseres Helden ihm selbst und dem Empfinden des deutschen Volkes schlug, bleibe der Schleier gebreitet.

Der Kanzler war der Freiheit zurückgegeben, die er einst freiwillig aufgesucht, der Waldeinsamkeit von Varzin und Friedrichsruh, in deren Schatten er seine größten Pläne geschmiedet, dem Landleben, dem seine schönsten Jahre gegolten, nach dessen Frieden als einem stillen Hafen des Glückes er sich so oft in aller Unruhe seines kampferfüllten Daseins gesehnt hatte. Nun war er veranlaßt worden, wider Willen die Muße aufzusuchen, das Werk aufzugeben, an das er mit ganzer Seele gekettet war, den Gegnern das Feld zu überlassen, denen er in einem Leben des Kampfes gegenüber gestanden hatte. Aber er blieb der Kämpfer, der er gewesen war. Er gewann es nicht über sich, zu schweigen; er trat auch jetzt seinen Feinden gegenüber, so wie er es gewohnt war, ohne sie zu schonen, mit voller Kraft, und dem Stolze, den ein Leben unerhörter Siege rechtfertigte; und er bewies der Welt, wie er es stets gethan, daß neben der Liebe auch der Haß das Bedürfniß und eine Kraft seines Geistes war. Und dennoch wich die Einsamkeit, die ihn in den ersten Monaten seiner Verbannung bedrückte, bald genug einem immer wachsenden Strom der Huldigung und Hingebung; immer leuchtender umfloß ihn der Glanz reinster Begeisterung; immer heißer entflammte die Liebe der Nation für den Begründer ihrer Einigkeit und Größe.

Und vor allem, das Werk fuhr fort seinen Meister zu loben. Wie oft war gesagt worden, daß in dem Neuen Reiche Alles nur auf den Einen und seine Gewalt zugeschnitten wäre. Wie schlimm hatten die Prophezeiungen gelautet, die ihn auf allen seinen Wegen, von Feind- und Freundesseite, begleitet hatten! Und wie fest, wie unerschütterlich, wie ganz sein Werk ist das Deutsche Reich geblieben! Friede schaffend, ohne ihn zu heischen, unangreifbar nach allen Seiten, der Vielheit seiner Staaten, dem nicht endenkönnenden Hader seiner Parteien, dem Wirrwarr der Interessenkämpfe und dem nie gestillten Zwiespalte seiner Confessionen zum Trotz hat es in der Nation ein Staatsgefühl entwickelt, das auch die extremsten Parteien, eben die, denen B. als der Todfeind gegenüberstand, dem Reichsgedanken zu unterwerfen begann: der Glaube an die Macht, an die Macht der Monarchie, der Otto von Bismarck beseelte, der der tiefste Quell war aller seiner Thaten, er ist ein Gemeingut von Millionen geworden, die in dem starken Hause, das er baute, wohnen.


Litterarische Notiz. Es erscheint mir nicht nöthig, eine nähere Angabe der Quellen, auf denen diese Studie ruht, zu geben, um so weniger, da ich einer Sonderausgabe genauere Belege anfügen werde. Zum größeren Theil ist überdies dieselbe Litteratur angezogen worden, die unter dem biographischen Artikel von Erich Marcks über Wilhelm I. genannt ist. Seitdem sind freilich zahlreiche Publicationen über Bismarck’s Leben erschienen, viele davon erst [775] während der Ausarbeitung meines Artikels; sie konnten in demselben meist noch Verwendung finden, in erster Linie natürlich die großen Publicationen aus Bismarck’s Nachlaß von den Gedanken und Erinnerungen ab, die in Jedermanns Händen sind. Von den nur zu zahlreichen populären Biographieen hebe ich gerne hervor das Buch von Johannes Kreutzer (2 Bde., Leipzig 1900); auch das durch viele Excerpte bis auf 8 Bände angeschwollene Werk von H. Blum soll hier genannt sein, zumal da eine Reihe nicht werthloser persönlicher Erinnerungen des Verfassers darin verwebt ist. Eine kritische Besprechung der neueren B.-Litteratur (1. Theil) gab Fr. Meinecke in der Hist. Zeitschrift (1901); eine Uebersicht über die in Frankreich, England, Amerika und Italien erschienenen B.-Publicationen Bruno Gebhardt in „Nord- und Süd“ (1902); hierunter ist vor allem das Buch von James Wycliffe Headlam zu nennen (Bismarck and the foundation of the German Empire; in der Sammlung „Heroes of the Nations“ 1899), das durch die sichere Problemstellung und klares Urtheil hervorragt.

Zur Berichtigung. S. 657, Z. 6 l. Ritter Anton v. Schmerling, und streiche Z. 7 als Reichsminister. S. 695, Z. 9 f. v. u. ist Schutzzollpolitik und Freihandelspolitik umzustellen. Diese und andere Irrthümer werden in der Sonderausgabe gebessert sein.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. a b S. 657, Z. 6 l. Ritter Anton v. Schmerling, und streiche Z. 7 als Reichsminister. [Bd. 46, S. 775]
  2. S. 695, Z. 9 f. v. u. ist Schutzzollpolitik und Freihandelspolitik umzustellen. [Bd. 46, S. 775]
  3. Bismarck, Otto Fürst v. XLVI 712 Z. 9 v. u. l.: Zwittau (statt Zittau). [Bd. 56, S. 395]
  4. 746 Z. 2 v. u. l.: 7. Febr. (statt 8.) [Bd. 56, S. 395]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. doppeltes "und" entfernt

WS: Die Seiten 777 und 778 enthalten ein „Verzeichniß der im 46. Bande der Allgem. Deutschen Biographie enthaltenen Artikel“, das hier jedoch nicht transkribiert wird.