ADB:Vincke, Georg Freiherr von

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Artikel „Vincke, Georg Freiherr von“ von Hermann von Petersdorff, Bernhard von Poten in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 743–752, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vincke,_Georg_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 19:58 Uhr UTC)
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Band 39 (1895), S. 743–752 (Quelle).
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Vincke: Georg Freiherr v. V., der größte preußische Parlamentsredner, wurde als der älteste Sohn des treuen Oberpräsidenten von Westfalen, Ludwig v. V., aus dessen Ehe mit der Freiin Eleonore v. Syberg, am 15. Mai 1811 zu Busch bei Hagen in der Grafschaft Mark geboren. Anfänglich im Hause der Eltern erzogen, kam er 1825 auf das Gymnasium zu Bielefeld. Von 1828 an widmete er sich in Göttingen und Berlin dem Studium der Rechtswissenschaft. Er war ein flotter Schläger und behielt Zeit seines Lebens etwas vom Studenten an sich. 1832 trat er als Auscultator bei dem Berliner Stadtgericht in den Staatsdienst. Seit Ende 1834 arbeitete er als Referendar zuerst beim Land- und Stadtgerichte in Minden, dann beim Oberlandesgerichte in Münster. Sechsundzwanzigjährig wurde er 1837 von den Ständen seines heimathlichen Kreises Hagen zum Landrath gewählt. Die westfälischen Provinziallandtage von 1843 und 1845, denen er als Mitglied der Ritterschaft der Grafschaft Mark angehörte, wurden seine parlamentarische Vorschule. Er machte sich zum Anwalt der mächtig vorwärts strebenden Einheitsbewegung, indem er erklärte, Preußen müsse sich wie im Zollverein so auch durch eine freie Verfassung an die Spitze der deutschen Staaten stellen. Im Zusammenhange hiermit brachte er 1845 den Antrag ein, den König um die Gewährung einer reichsständischen Verfassung anzugehen. Zwar erhielt dieser Antrag bei den am Alten hangenden Westfalen noch nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Aber die wuchtige Rede des jungen Edelmannes machte tiefen Eindruck. Immerhin war er der Mehrheit des preußischen und deutschen Volkes noch ziemlich unbekannt, als er in den durch das Patent vom 3. Februar 1847 nach Berlin berufenen Vereinigten Landtag eintrat.

V. gehörte zu denen im Lande, die am meisten mit der Regierung des unglücklichen Königs unzufrieden waren. Dem entsprach es, wenn er sich mit den weitestgehenden Gedanken trug. Er sprach[1] dem jungen Otto v. Bismarck-Schönhausen davon, ob man den König nicht bitten sollte, den Opfern, die er dem Lande schon gebracht hätte, auch das der Thronentsagung hinzuzufügen. Der vielfach verhaßte Prinz von Preußen sollte vorher veranlaßt werden, der Thronfolge schriftlich zu entsagen. Die Prinzessin von Preußen sollte dann die Regierung [744] für den jungen Kronprinzen übernehmen. Bismarck lehnte jede Mitwirkung bei einem in diesem Sinne gehaltenen Antrage ab und erklärte kurzab, sollte der Antrag von anderer Seite gestellt werden, so würde er den Gegenantrag auf Einleitung des Verfahrens wegen Hochverraths einbringen. V. verzichtete nun auf sein Vorhaben, weil ohne die Unterstützung der Gesinnungsgenossen Bismarck’s die Abdankung nicht durchzusetzen wäre. Die Abenteuerlichkeit dieser Gedanken beweist hinreichend, wie weit die Verwirrung im Lande bereits vor dem Zusammentritt des Vereinigten Landtages gediehen war. Dieser Mann nun, der sich in solchem Widerspruch mit den herrschenden Zuständen befand, wurde in kurzer Zeit der gefeiertste Redner der großen und an rednerischen Talenten reichen Versammlung. Sechsunddreißigjährig, stand er in der Fülle der Manneskraft, eine große beleibte Gestalt mit einem breiten Stiernacken. In dem von einem rothen Backenbarte umsäumten fleischigen, listigen Gesichte spielte ein spöttisches Lächeln. Behaglichkeit und Selbstvertrauen sprachen daraus. Obwol er auf Kleidung und Haltung wenig Werth legte, war der Aristokrat doch unverkennbar in ihm. Er verfügte über hohes sittliches Pathos und über beißenden Sarkasmus zugleich. Welche Saiten er auch aufzog, seine Worte übten auf die meisten seiner Gegner eine zermalmende Wirkung. Zu Hülfe kamen ihm dabei eine ganz ungewöhnliche Gedächtnißkraft, die den minder gesattelten Gegner ganz aus der Haltung bringen mußte, und nicht zuletzt seine auffallende Häßlichkeit, die, von urwüchsigen und drastischen Geberden begleitet, die Wirkung seiner