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Artikel „Bernhardi, Theodor von“ von Friedrich von Bernhardi in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 424–430, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Bernhardi,_Theodor_von&oldid=- (Version vom 9. Dezember 2024, 16:36 Uhr UTC)
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Band 46 (1902), S. 424–430 (Quelle).
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Bernhardi: Felix Theodor von B. ist am 6. November 1802 zu Berlin geboren als dritter Sohn des Sprachforschers und Schulmannes August Ferdinand B. (s. A. D. B. II, 458), † am 12. Februar 1885[1]. Seine Mutter war die Schwester Ludwig Tieck’s. Die Ehe seiner Eltern war jedoch keine glückliche und wurde geschieden. Die Mutter übernahm die Erziehung des [425] jüngsten Sohnes, heirathete später einen Herrn v. Knorring aus Esthland und nahm mit ihm vom Jahre 1805 an ihren Wohnsitz in Rom. In dieser merkwürdigsten Stadt des Welttheils verlebte B. die erste Zeit seiner Kindheit. Von 1805–8 lebten seine Eltern in Wien, vom Herbst 1808 bis zum Frühjahr 1812 in München. Um diese Zeit veranlaßten sowol private Verhältnisse als auch der Ausbruch des russisch-französischen Krieges Herrn v. Knorring auf sein Gut Arroküll in Esthland zurückzukehren, wohin er seine Familie nachkommen ließ. Hier verbrachte B. mit geringen Unterbrechungen, die durch kurze Aufenthalte in Reval bedingt waren, die Zeit bis 1820, und wurde, da sein Stiefvater ihn zu adoptiren wünschte, in dem Glauben erzogen, daß er russischer Unterthan sei und in diesem Sinne sein Leben einzurichten habe. Trotzdem wurde er in dieser baltisch-deutschen Atmosphäre sich früh seiner deutschen Geistesrichtung voll bewußt, und wünschte sich seinem preußischen Vaterlande widmen zu können. Am 1. Juni 1820 starb sein leiblicher Vater. Es scheint, als ob dieser Todesfall für die Familie Knorring die Veranlassung gab, ihren Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen, wo B. die Universität besuchen sollte. Sein eigener Wunsch ging dahin, in die preußische Armee einzutreten, doch fügte er sich dem Willen seiner Eltern, die eine schriftstellerische oder diplomatische Laufbahn für ihn in Aussicht genommen hatten. B. bezog daher die Universität Heidelberg, wo er bis zum Schluß des Jahres 1823 verblieb; auf verschiedenen Sommerreisen lernte er den Rhein, Belgien, den Harz, Böhmen und die Schweiz kennen und trat mit den bedeutendsten Persönlichkeiten jener Zeit, unter denen vor allem Goethe zu nennen ist, in vielfache Beziehungen. Viel verkehrte er am badischen Hof, und wurde hier auch mit dem damaligen Baiernkönige bekannt. Zu Beginn des Jahres 1824 begab er sich nach Paris, wo er sechs Monate zubrachte, um dann über die Schweiz und die italienischen Seen nach Mailand zu gehen. Hier brachte er auf Wunsch seiner Eltern mit vielfachen Studien beschäftigt und vielfach in schwierigster ökonomischer Lage – da ihn die Eltern nur unregelmäßig unterstützten – sehr gegen seinen Willen fast sieben volle Jahre zu. Erst im April 1834 konnte er nach Berlin zurückkehren, nachdem er erfahren hatte, daß sein Stiefvater völlig ruinirt, und daß eine Adoption gesetzlich unmöglich sei. Durch den Aufenthalt in Mailand war auch sein väterliches Vermögen stark in Mitleidenschaft gezogen. So sah er sich – der bisher mit den Ansprüchen eines reichen Mannes gelebt hatte, und von seinen Eltern gehindert worden war, eine bestimmte Carrière zu ergreifen – plötzlich in die Nothwendigkeit versetzt, sich selbst im Leben eine Stellung zu erkämpfen. Er zog zunächst mit seinem Onkel Friedrich Tieck zusammen, und unternahm einen ersten Versuch sich schriftstellerisch zu bethätigen. Auf Wunsch der Eltern, die – nachdem sie ihn schon früh veranlaßt hatten sein preußisches Staatsbürgerrecht aufzugeben – an dem Gedanken einer Laufbahn in Rußland festhielten, verfaßte er in französischer Sprache ein Werk über die Beziehungen Rußlands zu Polen, das im Frühjahr 1834 erschien, von dem damaligen russischen Gesandten in Berlin Herrn v. Ribeaupierre dem russischen Staatskanzler Grafen Nesselrode auf das vortheilhafteste empfohlen und in der „Allgemeinen preußischen Staatszeitung“ eingehend und günstig besprochen wurde. Doch blieb der äußere Erfolg auch in Rußland aus. Trotzdem kehrte B., nachdem seine Mutter im Herbst 1833 in Reval gestorben war, auf Wunsch des Stiefvaters noch im Laufe des Jahres 1834 nach Rußland zurück und nahm seinen Wohnsitz in Petersburg, wo es ihm gelang in der „höchsteigenen Kanzlei S. M. des Kaisers“ eine bescheidene Anstellung zu erlangen, in der er jedoch nicht lange verblieb. Er wurde dann in der kaiserlichen Heraldie angestellt und arbeitete unter dem Grafen Laval für das Journal de St. Petersbourg. Die reiche Muße, die ihm seine amtliche Thätigkeit ließ, benutzte er zu eingehenden [426] militärischen, germanistischen, heraldischen und staatswissenschaftlichen Studien. Auch trat er mit den bedeutendsten wissenschaftlichen Persönlichkeiten Petersburgs in freundschaftliche Beziehungen; vor allem mit dem Admiral und erstem russischen Weltumsegler Adam Johann v. Krusenstern, mit dem großen Naturforscher Ernst v. Baer, dem greisen Historiker und Numismatiker Krug, dem Mathematiker Fuß, dem Galvanoplastiker Jakobi, dem Sanskritisten Böhtlingk und dem gelehrten Slavisten Kmick[2].

