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Artikel „Mevissen, Gustav von“ von Justus Hashagen in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 772–788, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mevissen,_Gustav_von&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 02:01 Uhr UTC)
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Mevissen *): Gustav M. ist am 20. Mai 1815 in Dülken bei Crefeld geboren, als jüngster Sohn des Zwirnfabrikanten Gerhard M. und seiner Frau Catharina Elisabeth geb. Gierlings. An dem pflichttreuen und energischen Vater, dem ein anstrengendes Geschäftsleben noch Zeit und Interesse übrig läßt zu eingehender pädagogischer Beschäftigung, hat M. immer ein leuchtendes Vorbild gehabt. Von seinem rationalistischen Wahrheitsbedürfnisse gestärkt, befreit der Jüngling sich schon früh von den engen Formen einer streng confessionellen katholischen Religiosität. In den Jahren 1822–1828 erhält er die Grundlagen seiner Bildung in Dülken selbst, wobei künstlerische, historische und politische Fragen, die sein späteres Leben begleiten, merkwürdig frühzeitig an ihn herantreten. Die social gerichteten Erziehungsgrundsätze Pestalozzi’s, als deren treuer Anhänger der Vater erscheint, herrschen über diesen Jahren. Der wissensdurstige Jüngling besucht später, 1828–1830, das Kölner evangelische Karmeliter-, das katholische Marzellen-Gymnasium und die höhere Bürgerschule bis zur Tertia. Die großen historischen Erinnerungen der Stadt umgeben ihn von allen Seiten; er fängt an, eine kleine Büchersammlung zu begründen; man beschäftigt sich mit dem Gedanken seiner Rückkehr aufs Gymnasium: es hat den Anschein, als wenn aus dem Kaufmannssohne ein Gelehrter werden soll. Allein praktische Erwägungen bestimmen ihn schließlich doch zum Eintritt in das Geschäft des Vaters, im September 1830.

Obwohl ihm dieser Entschluß nicht leicht geworden ist, macht sich M. schnell mit seinen neuen Pflichten vertraut, erfüllt sie mit großem Eifer und wachsendem Erfolge und leitet schon sehr bald Erweiterungsunternehmungen des aufblühenden väterlichen Geschäftes völlig selbständig.

Allein noch größer ist die biographische Bedeutung dieser dreißiger Jahre für seine innere Entwickelung. Unter der Devise: „Denken ist mein einz’ges Streben“, wie er sie am 27. März 1831 niederschreibt, arbeitet er mit wahrem Feuereifer an seiner Selbstbildung, die in dem gewöhnlichen geschäftlichen Leben und in den engen, rückständigen Dülkener gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zu ihrem Rechte kommt.

Im Gegensatz zu manchen angeblich fortgeschrittenen Zeitgenossen ist für ihn dabei die classische Litteratur die ständige Grundlage. In ihrem Geiste bekämpft er die prosaische, das Gefühlsleben nicht achtende Aufklärung, und nähert er sich zugleich Jean Paul, der Romantik und ihrem für ihn besonders anziehenden, gesteigerten Individualismus. Aber er steht ihr nicht kritiklos gegenüber. Sondern, wie manche der späteren Liberalen (Vgl. Deutsche Monatsschrift 1906, S. 627 ff.) verwirft er ihre Sentimentalität und ihre phantastische Zuchtlosigkeit. Vor allem aber flieht er vor ihrer beschränkten religiösen Unduldsamkeit immer wieder zu Goethe zurück, den er nicht nur ästhetisch, sondern auch als größten Lebenskünstler würdigt. Es ist bezeichnend, daß er in den Jahren 1832–1835 den Wilhelm Meister (zugleich die Bibel der Romantik) mehrfach durcharbeitet. In denselben Jahren gewinnt er auch zu der zeitgenössischen Dichtung eine klare und wohl durchdachte Stellung. Er hat eine Ahnung von dem Neuen, was die Julirevolution nicht nur auf politischem, sondern auf allgemein geistigem Gebiete gebracht hat. Führerinnen [773] einer neuen Geistescultur, wie Rahel und Bettina, finden trotz aller Kritik seine warme Anerkennung. Kein Wunder, daß er auch dem größten rheinischen Dichter, Heinrich Heine, schon frühe näher tritt und es an ihm rühmend hervorhebt, daß er die rheinische Lyrik mit der deutschen Gesammtdichtung in innigere Beziehungen gebracht habe. Noch reichere Anregung empfängt er von Heine, dem Prosaisten, dem Meister des litterarisch-ästhetischen Feuilletons und der geschichtsphilosophisch räsonnirenden Abhandlung: es sind Heine’s Beziehungen zu Saint-Simon, die er für sich nutzbar macht. Aber seine Kritik arbeitet auch hier: er vermißt an Heine „die Tiefe des Gemüths und den wohlwollenathmenden Ernst“. „Er gleicht der farbenprangenden Tulpe ohne Schmelz und Geruch, sein Herz ist trocken.“