ironischen Bemerkungen und Einfälle wesentlich steigerte. Seine Kampfeslust suchte ihres Gleichen. Kampf wurde sein Lebenselement, und er kannte kein wonnigeres Gefühl, als wenn er seinen parlamentarischen Gegner so recht in den Sand gestreckt hatte. Der alte Oberpräsident hatte mit wenig Freude der liberalen Entwicklung seines Sohnes zugesehen, obwol der Löwe des Vereinigten Landtages in mancher Beziehung viel mehr im Feudalismus steckte als sein Vater. Georg v. V. fühlte sich so recht als Sproß seines altberühmten Geschlechtes und dachte nicht daran, ein Titelchen alterworbener Rechte aufzugeben. Als ein Mann des Rechts erhob er jetzt seine Stimme, um auf die vollste Verwirklichung einer alten Zusage, die Gewährung der parlamentarischen Verfassung zu dringen. Dies kam sofort bei der Adreßdebatte (15. April) zum Ausdruck. Er schlug eine Rechtsverwahrung dem Könige gegenüber vor. „Ich betrachte unsere ständischen Freiheiten und unsere gesammte Verfassung als ein großes Fideikommiß, worin wir auch die Rechte der Nachgeborenen zu berücksichtigen haben. Wie der Fideikommißbesitzer zu jeder Aenderung der Zustimmung aller Agnaten bedarf, so ist auch der Monarch an die Zustimmung der Stände gebunden. Unsere Rechte bilden gleichsam ein eisernes Inventar, was wohl vermehrt werden muß mit manchem Stücke des Hausraths, bis es eine vollständige Haushaltung wird, in der der Landesherr behaglich wohnt mit der großen Familie seiner Unterthanen, wovon aber kein Stück verloren gehen darf ohne die Zustimmung aller Miteigenthümer.“ Von einer Dankadresse wollte er nichts wissen. Sein Rechtsstandpunkt kam noch schärfer zum Ausdruck in der berühmten Rede vom 31. Mai. Vermuthlich dachte er an das Wappenbild der Vincke’s, die Pflugschar, als er seine Rede mit einem effectvollen Bilde schloß: „Ich erinnere mich mit gerechtem Stolze, daß meine Vorfahren den Acker des Rechts seit vielen hundert Jahren gepflügt und demselben viele köstliche Früchte abgewonnen haben, werthvoller als die materiellen Güter dieser Erde. Ich weiß nicht, wie lang die Spanne ist, die mir hier noch zugemessen ist. Wenn aber einst meine letzte Stunde schlagen sollte, dann wünsche ich nur auf dem Acker des Rechts meine Grabstätte zu finden. Es ist heute ein großer Tag in der vaterländischen Geschichte. Heute vor 107 Jahren hat Friedrich der Große den erhabenen Thron seiner Väter bestiegen. [745] Lassen Sie uns durch eine würdige That des Landtags feiern die Thronbesteigung Sr. Majestät des Königs Friedrich’s II., des großen Königs, welcher für unser öffentliches Recht den erhabenen Grundsatz aufgestellt hat, daß der König der erste Diener des Staates sei. Es wird eine Zeit kommen, wo keins der ehrenwerthen Mitglieder dieser Versammlung mehr auf Erden wandelt, dann wird die unparteiische Geschichte über den ersten Vereinigten Landtag zu Gericht sitzen. Möge sie dann sagen, der erste Landtag der Krone Preußen, insbesondere die Mitglieder der Curie der Ritterschaft, der Städte und Landgemeinden, sie wurden als fleißige und treue Ackerer erfunden auf dem Acker des Rechts, sie sind von diesem Boden nicht einen Fuß breit abgewichen, nicht um dieses Nagels Dicke haben sie nachgegeben von ihrem guten Rechte, sie haben stets unabänderlich beharrt bei dem alten deutschen Grundsatze unserer Väter: Recht muß doch Recht bleiben!“ Dies Wort, das noch oft in seinen Reden der späteren Zeit wiederkehrte, hat sich besonders seinen Zeitgenossen eingeprägt und Vincke’s Namen populär gemacht. Den „Heros des Rechtsbodens“ pflegten ihn wol die um den König ironisch zu nennen. Die breite Masse des Bürgerthums aber jubelte ihm zu und Bilder wurden verbreitet, die ihn auf der Tribüne zeigten mit der Unterschrift: Recht muß doch Recht bleiben. Ebenso war es im Sinne der herrschenden Anschauungen, als er sich in den Debatten über das Judengesetz zum Ritter der Juden aufwarf. Freilich mußte er bekennen, daß er für die Juden persönlich recht wenig Sympathieen besaß. Von dem doctrinären Rechtsstandpunkte aber, von dem aus er alles mit unerbittlicher Consequenz beurtheilte, glaubte er für die Rechtsgleichheit der Juden eintreten zu müssen und trat demgemäß den Vertheidigern des christlichen Staatsgedankens mit ätzendem Hohne entgegen. Er bewies in dieser und anderen wichtigen Reden, daß er nur zu sehr die Neigung hatte, die großen sittlichen Fragen des Staatslebens wenn auch mit Wärme so doch recht oberflächlich