ADB:Vincke, Ludwig Freiherr von

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Artikel „Vincke, Ludwig Freiherr von“ von Alfred Stern in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 736–743, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vincke,_Ludwig_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 16:16 Uhr UTC)
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Vincke: Friedrich Ludwig Wilhelm Philipp Freiherr v. V., geboren am 23. December 1774 zu Minden, † am 2. December 1844 zu Münster. Er war der Sprosse einer altadeligen, im Westfälischen begüterten Familie. Sein Vater, Domdechant in Minden, zeitweise Gesandter Friedrich’s des Großen in Kopenhagen, und seine Mutter, eine geborene v. Buttlar, machten ihr Haus zu einer Heimstätte seiner Bildung und edler Gastfreundschaft und gaben den sieben Kindern, die ihnen von zehn blieben, eine sorgfältige Erziehung. Ludwig V., der dritte von vier Brüdern, besuchte zur Ergänzung der häuslichen Ausbildung von 1789 bis 1792 das Pädagogium in Halle, studirte vom Frühling 1792 bis 1795 in Marburg, Erlangen, Göttingen Jura und Cameralia und bereitete sich durch eisernen Fleiß auf den Verwaltungsdienst vor, zu dem er sich schon frühe hingezogen fühlte. Vielfache Fußwanderungen und Reisen, die ihn u. a. vor das belagerte Mainz und Ostern 1794 mit drei Freunden nach Wien und Preßburg führten, schärften seinen Blick. Ueberall hatte er ein aufmerksames Auge auf Land und Leute, Ackerbau und Viehzucht, ständische Verhältnisse und Wehrwesen. Die Aufzeichnungen in dem Tagebuche des Jünglings geben Kunde von tiefem vaterländischem Gefühl, Abscheu vor der Fremdherrschaft, Widerwillen gegen Titelsucht und Kastengeist. Nach Vollendung der Universitätsstudien und Ablegung des ersten Examen wurde er am 23. Juni 1795, entsprechend dem Wunsche seines Schwagers, des Ministers von der Reck, zum Referendar bei der kurmärkischen Kammer in Berlin ernannt. In dieser Stellung erweiterten sich seine Kenntnisse theils durch Arbeiten mit der Feder, theils durch Dienstreisen auf die Domänen ungemein. Dabei bildete sich in seinem Geiste ein starker Gegensatz gegen das Mercantilsystem. Der „göttliche“ Adam Smith, wie er ihn einmal nennt, nahm ihn ganz gefangen. Sein Fleiß und seine rasche Fassungsgabe befähigten ihn, schon am 20. Mai 1797 das große Examen zu bestehen. Eine darauf folgende mit ein paar Freunden unternommene Reise durch Schlesien, auf der er mit dem jungen Schön zusammentraf, lehrte ihn viel Neues zumal über Landwirthschaft, Leinenindustrie, Schafzucht. „Mit vielen Kenntnissen, wunden Füßen und ganz leeerem Beutel“ heimgekehrt, wurde er als Assessor bei der kurmärkischen Kammer in Berlin angestellt, trat den Ministern v. Heinitz und v. Struensee nahe und erwarb sich die höchste Zufriedenheit seiner Vorgesetzten.

Der Plan einer großen Reise ins Ausland wurde durch seine Ernennung zum Landrath in Minden (8. Aug. 1798) durchkreuzt. Es war von höchstem Gewinn für ihn, daß er daselbst in die nächste Berührung mit dem Freiherrn vom Stein gelangte, dem damaligen Oberpräsidenten sämmtlicher westfälischer Kammern. Stein wurde sein Vorbild, und er selbst gewann Stein’s Freundschaft fürs Leben. Es wird erzählt, daß Friedrich Wilhelm III. 1799 bei seiner Anwesenheit in Westfalen, erstaunt über Vincke’s jugendliches Aussehen, zu Stein gesagt haben soll: „Macht man hier Kinder zu Landräthen?“ und daß Stein erwidert habe: „Ja, Ew. Majestät, ein Jüngling an Jahren, aber ein Greis an Weisheit.“ Vorübergehende Reibungen, namentlich durch die Eigenheiten [737] der Naturen, Stein’s, des genial Durchgreifenden, und Vincke’s, des sorgfältig Abwägenden, veranlaßt, konnten ihr Verhältniß nicht lockern. Der junge Landrath erwarb sich, bei seinen mannichfachen Geschäften, seiner Sorge für Wegbau, Wohlthätigkeitsanstalten, Armenpflege, seinen Bemühungen, die Lasten von Einquartierung, Durchmärschen, Vorspann zu erleichtern im höchsten Maaße das Vertrauen und die Liebe der Eingesessenen. Zumal die Bauern verehrten ihn als ihren Schutzgeist. Er sah in Wind und Wetter unermüdlich nach dem rechten, arbeitete oft zu Hause die Nächte durch, in Pflichttreue, Mäßigkeit, Energie ein leuchtendes Muster.