Diese Männer eröffneten ihm bald die Aussicht zum Mitgliede der Akademie der Wissenschaften gewählt zu werden, wenn er sich durch ein staatswissenschaftliches Werk eine formelle Anwartschaft auf den Eintritt in diese Körperschaft erwürbe. Dieser Anregung verdankt das Buch „Versuch einer Kritik der Gründe, welche für großes und kleines Eigenthum angeführt werden“ seine Entstehung, das ihn als selbständigen Denker und weitausblickenden Gelehrten zeigte. Es wurde 1848 gedruckt, vermittelte jedoch seinem Verfasser den Eintritt in die Akademie nicht, da persönliche Intriguen, die im wesentlichen von dem unbedeutenden Statistiker Köppen ausgingen, seine Wahl hintertrieben, nachdem Krug und Fuß gestorben waren.

Neben der Arbeit an diesem staatswissenschaftlichen Werk schrieb B. im Auftrage des Ministeriums des Innern in französischer Sprache eine leider verloren gegangene Arbeit über Heraldik und zwar über die Wappenkunde des westlichen und östlichen Europa, sowie den Entwurf einer „Urgeschichte der Deutschen“, ein Werk, das, nicht vollendet, der Oeffentlichkeit entzogen geblieben ist. 1846 vermählte er sich mit der ältesten Tochter des Admirals v. Krusenstern, siedelte nach dem Tode seiner Schwiegereltern im Frühjahr 1851 nach Deutschland über, kaufte sich in Schlesien, und zwar in Cunnersdorf im Hirschberger Thale an und lebte nun ganz seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Hier entstand zunächst ein umfassendes fünfbändiges Werk „Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Grafen Toll“, das unter diesem Titel dem Wesen nach eine Geschichte der Feldzüge 1812, 1813 und 1814 gibt und den Verfasser sofort in die Reihe der bedeutendsten Historiker Deutschlands stellte. Dann begann er seine „Geschichte Rußlands und der europäischen Politik“. Unterbrochen wurden diese wissenschaftlichen Arbeiten durch eine vielfach rege politische Thätigkeit, die ihn zunächst mit den hervorragendsten Persönlichkeiten der altliberalen Partei, dann aber auch mit den leitenden Männern im Staat und in der Armee in nahe Berührung brachte. Mit dem General v. Moltke trat er in einen vielfach regen Gedankenaustausch. Enge Freundschaft verband ihn mit dem Historiker Max Duncker und dem Minister Rudolph v. Auerswald; mit dem General v. Roon unterhielt er dauernd enge Beziehungen; Droysen, Bestler, Treitschke zählten zu seinen Freunden – sehr bald trat er auch mit dem Prinzen Friedrich Wilhelm, dem nachmaligen Kaiser Friedrich III., in Beziehungen, die bis zum Tode dieses Fürsten niemals unterbrochen wurden; endlich auch mit dem Prinzen Wilhelm, dem nachmaligen ersten deutschen Kaiser. Lebhaft betheiligte er sich während der Conflictsperiode an dem Streit der Parteien. Er trat in verschiedenen Broschüren für die