zu discutiren. Damals auch offenbarte sich gleich seine berüchtigte Taktlosigkeit, durch die er so oft sündigen sollte. Seine Rede gegen den christlichen Staat mußte den feinfühligen frommen König auf das tiefste verletzen. Er ist denn auch Friedrich Wilhelm IV. stets zuwider gewesen, während Vincke’s angeblich humane und aufgeklärte Denkweise nicht wenig zur Erhöhung seiner Volksthümlichkeit beitrug. Die schwärmerische Schilderung der Vincke’schen Persönlichkeit, welche der junge Dr. Haym entwarf, ist ein trefflicher Belag dafür, wie sehr V. 1847 der Held des Tages war. Ebenso wie der Mangel der Feinfühligkeit trat auf dem Vereinigten Landtage bereits auch Vincke’s geringe Befähigung hervor, taktisch richtig zu operiren. Sowol bei der Debatte über die Abänderung der ständischen Gesetzgebung zu Ende Mai als auch besonders bei den Berathungen über die Wahl der Vereinigten Ausschüsse gerieth er in eine isolirte Stellung, die nicht nur zu einer entschiedenen Ablehnung seiner Anträge, sondern auch zu einer empfindlichen Niederlage seiner Partei führte. Bei den Wahlen der Ausschüsse am 25. Juni enthielt sich V. unklugerweise mit nur 57 Abgeordneten. Eine überwältigende Mehrheit, selbst die liberalen Preußen, wählten. Friedrich Wilhelm IV., empört über die Opposition seines Landrathes, ließ ihn fragen, ob er die Gesetze vom 3. Februar als rechtsverbindlich ansähe und sich in seiner amtlichen Wirksamkeit danach richten wollte. V. versprach dies, fügte indeß hinzu, erforderlichenfalls würde er selbst um seinen Abschied einkommen. Doch konnte es der tief verletzte König nicht unterlassen, ihn zu bedeuten: „wie mir bei seinen sonstigen guten Eigenschaften und bei meinem besonderen Wohlwollen für seinen verstorbenen Vater eine Umkehr von seinen irrigen Ansichten doppelt erfreulich sein würde!“ Im nächsten Jahre schon, dem seiner Verheirathung, nahm V. freiwillig seinen Abschied, nachdem er das Amt 11 Jahre versehen hatte. Stets hat er mit Stolz an diese Zeit [746] zurückgedacht und öfter den Landrath als Grundpfeiler der Monarchie bezeichnet.

Zum ersten Mal kreuzte V. auf dem Vereinigten Landtage auch die Klinge mit Otto v. Bismarck-Schönhausen. Er merkte instinctiv, daß er es hier mit einem Gegner von ganz besonderer Kraft zu thun hatte. So oft er sich mit ihm maß, gerieth er in eine äußerst gereizte Stimmung. Der westfälische Berserker regte sich dann in ihm. Er verwies es Bismarck gelegentlich mit der souveränen Art, die ihn während seiner ganzen parlamentarischen Thätigkeit auszeichnete, ihn zu citiren, ohne ihn zu nennen. Ein anderes Mal belehrte er ihn, daß es parlamentarische Sitte sei, die Abgeordneten nur nach ihrem Wahlorte zu benennen. „Ich glaube, das verehrte Mitglied ist mehrfach in antediluvianischen Anschauungen begriffen“ äußerte er sich über Bismarck’s reactionäre Haltung, worauf dieser dem „Abgeordneten aus dem Sauerlande“ eine recht wirksame Antwort ertheilte. Am 11. März 1851 rügte V. bei Bismarck den Gebrauch des Wortes „Kriegsherr“, worauf sich Bismarck energisch verwahrte, er würde diesen wohlklingenden Ausdruck gebrauchen solange er des Königs Rock tragen dürfe. Am 20. und 22. März 1852 hatte Bismarck mit V. recht scharfe Auseinandersetzungen wegen des „zu Tode gerittenen“ Schimmels von Bronzell, der vom Erdboden zu vertilgenden großen Städte und über die militärischen Talente Vincke’s. V. wurde dadurch so empfindlich berührt, daß er, was er öfter Parlamentariern gegenüber gethan hat, seinen Gegner forderte. Das Duell fand am 25. März statt, verlief jedoch ergebnißlos. Als V. am 3. December 1850 im Hinblick auf Bronzell gesagt hatte: „Sie werden mit dieser (der preußischen) Armee nie einen Krieg führen, wenn ihm nach der Ansicht der Nation nicht die Ehre und die Interessen des Landes zur Seite stehen. Sie werden aber ebensowenig eine solche Armee, wenn sie die Ehre des Landes engagirt sieht und dafür ins Feld geritten ist, leichtfertig nach Hause commandiren können“, da fand diese offene Aufforderung zum Ungehorsam in Bismarck den berufenen Widersacher: „Das preußische Heer wird stets das Heer des Königs bleiben und seine Ehre im Gehorsam suchen“ entgegnete er. Unparteiischen und klugen Beobachtern wie dem Demokraten Robert Prutz entging es schon damals nicht, daß der märkische Junker weitaus bedeutender als der Westfale war. Vorerst aber wiegte sich der „Mann des Rechts“ in dem Gefühle seiner Ueberlegenheit.