Sein zweites großes Bildungsmittel ist die Geschichte. Schon die Kölner Schulzeit, umflossen von historischen Erinnerungen, hat ihn darauf hingewiesen. Außer den rheinischen Gelehrten, wie etwa Ernst Weyden (1805–1884), werden die Arbeiten des Leipziger Professors K. H. L. Pölitz (1776–1838) bald seine häufigen Rathgeber. Später gewinnt er aus den Werken von Gervinus und Dahlmann reiche Belehrung. Aber nicht nur wissenschaftliche Interessen führen ihn auf dies weite Feld, sondern auch der Wunsch, die Menschenkenntniß zu erweitern, die politische Bildung zu vertiefen.

Durch all diese Studiengebiete hindurch gelangt M. mit einer gewissen Nothwendigkeit zur Philosophie. Seit 1834 studirt er mit rastlosem Eifer die classischen deutschen Werke, deren Weltanschauungsgehalt ihn überzeugt und deren künstlerische Form ihn anzieht. Im Mittelpunkt steht für ihn das ethische Bedürfniß nach Begründung eines autonomen Freiheitsideals. Fernab von jeder historischen Confession und vom positiven Dogma – er glaubt nicht mehr an ihre Wirkungskraft für die Gebildeten – nimmt er für sich eine besondere philosophisch abgeklärte Religiosität des Gefühls und der Liebe in Anspruch. In der Metaphysik will er als Rationalist und Pantheist nur immanente Ursachen des Weltgeschehens anerkennen. Mit der theistischen Welterklärung hat er sich wohl ernsthaft beschäftigt, sie aber je länger, je entschiedener abgelehnt. Seine tiefe Bildung, der Blick über Zeiten und Völker hinweg, dazu die starken Bedürfnisse seines klaren Verstandes nähern ihn dem Faustischen Ideale. Schon als Sohn der Aufklärung, der er im Grunde immer geblieben ist, ferner als thatenlustiger, energischer Anhänger der Weltbejahung wird er ins pantheistische Lager hinübergezogen. Die philosophiehistorischen Studien, die ihn bis zu Platon zurückführen, bestärken ihn in diesen Gedanken. Es ist natürlich, daß er dabei auch in der stillen Klause des großen jüdischen Pantheisten Baruch Spinoza einkehrt, den schon die spätere Aufklärung, noch mehr der Sturm und Drang und besonders Goethe als einen Heroen verehrt haben. Aber auch diesen großen Geistern der Vergangenheit gegenüber hat er seine Selbständigkeit nicht aufgegeben: Mevissen’s Pantheismus ist voluntaristisch: er sieht im Willen die Grundkraft alles Seins. Diesen Willen vermag er nun aber einer geschlossenen Naturcausalität zuliebe nicht als unfrei vorzustellen. Er lehnt deshalb Spinoza’s Determinismus ab. In der Willenslehre scheidet er sich von ihm deutlich. Manche seiner philosophischen Wünsche werden von Leibniz viel besser befriedigt. Als ahnungsvoller Vertreter der Entwicklungslehre in ihren Anfängen übt Leibniz auch auf ihn eine große Anziehungskraft aus. Seine Denkweise hat für ihn zugleich praktische Bedeutung: sie verstärkt den optimistischen Grundzug seiner Moralphilosophie. Immer wieder sind es überhaupt die ethischen Interessen, die in den Jahren 1836–1838 seinen philosophischen Studien Anregung geben. Kant’s Lehre, an der sich begabte Rheinländer schon unter [774] französischer Herrschaft auffallend oft ausgerichtet haben, bildet den wichtigen Ausgangspunkt. Freilich bleibt er bei ihm nicht stehen. Starke Gegenwartsinteressen führen ihn über Kant hinaus zu Herbart: bei beiden ist ihre praktische Philosophie sein Lieblingsgebiet: alte Pestalozzi’sche Gedanken werden ihm bei Herbart von neuem nahe gebracht.

