ADB:Struensee, Karl August von

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Artikel „Struensee, Karl August von“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 661–665, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Struensee,_Karl_August_von&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 21:20 Uhr UTC)
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Struensee: Karl August v. St., gelehrter Staatsmann der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der ältere Bruder des Grafen St., wurde am 18. August [662] 1735 zu Halle a./S. geboren. Sein Vater, der bekannte evangelische Theolog pietistischer Richtung, Adam St., entstammte einer Neu-Ruppiner Familie, deren Mitglieder bisher in der Regel Tuchmacher gewesen waren. Wie so oft in der deutschen Geschichte, so bildete auch bei den Struensees das Pfarrhaus die Durchgangsstufe zur Ruhmeslaufbahn. Für den geistlichen Beruf bestimmt, studirte St. zu Halle erst Theologie; später wandte er sich jedoch dem Studium der Mathematik und Philosophie zu. Schon mit 22 Jahren erhielt er eine Anstellung als Lehrer in diesen beiden Fächern an der Ritterakademie zu Liegnitz. Das Material an Schülern, das St. dort vorfand: junge Edelleute, die sich in der Regel dem Officiersstande widmeten, sowie der ausbrechende Krieg lenkten ihn auf die Beschäftigung mit den Militärwissenschaften. Er fand keine brauchbaren Handbücher für den kriegswissenschaftlichen Unterricht vor und entschloß sich daher selbst solche abzufassen. Schon nach drei Jahren, 1760, erschienen seine „Anfangsgründe der Artillerie“, dem durch seine Bauernfreundlichkeit bekannten schlesischen Minister v. Schlabrendorff gewidmet, ein Werk, das sich durch klare Systematik auszeichnet, Jahrzehnte hindurch das maßgebende Buch dieses Faches war und vielfach, zuletzt noch im J. 1809 (von Hoyer bearbeitet) neu aufgelegt wurde. Erst seit Scharnhorst’s Arbeiten veraltete es. Scharnhorst selbst erkannte noch 1789 seine Unentbehrlichkeit an. Aber schon Friedrich II. zollte der Publication seinen warmen Beifall und ließ viele Officiere und Freicorporale Unterricht bei St. nehmen. Bald darauf heirathete St. die Tochter des Stiftsverwalters der Ritterakademie Müller. 1767 erschien als zweite Frucht seiner kriegswissenschaftlichen Studien die „Kriegskunst des Grafen von Sachsen“, eine Uebersetzung mit vielen Anmerkungen und einer noch jetzt lesenswerthen längeren Einleitung, in der St. wirkungsvoll den Theoretiker gegen den Praktiker vertheidigt. Gerade als er mit der Herausgabe eines dritten, umfangreichen Werkes „Anfangsgründe der Kriegsbaukunst“ beschäftigt war, wurde er von seinem Bruder nach Kopenhagen berufen. Schon am 13. November 1769 zum dänischen Justizrath ernannt, ging er im April 1771, nach vierzehnjähriger Lehrthätigkeit in Liegnitz, nach Dänemark. Von dort erwirkte er sich (4. Mai) den Abschied aus preußischen Diensten. Am 29. Mai 1771 wurde er zum Deputirten im dänischen Finanzcollegium ernannt. Er entwickelte sofort ein hervorragendes Organisationstalent, indem er höchst zweckmäßige, durchgreifende Aenderungen im Behördenwesen vornahm. In kurzer Zeit wußte er ein ungewöhnlich umfangreiches Decernat in seiner Hand zu vereinigen. Aber schon nach dreivierteljähriger Thätigkeit hatte er seine Rolle als dänischer Staatsmann ausgespielt. In den Sturz seines Bruders verwickelt, schmachtete er seit dem 17. Januar 1772 monatelang im Kerker, mußte jedoch endlich wegen notorischer Schuldlosigkeit freigegeben werden. Er traf im Juli in Berlin ein, wo ihn Friedrich II. mit Spannung erwartete, um ihn wieder in Liegnitz zu verwenden. Der Professor, der Struensee’s ehemalige Stelle innehatte, sollte sofort versetzt werden, obwol sich kaum ein entsprechender Platz für ihn finden ließ. Aber der preußische Gesandte am dänischen Hofe, v. Arnim, hatte schon berichtet, daß St. in Dänemark die Lust vergangen wäre, wiederum Schulmeister zu sein, daß er vielmehr im Verwaltungsdienst Beschäftigung wünschte.