In den Märztagen des Jahres 1848 wurde V. zum König beschieden. Sein Verwandter, der Minister Ernst v. Bodelschwingh, fand es rathsam, auf die Bildung eines constitutionellen Ministeriums hinzuarbeiten und V. schien eine geeignete Persönlichkeit zu sein, um in dieses einzutreten. Noch in Reisekleidern traf er gerade in der Nacht am 18. März mit Friedrich Wilhelm IV. zusammen, der sich wohl oder übel dazu bequemt hatte, den gefürchteten Oppositionsmann zu empfangen. V. suchte auf den Monarchen einzureden. Leopold Gerlach, der dabei war, konnte sich nicht des Lachens erwehren, worauf ihn der empörte V. belehrte, daß er am andern Tage nicht lachen würde. In einem Gespräch unter vier Augen glaubte V. dem Könige den Rath geben zu müssen, die Truppen von den Barrikaden zurückzuziehen und um das Schloß zu concentriren, weil ein Nachtkampf keinen Zweck hätte und sehr gefährlich werden könnte, zumal die Erbitterung des Volkes immer mehr zunähme. Den Rath, die Truppen aus der Stadt zu entfernen, will er nicht gegeben haben (vgl. Stenographischen Bericht der II. preuß. Kammer, 3. December 1850, gegen Schluß).

Seine Popularität erlitt für einige Zeit argen Abbruch, als er in der deutschen Nationalversammlung, wo er den Kreis Hagen vertrat, zusammen mit dem von ihm so verschiedenen Radowitz der Führer der äußersten Rechte wurde, nach ihrem Zusammenkunftsorte „das steinerne Haus“, später „Café Milani“ genannt. [747] Diese scheinbare Schwenkung war bedingt durch die echt preußische Gesinnung, die den Liberalen V. beseelte. Aus diesem Preußengeiste heraus beantragte er am 8. August 1848, bebend vor Empörung, den Ordnungsruf gegen den Radicalen Brentano, der sein preußisches monarchisches Gefühl beleidigt hatte. Dieser preußische Geist bedingte sein Eintreten für das erbliche Kaiserthum, weil dies nur Preußen zu gute kommen konnte, desgl. für eine provisorische Centralgewalt „vorbehaltlich des Einverständnisses mit den deutschen Regierungen“, was bekanntlich abgelehnt wurde. In dieser preußischen Gesinnung sprach er sich auch für den Waffenstillstand von Malmö aus. Doch hatte er das Gefühl, daß er eine unglückliche Rolle in der Paulskirche spielte und dachte wiederholt an den Austritt. Nicht zum wenigsten hatte er diese Stellung seiner schroffen undiplomatischen Art zu verdanken. Es war ihm ein Bedürfniß die revolutionären Gegner herauszufordern. „Die Drachenmilch seiner heiteren Malice“, wie Laube von ihm gesagt hat, war recht geeignet, das heiße Blut manches Demokraten in Wallung zu bringen. Gleich in seiner ersten Rede am 27. Mai enttäuschte er die Versammlung durch einen Protest gegen die Volkssouveränität. Ebenso befremdete er sehr durch seine Rechtfertigung des Waffenstillstandes. Mit Grimm wurde vielfach seine Rede vom 14. November gegen ein Eingreifen der Reichsversammlung in Sachen der Verlegung der preußischen Nationalversammlung nach Brandenburg aufgenommen, eine Rede, die zu seinen wirkungsvollsten gehörte. Varnhagen bezeichnete ihn damals in seiner liebreichen Weise als einen „verfaulten Freisinnigen, wegzuwerfen und einzustampfen!“

In Berlin hatte seine Haltung in Frankfurt die regierenden Kreise wieder versöhnlicher gestimmt und in der beispiellos verwirrten Lage, die die Berathungen der preußischen Nationalversammlung schufen, hatte im Juni General v. Gerlach selbst den Rath gegeben, V. die Uebernahme des Ministeriums anzubieten. Thatsächlich ging der General v. Rauch mit einem derartigen Auftrage nach Frankfurt. Er überbrachte V. ein eigenhändiges Schreiben des Königs, das ihm die Rathlosigkeit schilderte. Ehrlich und voller Selbsterkenntniß setzte V. hierauf dem Adjutanten seine Unfähigkeit zum Minister auseinander. Sein starrer, schroffer Charakter, der dem eines westfälischen Bauern ähnlich sei, eigne sich nicht dazu. Nicht 7 Menschen gingen in Frankfurt mit ihm. Als der Abgesandte meinte, er sei doppelt verpflichtet anzunehmen, da er den König zu der unglücklichen Proclamation am 18. März veranlaßt habe, erbat sich V. Bedenkzeit, lehnte jedoch nachher abermals ab. Unterdeß erfuhr der Prinz von Preußen, daß unter den Bedenken Vincke’s auch das gewesen wäre, daß er (der Prinz) sein politischer Gegner sei. Er sandte sofort den Grafen Goltz nach Frankfurt, um V. vom Gegentheil in Kenntniß zu setzen. Schon dachte V. an Annahme, nach einigen Wochen zerschlugen sich jedoch die Verhandlungen endgültig. Statt seiner kam das Ministerium Brandenburg. Zwar tauchte der Gedanke V. zum Minister zu machen kurz nach Brandenburg’s Eintritt noch einmal auf und V. eilte auf den an ihn ergangenen Ruf, in dem Glauben, daß die Verlegenheit in Berlin noch gewachsen sei, eiligst Ende November nach Potsdam. Er erklärte, eventuell für eine beschlußfähige Versammlung einzustehen. Da jedoch das Ministerium inzwischen festen Boden gewonnen hatte, wurde auch diesmal nichts aus seinem Eintritt. Später hat man ihm, soweit bekannt, nie wieder einen Ministerposten angeboten.