Was ihm aber alle die genannten Philosophen in vollem Umfange nicht haben bieten können, das hat er schließlich bei Hegel in reichster Fülle gefunden. Formal und sachlich erringt Hegel’s System in ihm den Sieg über alle Vorgänger. Dem Glanze dieser Systematik kann er sich nicht entziehen: daß es eine objective Vernunft in der Welt gebe, daß sie die Herrscherin sei, daß man Denken und Sein gleichsetzen dürfe: diese Angelpunkte des Systems erscheinen auch M. als unverrückbar. Auf das Fruchtbarste wird er vor allem durch Hegel’s Staats- und Rechtsphilosophie beeinflußt. Ihr verdankt er seine Lösung aus dem Banne der älteren Vertragslehre und zugleich den Grundgedanken seiner ganzen theoretischen und praktischen Politik: daß der Staat als sittlicher Organismus in der Menschheitsentwicklung sittliche Zwecke zu erfüllen habe. Diese Bahnen hat M. nie wieder verlassen. Parallelen zwischen seinen gehaltvollen, besonders wirthschaftspolitischen Denkschriften und Hegel’s praktischer Socialphilosophie lassen sich noch in späteren Jahren häufig auffinden. Noch am 26. Mai 1898 hat er sich einmal als „wahren Schüler Hegel’s bezeichnet.

Es liegt in dem universalen Charakter dieses größten der vormärzlichen Systeme begründet, daß es alle nur denkbaren Thätigkeiten des menschlichen Geistes mit seiner „Vernunft“ durchdringt. Auch bei M. beweist der Hegelianismus seine Expansivkraft auf außerphilosophischem Gebiete. Die historische Anschauung des jungen Kaufmanns wird alsbald dadurch gefördert. Und auch in der Aesthetik wendet er sich bald von Kant, Schiller und Herbart mehr zu Hegel hinüber. Die Idee durch sinnliche Mittel darzustellen, erscheint auch diesem Hegelianer als höchste Aufgabe der Kunst. Aber auch hier wird er vor allzu großen Einseitigkeiten durch emsige Einzelforschung bewahrt. Wir besitzen von ihm kritische Analysen einzelner Goethe’scher Werke, förmliche Goethecommentare, in denen er die Stichhaltigkeit seiner Aesthetik zu erproben sucht. –

Auf politischem Gebiete hat er in diesen Jugendjahren, die mit der Blüthezeit der preußischen Reaction zusammenfallen, wie so viele andre später zu maßvollerer Betrachtung Uebergehende, der demokratischen Consequenz zuliebe noch jenem extremen Liberalismus gehuldigt, der von der Verwirklichung des Gedankens der Volkssouveränetät alles politische Heil erwartet. Er hat 1835 in einer „Ode an Rotteck“ diesem Vorkämpfer der französisch stark beeinflußten, später von M. selbst verworfenen Doctrin Worte begeisterter Anerkennung gewidmet und ihn mit dem „harten Felsen im Meere“ verglichen. Aber die Grenzlinie zwischen den Beiden ist doch unschwer zu erkennen. Während Rotteck nur zwei Ideale hat: das constitutionelle Großherzogthum Baden und die Menschheit, wird M. zu einem der ersten Vertreter des Gedankens der deutschen Einheit in den neu erworbenen Westprovinzen des preußischen Staates.

Den verschiedensten Kreisen tritt er geschäftlich näher. Manche topographische, sociale und wirthschaftliche Anregung erhält er, die dem späteren großen rheinischen Verkehrsorganisator zu Gute kommen. Unter dem abschreckenden Eindrucke der Bourgeoisieherrschaft des Julikönigthums dienen ihm die Geschäftsreisen vor allem zur Stärkung des socialen Pflichtgefühls und des weiteren Gedankens, daß der Staat dem Einzelnen zu Hülfe kommen müsse. [775] Gerade das hatte Adam Smith widerrathen. Aber M. folgt ihm nicht. Den bequemen Gedanken der classischen englischen Nationalökonomie, daß die freie Concurrenz automatisch die sociale Wohlfahrt aller Erwerbsclassen herbeiführe, lehnt er ab. Ein geistiger Schüler Pestalozzi’s, Saint-Simons und der classischen deutschen Moralphilosophie, kann er nicht zum Manchestermann werden. Er ist vielmehr der höchst beachtenswerthe Vertreter einer ethisch begründeten Socialpolitik, der Führer einer kleinen social gerichteten Gruppe des vormärzlichen Liberalismus. Eine neue Gesinnung soll den schrankenlosen wirthschaftlichen Egoismus wenn nicht verdrängen, so doch veredeln.