Das Jahr 1800 erfüllte ihm einen Lieblingswunsch: England aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Wohl vorbereitet durch Studien und Belehrung von Fachmännern wie Büsch und Thaer machte er sich im April auf den Weg und verweilte beinahe sieben Monate in dem classischen Lande des „Selfgovernment“. Durchaus nicht blind für seine Schwächen nahm er doch im ganzen den Eindruck mit: „Die Art, wie die Menschen hier durch und aus sich selbst regiert werden, ohne daß der Staat sich im mindesten darum zu bekümmern und dafür etwas auszugeben braucht, hat gewiß sehr viel Vorzügliches.“ Beim Einblick in das Getriebe englischer Industrie und Verwaltung wurde ihm die Gesellschaft von Francis d’Ivernois, den er in London kennen gelernt hatte, sehr nützlich. Am 10. September 1800 langte er wieder in Minden an, wo ihm im Conflict zwischen einer tiefen Herzensneigung und Standesvorurtheilen der Eltern ein qualvolles Jahr verging. Aber schon im Herbst 1801 entrückte ihn der Auftrag, durch Vermittlung der preußischen Regierung für eine Anzahl von Gutsbesitzern Merinos in Spanien einzukaufen, den peinlichen heimischen Verhältnissen.

Bereits früher hatte er sich, theils aus eigenem Antrieb, theils auf Veranlassung des Ministers v. Struensee mit der Schafzucht in Schlesien, Thüringen, Sachsen eifrig beschäftigt. Er suchte nunmehr vor seiner Abreise seine Kenntniß dieses Gegenstandes zu erweitern, begab sich anfangs 1802 mit einem alten Gefährten nach Paris, wo er spanisch lernte, seine Erfahrungen bereicherte, auch dem ersten Consul Bonaparte vorgestellt wurde und erreichte nach mühseliger Fahrt am 27. März Madrid. Der Eindruck, den er vom Hofe und von Godoy, dem leitenden Minister, empfing, war wenig günstig, und über den niederen Zustand der Bildung des Volkes konnte er sich nicht täuschen. Auch stieß sein Geschäft bei der Abneigung der Eigenthümer, ihre besten Thiere herzugeben, und bei der Elendigkeit der Verkehrsmittel auf bedeutende Schwierigkeiten. Er wußte sie indeß zu überwinden, machte sich mit allem, was zur Schafschur gehörte, an Ort und Stelle vertraut und konnte am 16. Juli über 1200 kostbare Exemplare von Merinos, zu deren Wartung er deutsche Schäfer hatte kommen lassen, in Bilbao einschiffen. Ehe er den Rückweg antrat, durchstreifte er ein halbes Jahr lang die pyrenäische Halbinsel. Einer Landesversammlung der Provinz Biscaya wohnte er mit höchstem Interesse bei. Die Städte Santander, Oviedo, Coruña wurden in Augenschein genommen, die portugiesische Grenze überschritten, in Porto, Coimbra, Lissabon Halt gemacht und zu Schiff die Mündung des Guadalquivir erreicht. Sevilla, Cadiz, Gibraltar, Malaga, Granada, Valencia, Barcelona waren die weiteren Hauptstationen, bis man beim Fort Bellegarde die französische Grenze betrat. V. hatte überall mit offenen Augen die vielen fremdartigen Eindrücke in sich aufgenommen und unter den größten Unbequemlichkeiten den Schatz seines Wissens vermehrt. „Ich möchte, meinte er, um keinen Preis die Reise noch einmal machen, aber es ist mir auch nicht leid, sie gemacht zu haben, und wenn es mir zuweilen schlimm genug erging, so werde ich doch stets mit Vergnügen daran zurückdenken.“ Das südliche Frankreich [738] erschien ihm „nach dem langen Aufenthalt in einem Lande, welches wenigstens ein Jahrhundert gegen alle cultivirten Länder Europas zurück ist“, wie ein Paradies. Von Lyon aus wurde die Schweizer Grenze erreicht. In Neuenburg genoß V. unter „Mitbürgern“ das Glücksgefühl, einem Staate anzugehören, „der gewiß vor allen andern dem Ziele der Vollkommenheit sich am meisten nähert“. Man sieht daraus, daß ihm, wie vielen anderen, die später an der Erneuerung des Staates mitzuarbeiten hatten, die unbedingte Nothwendigkeit derselben durchaus noch nicht klar war. Ueber Bern ging der Weg Deutschland zu. Nachdem V. in Berlin mündlich Bericht erstattet hatte, kehrte er am 22. März 1803 in seinen alten Wirkungskreis nach Minden zurück, in dessen Nähe, zu Hausberge, er sich sein stilles Junggesellenheim eingerichtet hatte.

