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Artikel „Simson, Eduard (von)“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 348–364, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Simson,_Eduard_von&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 20:05 Uhr UTC)
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Simson: Martin Eduard Sigismund (v.) S., der deutsche Reichstagspräsident, wurde am 10. November 1810 zu Königsberg i. Pr. geboren und starb am 2. Mai 1899 in Berlin. Rein jüdischen Blutes, wuchs er auch anfänglich als Glied der jüdischen Religionsgemeinde auf. Sein Vater Zacharias Jacob S., ein Mann, der gar keine Schulbildung genossen hatte, war Kaufmann und später vereidigter Wechselmakler. Er starb hochbetagt am 15. December 1876 im 92. Lebensjahr. Die Mutter Marianne war eine geborene Friedlaender und eine Nichte des bekannten David F., der unter Hardenberg die bürgerliche Gleichstellung der Juden mit durchsetzen half. Sie starb am 8. März 1876 fast achtzig Jahre alt. Eduard war das älteste Kind unter fünf. Seinen ersten Unterricht genoß er bei einem ehemaligen Unterofficier. Dann kam er auf eine Privatschule, auf der er sich durch eminente Begabung auszeichnete, was seine durch ihn in den Schatten gestellte Mitschülerin [349] und Verwandte Fanny Lewald mit Schmerzen empfand. Eindruck machte auf ihn unter den Lehrern der Anstalt der bekannte Muckerprediger Johann Ebel durch die Intensität seines Gebets. In diesem Einfluß ist der erste Entwicklungskeim zu der Besonderheit seines geistigen Wesens zu erblicken. Im J. 1819 sodann kam der erstaunlich frühreife Knabe in die Quarta des altberühmten Collegium Fridericianum. Das Lernen wurde ihm äußerst leicht. Dabei unterstützte ihn ein ungewöhnlich starkes Gedächtniß. Wohl das Bewußtsein seiner geistigen Ueberlegenheit über seine Altersgenossen erfüllte ihn vorzeitig mit großem Selbstgefühl. Jugendliche Frische scheint er dagegen wie so viele Juden, so auch sein Landsmann und späterer Gegner Johann Jacoby, wenig gezeigt zu haben. Eine andere Folgeerscheinung seiner Frühreife war sein mangelhafter Fleiß. Während der Gymnasialzeit wurde er im J. 1823, also dreizehnjährig, getauft und 1825, im Jahre vor seiner Abiturientenprüfung, vom Consistorialrath Köhler eingesegnet. Nach ihm traten auch seine Eltern zum Christenthum über. Einer seiner Brüder wurde später Professor der evangelischen Theologie. Im März 1826 erhielt S., fünfzehnjährig, auf Grund eines vorzüglichen Examens, das Zeugniß der Reife für die Universität. Seine Eltern, die bisher in leidlichem Wohlstande gelebt zu haben scheinen, geriethen um diese Zeit in Armuth. Dies veranlaßte S., seine Kräfte anzuspannen und sich um Nachhülfestunden zu bemühen. Infolgedessen unterrichtete er zwei Jahre hindurch den späteren Minister des Innern Graf Fritz Eulenburg und dessen Bruder im Hause der Oberburggräfin v. Ostau, der Großmutter der beiden jungen Grafen. Zu gleicher Zeit studirte er auf der Universität seiner Heimathstadt und blieb an dieser bis zum Abschluß seines Studiums im J. 1829. Zunächst trieb er Nationalökonomie, dann Rechtswissenschaften. Daneben besuchte er manche andere Collegien, so die des Philosophen Herbart. Hier empfing er den zweiten starken Eindruck seines Lebens. Er bekannte nachmals, nie einen vollendeteren Vortrag als den Herbart’s gehört zu haben. Auch die äußere Haltung des großen Lehrers in ihrer hervorragenden Eleganz hinterließ sichtliche Spuren in dem Wesen Simson’s. Die Freundschaft mit einem evangelischen Theologen wurde ebenfalls für ihn von Bedeutung. Das damalige rege geistige Leben in der Stadt Kant’s trug außerdem dazu bei, seine innere Entwicklung günstig zu bestimmen. Der junge Mann trank sich dergestalt voll an dem Born deutschen und christlichen Lebens. Sehr bald zeigte es sich, daß hier einer der Fälle eintrat, wo ein reichbegabter Judensproß im deutschen Geiste aufging. Gegen Ende seines Trienniums war in S. der Entschluß gereift, sich der akademischen Laufbahn zu widmen. Am 22. April 1829 bestand er sein juristisches Doctorexamen. Am 1. Mai folgte die Promotion. Seine Dissertation führte den Titel: „De Julii Paullii manualium libris III.“ Der achtzehnjährige, hochgewachsene jugendliche Doctor erhielt in Würdigung seiner glänzenden Leistungen auf Antrag der Facultät sogleich die venia legendi und ein königliches Reisestipendium, das mit der Verpflichtung verbunden war, ebenso lange, als er es genossen hätte, nachher an der Königsberger Universität als Privatdocent zu lehren. Er beschäftigte sich mit dem Plan, eine Ausgabe von Ulpian’s liber singularis regularum zu veranstalten, der aber niemals zur Ausführung gelangte. Es zeigte sich früh, daß S. eine vorwiegend receptive Persönlichkeit war. Als Schriftsteller ist er von auffälliger Unfruchtbarkeit gewesen. Und auch als Mann der That, der schöpferischen Gesetzgebung, ja auch nur als Mann des parlamentarischen Kampfes, hat er eine bescheidene Rolle gespielt. Das hat selbst einer seiner wärmsten Lobredner, Karl Frenzel, in seinem Nekrolog auf S. scharf hervorgehoben. Feinsinnig hat Julius Duboc über S. [350] geurtheilt: „Er liebte die gebahnten Straßen. Ungangbare Wege erst zurechtzuschaufeln, ein aus den Fugen gegangenes Stück Weltgeschichte zurechtzurenken war weniger seine Sache. Daher versagte er sich auch, als die Bahn unwegsamer zu werden drohte.“