Reorganisation der Armee in die Schranken, wie sie von der Regierung erstrebt wurde. Auch Herzog Ernst von Coburg-Gotha zog ihn heran. Diese Verbindung führte dazu, daß B. im Herbst 1863 im Interesse und Auftrag des Herzogs Friedrich von Augustenburg nach England ging, um dort dessen politische Bestrebungen zu vertreten; erst im April 1864 kehrte er von dort zurück, trennte sich dann aber von dem Herzog, da er erkannte, daß dieser immer mehr eine antipreußische Richtung einschlug, die dem nationalen Interesse, das für B. einzig maßgebend war, niemals dienlich sein konnte. Durch Vermittlung Moltke’s und Roon’s knüpfte er nunmehr Beziehungen mit Bismarck an, nachdem er sich [427] überzeugt hatte, daß dieser zu Anfang seiner Laufbahn so vielfach verkannte Staatsmann gewillt und befähigt war, die deutsche Frage im preußischen Sinne zu lösen. Als dann der Krieg gegen Oesterreich ausbrach, wurde er auf Vorschlag Moltke’s als Vertreter des militärischen Interesses Preußens in das italienische Hauptquartier geschickt – gewiß eine einzigartige Anerkennung der besonderen Stellung, die er, der Civilist, sich in den leitenden Kreisen der preußischen Armee erworben hatte – und machte in demselben den Feldzug 1866 mit. Nach dem Kriege wurde er der Form nach als Militärbevollmächtigter, der Sache nach als politischer Berichterstatter, nach Florenz geschickt, wo er bis zum Sommer 1868 verblieb, um dann im Frühjahr 1869 in gleicher Eigenschaft nach Spanien und Portugal zu gehen, von wo er im Juni 1871 nach Deutschland zurückkehrte, um fortan ausschließlich seinen wissenschaftlichen Arbeiten zu leben. Sie führten ihn im Winter vielfach nach Berlin und erhielten ihn in dauernder Verbindung mit den hervorragendsten wissenschaftlichen Größen Deutschlands. Er arbeitete zunächst an der Fortsetzung seines Werkes über Rußland, das trotzdem leider unvollendet geblieben ist, schrieb unter dem Titel „Friedrich der Große als Feldherr“, eine kritische Geschichte der Fridericianischen Kriege, und gab einen Band Reiseerinnerungen aus Spanien heraus. Dazwischen veröffentlichte er mehrere Bände vermischter Schriften, die Aufsätze politischen, historischen, culturhistorischen und biographischen Inhalts enthalten und starb am 12. Februar 1885[1] nach kurzer Krankheit auf seinem Gute Cunnersdorf in Schlesien, bis an sein Ende im Vollbesitz seiner vollen geistigen Fähigkeiten und einer unerschöpflichen Arbeitsfreudigkeit. Seine Gattin, sowie ein Sohn und eine Tochter waren ihm im Tode vorausgegangen. Die reichen Tagebuchaufzeichnungen, die sich in seinem Nachlasse vorgefunden haben, sind von seinem überlebenden Sohn unter dem Titel „Aus dem Leben Theodor v. Bernhardis“ herausgegeben worden und bilden eine der wichtigsten Quellen der Zeitgeschichte.