Nur ungern schied er, zum Kammerpräsidenten von Ostfriesland ernannt, am 15. November 1803 von der heimischen rothen Erde. Bald aber war er auf seinem Posten in Aurich wieder mitten in einer gesegneten Thätigkeit, die ihn über den Schmerz eines neuen tiefempfundenen Herzenserlebnisses hinweghob. Wie er es in Westfalen gewohnt gewesen war, so überzeugte er sich auch hier durch den Augenschein, zu Pferde und zu Fuße, seltener zu Wagen oder durch Treckschuyte befördert, vom Zustande der Provinz: überall durch das Vertrauen der Einwohner belohnt, in Aurich Mittelpunkt der Geselligkeit, durch Ausflüge nach Oldenburg, Bremen u. s. w. erfrischt. Als aber Stein im October 1804 Struensee’s Nachfolger im Ministerium wurde, wußte man ihm im Kammerpräsidium zu Münster und Hamm keinen besseren Ersatz zu geben als V. In seltener Bescheidenheit und Uneigennützigkeit hatte er sich gegen die Annahme dieser ehrenvollen Ernennung gesträubt. Sobald er sich in Münster eingearbeitet hatte, wiederholte sich die Erscheinung. daß er nach unten wie nach oben die höchste Achtung gewann und aufs segensreichste wirkte. Es war nichts Geringes, die noch unvollendete Einrichtung der neu erworbenen Landestheile abzuschließen, im Steuerwesen, in den Schulsachen, in der Militärverfassung u. a. eine Ausgleichung mit dem sonst Bestehenden vorzunehmen, unter kummervoller Verfolgung der schwankenden auswärtigen Politik, welche zur stärksten Demüthigung Preußens gegenüber Napoleon führte. Im persönlichen Verkehr mit Blücher, Spiegel u. A., in dauerndem Briefwechsel mit Stein empfand V. die Trostlosigkeit der Lage so tief wie die besten Patrioten, noch dazu im Frühling 1806 durch den Tod der Mutter niedergebeugt. Endlich erhielt er die Gewißheit des „langersehnten Krieges“. Aber schon am 19. October 1806 mußte er erfahren, „daß alles verloren sei“ mit der Doppelschlacht von Jena und Auerstädt. Für Westfalen begann die Zeit siebenjähriger Fremdherrschaft. V. gedachte gegen ihre Härten, so lange man ihn im Amte ließ, die Provinzen möglichst zu schützen und verlor den Muth nicht. Ende März 1807 kam es aber zu einem Conflict mit dem französischen Gouverneur Grafen Canuel, der die Entfernung Vincke’s von seinem dornenvollen Amte zur Folge hatte.