Seine große Aufnahmefähigkeit bewies S. so recht auf der Magisterreise, die er im Frühjahr 1829 antrat. Er hospitirte in Berlin, Halle und Leipzig in zahlreichen Vorlesungen berühmter Docenten. Das fruchtbringendste Ereigniß der Reise war dann ein Besuch bei Goethe, bei dem ihn ein Empfehlungsbrief Zelter’s einführte. Er machte den achtzigsten Geburtstag des Dichterfürsten mit. Die sonnigen Tage, die er damals in Weimar verlebte, leuchteten geradezu in sein ganzes späteres Leben hinein. Seitdem wurde er jener in Goethe lebende feinsinnige Geist, dessen vornehme Ruhe und dessen Adel auf seine Zeitgenossen immer wieder einen wohlthuenden Eindruck hervorrief. Man darf sagen, daß in S. etwas von Goethe’scher Harmonie des Wesens lebte. Von Weimar ging’s nach Göttingen, von dort aus Sparsamkeitsrücksichten zu Fuß nach Bonn. Diese Wanderung währte fast vier Wochen. In Bonn angekommen, mußte er gleich seine Uhr versetzen. An der rheinischen alma mater hörte er abermals viele Docenten. Den stärksten Eindruck empfing er von Niebuhr. Ein viel erzählter Vorfall brachte ihn in ein näheres Verhältniß zu dem großen Historiker: in einer bitter kalten Februarnacht des Jahres 1830 flüchtete Niebuhr in leichter Bekleidung und völliger Verwirrung aus seinem brennenden Hause; da war es der auf den Straßenlärm vom Studirtisch herbeigeeilte S., der im Dunkel der Nacht dem geliebten Lehrer seinen eigenen behaglichen Flaus umhing und so gewissermaßen dessen Lebensretter wurde. Niebuhr, in seiner Verzweiflung über den wahrscheinlichen Verlust einiger werthvoller von ihm bewahrter Handschriften, achtete in jener Nacht kaum der Wohlthat und noch weniger des Gebers. Erst später kam es ihm zum Bewußtsein, daß ihm ein edler Dienst geleistet worden war. Nun aber wußte er nicht, wem er ihn zu verdanken hatte. Eine öffentliche Aufforderung, sich zu nennen, wurde von S. nicht befolgt. Erst ein Zufall entlarvte ihn als den Wohlthäter. Niebuhr fühlte sich ihm auf das tiefste zur Dankbarkeit verpflichtet und hätte alles für S. gethan, um ihn in seiner Laufbahn zu fördern. Er weckte in dem stattlichen und gewandten jungen Gelehrten Neigung für die diplomatische Laufbahn, und schon waren Simson’s Hoffnungen darauf gerichtet. Aber Niebuhr’s wohl durch die Aufregungen in jener Nacht frühzeitiger herbeigeführter Tod trat (1831) dazwischen. Noch im Sommer 1830 ging S. von Bonn nach Paris. Dort traf er bald nach der Julirevolution ein und empfing hier wieder starke Eindrücke. Er verkehrte damals auch mit Börne, mit dem er in einem Hause wohnte. Nach zweijähriger Studienreise kehrte er Anfang 1831 nach Königsberg zurück und begann daselbst seine akademische Lehrthätigkeit. Fast drei Jahrzehnte hindurch hat er sie ausgeübt (1831–1860), und zwar immer in seiner Vaterstadt. Allerdings trat seine parlamentarische Thätigkeit unterbrechend dazwischen. Er las römisches und preußisches Recht, indem er es völlig frei vortrug. Jedem fiel das über seine Lebensjahre würdevolle und das elegante Wesen des jungen Docenten auf. Rudolf Gottschall, der ihn hörte, blieb sein „Jupiterkopf mit alttestamentarischer Schattirung“ lebhaft und angenehm in Erinnerung. Aus früherer und späterer Zeit besitzen wir gute Zeugnisse über seine Lehrthätigkeit. Es währte nicht lange, so fanden seine Vorlesungen guten Zuspruch. Gleich in deren Anfang fielen die Cholera-Unruhen im Sommer 1831. S. betheiligte sich mit Erfolg an den Versuchen, die Volksmenge zu beruhigen. Vom Herbst 1831 bis Herbst 1832 war er Einjährig-Freiwilliger beim 1. Infanterie-Regiment. [351] Während der zweiten Hälfte dieser Zeit wurde er vom Dienst dispensirt und zum Unterrichten von Officieren verwendet. Im December 1832 verlobte er sich mit Clara Warschauer, einer Königsberger Bankierstochter, der Schwester von Robert Warschauer, der später das bekannte Berliner Bankhaus gründete. Die Heirath erfolgte am 12. Februar 1834. Wie auch sonst, so zeigt sich in diesem Schritt, daß S. sich nicht geflissentlich von seinen angestammten Kreisen trennte. Durch die Verehelichung kam er in gute Geldverhältnisse. Am 10. April 1833 wurde er außerordentlicher Professor, am 10. Januar 1834 daneben Hülfsarbeiter beim berühmten Königsberger Tribunal. Die richterliche Thätigkeit verschaffte ihm einige Einnahmen. Zu den Berathungen über die Revision des ostpreußischen Provinzialrechts wurde er als Protokollführer hinzugezogen, und dabei fand er Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Es offenbarte sich, daß die praktische juristische Thätigkeit noch mehr sein Feld war als die Lehrthätigkeit. Die Ausübung des Protokollamts wurde die Staffel zur ordentlichen Professur, die er am 23. Mai 1836, also nur fünfundzwanzigjährig, erhielt. Tribunalsrath wurde er erst 1846. Die Collegen an der Universität entdeckten bald, daß S. über ein außerordentlich klangvolles Organ verfügte. So verwandten sie ihn mit Vorliebe zu Vorlesungen bei festlichen Gelegenheiten. Im Herbst 1847 unternahm er eine Reise nach England zum Studium des englischen Schwurgerichtsverfahrens und kam dabei zu dem Urtheil, daß nicht das Geschworenengericht, sondern die Einrichtung der Friedensrichter nachzuahmen sei. Tiefen Eindruck machten die politischen Einrichtungen Englands auf ihn. Er fand in ihnen allen „unbewußte Genialität“. Durch Bunsen eingeführt, wurde er von den englischen Richtern sehr liebenswürdig aufgenommen.