Bernhardi’s Bedeutung liegt zunächst in seiner Entwicklung und in der Art seiner persönlichen Wirksamkeit. Vollkommener Autodidact, aufgewachsen und erzogen in dem Bildungskreise der Romantiker, denen er durch alle seine Familienbeziehungen angehörte, machte er sich von den Schwächen und ungesunden Tendenzen dieser Richtung vollständig frei, ohne deshalb die Bildungselemente zu verleugnen, die aus diesem Kreise zu gewinnen waren; einen nachhaltigen Einfluß übte dann auf ihn der Verkehr mit Goethe. In Heidelberg studirte er Geschichte, Staatsrecht, Mathematik und neuere Sprachen; während des langjährigen Aufenthalts in Mailand eignete er sich eine genaue Kenntniß der italienischen und spanischen Litteratur an, und studirte vor allem die geschichtliche Entwicklung der bildenden Künste. So erwarb er allmählich, durch ein ausgezeichnetes Gedächtniß auf das glücklichste unterstützt, eine umfassende universelle Bildung und eine Fülle von Kenntnissen, wie sie nur von Wenigen erreicht wird, vereint mit einer Welt- und Menschenkenntniß, wie sie nur von einem Manne erlangt werden konnte, der das Leben unter den verschiedensten und vielfach heterogensten Gesichtspunkten kennen gelernt, in den verschiedensten Gesellschaftskreisen verkehrt und ihnen allen mit objectivem Sinn und kritischer Beobachtung gegenübergestanden hatte.

Auch in politischer Beziehung machte sich stets die ruhige Objectivität seines Urtheils geltend. Von Jugend auf war sein Sinn auf das Ideale gerichtet; geistiges und sittliches Streben war ihm der Inhalt des Lebens. Die Gesellschaft wie den Einzelnen konnte er sich nicht losgelöst denken von der Allgemeinheit, von den Beziehungen zu Nation und Staat; so stellte sich ihm denn auch die Politik niemals vom Parteistandpunkte dar, sondern sie war ihm ein Streben nach freier Entfaltung der Macht des Staates zur Erreichung und Förderung [428] sittlicher Zwecke und nationalen Fortschritts. Mit dieser hohen Auffassung verband er ein helles Verständniß für das Reale im Leben und trachtete überall nach dem Wesen der Dinge, ungeblendet durch Schein und Phrase, und immer nur das Mögliche mit ruhiger Mäßigung erstrebend. So war er ein Mann von wahrhaft staatsmännischer Gesinnung und fast antikem Bürgersinn. In diesem Geiste hat er Jahrzehnte lang in seinem Vaterlande segensreich gewirkt in den politischen Kämpfen der Parteien sowol als in den diplomatischen Aufgaben, die an ihn herantraten, nachdem ihm seine wissenschaftlichen Werke auch in dem Kreise der preußischen Staatsmänner Eintritt verschafft hatten. In diesen wissenschaftlichen Werken beruht die andere Seite seiner weitreichenden Bedeutung.

Seine Erstlingsschrift freilich blieb fast unbeachtet, obgleich er eine historisch begründete Auffassung des Polenthums aussprach, die sich seither überall als die richtige und zutreffende erwiesen hat.