Jedes lästigen Zwangs ledig, aber tief bekümmert suchte er die Seinigen und alte Freunde, darunter den ungnädig entlassenen Stein in Nassau, auf. Dann schlug er sich nach Altona durch, übersandte von hier aus dem König sorgfältig erwogene Pläne einer Befreiung Westfalens, wobei er auf die Mitwirkung einer englischen Hülfsmacht rechnete und fuhr selbst im Mai von Tönning aus nach der „sichern glücklichen Insel“, um in London neben dem preußischen Gesandten Jakobi, dem Fürsten Wittgenstein, d’Ivernois, Dörnberg, zumal bei Canning für diesen Gedanken zu wirken. Der Abschluß des Friedens zu Tilsit machte alle Entwürfe Vincke’s zu nichte. Den Tag, an dem er ihn erfuhr, nannte er „einen der schrecklichsten seines Lebens“. War der Hauptzweck seiner selbstgewählten Mission vereitelt, so hatte der neue Aufenthalt doch dazu [739] gedient, seine Kenntnisse der wirthschaftlichen Verhältnisse und des inneren Staatsbaues Englands zu vervollständigen. Im August kehrte er über Holland in die Heimath zurück, um so mehr entschlossen dem König seine Dienste zu weihen, da inzwischen Stein als Retter nach Memel berufen war. Nach kurzem Verweilen an einigen Zwischenstationen, wie Hamburg, wo er ein Anleihegeschäft für den Staat abwickelte, Berlin, Treptow (bei Blücher), Elbing kam er am 30. November in Memel an. Er fand sich hier durch die huldvolle Aufnahme im Hause des Königs geehrt und durch den nahen Verkehr mit Scharnhorst, Gneisenau und vorzüglich mit Stein hochbeglückt.

Von allen Gehülfen des großen Staatsmannes bei der nun beginnenden Reformarbeit stand er in seiner geistigen Richtung diesem wol am nächsten. Das bezeugen seine Denkschriften und Gutachten, die sich erhalten haben. Wie für Stein so war auch für ihn das Maßgebende: die Selbständigkeit des Volkes zu wecken und den Mechanismus der Verwaltung zu beleben. Dabei blieb England sein Vorbild. Jedoch hütete er sich vor sklavischer Nachahmung, schränkte seine frühere Anpreisung der Lehren von Adam Smith bedeutend ein und widersprach dem „schönen theoretischen Satze, daß der Staat alles sich selbst überlassen solle“. Aus seinen englischen Studien ging damals die classische Schrift „Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens“ hervor, welche Niebuhr 1815 (Berlin in der Realschulbuchhandlung) mit einer rühmenden Einleitung herausgab, „der erste Versuch, den Organismus und den Geist der englischen Verwaltung in ihrer von den Zuständen des Festlandes so völlig verschiedenen Eigenthümlichkeit begreiflich zu machen“ (R. v. Mohl, Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften II, 48). Geleitet von der Absicht, die britische Verwaltung des Innern „auf preußischen Boden, Sitten und Verfassung zu übertragen, soweit solche auf diese anwendbar gemacht werden kann“, verfaßte er einen Hauptbericht über „Zwecke und Mittel der preußischen Staats-Verwaltung“ (8. August 1808), dem vier Anlagen über die Organisation der Unterbehörden zunächst für die Polizeiverwaltung (4. Juni 1808), über die Organisation der Unterbehörden für die Finanzverwaltung (14. Juni 1808), über die Organisation der Unterbehörden für die Communalverwaltung, über die Militärverwaltung beigegeben waren. Aus der Zeit von Stein’s Ministerium hat sich auch noch ein Aufsatz Vincke’s über die collegialische Form der Finanz- und Polizeiverwaltung vom 9. April 1808 vorgefunden, ferner eine sehr wichtige Arbeit über die Organisation der ständischen Repräsentation (20. September 1808). Dazu treten Bemerkungen über die Veräußerung von Domänen, über Anstellung, Entlassung und Pensionirung der Staatsdiener, Grundzüge der Statuten eines Civilverdienstordens im preußischen Staate u. v. a. Der praktische unmittelbare Erfolg dieser Arbeiten war allerdings sehr ungleichartig. Die Reorganisation des platten Landes, für welche V. u. a. die Uebertragung der Polizeigeschäfte im weitesten Umfang an Organe der Selbstverwaltung, Ausdehnung der westfälischen Erbentage, Aufhebung der patrimonialen Gerichtsbarkeit vorschwebte, kam nicht zum Abschluß. Reichsstände, die von Provinzialständen erwählt werden sollten, wurden nicht gebildet. An „Verbannung alles Religionsunterschiedes aus den Schulen mit Uebertragung des Religionsunterrichtes an die Prediger jeden Glaubens“ war nicht zu denken, ebensowenig an die „ungebundene Freiheit, sich über öffentliche Dinge und Personen in Worten und in Schriften zu äußern“.