Der Kölner Kirchenstreit des Jahres 1837 gibt ihm in der Folge Veranlassung, auch zu den am Rheine immer mit besonderer Gereiztheit behandelten kirchenpolitischen Fragen Stellung zu nehmen. M. verwirft das Vorgehen der preußischen Regierung gegen den Kölner Erzbischof und ihr ganzes terroristisches Auftreten als sinnlos in einem Lande, wo die Civilehe schon längst existiert. Sein Ideal ist schon damals die Trennung von Staat und Kirche, wie später auf dem Vereinigten Landtag. Wie gegen das preußische Staatskirchenthum, so wendet er sich aber auch gegen den neuen am Rheine von Belgien und der späteren Romantik mächtig beeinflußten politischen Katholicismus. Dagegen zollt er der freieren protestantischen Richtung, die kurz vorher (1835) im Leben Jesu von David Friedrich Strauß eine ihrer grundlegenden Schriften erhalten hat, volle Anerkennung. Die Bedeutung des Protestantismus überhaupt für die Ausgestaltung des preußischen Staates hat er auch sonst gelegentlich hervorgehoben (1843).

Seine sich immer weiter ausbreitende geschäftliche Stellung bringt ihn ferner, noch ehe er das dreißigste Jahr erreicht hat, in vielfache Berührung mit den großen Fragen der preußischen Handelspolitik. Wenn er auch von den heilsamen Wirkungen des preußischen Zollgesetzes vom 26. Mai 1818 in Bezug auf die Befreiung des Binnenhandels überzeugt ist, so theilt er doch von ganzem Herzen die Klagen der zollschutzbedürftigen jungen rheinischen Industrie, die auf den drei ersten Provinziallandtagen von 1826, 1828 und 1830 gegen den doctrinären Freihandelsstandpunkt gerichtet werden. Dagegen begrüßt er die Gründung des Zollvereins (1834) wirthschaftlich und politisch als erstes Anzeichen eines neuen Aufschwungs der preußischen Macht mit aufrichtiger Freude. Eifrig bemüht er sich, die Concurrenzfähigkeit der rheinischen Garnindustrie, in der er selbst thätig ist, zu steigern. Die Gründung mechanischer Flachsspinnereien sucht er dabei auf dem Wege der Actiengesellschaft zu erreichen. Er faßt dies neue Vergesellschaftungsmittel nicht in erster Linie als private Erwerbsgenossenschaft auf, sondern vielmehr als wichtiges Vermittlungsglied zwischen dem Individuum und dem Staate. Dieser selbst aber ist damals noch ein scharfer Gegner der neuen wirthschaftlichen Organisationsform. Vornehmlich aus politischen Gründen. Die Actiengesellschaft fällt für die alte preußische Bureaukratie aus dem hergebrachten Bevormundungsrahmen heraus. Sie erscheint als beunruhigende „politische Keimzelle“.

Zugleich beginnt er jetzt an der Hand der Werke von Say, Ricardo, Nebenius u. A. ein eingehendes theoretisches Studium der Volkswirthschaft. Vielfach nähert er sich dabei mit seiner Abneigung gegen allen freihändlerischen Doctrinarismus und seiner Vorliebe für den Schutzzoll dem später von F. List formulirten „nationalen System der politischen Oekonomie“. Die handelspolitischen Schutz- um nicht zu sagen Angriffsmittel, die England in die Höhe gebracht haben, sollen für die Heimath verwerthet werden. Seit 1839 ist M. Mitarbeiter des in Köln seit 1834 erscheinenden „Allgemeinen Organs für Handel und Gewerbe“. Schon 1838 ist er ferner der deutsch-englischen [776] Dampfschifffahrtsgesellschaft beigetreten, die unter Bekämpfung der unleidlichen handelspolitischen Vorherrschaft Hollands den directen Verkehr zwischen dem Rheine und England pflegen und den alten Gedanken von der Freiheit des Rheins verwirklichen will. 1839 greift M. selbst mit einem Aufsatze: „Holland als Handelsvermittler rheinischer Producte“ in diesen Kampf ein. Bei allem Protectionismus und bei aller socialpolitisch gerichteten Wirthschaftspolitik will er aber keineswegs die Entbindung der wirthschaftlichen Kräfte verhindern. Eine Wiederverdrängung der Maschine etwa aus socialen Gründen erscheint ihm als rückständig.