Schon sein zweites in der Oeffentlichkeit erschienenes Werk dagegen zeigte den Meister, wenn es auch, unter den ungünstigen Verhältnissen des Jahres 1848 veröffentlicht, weder in der damaligen russischen Welt, die wirklicher Wissenschaft stumpfsinnig gegenüberstand, noch in Deutschland die ihm gebührende Beachtung fand, und das nur deshalb, weil es nach den Worten des Dr. Demuth „seine Zeit überragt. Seine Zeitgenossen haben es nicht richtig verstanden, darum haben sie es übersehen. Die Späteren haben es nicht kennen gelernt, weil es Bernhardi unmöglich gewesen ist, sich eine Schule heranzubilden“. Erst heute hat sich die Lehre der Staatswissenschaft auf den Standpunkt erhoben, dessen Grundgedanken B. schon im J. 1848 vorgetragen hatte. Indem er zuerst, wie Dr. F. Demuth sich ausdrückt, „in wissenschaftlicher Weise von Grund aus mit den Vorurtheilen der englischen Lehre aufräumte, hat er sich ein unsterbliches Verdienst erworben, das für ewige Zeiten im Gedächtniß der Wissenschaft bleiben muß“. Er will die Volkswirtschaftslehre als ein Ganzes betrachten, im Gegensatz zu den Engländern, die immer nur den Verkehr im Auge haben, und wie jene von einer real-naturalistischen Weltanschauung ausgehen, ist B. Idealist. „Er betont das Sittliche im Leben, gegenüber dem Geldstandpunkt; er wehrt sich dagegen, daß man das Dasein als ein nur gewerblichen Zwecken dienendes betrachtet. Sein Werk ist von einem tiefen ethischen Ernst durchdrungen. Er will nicht den Dingen ihren Lauf lassen, sondern will sie zu Gunsten der schwächeren Classen lenken. Die Frage ist bei ihm nicht, was bringt diese Maaßregel ein, wie vermehrt sie den Volksreichthum, sondern welchen Einfluß übt sie auf die Macht der Gesellschaft, ihren sittlichen Zweck zu erfüllen.“ Von diesem Gesichtspunkt aus erörtert er die Verhältnisse des Grundbesitzes und des Erwerbslebens, erfaßt schon damals den Socialismus in seiner ganzen Bedeutung und wird damit zum Begründer der modernen Schule, die heute in Schmoller und Wagner ihre bedeutendsten Vertreter hat, während er vielfach ganz irrthümlicher Weise zur deutsch-russischen oder zur historischen Schule gerechnet wird, die er um Haupteslänge überragt.

Ebenso hervorragend, aber auch als epochemachend anerkannt, war Bernhardi’s zweites Werk, die „Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Grafen Toll“. Durch eingehende kritische Forschungen vernichtete er die Legende, die französische Eitelkeit und Parteischreiberei über die Feldzüge 1812, 1813 und 1814 verbreitet hatten, führte überall die Thatsachen auf die geschichtliche Wahrheit zurück, rückte die entscheidende Bedeutung der preußischen Kriegsthaten für die militärischen Erfolge der Freiheitskriege in die richtige Beleuchtung und stellte damit die Geschichte dieser glorreichen Thaten für alle Zeiten maßgebend fest. Zugleich übte er eine Kritik der militärischen Handlungen, die ein tiefes strategisches und philosophisches Verständniß des Krieges [429] erkennen ließ und Moltke zu der Aeußerung veranlaßte, daß B. der bedeutendste Militärschriftsteller seiner Zeit sei. Diese Auffassung hat dann den Chef des Generalstabes bestimmt, nicht nur seine militärischen Absichten vielfach mit B. zu erörtern, sondern auch 1866 dessen Sendung in das italienische Hauptquartier zu betreiben.