Während V. seine Arbeiten verfaßte, konnte er nirgends lange seßhaft bleiben. Memel hatte er nach nur zwölftägigem Aufenthalt verlassen müssen, um finanzielle Verhandlungen mit dem Kurfürsten von Hessen durch Vermittlung des Fürsten Wittgenstein einzuleiten. Als diese sich hinzögerten, machte er einen [740] Ausflug nach Westfalen und erforschte dort, inwiefern auf eine Schilderhebung zu rechnen sei. Im März 1808 traf er mit Stein in Berlin zusammen, der sich damals dort mit Daru über die Räumung des Landes zu einigen suchte. Es folgten Besuche bei Freunden, bis der Ruf des nach Königsberg zurückgekehrten Stein, sich bei ihm einzufinden, V. in Halle erreichte. Fast gleichzeitig erfuhr er die Wegnahme des verhängnißvollen von Stein an den Fürsten Wittgenstein geschriebenen Briefes. Er sah sich infolge dessen veranlaßt abzuwarten, wie sich Stein’s Schicksal gestalten würde und inzwischen neuerdings, nie ohne die vaterländischen Ziele aus dem Auge zu verlieren, hin und her zu wandern. Endlich riß er sich am 28. November 1808 von den Seinigen in Minden los, hörte in Berlin angelangt die Trauerkunde von Stein’s zweiter Entlassung, sah ihn selbst flüchtig am 9. December auf dem Wege nach Königsberg wieder und wurde hier zunächst von den Ministern Dohna und Altenstein beschäftigt. Auch in dieser Zeit suchte er durch mannichfache Arbeiten, wie über die Säcularisation der schlesischen Klostergüter, die Consolidirung der Staatsschuld, die Organisation des Polizeiwesens (19. März 1809), die ländliche Gemeindeverfassung (25. März 1809) am Wiederaufbau des Staates mitzuwirken und schloß sich persönlich besonders an Schön an. Aber der schlaffe Gang der Dinge nach Stein’s Fall bekümmerte ihn, und er war sehr zufrieden damit, durch seine Ernennung zum Präsidenten der kurmärkischen Regierung (26. Februar 1809) der Nothwendigkeit überhoben zu sein, in Königsberg „leeres Stroh zu dreschen“.