Aber auch nach links hat er seine Stellung in diesen Jahren großen industriellen Aufschwungs schärfer abgegrenzt. Die eben in Frankreich aufkommende socialistische Theorie hat er einer scharfen Kritik unterworfen. In Proudhon’s proletarischer Schrift über das Eigenthum von 1840 erkennt er als Grundschaden sofort die heillose Mißachtung der geistigen Arbeit. Ihm und dem Staatssocialisten Louis Blanc („Arbeitsorganisation“ 1840) gegenüber predigt er das Recht individueller Freiheit. Politisch aber trennt ihn von diesen Politikern ebenso wie von den republikanisirenden süddeutschen Liberalen seine nie erschütterte kräftige monarchische Ueberzeugung.

Immer wieder aber drängt es daneben den thatendurstigen Jüngling auch zu praktischer Bethätigung. Seit seiner Uebersiedelung nach Köln (1841) nimmt er an dem erwachenden politischen Leben der Provinz den regsten Antheil. Der Tod Friedrich Wilhelm’s III. erweckt auch hier weitgehende Hoffnungen. Mit Bedauern hat M. es mit angesehen, wie der König den Muth nicht findet, sein altes Verfassungsversprechen vom 22. Mai 1815 zu verwirklichen. Sehr richtig erkennt er den particularistischen und egoistisch-grundherrlichen Charakter der provinzialständischen Gesetzgebung, der am Rhein besonders schmerzlich empfunden wird. Auch in der Frage des rheinischen Rechtes nimmt er schon früh seinen Standpunkt gegen eine Regierung, die gerade jetzt durch polizeiliches Willkürregiment (Schnabel), durch die Gesetzgebung betr. die rheinischen Autonomen (Uebertragung der ostelbischen Fideicommißgesetze an den Rhein) und durch militaristische Tendenzen das Freiheitsbewußtsein der Rheinländer und namentlich ihre Idee vom allgemeinen Staatsbürgerthum, ein kostbares Erbstück aus der französischen Zeit, schwer verletzt. Während aber diese rheinische Opposition zunächst wesentlich negativ arbeitet und ihrerseits den provinziellen Particularismus in ungeahnter Weise verstärkt, würdigt M. vielmehr die positiven Aufgaben des politisch aufstrebenden Bürgerthums in vollem Umfange und vertritt besonders den Gedanken der communalen Selbstverwaltung als nothwendiger Grundlage eines umfassenden constitutionellen Baues. Wenigstens handelspolitisch müsse man der Regierung unbedingtes Vertrauen entgegenbringen. Ein größeres positives politisches Reformprogramm wird darüber nicht vernachlässigt: Herstellung einer wirklichen preußischen Einheit in scharfem Doppelgegensatze zu den rheinischen und zu den östlichen Particularisten, Heranziehung der Bourgeoisie zu politischer Mitarbeit und in letzter Linie Herstellung der deutschen Einheit, Reform der „leblosen Schöpfung von 1815“.

In der „Rheinischen Zeitung“ finden diese Gedanken 1842 ein beachtenswerthes Organ. Um die preußische Einheit herzustellen und das Bürgerthum zu politischer Mündigkeit zu erheben, soll nicht die Volkssouveränetät eingeführt, sondern die Gewalt zwischen Volk und Krone getheilt werden. Es ist ferner der Gegensatz gegen den Confessionalismus und das treue Festhalten an Zollgesetz und Zollverein, was M. der Zeitung näher bringt und ihn schließlich zum Eintritt unter die Mitarbeiter veranlaßt. Zur Regierung steht die [777] Zeitung in vielfältiger Opposition, besonders in der Communalfrage. Man bekämpft die Bemühungen der Bureaukratie, durch eine einseitig-östliche Städteordnung (Revidirte Städteordnung vom 17. März 1831) den am Rhein schon vor der französischen Herrschaft fast ausgeglichenen Gegensatz zwischen Stadt und Land künstlich wieder zu beleben. M. verweist dabei vor allem auf die verderblichen politischen Folgen: auf „die schädliche Wirkung auf die politische Gleichheit der Staatsbürger“. Auch das Land könne eine communale Autonomie tragen. Aber alle diese Bemühungen sind nur Episode. Denn die Regierung unterdrückt den einflußreichen journalistischen Widersacher am 1. April 1843.