Beim Zusammentritt des nach der Charte Waldeck berufenen Landtages verließ V. (im Februar 1849) die Frankfurter Versammlung, um sein Mandat in der 2. Kammer auszuüben. Hier trat er gegenüber dem radicaleren Unruh als der unbestrittene Führer der Mehrheit auf, der „juste milieu Partei“, wie Leopold Gerlach sagte. Er setzte gegen die Linke die Anerkennung der octroyirten [748] Verfassung durch. Mit Eifer arbeitete er darauf hin, den König zur Annahme der Kaiserwürde zu bestimmen. Sein Antrag, dies „aus Gründen politischer Nützlichkeit“ zu empfehlen, ging durch (2. April 1849). Als die Ablehnung Thatsache geworden war, bemächtigte sich seiner eine lebhafte Enttäuschung und tiefe Trauer. Durch die nunmehr dem Ministerium, in dem Otto v. Manteuffel besonders hervorzutreten begann, gestellte Forderung, die Rechtsgültigkeit der Frankfurter Verfassung anzuerkennen (21. April), forderte V. den Conflict heraus. Er kam zum Ausbruch durch das Vorgehen der Linken (Unruh) und führte zur Auflösung am 27. April. Das am 27. Mai erlassene neue Wahlgesetz setzte an die Stelle der geheimen Abstimmung die öffentliche und an die Stelle des gleichen Wahlrechts das Dreiclassensystem. Dies hielt V. für ein Verlassen des Rechtsbodens und nahm deswegen eine auf ihn gefallene Wahl nicht an. Man konnte ihm hier mit Recht den Vorwurf der Inconsequenz machen, da er seinerzeit von Volkssouveränität nichts hatte wissen wollen. Dafür betheiligte er sich an der im Sommer 1849 zu Gotha tagenden Versammlung deutscher Parlamentarier, die über die von Radowitz eingeleitete Unionspolitik und die Verfassung für die Union berieth. Schon hier griff V. das Ministerium Manteuffel auf das heftigste an. Doch war er mit der großen Mehrheit einer Ansicht, daß das Unionswerk gutzuheißen sei, wiewol er zugleich von neuem seine Stimme gegen die Souveränität der Nationalversammlung erhob. Eine Fortsetzung seiner Gothaer Politik war seine Wirksamkeit in dem nach Erfurt einberufenen deutschen Parlament (März bis Mai 1850), wo er wiederum den Kreis Hagen vertrat und wo er im Volkshause wiederum als Führer der großen Mehrheit auftrat. Auch hier entwickelte er eine mächtige Beredsamkeit, so in seiner Rede vom 25. April, in der er der Centralgewalt das Recht bestritt, die demokratischen Wahlgesetze der kleineren Staaten umzustoßen, und in der vom 18. April, in der er die Errichtung von Fideicommissen als Recht des Adels vertheidigte. Bekanntlich wurde die Unionsverfassung auf den Antrag der Vincke’schen Partei en bloc angenommen, gegen den Widerspruch besonders der Partei Stahl. In die November 1850 berufene zweite Kammer wurde er vom Wahlkreise Aachen-Geilenkirchen gewählt. Jetzt nahm er – wieder inconsequent – an. Es war die sog. Landrathskammer, in der die conservative Partei die Mehrheit besaß, die sie auch noch eine Reihe von Jahren behielt. Wieder wurde V. der anerkannte Führer der Opposition, noch unbestrittener aber war es, daß er am meisten von allen das Wort ergriff. Dies ist während seiner ganzen parlamentarischen Zeit so geblieben. Niemand hat ihn an Redelust übertroffen. Schon bei der Adreßdebatte hielt er am 3. December 1850 als erster eine wuchtige Rede gegen den Entwurf der Commission, in der er sich heftig gegen die Schwarzenberg’sche Politik aussprach und die Manteuffel’s wegen Schleswig-Holstein und Hessen (Bronzell, Warschau, Olmütz) einer erbitterten Kritik unterzog. Unter dröhnendem Beifall seiner Anhänger citirte er Schiller: „Dank vom Hause Oesterreich!“ Er hielt Preußens Ehre für engagirt, das unter dem Drucke Rußlands stehe. „Wenn man sieht, daß ein Ehrenpunkt nach dem andern aufgegeben wird, dann verliert jedermann das Motiv, weshalb er stolz ist ein Preuße zu sein.“ Er schloß: „Weg mit diesem Ministerium“. Diese Losung spielte er noch öfter gegen Manteuffel aus. Am 8. März 1851 stellte er den Antrag auf Bildung eines Ausschusses zur Untersuchung der Lage des Landes. Er ließ sich durch niemand davon abbringen, obwol er damit offenbaren Schaden stiftete. „Es komme darauf an zu prüfen, ob die Regierung die Ehre des Landes gewahrt und das Recht geschirmt habe.