Damals war er außerhalb seiner Vaterstadt noch wenig bekannt, obwohl er schon mancherlei Fühlung mit liberalen Kreisen hatte. So stand er schon im J. 1846 in Beziehungen zu Varnhagen. Auch in Königsberg trat er, obwohl er großes Ansehen genoß, nicht allzusehr hervor, auch nicht, seitdem er im J. 1846 Stadtverordneter geworden war. Hatte er doch etwas Zurückhaltendes in seinem Wesen. Etwas mehr brachte ihn bei Gelegenheit des bekannten Streites über die Falkson’sche Ehesache sein Eintreten für Abweisung der Nichtigkeitserklärung in den Mund der Leute. Da verhalf ihm mit einem Male der Wechsel der Zeit dazu, seine Persönlichkeit voll zur Geltung zu bringen. Als die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung vorgenommen wurden, schlug in Königsberg der maßvolle S. mit geringer Mehrheit den radikalen Johann Jacoby aus dem Felde. In gehobener Stimmung zog er in die Paulskirche ein. Diese Stimmung wird bezeichnet durch die Thatsache, daß E. M. Arndt’s erstes Auftreten ihm helle Thränen entlockte. Er schloß sich dem rechten Centrum an. Als junger Richter, der schon einige Uebung im Protokollführen besaß, wurde er gleich zum Schriftführer einer Abtheilung gewählt. Wenig geschäftsgewandt wie die meisten Mitglieder des Parlaments waren, wurden sie dadurch mit einigem Respekt für S. erfüllt, daß dieser gleich nach den Sitzungen die Protokolle fertig hatte. So avancirte S. bald zum Schriftführer des Hauses, und da man auch in Frankfurt schnell sein klangvolles Organ entdeckte, das, wie später König Friedrich Wilhelm IV. mit Staunen bemerkte, nichts vom ostpreußischen Dialekt an sich hatte, so mußte er viel zum Verlesen der Schriftstücke heran. Nach kurzer Zeit hatte er den Scherznamen „der Reichsvorleser“ weg. Seine erste parlamentarische Rede war gegen die Gültigkeit der Wahl Hecker’s gerichtet. Sie kennzeichnet nicht nur seine gemäßigte politische Richtung, sondern begründete auch seinen Ruf als Redner. „Classische Grazie“ rühmt ihr Laube [352] nach. „Seine gewandte würdevolle Art brachte es ihm ein, daß er, auf Vorschlag des Würzburger Professors Edel, im October an Soiron’s Stelle zum 1. Vicepräsidenten gewählt wurde. Damit kam er ganz in das richtige Fahrwasser. Unter den Professoren des Frankfurter Parlaments war repräsentative Begabung nicht sehr vertreten. S. besaß sie in vollendetem Maße. Dabei war er von rascher und scharfer Auffassung, ordnendem Verstand und entwickelte eine bewundernswerthe Eleganz und Gemessenheit bei der Leitung. Sein ästhetischer Sinn und ein schlagfertiger Witz, Eigenschaften, die nicht häufig beieinander in diesem Maße wohnen, erhöhten seinen Beruf zu der führenden Stellung in dieser Versammlung geistig hochstehender Männer. Durchaus zutreffend ist von Sybel geurtheilt worden, daß S. ein Virtuos des Präsidialtalentes geworden ist. In Frankfurt war er insofern noch besonders an seiner Stelle, als er im Gegensatz zu der Mehrzahl der Mitglieder des Parlaments, die sich durch Phantasiereichthum und Lebhaftigkeit der Gefühlsäußerungen auszeichnete, verhältnismäßig große Ruhe, ja Leidenschaftslosigkeit und kühle Erwägung bewies. Dabei hatte er nicht die mit diesen Eigenschaften häufig verbundenen Eigenthümiichkeiten des Bureaukraten an sich. So war es kein Wunder, daß der Reichsverweser ihn zusammen mit Hergenhahn im November 1848 zum Reichscommissar ernannte, der in dem Zwiespalt zwischen der preußischen Krone und der Berliner Nationalversammlung vermitteln sollte. S. sollte vor allem dazu helfen, daß ein anderes Ministerium für das des Grafen Brandenburg ernannt würde. Am 20. November traf S. in Berlin ein. Es entging ihm nicht, daß die preußische Regierung im Begriff stand, durch Oktroyirung einer freisinnigen Verfassung in Preußen der deutschen Nationalversammlung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es scheint dabei so, als ob er mit einigen Ansprüchen aufgetreten wäre, die nicht im Verhältniß zu der factischen Stellung der Paulskirche standen. Bemerkungen, die er und Hergenhahn zu machen wagten, wie die, daß Reichstruppen nach Preußen und Oesterreich marschiren sollten, konnten Männer wie Leopold v. Gerlach nur mit spöttischen Empfindungen anhören. In der Erkenntnis, daß er nichts ausrichten konnte, versuchte S. mit Hülfe Heinrich’s v. Gagern, den er eiligst aus Frankfurt herbeiholte, noch etwas zu erreichen. Damals knüpfte er auch Beziehungen zu dem Prinzen von Preußen und besonders zu dessen Gemahlin an. Der König empfing S. mit Hergenhahn am 28. November. S. hatte den Muth, allerdings in Verkennung der Sachlage, zu behaupten, daß die vielen einlaufenden Adressen für Brandenburg nicht für die Volksthümlichkeit dieses Ministeriums sprächen, was der König, wie erklärlich, ungnädig aufnahm. S. besaß dann auch noch, in völliger Täuschung über die Lage der Dinge, die Beharrlichkeit, am 5. December noch einmal einen Versuch zur Beseitigung des Ministeriums Brandenburg zu unternehmen. Als er in seinen Gasthof zurückkehrte, erfuhr er die Thatsache der Oktroyirung der Verfassung und sah sich dadurch höchst unliebsam auf den Boden der Thatsachen gestellt. Der ursprüngliche Zweck seiner Mission war damit in jeder Beziehung vereitelt. Inzwischen waren seine Aufträge noch erweitert worden. Er sollte mit Hergenhahn die preußische Regierung zu der Erklärung vermögen, daß sie die Reichsverfassung, wie sie aus den Beschlüssen des Frankfurter Parlaments hervorgehen würde, annehmen wollte, daß sie bereit sei, ihre Gesandtschaften einzuziehen und dergleichen Unmöglichkeiten mehr. Nur aus der völligen Unklarheit über die ohnmächtige Stellung der Frankfurter Versammlung und ihres Geschöpfes, des Reichsverwesers, und aus der stark ideologischen Richtung der Patrioten der Paulskirche, von der auch der kühl erwägende S. getragen wurde, ist es zu erklären, daß S. sich überhaupt darauf einließ, solche Forderungen geltend [353] zu machen. Nur die vorliegende deutsche Wechselordnung wurde von der preußischen Regierung gut geheißen. Am 17. December hatte S. seine Abschiedsaudienz beim Könige. Wieder zeigte er sich sehr freimüthig. Als Friedrich Wilhelm von den avulsa imperii sprach, die mit dem Reiche wieder vereinigt werden müßten, erwiderte S. keck, dann würde man auch wohl an die russischen Ostseeprovinzen denken müssen. Natürlich nahm der König diese Wendung wieder ungnädig auf. Es ist die Frage, ob S. durch sein Auftreten dem preußischen Monarchen gegenüber der Sache, die er vertrat, gerade sehr genützt und sich als den Diplomaten gezeigt hat, als den er sich in jüngeren Jahren geträumt hatte. Während seiner Abwesenheit war er am 18. December, da Gagern die Ministerpräsidentschaft übernommen hatte, zum ersten Präsidenten der Nationalversammlung gewählt worden, allerdings erst im dritten Wahlgange mit nur zwei Stimmen Mehrheit gegen die Linke, Oesterreicher und Ultramontanen. Aber er bewährte sich glänzend als Leiter der Versammlung und zeigte sich seinem Vorgänger Gagern weit überlegen. Er wirkte auch insofern fördernd auf die Gestaltung der Dinge in der Paulskirche ein, als er eines der wenigen Mitglieder der Versammlung war, deren Vermögenslage es erlaubte, in Frankfurt ein Haus auszumachen. Er ließ seine Gattin nachkommen, und viele der Patrioten, die mit ihm damals zusammenarbeiteten, bewahrten die schönen Stunden, die sie in seinem häuslichen Kreise verbringen durften, in angenehmer Erinnerung. Ein Wort aus der Ilias (Il. XII, 243), das er nach Beendigung der ersten Lesung des Verfassungsentwurfes in die Versammlung warf, ließ den geisteskräftigen und schwungvollen Freund der classischen Dichtung erkennen. Vielleicht ist es Simson’s Beispiel gewesen, welches es zur Folge hatte, daß in deutschen Parlamenten allmählich bei den Präsidenten die gute Sitte aufkam, sich durch treffende und feinsinnige Citate möglichst vortheilhaft einzuführen. „Der Vollendung so nahe,“ so rief S. damals – es war Anfang Februar -, „da sollten wir das alte Wort des homerischen Helden auch unter uns zur Wahrheit werden lassen, daß nichts darauf ankomme, ob die Vögel von rechts oder von links fliegen, und daß es Ein Wahrzeichen nur gebe: des Vaterlandes Errettung!“ So wurde unter ihm die erste deutsche Reichsverfassung geschaffen. Unter dem am 27. März 1849 von der Versammlung als Gesetz proclamirten Entwurf steht Simson’s Name zuerst. Am 28. März verkündete er in tiefer Bewegung die Wahl Friedrich Wilhelm’s IV. zum deutschen Kaiser. Die feierliche Stunde gab ihm ein Citat aus seinem geliebten Goethe ein, das wunderbar treffend war und ergreifend wirken mußte, die Worte aus dem Schluß von „Hermann und Dorothea“, welche gleichsam der Empfindung Ausdruck geben, daß der Krater der Revolution jetzt geschlossen wäre:

Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung
Fortzuleiten, und auch zu wanken hierhin und dorthin.
Dies ist unser! so laßt uns sagen und so es behaupten!

Berthold Auerbach hat einmal von Simson’s feierlicher Art gesagt: „Der Mann redet Talare“. Dies Bild veranschaulicht uns die Rede Simson’s vom 28. März 1849. Aber schon der Setzerteufel schien es verkünden zu wollen, daß der deutsche Idealismus auf einem Irrwege war. S. sprach von dem „nun erreichten Ziel“. Im Parlamentsbericht steht zu lesen „unerreicht“.

Als der Reichsverweser Erzherzog Johann an demselben Tage S. mittheilte, daß er seine Würde niederlege, gab S. eine heftige Gegenerklärung ab, die zwar zunächst den Reichsverweser nicht von seiner Absicht abbrachte, ihn aber doch an der Vollziehung des schon aufgesetzten Abdankungsprotokolles verhinderte [354] und dadurch das schließliche Bleiben des Oesterreichers herbeiführte. Sybel, Haym und andere haben Simson’s Verhalten in diesem geschichtlichen Augenblicke scharf getadelt; der Sohn und Biograph Simson’s dagegen will diesen Tadel nicht gelten lassen, ebenso wie S. selbst sich auch später nicht davon hat überzeugen lassen, daß er damals einen Mißgriff begangen habe. Es ist aber unbestreitbar, daß der Erzherzog und vor allem Oesterreich, das in der Absicht, die Verwirklichung der preußischen Vorherrschaft zu vereiteln, den Erzherzog nachher zum Bleiben bestimmte, durch Simson’s Gegenvorstellung eine Rückenstärkung empfingen und daß das Bleiben des Erzherzogs in der Reichsverweserstelle langwierige Quertreibereien Oesterreichs begünstigte, die eine Klärung der allgemeinen Lage außerordentlich erschwerten. Man wird also sagen müssen, daß S., der Vorkämpfer des Einheitsgedankens, durch einen Schritt, der wohl mehr von der Höflichkeit als von staatsmännischer Erwägung eingegeben war, ungewollt der Einheitsbewegung einen Stein in den Weg geworfen hat.