Als einziges, der Function und Zusammensetzung nach aber arg verkümmertes Organ bleiben die Provinzialstände. M. kann seiner Jugend wegen noch nicht eintreten; aber er folgt ihren Berathungen mit steigendem Interesse und knüpft persönliche Verbindungen an mit den bedeutendsten bürgerlichen Politikern am Rheine, mit Ludolf Camphausen und vor allem mit Hermann v. Beckerath. Diese Beziehungen schaffen ihm einigermaßen Ersatz für den schweren Verlust, den er durch den Tod seines Vaters erleidet. Während auf dem siebenten rheinischen Landtage von 1843 wegen der Communalfrage, noch mehr aber wegen des neuen, das rheinische Recht verletzenden Strafgesetzentwurfes ein heftiger Kampf ausbricht, redigirt M., übrigens durch Krankheit behindert, eine Petition, die im Dienste seiner allgemeinen Bildungs- und Religionsideale Preßfreiheit und Reichsstände fordert. Auf einer Erholungsreise lernt er in Wiesbaden zum ersten Male auch auswärtige Vertreter des Liberalismus, Carl Sieveking aus Hamburg und Heubach aus Königsberg, ferner badisch-pfälzische Politiker ähnlicher Richtung kennen. Er wird sich aber gerade ihnen gegenüber der Eigenart des rheinischen Liberalismus bewußt.

In den nächsten Jahren tritt die Wirthschaftspolitik auch für sein Leben von neuem in den Vordergrund des Interesses. Schon 1843 hat er Pläne für Gründung einer Rückversicherungsgesellschaft ausgearbeitet. 1844 wird er (mit 29 Jahren) Mitglied der Direction der Rheinischen Eisenbahn von Köln nach Antwerpen. Besondere Verdienste erwirbt er sich um die Förderung der linksrheinischen Uferbahnprojecte, die allerdings zunächst noch ebenso wie seine weiter ausschauenden allgemein-niederrheinischen Pläne an der Verständnißlosigkeit des Publicums, der betheiligten Geschäftskreise und der Regierung scheitern. Man fürchtet sich vor der Concurrenz der Dampfschiffe. Die technischen Schwierigkeiten werden zunächst für unüberwindlich gehalten. Strategische Bedenken treten dazwischen. Dagegen kann M. als Präsident der Rheinischen Eisenbahn (1844–1880) freier schalten. Wie bei den Actien-, so stellt er sich auch bei den privaten Eisenbahngesellschaften nicht auf den engen individualistisch-erwerbswirthschaftlichen Standpunkt. Es handelt sich für ihn nicht nur um äußere Belebung des Verkehrs, sondern vor allem um Erweckung „noch schlummernder productiver Kräfte“. Auch auf diesem Gebiete zeigt er sich als ebenbürtigen Gesinnungsgenossen Friedrich List’s . Auch an industriellen Unternehmungen, z. B. der Stolbergischen Metallurgischen Gesellschaft, betheiligt er sich eifrig. Seit 1845 Mitglied der Kölner Handelskammer, macht er die Ausarbeitung genauer Pläne für Bankgründungen zu seiner besonderen Domäne, begegnet aber hier ebenso wie bei den Finanzirungsbestrebungen in Bezug auf den Bergbau dem hartnäckigen Widerstande der Regierung, die ihre mißtrauische Stellung gegenüber den Actiengesellschaften nicht aufgiebt. Die in jener Zeit so brennende Auswanderungsfrage wird ebenfalls in den Bereich seiner wirthschaftlichen Erörterung gezogen. Als wichtigstes Feld derartiger Bethätigung läßt aber das Jahr 1844 seit dem Aufstande der schlesischen [778] Weber die Socialpolitik erscheinen. Aus rheinischen Industriekreisen stammt die von tiefsten sittlichen und historischen Einsichten erfüllte Anregung zur Gründung eines Vereins zum Wohle der arbeitenden Classen. Nicht nur aus wirthschaftlichen, sondern auch aus sittlichen Motiven nimmt M. an allen seinen Berathungen in Köln lebhaften Antheil. Als Präsident der Rheinischen Eisenbahn thut er selbst verheißungsvolle Schritte auf dem Gebiete socialer Hülfsarbeit. Aber die privilegirten Classen, der Dritte Stand und die Bureaukratie, lassen es auch diesmal zu keiner umfassenderen Verwirklichung des großen Planes kommen. Vielmehr erscheint der Regierung die ganzes socialpolitische Agitation in verdächtigem communistischen Lichte.