“ Nur 41 stimmten für Berathung des Antrages, 228 für Uebergang zur Tagesordnung. V. hatte abermals durch seinen Eigensinn auch seine Parteisache verfahren. In die Ende 1852 zusammentretende [749] Kammer zog er wieder als Vertreter des Kreises Hagen-Altena-Iserlohn ein; und dieser blieb nun für die längste Zeit seines parlamentarischen Wirkens sein ständiger Wahlsitz. Seine Hauptgegner waren damals der Präsident Ludwig v. Gerlach und der Kreuzzeitungsredacteur Hermann Wagener. Als besonderes Schlachtopfer bot sich ihm immer ein Herr v. Mitschke-Collande dar. Ein anderer Unglücklicher, der nebenbei als tüchtiger Redner galt, war zum ersten Mal zum Worte gemeldet, ergriff dies auch unter allgemeiner Spannung, ließ aber nur einen gurgelnden Ton hören und setzte sich wieder mit blutrothem Gesichte. Da bemerkte V. mit grausamem Sarkasmus: „Wenn der Herr Redner habe ausdrücken wollen, daß er nichts zur Sache zu sagen wisse, so habe er seine Sache vortrefflich gelöst.“ In den Berathungen über die Gemeindeordnung, die Legislaturperiode, die Grundsteuer und die Bildung des Herrenhauses trat V. der Mehrheit entgegen und entwickelte zum Theil recht antifeudale Ansichten. Am 8. April 1854 nahm er in einer großen Rede zur Krimfrage Stellung und wandte sich dabei besonders gegen Rußland, unter Verurtheilung der Manteuffel’schen Neutralitätspolitik. Sie klang aus mit den Worten: „Europa erwartet, daß Preußen seine Schuldigkeit thut.“ V. war unerschöpflich in der Erfindung von Verlegenheiten für das Ministerium. Dazu gehörte sein bei Abschluß des Bündnisses zwischen Oesterreich und den Westmächten am 4. December 1854 gestellter Antrag. Damals schrieb Bismarck aus Frankfurt an Manteuffel: „Ich hätte selbst V. nicht die Tactlosigkeit zugetraut, in einem so kritischen Moment die Verlegenheiten der Regierung nach außen hin zu vermehren.“ Die bureaukratische Regierung Manteuffel’s geißelte er u. a. durch die Erfindung des Wortes von der Politik der „Schererei und Quehlerei“ (auf den Regierungscommissar Scherer und den Oberofficiosus Quehl gemünzt).

Aus Familienrücksichten nahm er für die nächsten Sessionen kein Mandat an, indem er die Vormundschaft für die Kinder seiner Schwester, der 1855 verwittweten Gräfin Sierstorpff übernahm. Bei Eintritt der Regentschaft wurde er wieder in das Abgeordnetenhaus geschickt, in dem jetzt die liberale Partei die Mehrheit hatte. Obwol das Ministerium nach seinem Herzen sein mußte, äußerte V.: „Ein populäres Ministerium müsse der Landtag doppelt genau beaufsichtigen“. Das verrieth, daß die alte Kampfeslust noch ungeschwächt in ihm fortlebte. Der Schwerpunkt der Verhandlungen wurde bekanntlich der Streit um die Neugestaltung des Heerwesens. Es war das Verhängniß Vincke’s und seiner Partei, daß er nicht im geringsten fähig war, den wahren Thatbestand und die Sachlage zu erkennen. Es dauerte nicht lange, so gerieth er mit Roon heftig zusammen, so im Februar 1860 als Vorsitzender der Militärcommission. Aber auch der eigenen Partei wurde er durch sein herrisches Wesen unbequem, sodaß z. B. Heinrich Arnim ausschied. Am 3. März 1860 las er der Regierung den Text, weil die bürgerlichen Officiere zurückgesetzt würden. Im einzelnen vielleicht häufig im Recht, beurtheilte V. indeß die Hauptsache völlig falsch und erging sich ohne jede nähere Sachkenntniß in leidenschaftlichen Angriffen gegen die Regierungsvorlagen. Mit Kopfschütteln, zum Theil mit Entsetzen verfolgten einige praktischer denkende Führer der Liberalen, wie Wentzel, Bernhardi, Duncker, Sybel, Saucken-Julienfelde sein querköpfiges Verhalten. Sein eigener Vetter, V.-Olbendorf, konnte nicht umhin zu äußern, daß ihm etwas mehr Besonnenheit zu wünschen wäre. Aber die Mehrzahl folgte ihm blindlings. Seine Autorität war bei ihr im Laufe der Jahre unerschütterlich geworden. Als V. in der Folge durch die Gegengründe in seiner Auffassung wankend gemacht wurde, hielt er es aus Rücksicht auf die Stimmung der Wähler nicht für rathsam zurückzuweichen, „aus Mangel an moralischem Muth“ verzeichnete Theod. von Bernhardi in seinem Tagebuche. Vergeblich suchte Sybel ihn zum Einlenken [750] zu bewegen. V. erklärte ihm: man könne den Principien nichts vergeben. „Der Mensch ist unsinnig“ schrieb Bernhardi. Der sterbende Wentzel meinte ingrimmig: „V. hat nicht eine Faser vom Staatsmann in sich und wird unsere Partei ruiniren.“ Als die 9 Millionen schließlich einstimmig bewilligt wurden, kam es noch zu guterletzt (15. Mai 1860) zu einem heftigen Wottwechsel zwischen V. und Roon. Die damalige Obstructionspolitik der von V. geführten Mehrheit verleidete dem Prinzregenten das parlamentarische Wesen. Bernhardi aber rief resignirt: „Und die Thoren jubeln, Vincke-Hagen cum suis! Die blinde Unvernunft dieser Leute hat mich schon oft empört.