In demselben Geiste, in dem er die Geschichte der Freiheitskriege auf einen ganz neuen historischen Boden gestellt hat, schrieb er dann das Buch über Friedrich den Großen. Auf diesem Gebiete war durch eine litterarische Bewegung, die vom Prinzen Heinrich und seiner Umgebung ausging, der systematische Versuch gemacht worden, den König zu verkleinern und den Prinzen als den eigentlichen Helden des siebenjährigen Krieges hinzustellen. Dieser Legendenbildung trat B. energisch entgegen, führte die Handlungsweise des Prinzen auf das ihr gebührende Niveau zurück und ließ das Heldenthum des Königs in seiner ganzen Größe deutlich hervortreten. Zugleich aber stellte er auch die bleibende Bedeutung der Fridericianischen Kriegführungsweise für die historische Entwicklung der Kriegskunst fest. So hat er durch seine militärischen Werke in der wesentlichsten Weise dazu beigetragen, die gesunde und thatkräftige Auffassung des Krieges, wie sie von Scharnhorst und Gneisenau praktisch geübt, von Clausewitz wissenschaftlich ausgesprochen war, zum Segen der preußischen Armee weiter zu entwickeln und ihr Verständniß in den weitesten Kreisen zu fördern.

In anderem Sinne bedeutend ist das groß angelegte Werk „Rußland und die europäische Politik von 1814–1831“.

B. nimmt in der Reihe der deutschen Geschichtschreiber eine ebenso eigenartige Stellung ein wie als Kriegstheoretiker und Nationalökonom. Nach allen drei Richtungen ist er Autodidact, ohne die Schwächen zu zeigen, die sonst denen anzuheften pflegen, die ohne vorausgegangene Schulung durch ältere Fachgenossen sich ihren eigenen Weg bahnen.

Gegenüber allen vorausgegangenen Darstellungen der Geschichte Rußlands, die in nichtrussischer Sprache erschienen sind, bedeutet das Bernhardi’sche Buch schon deshalb einen ungeheuren Fortschritt, weil es von der sicheren Basis einer intimen Kenntniß der russischen Volksseele und der russischen Gegenwart ausgeht. Die in großen Umrissen hingeworfene Einleitung der Entwicklung Rußlands bis zum Wiener Congreß ist das geistvollste, was wir über die Genesis des heutigen Rußlands besitzen. Nicht auf dem Studium ungedruckter Quellen, wol aber auf der vollen Beherrschung des gedruckten Materials, des russischen wie des abendländischen gegründet, sichtet Bernhardi’s Geschichte Rußlands mit scharfer und sicherer Kritik den Stoff. Ohne je an dem Unwesentlichen zu haften, hebt er mit fast untrügerischer Sicherheit die entscheidenden Kennzeichen jeder Periode russischer Vergangenheit hervor, in seinem Urtheil – wie von seinem ethisch-philosophischen Standpunkt aus nicht anders möglich war – entschieden scharf, aber niemals ungerecht. Auch verdient im Hinblick auf den heute noch wogenden Streit über die Frage, ob in der historischen Darstellung die Personen oder die Zustände überwiegen sollen, doch ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß B. in seiner Geschichte Rußlands die allgemein richtige Verbindung zeigt, in welcher die Thätigkeit der handelnden und bestimmenden Persönlichkeiten mit dem wirthschaftlichen und moralischen Fundament der Nation steht, in der und für die sie wirken. Mit der Darstellung des Wiener Congresses zieht B. das urkundliche Material des preußischen Staatsarchivs in den Kreis seiner Studien hinein und gewinnt so einen tieferen Einblick in die Geheimgeschichte der Zeit, als sie seine Vorgänger gewinnen konnten. Dieses preußische Material hat ihm auch für die spätere Zeit zur Verfügung gestanden, allerdings auch nur das Preußische, da ihm die Archive der anderen Staaten nicht zugänglich waren. [430] Daraus ergibt sich nothwendig eine gewisse Einseitigkeit, da das preußische Cabinet nicht annähernd alle Geheimnisse der übrigen Höfe, namentlich nicht des russischen Cabinets kannte. Trotzdem ist man erstaunt, wie richtig B. mit diesem einseitigen Quellenmaterial operirt; er combinirt ungemein glücklich aus seiner Kenntniß der gedruckten historischen Litteratur der anderen Staaten, und ist dabei der erste deutsche Geschichtschreiber, der die Kenntniß der russischen Sprache als unerläßliche Voraussetzung mitbrachte. Noch Hermann hat seine Geschichte Rußlands geschrieben ohne russisch zu verstehen. Leider ist diese bahnbrechende Arbeit Bernhardi’s beim Jahre 1822 stecken geblieben, obgleich er seine Sammlungen bereits bis über das Todesjahr Alexander’s I. ausgedehnt hatte. Aber auch dieser Torso behält bleibenden Werth und wird, eben weil er das Gepräge seiner besonderen Geistesart trägt, für jeden eine Quelle der Belehrung sein, der Rußland so kennen lernen will, wie es wirklich ist.