Einstweilen war die Brust Simson’s, trotz der entmuthigenden Erfahrungen, die er im November und December in Berlin hatte machen müssen, noch von Hoffnungen geschwellt. Zwar war seine Reise an der Spitze der 32 „Kronenträger“, wie Leopold Gerlach spöttelte, nicht der Triumphzug, den die Abgeordneten wohl selbst vielfach erträumt hatten. Nur hier und da bereiteten ihnen rührige Vertreter des liberalen Bürgerthums einen festlichen Empfang. In Berlin selbst war die Aufnahme sehr kühl. Graf Brandenburg ließ S. bitten, zu einer Besprechung zu ihm zu kommen. S. erfüllte diese Bitte nicht, weil er sich dadurch etwas zu vergeben fürchtete. Am 3. April empfing König Friedrich Wilhelm IV., nachdem er noch in letzter Stunde geschwankt hatte, ob er annehmen sollte, die Abordnung im Rittersaale des königlichen Schlosses. S. hielt eine vorher von ihm mit seinen Reichstagsgefährten festgesetzte Ansprache an den Monarchen. Während derselben zeigte sich seinem geistigen Auge das Wappen seiner Vaterstadt: ein Arm, der aus der Tiefe eine Krone heraufreicht. Es war der einzige visionäre Moment seines Lebens. Der König hielt darauf die berühmte, von ihm selbst aufgesetzte Rede, die General v. Gerlach zwei Tage zuvor „ergreifend schön“ gefunden hatte und in die noch Tags zuvor auf Veranlassung des früheren Finanzministers Grafen Alvensleben-Erxleben der entscheidende Zusatz über die Nothwendigkeit einer Revision der Verfassung durch die Regierungen hineingekommen war. Der Ton der Rede verstimmte S. Er erkannte auch sogleich im Gegensatz zu Dahlmann und den meisten anderen den springenden Punkt, den Alvensleben’schen Zusatz, der ihm die Ablehnung enthielt. Seine rasche Auffassungsgabe zeigt sich hier deutlich. Eine von ihm aufgesetzte und von der Abordnung genehmigte Zuschrift an das preußische Ministerium stellte unter dem 4. April das Sachverhältniß fest: die beschlossene Verfassung sei zu einem Entwurf herabgesetzt. Auf der vielbesprochenen Soiree, die am Abend des 3. bei der Prinzeß von Preußen stattfand, machte S. die Bemerkung, der König habe durch seine Erklärung die Frankfurter Versammlung „nullificirt“. Das Wort gefiel dem General v. Gerlach. Voller Achtung für Simson’s Scharfblick notirte er: „Das ist eine ganz richtige Bemerkung“. Auch sonst ist der kluge Generaladjutant gelegentlich Urtheilen Simson’s lebhaft beigetreten. Der Prinz von Preußen, der schon bei Simson’s Anwesenheit im Herbst die schwarzrothgoldene Cocarde an Simson’s Hut mißliebig bemerkt hatte, verhielt sich zu Simson’s Beschwerden jetzt vielleicht noch ablehnender. Denn als S. auf Uhland’s Wort Bezug nahm, es werde niemand über Deutschland herrschen, der nicht mit einem Tropfen demokratischen Oels gesalbt sei, gab er dem Präsidenten [355] der Paulskirche die Antwort: „Das glaube ich auch, mit einem Tropfen; hier aber haben wir davon eine ganze Flasche“. Im weiteren erklärte S. düster dem Prinzen von Preußen, die Ablehnung der Kaiserkrone bedeute für die deutsche Nation Verwesung. Er war tief enttäuscht, entmuthigt, erschöpft. Am 5. April reiste er mit seinen Gefährten wieder von Berlin nach Frankfurt zurück. Obwohl er am 10. Mai beinahe einstimmig wieder zum Präsidenten gewählt wurde, lehnte er die Wahl ab. Bald darauf erkrankte er. Die königliche Abberufung der preußischen Abgeordneten erklärte er für ungültig. Am 20. Mai trat er jedoch aus dem Parlament aus, weil er keinen Weg mehr sah. Das Wort, das Leopold Ranke schon lange vorher, im J. 1832, in seinen historisch-politischen Blättern niedergeschrieben hatte, sollte doch seine Geltung behalten: „Euer Vaterland werdet ihr euch nicht erklügeln. Einen anderen Ursprung hat die lebendige Hervorbringung: sie kommt von der Kraft und dem Genius“. Die denkwürdigste Manifestation der Vertreter des deutschen Gedankens, die sich S. zu ihrem Organ bestellt hatten, war vorüber.

Mit wenig Hoffnung nahm S. im Juni des Jahres 1849 noch an der Zusammenkunft in Gotha Theil, um für die Radowitz’sche Unionspolitik zu manifestiren. Noch während er Präsident der Paulskirche war, hatte man ihn in Naumburg-Eckartsberga-Sangerhausen in die preußische Erste Kammer gewählt. Er konnte diese Wahl aber nicht annehmen, da er noch nicht das für dieses Haus vorgeschriebene Alter von vierzig Jahren erreicht hatte. Als ihn dagegen sein heimathlicher Wahlkreis in die zum 7. August 1849 berufene, zum ersten Male auf Grund des Dreiclassenwahlsystems zu Stande kommende Zweite Kammer wählte, nahm er an. Es lag nahe, daß er für die Präsidentenwahl ins Auge gefaßt wurde. Das Ministerium Brandenburg-Manteuffel machte hieraus aber eine Cabinetsfrage. So kleinlich das auf den ersten Augenblick aussieht, so ist diese Stellungnahme doch nicht ganz unverständlich. Sie muß aus der Richtung insbesondere Manteuffel’s beurtheilt werden, die der Radowitz’schen Unionspolitik entgegengesetzt war. Der Anhänger dieser Unionspolitik S. an der Spitze der Kammer durfte dem Freiherrn v. Manteuffel in der That ungelegen erscheinen. Dagegen, daß S. zum ersten Vicepräsidenten gewählt wurde, wandte das Ministerium nichts ein, weil diese Stellung nicht so programmatisch war. S. erfreute sich dafür in dieser Zeit des Wohlwollens des Königs. Aber dessen Verhalten in der Verfassungssfrage und bei deren bevorstehender Beeidigung brachte ihn doch sehr auf. Sein juristisches Empfinden war dabei stark mit im Spiele. Er drohte gelegentlich (Mitte Januar 1850) in einer heftigen Unterredung mit dem Major Edwin v. Manteuffel, über die ein Brief Manteuffel’s im Nachlaß Leopold Gerlach’s und die Aufzeichnungen des Präsidenten Ludwig v. Gerlach unterrichten, mit systematischer Opposition und redete von einem Dynastiewechsel und dem Schicksal der Stuarts. Besonders griff er in jenem Gespräch den bekannten Paragraphen 108 (später 109) der Verfassung über die Forterhebung der Steuern an, über den später der Verfassungsconflikt ausbrach. Am 26. Januar 1850 hielt er eine ungemein scharfe und sehr eindrucksvolle Rede gegen die vom Könige beabsichtigte Bildung des Herrenhauses. Er candidirte für das Erfurter Volkshaus in Frankfurt a.O. und in seiner Vaterstadt. Diese wählte ihn wieder, während er in Frankfurt durchfiel. In dem neuen Reichstage war für ihn die Wahl zum Präsidentenstuhl wieder frei. Er wurde denn auch alsbald zum ersten Präsidenten des Volkshauses gewählt. Damals stand er mit dem General v. Radowitz in einem vertrauten Verhältniß, obwohl er von vornherein dessen Ideologie nicht ganz zu folgen vermochte. Später erkalteten seine Beziehungen zu ihm ebenso wie die zu Gagern. Als einmal die falsche [356] Nachricht aufkam, Radowitz hätte bei einem der Kinder Simsons’s Pathe gestanden, sah sich S. um so mehr zu einem Dementi veranlaßt, als gar keine Freundschaft mehr zwischen ihm und dem General bestand. Das Dementi veranlaßte den Kladderadatsch zu dem Witz: Sehr erfreulich, denn die Kinder, bei denen bis dahin Radowitz Gevatter gestanden habe, seien alle früh gestorben; man könne dem Kinde daher wohl langes Leben prophezeien. In Erfurt hatte S. einen vielbesprochenen Zusammenstoß mit dem Heißsporn der Feudalen, Otto v. Bismarck, der als Schriftführer unter ihm fungirte und von einem stillen Widerwillen gegen den jüdischen Präsidenten erfüllt war. Simson’s Feierlichkeit reizte Bismarck’s Sarkasmus. Freilich konnte er nicht umhin, die Geschicklichkeit, mit der S. die Geschäfte leitete, anzuerkennen. Später ist S. von Bismarck wohlwollender beurtheilt worden. Doch die richtige Stellung zu ihm hat der große Staatsmann wohl nie ganz gefunden. Bei jenem Zusammenstoß Simson’s und Bismarck’s handelte es sich um die Zurechtweisung des in Erfurt als Berichterstatter der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ thätigen liberalen Publicisten v. Rochau durch den Schriftführer des Volkshauses. Der Schönhäuser trat seinem Präsidenten dabei mit junkerlicher Haltung entgegen. Er meinte unter anderem, daß S. seine Lage gegenüber v. Rochau wohl nicht würdigen könne. Das könne vielleicht nur ein Edelmann. S. bezog sich dem gegenüber entrüstet auf seine uralte Abstammung. Nach Simson’s vielleicht irriger Auffassung nahm Bismarck diese Entgegnung höflich auf. Gewiß ist, daß die Beiden eine erregte Verhandlung gehabt, welche S. noch nach Jahrzehnten lebhaft vor der Seele stand. Doch scheinen sie gütlich auseinander gegangen zu sein. Die ganze Stimmung Simson’s während der Erfurter Verhandlungen war wiederum recht hoffnungsvoll, wie er denn sehr zum Optimismus neigte. „Und so sitz’ ich hier in gewissem Maß mit der Empfindung Galileis ‚Und sie bewegt sich doch‘“ schrieb er am 27. März 1850. Es trat in der That (um August 1850) ein Zeitpunkt ein, in dem Leopold Gerlach besorgte, daß ein Ministerium Ernst Bodelschwingh-Simson käme, wenn der König nicht Radowitz fallen ließe. Verhältnismäßig stand der einflußreiche Generaladjutant übrigens S. noch wohlwollend gegenüber, da der Sohn Niebuhr’s, der Cabinetsrath Markus Niebuhr, der damals bereits der Camarilla angehörte, S. als „von Herzen gut“ schilderte.