“ Die ganze Verranntheit Vincke’s trat bei dem am 21. Mai 1860 veranstalteten Abschiedsessen zu Tage, in der er es als einen Triumph hinstellte, die Regierung besiegt zu haben, während Preußens Ansehen geschädigt und die Regierung geschwächt war, die Partei Vincke aber sich das Wohlwollen des Regenten verscherzt hatte. „Welch’ eine hoffnungslose Unvernunft und Verblendung!“ lautete der Refrain dazu in Bernhardi’s Tagebuche. In der Folge wollte V. die Formation nur provisorisch gelten lassen, was das allerschlimmste war. Dem entsprach die Ungeschicklichkeit Vincke’s bei der Adreßdebatte im Februar 1861, zur höchsten Unbequemlichkeit der Regierung einen Passus über Preußens Sympathie für Italien in die Adresse einzuflicken, womit er nur der napoleonischen Politik in die Hände arbeitete. Sein stolzes und souveränes Wesen war hin und wieder sehr am Platze, so auch bei Zwischenfällen, wie jener es war, als der junge russische Diplomat Graf Dunten am 4. Mai 1860 während der Vereidigung eines Abgeordneten sitzen blieb und V. dies sofort unter lautem Beifall, auf die Loge deutend, „als einen Verstoß gegen die Sitte des Hauses“ rügte. Der deswegen vom russischen Botschafter geschlagene Lärm und seine Wendung „un certain V.“ konnte V. nur zur Ehre gereichen. Eine vernichtende Abfertigung erlebte am 8. März 1861 Waldeck. Vincke’s damalige Rede endigte mit den Worten: „Wir sind der Ansicht, daß, wie auch die Geschicke unseres Landes sich wenden mögen, wir immer in einem monarchischen Staate bleiben und deshalb erkennen wir mit Freuden Se. Majestät den König als unsern Monarchen an und wir sind und wollen bleiben seine Unterthanen“ (ein Wort, das bekanntlich die Radicalen bemängelten). Recht glücklich war er auch gelegentlich in der Ironisirung des sich regenden Ultramontanismus. So sagte er am 24. März 1860: „Es ist mit Recht namentlich auf die Trennung durch den Rhein Bezug genommen. Der Herr Abgeordnete für den Landkreis Köln hat gesagt: man möchte doch das alte Princip gelten lassen, daß zwar Berge die Völker trennen, aber nicht die Flüsse. Ich weiß nicht, was das für ein Princip sein soll – ob ein ethnographisches oder ein völkerrechtliches Princip; ganz zutreffend kann es aber wol nicht sein; denn sonst könnte ja von Ultramontanen gar keine Rede mehr sein.“ Dem Abgeordneten Peter Reichensperger, der den Bundestag als eine Krücke der deutschen Einheit bezeichnet hatte, die man erhalten müsse, erwiderte er am 21. April 1860: „Anfangs habe ich nicht recht gewußt, was eigentlich mit diesem Bilde gemeint war; aber endlich ist es mir doch klar geworden: Deshalb soll der Bundestag als Krücke aufrecht erhalten werden, weil sonst möglicherweise der Krummstab zerbrechen könnte.“ Seine Hauptgegner waren in dieser Zeit unter den im übrigen sehr spärlich vertretenen Conservativen Moritz v. Blanckenburg (Naugard) und wieder H. Wagener (Schievelbein). Wie oft hat V. sich an diesen tüchtigen Rednern, die ihm aber an staatsmännischem Blick überlegen waren, gerieben und sie durch seine Dialektik in die Enge getrieben! Köstlich war die sarkastische Stimmung, die sich seiner bemächtigte, wenn die Worte: „Der Abgeordnete für Naugard“ oder „Das jüngere Mitglied für Schievelbein“ über seine Lippen kamen. Er mußte aber auch hin und wieder eine Zurechtweisung [751] von dieser Seite einstecken, wie ihm dies z. B. am 3. Mai 1861 von Blanckenburg widerfuhr. Bei den Neuwahlen Ende 1861 lehnte V. eine Candidatur ab, wol weil er das Gefühl hegte, daß er sich heillos verrannt hatte. Er war zu der Erkenntniß gekommen, daß ein Bruch mit der Regierung vermieden werden müsse. Anstatt dessen sah er die Fortschrittspartei ihr Haupt erheben. Bernhardi hatte Recht, wenn er meinte, daß es nun mit Vincke’s parlamentarischer Rolle zu Ende sei. Als V. Anfang 1862 wieder für Stargard-Berent in das Abgeordnetenhaus gewählt wurde, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen ihm und seinem Parteigenossen Grabow, der einem Anschluß an die Fortschrittspartei das Wort redete. V. drohte mit Austritt. Da riefen einige Stimmen der Fraction: „Schadet auch nichts!