B. ist aber nicht bloß hervorragender Geschichtschreiber, sondern durch seine jetzt schon zum größeren Theil herausgegebenen Tagebücher auch eine historische Quelle ersten Ranges für die Geschichte der 40 letzten Jahre seines Lebens geworden. Diese Tagebücher vereinigen eine außerordentlich seltene Combination von Vorzügen: sie sind stets gleichzeitig abgefaßt, meist am Abend des Tages von dem sie erzählen; sie stammen aus der Feder eines Mannes, der mit reifem Urtheil ein fast untrügliches Gedächtniß verband, der seine Eintragungen ohne Nebenabsichten machte und Gelegenheit fand, durch den intimen Verkehr mit den handelnden Persönlichkeiten die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren. Das ist am meisten der Fall, wo er selbst in großen politischen Actionen handelnd auftritt, wie z. B. 1866 und 1867 in Italien. Der historische Werth der Tagebücher schwankt natürlich nach der Bedeutung der Zeit, in die sie fallen und nach dem Charakter der besonderen persönlichen Erlebnisse Bernhardi’s. Immer aber ist sein Blick auf das Allgemeine gerichtet, und man möchte auch die zahlreichen anecdotischen Aufzeichnungen nicht missen, weil sie nicht mehr vorstellen wollen, als sie bedeuten, und in ihrer Weise zur Charakteristik der Zeitgeschichte beitragen. Rußland hat B. nie aus den Augen verloren. Was er aus dem Munde des Prinzen Eugen von Württemberg aufgezeichnet hat, die Gespräche mit seinem Schwager Julius v. Krusenstern, die Commentare, mit denen er den Krimkrieg, die Bauernemancipation und so fort begleitet, das Alles hat häufig die Bedeutung eines Schlüssels zum Verständniß der Zeitgeschichte. Schein und Wirklichkeit in der neuen Geschichte Rußlands sind wol von Niemandem in schärferem Contrast einander gegenübergestellt worden.

So steht dieser außerordentliche Mann allerdings als ein Besonderer in der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft da. Wirthschaftsgeschichte, Kriegsgeschichte, Geschichte der Cultur und der Politik fließen ihm zu einem Ganzen zusammen und auf allen diesen Gebieten bewegt seine Darstellung sich mit gleicher souveräner Sicherheit. Den vollen Umfang seines Könnens und Wissens zu zeigen, dazu reichte auch sein über das gewöhnliche Maaß langes und arbeitskräftiges Leben nicht aus. Er hat es der Generation, die ihn überdauert, überlassen fortzufahren, wo er den Weg wies, und auszubauen, wo er ein Fundament von historischem Quellenmaterial hinterlassen hat.

Generalmajor und Abtheilungschef im Großen Generalstab v. Bernhardi.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. a b Bernhardi, Theod. v. XLVI 424 Z. 3. v. u. und 427 Z. 21 v. o. l.: 1887 (statt 1885). [Bd. 56, S. 395]
  2. 426 Z. 7 v. o. l. Kunik (statt Kmick). [Bd. 56, S. 395]