Dieser Wunsch sollte ihm indeß zunächst noch nicht erfüllt werden; vielmehr wies ihn Friedrich II. noch 1775, als St. schon seit Jahren in Alzenau bei Hainau in Schlesien Grundbesitz erworben und (1774) mit dem dritten Bande seiner „Anfangsgründe der Kriegsbaukunst“ seine militärwissenschaftlichen Arbeiten abgeschlossen hatte, mit den schroffen Worten zurück: „Er ist Profesor gewesen und Wen er wäre hier geblieben, so wäre aus Ihm ein tüchtiger Schuhlmann geworden, da er aber in Dännemark gewesen, hätte er lauter große sachen im [663] Kopff“. Kopenhagen war jedoch für St. die hohe Schule in der Finanzpolitik geworden; und mit der ihm eigenen geistigen Beweglichkeit und Leichtigkeit machte er sich jetzt, einer der ersten in Preußen, an ein eingehendes Studium der Volkswirthschaft. Zunächst übersetzte er eine Sammlung von Aufsätzen des Nationalökonomen Isaac de Pinto aus dem Französischen (1776). Zugleich arbeitete er über das neu von Friedrich II. nach dem siebenjährigen Kriege errichtete schlesische Creditwerk, dessen praktischen Werth er als schlesischer Gutsbesitzer kennen lernte. Die in ihrer Art classische Abhandlung über diesen Gegenstand, zugleich eine Charakteristik der bisherigen fridericianischen Finanzpolitik, deren Bewunderer St. ist, erschien vereinigt mit zwei anderen größeren volkswirthschaftlichen Abhandlungen über Staatsanleihen und Getreidehandel im J. 1777. Nunmehr sah sich der König, dessen scharfer Blick jetzt die Brauchbarkeit Struensee’s für die Verwaltung erkannte, zu Struensee’s unverzüglicher Berufung nach Elbing als Bankdirector bewogen (1777). St. erwarb sich in dieser Stellung wesentliche Verdienste. Außerdem gab er ungenannt ein volkswirthschaftliches Werk heraus: „Kurzgefaßte Beschreibung der Handlung der vornehmsten europäischen Staaten“, ein Handbuch, das indeß mehr durch buchhändlerische Speculation veranlaßt zu sein scheint und von St. nicht vollendet wurde. Die zweite Abtheilung des zweiten Bandes dieses Werkes rührt von Sinapius her. Schon nach wenigen Jahren wurde St., auf Antrag von Schulenburg-Kehnert, in Anerkennung seiner Fähigkeiten zum Director der Seehandlung und Geh. Finanzrath ernannt (21. Januar 1782, nach Görne’s Sturz) und siedelte als solcher nach Berlin über. Unter Friedrich II. nicht mehr schriftstellerisch hervortretend, wurde er seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm’s II. einer der Hauptmitarbeiter der Neuen berlinischen Monatsschrift, in der er u. a. (Mai und Juni 1787) mehrere Abhandlungen mit freihändlerischem Anstrich über freien Getreidehandel in den preußischen Staaten und über freien Gold- und Silberhandel veröffentlichte. Die bemerkenswertheste Arbeit aber war die periodische Besprechung der französischen Finanzverwaltung in den Jahren 1788–1790, in der von Anfang an der gesammten Necker’schen Politik in der vernichtendsten Weise das Urtheil gesprochen wurde. In diesen die allgemeine Aufmerksamkeit erregenden Aufsätzen tritt das klare und gesunde Urtheil des Mathematikers ganz besonders hervor. Später schrieb St. nur noch zwei kleinere volkswirthschaftliche Abhandlungen. So ist er als nationalökonomischer Schriftsteller leider nur Fragmentist geblieben. Daß er eine Kraft ersten Ranges war, erkannten die einsichtsvollen Zeitgenossen sehr bald, so u. a. Mirabeau. Nachdem er 1789 von Dänemark Genugthuung für die ihm 1772 zugefügte Unbill gefordert und diese dadurch erlangt hatte, daß man ihn dänischerseits unter dem Namen St. v. Carlsbach (in Anlehnung an den Namen seiner Mutter, die eine geborene Carl war) adelte, beförderte ihn Friedrich Wilhelm II. am 16. October 1791 an Werder’s Stelle zum Minister des Accise-, Zoll-, Commercial- und Fabrikenwesens. Diesen