Nach dem endgültigen Scheitern der Unionspolitik vermochte sich S. nicht so schnell auf den Boden der Thatsachen zu stellen. Er hielt vielmehr unentwegt an den alten Ideen fest und bekämpfte darum die Wochenblattspartei, die in das Fahrwasser der Regierung lenkte, auf das schärfste. Das brachte es zu Wege, daß er bei der Präsidentenwahl am 31. Januar 1851 unterlag. Diese Niederlage schmerzte ihn tief. Es zeigte sich ein stark empfindliches Naturell bei ihm. Er hat diese seine Eigenschaft selbst betont, indem er am 18. Februar 1851 schrieb: „Ich gehöre nun einmal zu den Naturen, die – wenn auch vielleicht nicht Anerkennung, doch wenigstens Aufmerksamkeit brauchen“. Unter seinem Vorsitz wurde damals (1851) ein auch von ihm angeregtes Gesetz über Ministerverantwortlichkeit von der Justizcommission fertiggestellt, das dann auch die Zweite Kammer annahm, die Erste aber verwarf. Er hat sich niemals den Gedanken zu eigen gemacht, daß das Fehlen der Ministerverantwortlichkeit eine geradezu zum Wesen des preußischen Staates gehörige und ihm zum Segen gereichende Erscheinung ist. Seine Ausführungen zeichneten sich gewöhnlich durch Scharfsinn und elegante Diction aus, bewegten sich aber wohl, wie sein Sohn und Biograph urtheilt, „zu oft in technisch-juridischen Wendungen“. Auf fiel seine Vorliebe für die lateinische Sprache. Die rein [357] rednerische Wirksamkeit in der Kammer behagte ihm indeß nicht dauernd. Er empfand die Trennung von seiner Familie störend; auch war sein Gesundheitszustand nicht der beste. Daher gab er die parlamentarische Thätigkeit auf, obwohl er im Herbst 1852 in Gumbinnen mit ansehnlicher Mehrheit gewählt wurde, lehnte er ab.

Allmählich fühlte er sich immer mehr als praktischen Juristen. Als ihm der in der politischen Bewegung mit ihm befreundet gewordene Historiker J. G. Droysen im Sommer 1852 einen Ruf an die Universität Jena verschaffte, schlug er den ihm angebotenen Lehrstuhl aus mit der Begründung, er glaube nicht eigentlich zum Fachgelehrten berufen zu sein. Droysen war verstimmt darüber und schrieb ihm liebenswürdig und fein: „Die Jugend dürstet nach jener ethischen Erhebung und Belebung, welche, erlauben Sie mir das zu sagen, von Ihrem Wesen und Schaffen das Beste und Stärkste ist“. Anfangs blieb Simson’s Colleg in Königsberg leer. Aber bald war er wieder der beliebte Lehrer von früher. Er kam in jener Zeit in einen regen Briefwechsel mit Theodor v. Schön, mit dem er schon lange Beziehungen angeknüpft hatte und den er für einen großen Staatsmann hielt. Gelegentlich suchte er den alten Herrn auch in Arnau auf. Im Jubiläumsjahr 1855/56 wählte ihn die Königsberger Universität zu ihrem Prorector. Damals erwachte auch wieder in ihm Neigung, an den parlamentarischen Kämpfen theilzunehmen, um gegen die Reaction zu kämpfen. Er blieb aber bei einer Nachwahl im ersten Berliner Wahlkreis im November 1855 und ebenso im November 1856 in Breslau in der Minderheit. Dafür wurde er bei Beginn der neuen Aera, Ende 1858, wieder von Königsberg in das Abgeordnetenhaus entsandt. Er trat der altliberalen Fraction Vincke bei. Für diesen unfruchtbaren, widerspruchliebenden, im Kern seines Wesens hochfeudalen Politiker hatte er eine merkwürdige Vorliebe. Gelegentlich nannte er Vincke wohl bewundernd „einen unvergleichlichen Menschen“. Einstweilen war ihm der Präsidentenstuhl versperrt, da sein Fractionsgenosse Graf Schwerin-Putzar darauf Ansprüche machen durfte. Doch als dieser im Herbst 1859 Minister des Innern wurde, trat er als sein Nachfolger ein. In dieser Stellung kam er öfter in persönliche Berührung mit dem neuen Herrn. Diese waren nicht immer freundlich, weil Wilhelm I., wie man weiß, in den nachfolgenden Jahren manches an der Haltung des Abgeordnetenhauses auszusetzen hatte. Angenehmer waren die Berührungen mit der Königin Augusta. Sie war und blieb für ihn „seine gnädige Fürstin“. Die Beziehungen zu ihr veranlaßten auch in späteren Jahren nähere Berührungen Simson’s mit ihrer Hofdame, der Gräfin Oriola. Als Präsident des Abgeordnetenhauses vertrat S. im October 1861 das Haus bei der Krönung.