In Potsdam, wohin auf seinen Wunsch der Sitz der Regierung gelegt war, mit Gehülfen wie Bassewitz als erstem, Maaßen als zweitem Director des Regierungscollegiums, fehlte es nicht an einer Fülle von wichtigen Aufgaben. Auch den allgemeinen Fragen der Gesetzgebung und Verwaltung blieb Vincke’s Theilnahme gesichert, wobei er sich nicht selten in Widerspruch mit Freunden setzte. So gab er, abweichend von der Mehrheit seines Regierungscollegiums, sein Votum gegen die gänzliche Aufhebung der Zünfte ab, in der Hoffnung, „daß das noch für unsere Zeiten passende Gesetz sich erhalten, das Uebel vieler Art sich verbessern lasse“. So kritisirte er „unberufen“ in einer Denkschrift die (für die Marken und Pommern bestimmte) Verordnung vom 9. Januar 1810, die zur Ergänzung des Edictes vom 9. October 1807 wegen des Einziehens und Zusammenschlagens bäuerlicher Grundstücke erlassen war. Auch die Vermehrung der Militärlast und die „Permanenz des Dienstes“ wurden in seinem Immediatberichte verurtheilt, da er, obwol seit jeher ein Verfechter des Grundsatzes allgemeiner Wehrpflicht, die Ergänzung des Heeres durch Freiwillige für ausreichend hielt. Indessen wurde ihm die amtliche Thätigkeit durch Mißvergnügen mit der obersten Leitung des Staates, Enttäuschung nach dem Aufflammen vaterländischer Hoffnungen im J. 1809 und den Zustand seiner angegriffenen Gesundheit verleidet. Dazu kam entscheidend der Wunsch, sich endlich einen häuslichen Herd zu gründen. Der Vater der längst Erwählten, Eleonore von Syberg, forderte, um sein einziges Kind in der Nähe zu behalten, daß V. eines seiner Güter Jckern in der Grafschaft Mark beziehe. Drei Viertel Jahre lang ließ V. sich noch bewegen auf seinen Posten auszuharren. Am 31. März 1810 wurde ihm der Abschied ertheilt.

Am 20. Mai 1810 fand die Hochzeit statt. Nach einer Schweizerreise und einem Curaufenthalte in Wiesbaden bezog V. mit seiner jungen Frau das ihm bestimmte Gut. Er verbrachte hier in glücklichem Familienleben, durch wirthschaftliche Thätigkeit in Anspruch genommen, häufig noch durch Geschäfte und die Sorge um den alternden Vater in die Heimath geführt, eine stille Zeit. Die französische Regierung überwachte ihn und hatte Grund dazu, da er die [741] Pläne zur Befreiung des vaterländischen Bodens mitzuwirken, nicht aufgegeben hatte. Am 12. März 1813 wurde er plötzlich verhaftet. Da sich, dank seiner Geistesgegenwart, sowie dank der Nachsicht der fremdherrlichen Beauftragten nichts Verdächtiges unter seinen Papieren finden ließ, behielt er die Freiheit, mußte sich aber bis zum 19. Juni 1813 den erzwungenen Aufenthalt auf dem linken Rheinufer gefallen lassen, den ihm ein Bruder auf seinem Landgute so angenehm wie möglich zu machen suchte. Kaum wieder mit seiner Familie vereint erhielt er die Nachricht vom Tode seines Vaters. Indessen drängten die großen Ereignisse, der Verlauf des Befreiungskampfes, der Abzug der Franzosen, das Erscheinen der preußischen Truppen alles Persönliche zurück. V. übernahm sofort wieder die Zügel der Verwaltung, vom General v. Bülow zum einstweiligen Generalcommissarius ernannt, dann am 21. November 1813 von Hardenberg zum Civilgouverneur für die Provinzen zwischen Weser und Rhein berufen. Es hatte keine Schwierigkeit, sich mit Stein, dem Haupte der Centralverwaltung der Verbündeten und mit dem provisorisch zum Gouverneur von Berg ernannten Gruner über Abgrenzung der Competenz zu verständigen. Dagegen gab es harte Zusammenstöße mit dem Militärgouverneur v. Heister, die beinahe zum Duell geführt hätten. Was V. in dieser stürmischen Zeit für die Organisation der Verwaltung, Verpflegung des Bülow’schen Corps, Rüstung von Landwehr und Landsturm leistete, war bewundernswerth und erwarb ihm mit Recht das eiserne Kreuz.