Posten hat St. bis zu seinem Tode, genau 13 Jahre, bekleidet. Er hat jedoch hier nicht die Erwartungen erfüllt, zu denen man bei seinen Anlagen berechtigt gewesen wäre. Sein Ministerium ist als eine Zeit des Stillstandes, der Erschlaffung und Erstarrung zu bezeichnen, ein Urtheil, welches sich weniger darauf gründet, daß er dem Mercantilsystem huldigte und es mit Hartnäckigkeit gegen Friedrich Wilhelm III. vertheidigte. Im Gegentheil, wenn er z. B. am 9. Juli 1798 die Nationalindustrie als die vorzüglichste Quelle des staatlichen Reichthums bezeichnete, die auf alle Weise zu beleben wäre, und wenn er noch am 17. Juni 1800 die schlimmsten Folgen für das preußische Fabrikwesen weissagte, falls nicht die Einfuhrverbote aufs schärffte durchgeführt würden, so bewies er durch diese Haltung für die damalige Zeit durchaus staatsmännisches Verständniß. Er [664] beharrte damit in den Bahnen der erprobten fridericianischen väterlichen Regierung. Wer St. auf Grund einiger Ansichtsäußerungen, die von der zur Zeit Friedrich’s II. und Friedrich Wilhelm’s II. herrschenden volkswirthschaftlichen Richtung abweichen, als Freihändler und deswegen als Lichtpunkt in der Finsterniß einer zurückgebliebenen Zeit betrachtet, irrt in doppelter Hinsicht. St. war zugleich ein praktischer, staatsmännischer Kopf, der vielleicht hie und da in der Theorie eine radicale Ansicht entwickelte, der aber schon 1777 erkannt hatte, daß dem Staatsmann gewisse Grenzen gezogen sind, die ihn zuweilen verhindern, das zu thun, was nach seiner Ueberzeugung das Erstrebenswertheste ist.

Struensee’s Verwaltung hatte indeß andere sehr erhebliche Mängel. Er hat nichts gethan, um den im Laufe der Zeit unerhört schwerfällig gewordenen Verwaltungsorganismus zu vereinfachen, obwol er selbst am besten die Nothwendigkeit einer Neugestaltung erkannte. Er selbst nannte das indirecte Steuersystem Preußens ein Chaos. In seiner eigensten Domäne, dem Salzdepartement, um das er sich ursprünglich große Verdienste erworben hatte, mußte Stein als sein Nachfolger unverzüglich umfassende Umwälzungen vornehmen, weil der Gang der Geschäfte zu verwickelt und dadurch ein ganz unhaltbarer Zustand geschaffen war. Wiederholt bezeichnete St. die Zeit als den einzigen Reformator; und als man ihm die Nothwendigkeit einer Reform vorhielt, gab er in seiner phlegmatischen Weise zur Antwort: „Eine Zeit lang wird die Pastete wol noch halten“. Sehr bezeichnend ist es auch für ihn, wenn er am 18. Juni 1801 an Beyme schreibt: „Ich habe bei meinem Alter nicht mehr die erforderliche Courage, um den Kampf zwischen fabriquen und Meßhandel noch einmal durchzufechten“. Er fühlte sich also selbst zu alt für sein Amt. In den Finanzverlegenheiten Friedrich Wilhelm’s II. hat er, obwol die Steuerkraft Preußens nicht übermäßig angestrengt war und die fridericianische Zeit viel größere Opfer verlangt hatte, nicht vermocht, genügende Hülfsquellen zu erschließen, ein Umstand, der gleichfalls in seiner Reformmüdigkeit begründet sein dürfte. Seine politische Haltung erhellt aus der Thatsache, daß er einer der eifrigsten Fürsprecher der traurigen Friedenspolitik Preußens seit 1795 war, bei offenbarer Hinneigung zu Frankreich. Er hat für das Zustandekommen des Baseler Friedensvertrages gewirkt und ebenso hat er bestimmenden Einfluß auf die Maßnahmen von 1799 gehabt. Auch dies Verhalten erklärt sich zum großen Theil zweifellos aus seinem Ruhebedürfniß. Schön irrt wol nicht, wenn er die dänische Zeit mit ihren Enttäuschungen als die Ursache davon hinstellt, daß St. ein Feind jeder schnellen Aenderung wurde. Sagt doch auch Mirabeau, daß St. las des orages gewesen wäre. Die olympische Ruhe dieses klaren Kopfes, vereinigt mit einem