Es entsprach seinen Neigungen, als er am 3. September 1860 zum Vicepräsidenten des Appellationsgerichts in Frankfurt a. O. ernannt wurde. Dort sollte er fast zwei Jahrzehnte wirken. In dem ersten Präsidenten des Gerichts, Scheller, gewann er bald einen guten Freund. Neben seiner amtlichen Thätigkeit fand er reichlich Muße zu Lektüre rechtswissenschaftlicher, politischer, nationalökonomischer, geschichtlicher, litterarischer und philosophischer Natur. Als Zögling des Königsberger Fridericianums war er ein trefflicher Grieche geworden und ein Freund dieser Sprache geblieben, so daß er noch in späten Jahren zu seiner Erholung den Thukydides im Urtexte las. In der Militärfrage vertrat er einen einsichtsvollen Standpunkt. Er trat durchaus für die Forderungen Wilhelm’s I. ein. Mit scharfem Blicke erkannte er, daß sich der Liberalismus hier regierungsfähig machen konnte. Bei Einbringung der Reorganisationsvorlagen sagte er, wie Leopold Gerlach aufgezeichnet hat, [358] triumphirend, vierzig Jahre habe das schlechte System bestanden, weder der Absolutismus der Regierung Friedrich Wilhelm’s III. noch die Reaction der letzten zehn Jahre hätten es gewagt, die Hand daran zu legen; das wäre der auf die Liberalen gestützten neuen Aera vorbehalten geblieben. Wie groß mußte da sein Kummer sein, als gerade seine Parteigenossen in ihrem Doctrinarismus sich bei der Heeresfrage immer mehr versagten und dadurch der große Moment, in dem der Liberalismus sich in den Sattel setzen konnte, verpaßt wurde. Das Ueberwuchern des Radikalismus bedrohte die Fortführung seiner parlamentarischen Wirksamkeit. Bei den Neuwahlen im Herbste 1861 wurde nämlich statt seiner in Königsberg Schulze-Delitzsch gewählt. Wieder regte sich in ihm seine Empfindlichkeit. Er fühlte sich tief gekränkt und betrachtete die Niederlage in ihrer Wirkung „als ein zweites und schmerzhafteres Wegziehen aus der Vaterstadt“. Nun wurde er aber bei den Nachwahlen in zwei Kreisen zugleich gewählt, in Wetzlar und Hoyerswerda. Er nahm für Wetzlar an. Bei der Veränderung der parlamentarischen Lage verzichtete er auf eine Wiederwahl ins Präsidium, nicht ohne daß jetzt Wilhelm I. seinen Rücktritt bedauerte. Die politische Unfähigkeit der zahlreichen liberalen Kreisrichter im Abgeordnetenhause erbitterte ihn geradezu. „Die wollen Politik nach den Paragraphen des Landrechts machen und wollen um alles nicht ministeriell sein“, klagte er dem Militärschriftsteller Theodor v. Bernhardi. „Wer mit der Regierung in Verbindung steht, ist ihnen als eine zweideutige Persönlichkeit verdächtig, wer und wie die Regierung auch sein mag.“ Voller Ingrimm sah er, daß große Gruppen der Liberalen, auf deren Zustimmung zu den Heeresfragen hätte gerechnet werden können, dagegen stimmten, weil sie fürchteten, sonst an Popularität zu verlieren. Im Februar 1862 fand er, wie aus den Mittheilungen seines Biographen hervorgeht, Gelegenheit, dem Kronprinzen seine Meinung ausführlich und erschöpfend darzulegen. Man erführe gern, was er dem erlauchten Herrn gesagt hat. Zur selben Zeit zeigte es sich, daß sein Gesundheitszustand nicht der beste war. Sicherlich wirkte die Erregung ungünstig auf ihn ein. Im März 1862 mußte er sich durch Langenbeck operiren lassen und ging dann mehrere Monate in die Schweiz. Bei den Neuwahlen (am 22. Mai 1862) wurde er von dem Wahlkreise Montjoie-Malmedy-Schleiden, also einer Gegend, in der die Bevölkerung vorwiegend katholisch war, gegen einen alten Freund, den Dompropst Holzer, gewählt. Der „Kladderadatsch“ höhnte darüber, daß er bei den „Wallonen“ seine Zuflucht suchen mußte, wie Vincke bei den „Kassuben“ in Preußisch-Stargard. Der Kreis blieb ihm lange treu. Trotzdem S. mit Vincke’s halsstarriger und ungeschickter Taktik nicht sehr einverstanden war, blieb er noch in dessen Fraction. Im September 1862 war er so weit wieder hergestellt, um an den parlamentarischen Verhandlungen theilnehmen zu können. Inzwischen war Bismarck Ministerpräsident geworden. Der ehemalige Schriftführer des Erfurter Volkshauses verschmähte es nicht, S. in seinem Chambregarnie aufzusuchen und eine Verständigung mit ihm zu erstreben. S. konnte aber nicht Vertrauen zu ihm fassen. In der Budgetfrage war auch gar keine Verständigung zwischen den beiden möglich. Dazu war S. doch zu sehr der liberale Jurist. Er verbiß sich in der Folge in eine blinde Opposition gegen das Bismarck’sche Regiment. Bei dieser Opposition bereicherte er die Blüthenlese parlamentarischer Verunglimpfungen, die der große deutsche Staatsmann über sich ergehen lassen mußte, durch einen Vergleich, der ihn später wohl noch oft gereut haben wird. Am 28. Februar 1863 verstieg er sich nämlich zu dem Vorwurf der Unfähigkeit gegen das Ministerium Bismarck und verglich dessen Wirksamkeit mit der Don Quixote’s oder der eines Seiltänzers, die nicht nach jedermanns [359] Geschmack sei. Der Vorwurf war um so haltloser, als S. damit die weitausschauende sogenannte Alvensleben’sche Convention kritisiren wollte. Bismarck erwiderte sofort und hat den Angriff stets in unangenehmer Erinnerung behalten. S. war es, der, im höchsten Maße entrüstet, den Antrag einbrachte, der dann auch angenommen wurde: den Beschluß des Herrenhauses auf Wiederherstellung der Heeresvorlage der Regierung als verfassungswidrig für null und nichtig zu erklären. Ebenso ergriff er leidenschaftlich Partei für die bedrohte Preßfreiheit und gegen den die parlamentarische Redefreiheit antastenden Beschluß des Obertribunals vom 29. Januar 1866 in Sachen Twesten. Seine am 10. Februar 1866 über jenen Beschluß gehaltene Rede ist eine seiner letzten und eindrucksvollsten. Seine lichtvolle Auseinandersetzung gipfelte in dem Satze: „Es könnte in der Nation der Gedanke rege werden, hier würde das freie Wort doch nur scheinbar gehandhabt.“ Vornehm entzog er sich bald darauf einer populären Demonstration, die ihm aus Anlaß seiner Haltung in Frankfurt a. O. dargebracht werden sollte. In der schleswig-holsteinschen Frage gewann er ähnlich wie in der Budgetfrage lange nicht den freien Standpunkt des Politikers. Rein juristisch erklärte er am 23. März 1865: die Annexion Schleswig-Holsteins zu verfolgen, sei eine Politik, die er aus der Tiefe der Seele verabscheue. Seine formalistische juristische Bedenklichkeit ging auf die Dauer selbst vielen seiner Parteifreunde etwas weit, weil dadurch leicht die praktische Politik gelähmt wurde.

Nach den Ereignissen von 1866 gingen ihm die Augen auf und er schwenkte daher ins Bismarck’sche Lager ein. Es erfüllte ihn mit Freude, daß sein Sohn in dem deutschen Entscheidungskampfe einmal ins Feuer kam. Daran erkannte Bernhardi den echt preußischen Geist Simson’s. Bei den Wahlen zum constituirenden Norddeutschen Reichstage am 12. Februar 1867 wurde S. in sechs Kreisen aufgestellt, aber nur in Frankfurt a. O. gewählt, und auch da nur mit geringer Mehrheit. In fünf anderen Kreisen, darunter in Königsberg, unterlag er. Seitdem hat er bis zu seinem Ausscheiden aus dem parlamentarischen Leben (im J. 1877) ständig den Frankfurter Wahlkreis vertreten. Einmal wurde er außerdem noch von Montjoie gewählt. Am 2. März 1867 übertrug auch der Norddeutsche Reichstag ihm das Präsidium. Zum dritten Male hatte S. also einen deutschen Reichstag zu leiten. Freilich spielte bei dieser Wahl etwas das Bestreben seiner Freunde mit, ihn aus den parlamentarischen Debatten auszuschalten, weil die juristischen Bedenken, die er zu erheben pflegte, einigermaßen gefürchtet waren. Mit komischer Genugthuung berichtete Max Duncker am 2. März seinem Freunde Bernhardi: „Der Schlimmste von allen, nämlich S., sei nun unter die Haube gebracht“, und Bernhardi bemerkte dazu verständnißvoll: „Der muß also doch schon bedenkliche Symptome von Sorge für korrektes Budgetrecht und dergleichen verrathen haben“. Zum dritten Male beriethen die Vertreter des deutschen Volkes nun unter Simson’s Vorsitz die dem Reiche zu gebende Verfassung, und jetzt endlich gelang das Werk zu freudiger Genugthuung Simson’s. „Ich weiß sehr wohl,“ so sagte er damals, „daß das Andenken an Augenblicke, wie der gegenwärtige, das kostbarste und edelste Erbtheil ist, das ich meinen Kindern hinterlasse.“ Als Präsident des am 31. August 1867 gewählten Norddeutschen Reichstages überreichte er am 3. October desselben Jahres dem Könige auf der eben wiederhergestellten Burg Hohenzollern die Adresse des Reichstages, in welcher dem Wunsche Ausdruck gegeben wurde, daß auch die Südstaaten in den Bund träten, und Protest gegen den Versuch fremder Einmischung erhoben wurde. Als Bismarck bei Einrichtung seiner parlamentarischen Soireen vorschlug, das man zu ihnen im Ueberrock käme, lehnte S., was für den Werth, [360] den er auf Formen legte, ungemein charakteristisch ist, dies ab und machte, wie Keudell berichtet, mit Entschiedenheit geltend, daß zur Wahrung der Würde der Versammlung Frack und Halstuch unerläßlich seien. Bismarck war mit seiner Amtsführung sehr zufrieden und fand, daß er die Geschäfte recht rasch abwickelte. In die Zukunft des Deutschthums blickte S. jetzt vertrauensvoller denn je. Bei Gelegenheit des Zollparlaments hörte der badische Staatsrechtslehrer Bluntschli mit Genugthuung von ihm, daß er über den endlichen Sieg der Germanen über die Romanen keinen Zweifel hege, und zwar aus weltgeschichtlichen und psychologischen Gründen. S. präsidirte dann auch der dreitägigen Sitzung des Reichsstages im Juli 1870, in der die Kriegsanleihe bewilligt wurde, ebenso der Berathung der Verträge mit den Südstaaten im Spätherbst desselben Jahres, bei der ihm besonders die Socialdemokraten die Führung des Amtes erschwerten, so daß er zeitweilig an Niederlegung des Präsidiums dachte. Wie auch sonst legte der Kronprinz Friedrich Wilhelm bei dieser Gelegenheit ihm schriftlich seine Ansichten dar und befürwortete dringend die Annahme der Verträge trotz ihrer Mängel. Wie Chlodwig Hohenlohe berichtet, fand S. seltsamer Weise an dem Kaisertitel keinen Geschmack, weil das Wort Kaiser ein Fremdwort sei. Nachdem der Reichstag die Verträge angenommen hatte, übernahm S. wieder wie vor einundzwanzig Jahren die Führung einer Kaiserdeputation. Freilich war der jetzt erkorene deutsche Kaiser mehr nach dem Wunsche des Prinzen von Preußen im J. 1849 nur mit einem Tropfen, nicht mit einer Flasche demokratischen Oels gesalbt. Aber statt der knappen Mehrheit der Volksvertreter und der Minderheit der Regierungen vor zwei Jahrzehnten war jetzt Einstimmigkeit zwischen Fürsten und Stämmen vorhanden. Am 16. December traf S. in Versailles ein. Gleich am Abend hatte er eine Unterredung mit Bismarck, die sich bis zum Morgengrauen ausdehnte. Der Mann der schöpferischen That und der Vertreter der deutschen Idee oder, wie Karl Frenzel bemerkt hat, „der Chorführer der Deutschen“ fanden sich jetzt zusammen zu gemeinsamem Wirken. Die Begegnung hat etwas tief Symbolisches. Es traf nicht den Kernpunkt der Sache, wenn Bismarck es damals als einen „Witz der Geschichte“ oder, etwas besser, „ein reizendes Spiel des Geschicks“ bezeichnete, daß S. zum zweiten Male der Führer einer Kaiserdeputation sei. Es lag vielmehr eine von einer weisen Schicksalswaltung gewährte stolze Genugthuung für die Männer der Paulskirche und des Erfurter Reichstages darin, daß ihr ehemaliger Präsident nun doch den Kaiserruf erheben durfte. Damit wurde das bekräftigende Siegel auf das Ringen, Streben und Sehnen jener Jahre gedrückt. Jene Männer haben zwar nicht das richtige politische Augenmaß besessen. Aber die Manifestation in Frankfurt a. M. und Erfurt war edel gewesen und übte ihre Wirkung weithin in die Zukunft. In jener Nacht entwarfen der Kanzler und der Reichstagspräsident die Antwort, die der König auf die Adresse des Reichstages geben sollte. Wie so anders waren die Zeiten geworden seit der Stunde, da Friedrich Wilhelm IV. selbst mit der Camarilla und Graf Alvensleben seine Antwort feststellte. Am anderen Morgen hatte S. eine Unterredung mit dem Kronprinzen; und nun ergab sich die merkwürdige Constellation, daß S. gegen den Thronerben, mit dem er einst Bismarck’s Politik bekämpft hatte, den Standpunkt des Kanzlers vertrat. Der Mann der Idee war ganz ins Lager des genialen Staatsmannes übergegangen. Am 18. December, genau zweiundzwanzig Jahre nach Simson’s Wahl zum ersten Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung, fand in der Präfectur, dem Wohnsitz des Königs, der Empfang der Abordnung statt. S. hielt eine überaus schlichte, aber wohl gerade darum und vermöge der classischen Würde, mit der S. sich gab, ergreifende [361] Ansprache. Alle Anwesenden waren tief bewegt, am meisten vielleicht König Wilhelm I. selbst. Der Staatsrechtslehrer Bluntschli hatte im J. 1868 gesagt: „Simson spricht Musik. Seine Rede klingt wie Orgelton feierlich und voll, pathetisch“. Das trat hier in besonders weihevollem Momente recht wirkungsvoll und passend in die Erscheinung. Das ausdrucksvolle Profil des hochgewachsenen Mannes mit seiner hohen, etwas zurückfallenden Stirn, starken schwarzen Augenbrauen, dem vertrauenerweckenden braunen Auge, der leicht gebogenen Nase, langer Oberlippe und energischem Kinn prägte sich den zahlreichen deutschen Würdenträgern, die zugegen waren, in diesem geschichtlichen Augenblicke besonders fest ein. Wohl alle empfingen einen wohlthuenden Eindruck von seinem Wesen. Diesmal behielten die Skeptiker, die sein Pathos für überflüssig und übel angebracht hielten, wenn es deren damals überhaupt in Versailles welche gegeben hat, nicht Recht, wie einst zur Zeit der Frankfurter Kaiserwahl.