Nach der Herstellung des Friedens. mit Frau und Kindern in Münster vereint, hatte er den Schmerz, seine Bemühungen für Erhaltung Ostfrieslands scheitern zu sehen. Auch wurde seine Gemüthsruhe auf manche harte Probe gestellt, als die Militärbehörden nach der Entweichung Napoleon’s von Elba neue Opfer von seiner Provinz forderten. Dazu kamen ärgerliche Streitigkeiten mit den Mediatisirten, Klagen über verkehrte Maßregeln der höheren Behörden, Befürchtungen, „daß die großen Erwartungen der Welt, in Preußen das vollkommene Muster einer Verwaltung und Verfassung aufgestellt zu sehen“, getäuscht werden möchten. Auch konnten ihn die Verhandlungen über die schließliche Organisation der Provinz Westfalen, an denen er im Frühling 1816 in Berlin theilnahm, nicht völlig befriedigen, und sein uneigennütziger Wunsch, den Posten des Oberpräsidenten der Provinz von dem des Regierungspräsidenten zu Münster getrennt zu sehen, wurde nicht erfüllt. Der König bestätigte ihn als den Würdigsten in beiden Eigenschaften und V. kehrte im Juni 1816 in sein geliebtes Westfalen zurück, wo seiner das reichste Feld der Thätigkeit wartete.

Die ganze Stärke seiner Begabung, die auf dem Gebiet der Verwaltung lag, kam von nun an Jahrzehnte hindurch noch glänzender als früher zum Ausdruck. Im Kreise seiner Räthe zu Münster erschien er Durchreisenden, wie Perthes, „mit dem Gepräge des genialen Mannes“, zugleich an Niebuhr und Möser erinnernd. Auf seinen Wanderungen im blauen Bauernkittel, anfangs oft unerkannt, bis seine kindlichen Züge sich jedem Westfalen eingeprägt hatten, durchforschte er alle Zustände selbst und verschaffte sich die klarste Anschauung von der Nothwendigkeit ihrer Besserung. Man müßte die Geschichte der Provinz Westfalen von 1816 bis 1844 schreiben, wenn man allen Spuren seines segensreichen Wirkens nachgehen wollte. Als wichtige unmittelbare oder mittelbare Folge desselben seien hier nur hervorgehoben: die Erweiterung des Straßennetzes, die Schiffbarmachung der Lippe, die Anlage des Hafens von Ruhrort, die Gründung des Landarmen- und Besserungshauses in Benninghausen, die Stiftung von Schulen und Lehrerseminarien, die Förderung landwirthschaftlicher und litterarischer Vereine. Seine Hauptfürsorge blieb der Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes gewidmet. Ihr entsprang sein, als Handschrift abgedruckter [742] „Bericht an des Herrn Minister des Innern Excellenz über die Zerstückelung der Bauernhöfe und die Zersplitterung der Grundstücke in der Provinz Westfalen“ (1824). Hier erklärte er sich entschieden gegen die Gestattung unbeschränkter Theilbarkeit und forderte, daß für jeden Hof der untheilbare Bestand festgestellt werde. Die Bauern sahen in dem geborenen Edelmann ihren Freund und Berather. Die Katholiken hatten dem frommen Protestanten seine Unparteilichkeit in confessionellen Angelegenheiten hoch anzurechnen. Seine gelegentlich durchbrechende Heftigkeit wurde um seiner Treue und Gutmüthigkeit willen verziehen, und wenn einmal jemand nicht zu seinem Lobe sprach, so galt der Tadel Schützlingen, die sein nur zu häufig getäuschtes Vertrauen mißbrauchten. Alles in allem war er unter den damaligen Oberpräsidenten des preußischen Staates, wie durch zahlreiche Anekdoten bezeugt wird, vielleicht der volksthümlichste.