“ V. trat dann auch im Mai aus der stark zusammengeschmolzenen Partei aus. Zwar bildete sich eine neue Fraction um ihn, welche den Namen der „altliberalen“ empfing; sie bestand jedoch nur aus einigen 20 Mitgliedern, die zumeist früher in der Militärfrage gegen ihn gestimmt hatten. In der Zeit von 1863–1866 ohne Mandat, wurde er für 1866/67 noch einmal in Hagen gewählt. Seine Partei schmolz immer mehr zusammen. 1867 vertrat er Minden im preußischen Abgeordnetenhause, in demselben Jahre Hagen im ersten, 1869 Mörs-Rees im zweiten Reichstage des norddeutschen Bundes. In dieser Session legte er völlig parlamentsmüde und von fast allen verlassen sein Mandat nieder. Mit dem leitenden Staatsmanne hatte er schließlich vollen Frieden geschlossen und ist sein Freund geworden, wie er denn auch das Verfassungswerk durch seine hinreißende Beredsamkeit 1867 wesentlich förderte. Freilich konnte der alte kampfesfreudige Spötter sich gelegentlich nicht enthalten, Verlegenheiten zu schaffen, wie dies bei der Debatte über den hannoverschen Provinzialfonds am 6. Februar 1868 geschah, wo er sich zum Ritter der dem Kanzler opponirenden Conservativen aufwarf und wieder einmal in Tactlosigkeiten und beißenden Witzeleien mehrere Stunden lang schwelgte. Noch einmal kam auch der Ackerer des Rechts in dieser Rede zum Vorschein, der vom Formalismus nicht lassen konnte. Sechs Jahre hat V. dann noch in Zurückgezogenheit auf seinen Gütern gelebt. Am 3. Juni 1875 raffte ihn in Bad Oeynhausen ein Gehirnschlag aus dem Leben. Zu Busch bei Hagen, seinem Geburtsorte, wurde er neben seinem Vater in Waldeseinsamkeit bestattet. Ein schlichter Bauernwagen führte nach ländlicher Sitte – auf seinen Wunsch – den seine irdischen Ueberreste bergenden Sarg dorthin. Aus der Ehe mit seiner ihn überlebenden Gattin Helene, einer geborenen Gräfin v. d. Schulenburg-Wolfsburg, die er am 31. August 1848 eingegangen und durch die er in den Besitz des Gutes Ostenwalde bei Melle, Bez. Osnabrück, gekommen war[2], hinterblieben keine Kinder. Seinen Wohnsitz hatte V. abwechselnd in Ostenwalde und auf dem väterlichen Gut Busch gehabt.

V. ist in mancher Beziehung der Typus eines deutschen Parlamentariers und eines doctrinären Politikers, so außerordentlich er sich auch durch seine unvergleichlichen rednerischen Vorzüge, seinen glühenden Patriotismus und seine ehrliche Gesinnung über den Durchschnitt erhebt. Er ist keine schöpferische Kraft gewesen. In der Negation beruhte seine ganze Stärke und er hat gleichsam etwas darin gesucht, nur negativ, hemmend und verwirrend zu wirken. Nicht im geringsten staatsmännisch angelegt, besaß er auch nicht das Zeug zu einem geschickten Parteiführer. Er ist der Todtengräber der alten gemäßigt liberalen Partei gewesen, die einst so glänzende Tage gesehen hatte. Es war kein Zufall, daß der Erbe seines alten Wahlsitzes Hagen 1867 Eugen Richter wurde, ein Doctrinär wie V., von ähnlicher Beredsamkeit, sonst freilich sehr verschieden von der knorrigen westfälischen Eiche, der man menschlich im Grunde nur wohl wollen kann. Immerhin bleibt der Eindruck, den die historische Figur des [752] Parlamentariers Georg v. V. hinterläßt, nicht sehr erfreulich, weil die Unfruchtbarkeit dieses Lebens erschreckt.

Parlamentsberichte. – R. Haym, Reden und Redner des ersten preuß. Vereinigten Landtages. Berlin 1847. – R. Haym, Die Deutsche Nationalversammlung. Frankfurt a. M. 1848. Berlin 1849 u. 1850. – H. Laube, Das erste deutsche Parlament. Leipzig 1850. – Die Gegenwart. Leipzig. Bd. 3–7, 1849 ff. – W. Wichmann, Denkwürdigkeiten a. d. Paulskirche. Hannover 1888. – H. Wagener, Staats- u. Gesellschaftslexikon. Bd. 21. Berlin 1866. – Leopold v. Gerlach, Denkwürdigkeiten I u. II. Berlin 1891. – Aus dem Leben Theodor v. Bernhardis II–IV. Leipzig 1893–1895. – H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte V. – H. v. Sybel, Begründung des Deutschen Reichs. – Hermann Wagener, Erlebtes. Berlin 1884. – Roons Denkwürdigkeiten. II. Breslau 1892. – Biedermann, Dreißig Jahre deutscher Geschichte. – Varnhagen’s Tagebücher. – A. Andrä-Roman, Erinnerungen eines alten Mannes aus dem Jahre 1848. Bielefeld 1895. Dazu Kreuzzeitung 1895, Nr. 232 (18. Mai). – Vgl. auch Bismarck’s Urtheil in der Rede an die Westfalen am 11. Mai 1895.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 743. Z. 5 v. u.: Diese Unterredung fand erst vor dem 2. vereinigten Landtag, 2.–10. April 1848, statt. [Bd. 45, S. 675]
  2. S. 751. Z. 17 v. u.: Ostenwalde, der eigentliche Stammsitz der Familie, gelangte schon 1846 vor Vincke’s Verheirathung in seinen Besitz. [Bd. 45, S. 675]