Nach dem Empfang in Versailles neigte sich die historische Mission Simson’s ihrem Ende zu. Einige Jahre übte er noch eine parlamentarische Thätigkeit aus. Seit dem Jahre 1867 war er nicht mehr Mitglied des Abgeordnetenhauses. Einen Einschub in das Herrenhaus im Herbst 1872 lehnte er ab, weil er glaubte, daß er dort nicht hin passe. Bis zum Jahre 1874 blieb er noch Präsident des Reichstages. Fürst Chlodwig Hohenlohe hat einige Züge aus dieser Zeit, in der er mit S. zusammen im Reichstagspräsidium saß, festgehalten. Der skeptische Diplomat empfand wohl ähnlich wie Bismarck die Reden Simson’s etwas ironisch. Spricht er doch ständig von den „zierlich gewundenen Sätzen“ und den „gewählten Ausdrücken“, in denen S. zu sprechen pflege. Auch dessen Gesten und Posen fielen ihm als etwas gemacht und gekünstelt auf. Aehnlich bezeichnet ja auch Theodor v. Bernhardi Simson’s Wesen als einigermaßen theatralisch. Aber im Gegensatz zu Bismarck hob Hohenlohe gerade, wie auch Andere, den feinen Takt Simson’s hervor. Wohl richtig fand er eine große äußere Aehnlichkeit zwischen S. und dem im übrigen durch seine Formlosigkeit von S. so verschiedenen Präsidenten der französischen Republik Grevy heraus. Auf die Dauer fiel S. die Leitung des Parlaments schwer. Seine Nerven waren zu empfindsam. Die häufiger werdenden Verletzungen des Tons pflegten ihn in große Erregung zu bringen. Für die stürmischen Sitzungen der späteren Jahre, in denen sich eine zum Theil recht ungeschliffene Gesellschaft unliebsam hervorthat, wäre er weniger als Präsident geeignet gewesen. Dieser Posten erforderte allmählich robustere Naturen. Nachdem S. das Präsidium abgegeben hatte, betheiligte er sich auch nicht mehr an den Debatten. Einmal noch wurde er, als sein Nachfolger Forckenbeck und die beiden Vicepräsidenten zufällig gleichzeitig behindert waren, durch das Vertrauen des Reichstagets am 7. Februar 1876 auf einen Tag zur Leitung berufen.

Er ging jetzt mehr und mehr im praktischen Juristenberuf auf. Im Februar 1868 hatte er die Stelle des ersten Präsidenten am Appellationsgericht in Hamm abgelehnt. Warum, ist nicht bekannt. Vielleicht rechnete er schon darauf, dieselbe Stelle in Frankfurt a. O. zu erhalten. In der That wurde er schon am 30. Januar 1869 zum Nachfolger seines Freundes Scheller ernannt. S. sprach dem Grafen Bismarck dafür seinen lebhaften Dank aus, da er wisse, daß er die Ernennung dem Ministerpräsidenten zu verdanken habe. „Euer Excellenz haben, um Sich meiner zu diesem Behuf annehmen zu können, Manches wohlwollend in Betracht ziehen und anderes großherzig vergessen mögen“. Bei der neuen großen Justizorganisation im J. 1878 trat an ihn der Gedanke heran, daß er das ihm lieb gewordene Frankfurt verlassen [362] müsse. Die leitenden Instanzen waren sich einig, daß die repräsentative Persönlichkeit und die ausgezeichnete juristische Kraft Simson’s geradezu wie geschaffen war für die Leitung des neuen Reichsgerichts. Der Kaiser, der Kronprinz und Bismarck faßten ihn dafür ins Auge. Der Kronprinz schlug ihn dem Reichskanzler bereits am 10. October in besonderem Schreiben vor. Aber S. wollte nicht. Der große Wechsel der Verhältnisse mochte ihn schrecken, auch mit Rücksicht auf seine Frau. Aber Bismarck übte einen Druck auf ihn aus, und sein Wille drang durch. Bismarck ließ S. nach Berlin kommen und stellte ihm es als durchaus wünschenswerth vor, daß er annähme. S. bat sich Bedenkzeit aus. Aber schon am Tage darauf, am 19. März 1879, schrieb er dem Fürsten: „Die Argumente, welche Eure Durchlaucht mir gestern zu Gemüthe führten, haben mich auf das tiefste getroffen. Ich stelle mich rückhaltlos zu Eurer Durchlaucht Verfügung.“ Am 23. April 1879 erfolgte Simson’s Ernennung zum Reichsgerichtspräsidenten. Nahezu zwölf Jahre hat er diese Stelle noch ausgefüllt. Er verstand es, mit allen betheiligten Factoren, so auch mit der Rechtsanwaltschaft, enge Fühlung zu unterhalten, und arbeitete, wenn auch nur mit theilweisem Erfolge, da er nicht eine entsprechende Vermehrung des Richterpersonals erreichte, der großen Ueberlastung des Reichsgerichts nach Kräften entgegen. Bei Beginn einer Cur in Karlsbad im Frühjahr 1890 traf ihn ein Schlaganfall, von dem er nicht mehr völlig genas. Dadurch sah er sich veranlaßt, um seinen Abschied einzukommen. Er erhielt ihn am 1. Februar 1891.