Das Bewußtsein die allgemeine Liebe seiner Provinz zu genießen, entschädigte ihn für manche trübe Erfahrung hinsichtlich der Richtung der inneren Gesammtpolitik und Gesetzgebung. Er mißbilligte aufs schärfste die Declaration des Regulirungsedictes vom 29. Mai 1816. Er betheiligte sich 1817, in den Staatsrath berufen, mit sechs anderen Oberpräsidenten an einer von Schön entworfenen Beschwerdeschrift, die u. a. die Tendenz der Centralisation tadelte. Er fühlte das Entwürdigende der Karlsbader Beschlüsse und nahm die Lehrerschaft Westfalens gegen den Verdacht der Hinneigung zu „demagogischen“ Gesinnungen in Schutz. Er widerstrebte bei den Berathungen im Staatsrath 1820 Hardenberg’s Steuerplänen und forderte, das dem Staatsrath das Recht zustehen müsse, „nicht bloß über Zweckmäßigkeit, sondern auch über Nothwendigkeit der neuen Steuern sich auszusprechen“. So lebhaft war in ihm das Gefühl der Unzufriedenheit mit der Gesammtregierung, daß er im November 1821 in einem von Hardenberg berufenen Ausschuß die Schaffung von vier Provinzialministerien empfahl, neben denen er nur noch vier Fachministerien bestehen lassen wollte. Am tiefsten verwundete ihn, daß das königliche Wort vom 22. Mai 1815 nicht eingelöst, „dem braven preußischen Volke der Lohn einer ordentlichen Verfassung für so große Anstrengungen und Opfer“ vorenthalten wurde. Als schon entschieden war, daß statt der Reichsstände nur Provinzialstände geschaffen werden würden, vertrat er 1822 in der Commission, die über ihre Bildung berathen sollte, freimüthig die Anschauungen des liberalen Beamtenthums und forderte, wenn auch vergeblich, daß den Provinzialständen das Wahlrecht für die künftigen Reichsstände versprochen werde. So wenig das provinzialständische Werk ihn befriedigen konnte, hoffte er doch, „es könne schon damit viel Gutes gewirkt werden“ und eine Verfassung werde sich auf dieser „ersten festen Grundlage weiter ausbilden“.

Die Eröffnung des ersten Provinziallandtags Westfalens im J. 1826 führte ihn, als Regierungscommissar, mit dem alten Freunde Stein, der auf seinen Vorschlag zum Landtagsmarschall ernannt worden war, zusammen. Indessen geriethen die beiden heißblütigen Männer über die Angelegenheit der rheinisch-westfälischen Catastrirung, deren Generaldirection in Vincke’s Händen lag, bald darauf in die heftigsten Streitigkeiten. Ein vollkommeuer Bruch schien bevorzustehen. Mit Mühe wurde, unter Vermittlung des Erzbischofs Spiegel, ein Ausgleich herbeigeführt. Der dritte westfälische Provinziallandtag, auf dem unter dem Anstoß der Julirevolution der Antrag gestellt wurde, den König um Berufung von Reichsständen zu bitten, sah sie versöhnt, und V. widmete nach dem Tode des großen Freundes seinem Andenken schöne Worte im Amtsblatt der Regierung. Ihm selbst war es möglich, bis ins Alter in gewohnter Weise rüstig zu wirken. Er erlebte noch die Zeiten wachsender Erregung, die sich nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm’s IV. auch auf dem Provinziallandtage [743] geltend machte und den Eintritt seines Sohnes Georg in die politische Arena. Schon rüstete sich die Provinz zur festlichen Begehung seines fünfzigjährigen Dienstjubiläums, als ein sich wiederholender Schlaganfall sein Leben endigte. Seine westfälischen Verehrer errichteten ihm in dem Thurm auf Hohen-Syburg ein Denkmal. Das schönste Denkmal hat er selbst sich durch sein Wirken errichtet. –

Leben des Ober-Präsidenten Freiherrn von Vincke. Nach seinen Tagebüchern bearbeitet von E. v. Bodelschwingh. Erster Theil: Das bewegte Leben 1774–1816. Berlin 1853. – Westfalens Oberpräsident Ludwig Freiherr von Vincke, sein Leben u. seine Zeit. 1774–1844. Denkwürdigkeiten aus seinem Amts- und Privatwirken (vom Verfasser der Schrift: Das Haus Rothschild, seine Geschichte und seine Geschäfte). Lemgo und Detmold 1858. – Zerstreutes von und über Vincke in Pertz, Leben Steins (dazu von mir benutzt Vincke’s Briefe an Stein im Stein’schen Archiv zu Nassau). – Pertz, Denkschriften Stein’s über deutsche Verfassungen. – Aus den Papieren Schön’s. – M. F. v. Bassewitz, Die Kurmark Brandenburg. – Ernst Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg. – H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte. – Lehmann, Scharnhorst. – Dieterici, Geschichte d. Steuerreform in Preußen 1810–20. – Varrentrapp, Schulze (s. Reg.). – Dorow, Erlebtes III, 294. IV, 285–293.