Anflug von liberalem Geist, der sich auch in scharfem, gegensätzlichen Verhältniß zu Hofmännern, wie z. B. dem Minister Grafen Hoym, in der Hinneigung zu den demokratisirenden Tendenzen der französischen Revolution und religiös in ausgesprochener Freigeisterei kundgab, verfehlte indeß, zumal da sich St. daneben auch durch eine gebieterische, äußere Erscheinung auszeichnete, nicht ihren Eindruck auf einige aufstrebende Geister des jungen Preußens, wie auf Theodor v. Schön, Hans v. Held, Beguelin und Kunth. Sein Ministerhotel, das Accisepalais, war eines der gastlichsten Häuser Berlins. St. machte einen Aufwand, der lange nicht durch sein äußerst hohes Gehalt (14 600 Thlr.) gedeckt wurde. Wie der General v. Köckeritz, konnte er die „Verseschmiede“ nicht leiden. Daher verkehrten Dichter und Künstler nur wenig bei ihm. Selbst einen amtlichen Bericht Alexander’s v. Humboldt verwies er lächelnd als phantastisch zur Umarbeitung an Nöldechen. Nur der Humor der Lichtenberg’schen Schriften behagte ihm. Bei seiner Abneigung gegen Neuerungen ist sein häufiges Eintreten für eine Besserung der pecuniären Lage der Subalternen bemerkenswerth, das von wechselndem Erfolge [665] begleitet war. Er starb, 69jährig, am 17. October 1804 in Berlin an der Hirnwassersucht und wurde auf seinem Gute Matschdorf bei Frankfurt a. O., einem ehemaligen Johanniterlehen, das er sich im Januar 1792 erworben hatte, begraben. Er hinterließ drei Töchter, von denen die älteste, Henriette, an den kurmärkischen Erblandforstmeister v. Königsmark und die zweite, Friederike, an einen v. Schütze verheirathet war.

Eine interessante Persönlichkeit, ausgezeichnet durch eine glückliche Verbindung von Praxis und Theorie, ragt St. mehr durch wirthschaftliches Wissen als durch ökonomisches Wollen hervor. Von den Ereignissen hin und her getragen, in jeder Lage sich eine Stellung verschaffend, gehört dieser vielseitige Mann weniger zu denen, die die Epoche machen, als zu denen, die von der Epoche gemacht werden. Er behauptet daher wol einen bemerkenswerthen Platz in der Geschichte der deutschen Wissenschaft und des preußischen Beamtenthums. In der allgemeinen Geschichte aber, in der mehr die großen, zeitbewegenden Umstände berücksichtigt werden, kommt er höchstens als hemmende Kraft in Frage.

Die sehr reichhaltigen Acten des Geh. Staats-Archivs zu Berlin. – Struensee’s angeführte Werke. – H. H. L. v. Held, Struensee, eine Skizze für diejenigen, denen sein Andenken werth ist. Berlin 1805 (im wesentlichen nur Charakteristik, weniger biographischen Stoff enthaltend). – Roscher, Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland, München 1874. – Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften III, München 1891. – C. E. Schück, Die Minister Struensee, Hoym und Stein in ihrer Beziehung zu einander und zu den Nothständen in Schlesien 1790/92 und 1804/5 in den Abhdl. d. Schles. Gesellsch. f. vaterländ. Cultur, phil.-hist. Abth., Breslau 1864. – Jens Kragh Höft, Joh. Fr. Struensee u. s. Ministerium. Kopenhagen 1826/27. 2 Bde. – Zuverlässige Nachricht von der großen Staatsveränderung in Dänemark. 2. Aufl. Halle 1772. – M. Philippson, Geschichte des preuß. Staatswesens vom Tode Friedrich’s des Großen etc. Bd. 1 u. 2. Leipz. 1880/82. – G. Schmoller in s. Jahrbuch, N. F. 6 (1882) S. 1377/78. – Mirabeau, Da la monarchie Prussienne sous Frédéric le Grand. III. Londr. 1788. p. 393, 406/7. – Aus den Papieren Theod. v. Schön’s. Halle a./S. 1875. Bd. I, 29–34. – P. Bailleu, Preußen u. Frankreich. I. Leipz. 1881. – Schmoller-Hintze, Preußische Seidenindustrie. II u. III. Berlin 1892. – (Rother), Verhältnisse des kgl. Seehandlungsinstituts. Berlin 1845. – Pertz, Leben Stein’s, passim.