Noch aber stand ihm ein langer Lebensabend bevor. Mittlerweile war er mit Ehren überhäuft worden. So erhielt er den Vorsitz über das Comité, das die Vollendung des Stein-Denkmals bei Nassau ins Werk setzte, und leitete die Enthüllungsfeierlichkeiten im Juli 1872. Am 18. December 1873 verlieh ihm Frankfurt a. M. in Erinnerung an seine vor einem Vierteljahrhundert erfolgte Wahl zum Präsidenten des ersten deutschen Parlaments das Ehrenbürgerrecht. Als eine besondere Ehrung empfand es S. dabei, daß der feurigste Vorkämpfer der deutschen Einheit unter den Männern der Wissenschaft, Heinrich v. Treitschke, ihm damals schrieb, er dürfe von sich im Hinblick auf die großen Ereignisse sagen: quorum pars magna fui. Und abermals war es für ihn eine besondere Freude, als derselbe Historiker zu seinem fünfzigjährigen Doctorjubiläum ihm schrieb: „In den Stürmen einer undankbaren Zeit, die jeden politischen Namen vergißt oder besudelt, ist der Ihre immer fest verbunden geblieben mit den Geschicken des Vaterlandes und hat immer seinen alten lauteren Klang behalten.“ Beim fünfzigjährigen Amtsjubiläum am 22. Mai 1883 ernannten ihn Königsberg und Leipzig zum Ehrenbürger. Frankfurt a.O. hatte das schon früher gethan. In Leipzig und Berlin wurden Straßen nach ihm genannt. Bei Gründung der Goethe-Gesellschaft am 20. Juni 1885 wurde er als einer der wenigen Theilnehmenden, „deren Jugend noch die Strahlen von Goethe’s leiblichem Auge empfangen hatte“, zu deren erstem Vorsitzenden gewählt, was er bis zu seinem Ende blieb. Kaiser Friedrich verlieh ihm gleich nach seinem Regierungsantritt am 18. März 1888 als Ausdruck seiner alten Huld den Schwarzen Adlerorden und damit den erblichen Adel. Die Auszeichnung bewegte S. Wohl weil er annehmen durfte, daß sie nur im Einvernehmen mit Bismarck erfolgt sein konnte, richtete er an diesen ein Dankschreiben, in dem es hieß: „Bewahren Eure Durchlaucht mir Ihre Gewogenheit, der ich so viel schuldig geworden bin! Ich habe nichts dagegen zu bieten als unvergängliche treue dankbare Verehrung.“ Eine seiner letzten Handlungen war es, als er auf Anregung von neun ehemaligen Mitgliedern der Paulskirche, darunter Haym und Mevissen, zum fünfzigjährigen [363] Gedenktage der Eröffnung des Frankfurter Parlaments im Mai 1898 ein Schreiben an den greisen Bismarck richtete, in dem er den Dank für die Schaffung des Reiches ausdrückte. Bismarck dankte ihm liebenswürdig. Nach seinem Abschiede war S. von Leipzig nach Berlin gezogen und erfreute sich dort in unermüdlicher Lectüre und im Verkehr mit Freunden, darunter besonders mit Heinrich v. Sybel, mit dem er seit den Erfurter Tagen bekannt war, Heinrich Friedberg und Ludwig Bamberger, sowie mit seiner zahlreichen Familie in der stillen Rauchstraße beim Thiergarten eines friedlichen Daseins. Freilich lastete die Schwächung seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit schwer auf ihm. Von seiner bereits am 16. März 1883 verstorbenen Gattin besaß er zwei Söhne und sieben Töchter, von denen der größte Theil in Berlin lebte. In seinen letzten Jahren umgab ihn eine Schar von Enkeln und Urenkeln. Am liebsten las er in Goethe’s Werken. Sein Exemplar der Ausgabe letzter Hand in sechzig Bänden war vollständig zerlesen. Keine Stelle darin war ihm unbekannt. Aber auch Werke wie Treitschke’s Deutsche Geschichte studirte der greise Mann. Deren fünften Band las er, obwohl er noch kurz vorher eine zweite Schlagberührung erlitten hatte, zwei Mal hintereinander. Gegen Ranke empfand er eine gewisse Abneigung. Juristische Sachen las er seit seinem Abschied, wie es heißt, gar nicht mehr. Am 1. Mai 1899 erlebte er noch sein siebzigjähriges Doctorjubiläum. Doch lebte er damals schon seit Wochen nur noch in einer Traumwelt. Tags darauf starb er. Am 6. Mai wurde er beerdigt. Kaiser Wilhelm II. ließ sich durch zwei Prinzen vertreten. Er ruht auf dem Friedhof in der Belle-Alliancestraße an der Seite seiner Gattin.

Ein ungewöhnlich glückliches Leben fand mit Simson’s Tode seinen Abschlus. Mit der deutschen Einheitsbewegung ist S. auf das merkwürdigste und innigste verknüpft. Eine decorative und repräsentative Persönlichkeit, wird er gleichsam von den Wellen dieser idealen Bewegung emporgetragen und in jeder einzelnen Phase auf einen weithin sichtbaren Platz gestellt. Es darf dabei als eine günstige Fügung bezeichnet werden, daß ein so feiner und edler, von vielseitiger Bildung getränkter Geist dies Geschick hatte. Kaum wird diese Erscheinung, selbst nicht für peinlich deutsch Empfindende, in ihrer Erfreulichkeit dadurch beeinträchtigt, das S. nicht germanischen Blutes war. Denn wer S. kannte, empfand seine jüdische Abstammung, mochte sie sich auch in Aeußerlichkeiten und auch in einigen Zügen seines Wesens nicht verleugnen, schwerlich störend. Man denke an Treitschke und Bernhardi. Der allgemeine Eindruck seiner Persönlichkeit war dafür zu wohlthuend. Man hat wohl von der Anmuth seines Wesens gesprochen. Daß ein Mann jüdischer Abkunft die schöne Rolle in der deutschen Einheitsbewegung spielen konnte, die S. zugefallen ist, darf geradezu als symptomatisch für den Charakter der doch ursprünglich von dem gebildeten deutschen Bürgerthum ausgehenden Bewegung gelten. Sobald das waffenklirrende alte Preußenthum die Führung der Bewegung mehr in die Hand nimmt, da wird auch S. einigermaßen Nebenerscheinung. Schließlich erhielt er als Präsident des Reichsgerichts gleichsam den ihm zukommenden Ruheposten. Es wird am Ende zu sagen sein, daß S. nicht zufällig zu der Rolle kam, die er spielte, sondern stets der richtige Mann an der richtigen Stelle war.

Von seinen Söhnen widmete sich der ältere, August, dem Anwaltsberufe, der jüngere, Bernhard, wurde Professor der Geschichte. Von seinen Töchtern blieben die älteste, Margarete, und die dritte, Elisabeth, unverheirathet. Die zweite, Therese, vermählte sich mit dem als Generalarzt verstorbenen Dr. Ernst Wolff, die vierte, Antonie, mit dem Landgerichtspräsidenten Hackel, die fünfte, [364] Anna, mit dem Justizrath Max Wolff, die sechste, Helene, mit dem Rittergutsbesitzer Richard Schwerdtfeger und die jüngste, Charlotte, mit dem Senatspräsidenten am Kammergericht Zachariae.

Bernhard v. Simson, Eduard v. Simson, Erinnerungen aus seinem Leben. Leipzig 1900. – Spiero, Erinnerung an Simson. Zukunft, 26. Sept. 1903. – Duboc, Achtundvierziger. Ebenda 26. Juni 1897. – Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen des Fürsten Bismarck. – Leopold Gerlach’s Tagebücher (z. Th. ungedruckt). – Aufzeichnungen Ludwig’s von Gerlach. – Aus dem Leben Theodor v. Bernhardi’s, Bd. IV-VII. – Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig Hohenlohe. – Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. – Alexander Meyer, Eduard v. Simson (in Band IV des Biographischen Jahrbuchs und Deutschen Nekrologs S. 307–317). – Karl Frenzel’s Nachruf auf Simson im Goethe-Jahrbuch XXI, 3–6. – Karl Braun-Wiesbaden, Eduard Simson (in Nord u. Süd 37, 349–367).