Die Erfolglosigkeit dieser autonomen socialpolitischen Bewegung führt mit Nothwendigkeit von neuem zur Behandlung der politischen Hauptfrage, zu immer häufigerer Aeußerung des einen brennenden Verfassungswunsches. Da insbesondere M. den Staat auch mit socialpolitischen Functionen bekleiden will, so steigt auch für ihn die Wichtigkeit der Lösung der Verfassungsfrage. Indem der rheinische Liberalismus, zu dessen vornehmsten Leitern M. zu rechnen ist, sein positives Einheits- und Freiheitsprogramm immer deutlicher entwickelt, organisirt er zugleich eine eifrige Agitation für Reichsstände. Dieses Programm, wie Camphausen es unter Berufung auf den Freiherrn vom Stein 1845 auf dem achten Provinziallandtag darlegt, richtet sich in gleicher Weise gegen die feudal-ultramontane Partei, wie gegen die radicale Demokratie mit ihrer Lehre von der Volkssouveränetät. Es bezeichnet auch für M. die Richtschnur des politischen Handelns in den folgenden Jahren.

Dagegen vermißt man die handelspolitische Einigkeit innerhalb der liberalen Parteien am Rhein. Wie die Provinziallandtage und David Hansemann, so ist auch M. der Meinung, daß der rheinischen Industrie mit einem maßvollen Schutzsysteme erzieherischen, nicht prohibitiven Charakters am besten gedient sei. Dagegen erscheinen Camphausen und die von ihm beherrschte Kölner Handelskammer (M. befindet sich mit seinem protectionistischen Anhang in der Minorität) als erklärte Anhänger der Freihandelslehre, weil sie überhaupt im Handel die entscheidende wirthschaftliche Function eines Volkes erblicken, während M. für die Gleichberechtigung von Industrie und Ackerbau unermüdlich eintritt. Nahe persönliche Beziehungen zu dem Tübinger Professor der Staatswissenschaften Fallati (1809–1855), dessen politischer Liberalismus und Einheitsbegeisterung ihn außerdem fesseln, sind geeignet, seine Abneigung gegen den ökonomischen Liberalismus zu stärken.

Das Jahr 1846 bringt für den rastlosen Mann ein doppeltes folgenschweres Ereigniß. Er verheirathet sich mit Elise Leiden, der Tochter eines Geschäftsfreundes des Vaters, und er wird, nachdem er endlich das vorschriftsmäßige Alter erlangt hat, als Abgeordneter in den Provinziallandtag gewählt.

Zusammen mit den andern rheinischen Liberalen sieht er in dem königlichen Patent vom 3. Februar 1847 und den drei Verordnungen, welche die Provinzialvertretungen zu einem „Vereinigten Landtag“ zusammenschließen, trotz aller reactionären Elemente dieser Gesetze einen wesentlichen Fortschritt. Schon das rheinische Einheitsbedürfniß läßt ihn diesen lange ersehnten Schritt des Königs willkommen heißen. Er wird deshalb zusammen mit Camphausen gegenüber Beckerath rechts und Hansemann links der Führer der liberalen Mittelpartei. Es ist für ihn keine Frage, daß man den Competenzconflict nicht entfesseln dürfe, vielmehr trotz des Widerstandes des radicalen Liberalismus wie ihn z. B. die Ostpreußen vertreten, die Zuständigkeit der ständischen Gesammtvertretung anerkennen müsse. Seiner vorsichtigen Parteidiplomatie gelingt [779] es, die Liberalen trotz aller Widerstände auf dies Programm in Berlin zu einigen. Dies taktische Entgegenkommen bedeutet aber keinen Bruch mit den grundsätzlichen Gedanken. M. hat in der Adreßdebatte die constitutionelle Hauptforderung, nämlich die Periodicität der Landesvertretung, aufs schärfste gestellt und sie später bei den Berathungen vom 29. Mai bis 8. Juni eingehend begründet. Ihr zu Liebe hat er die Bewilligung der Ostbahnanleihe verweigert und auch die liberale Deklarantenadresse vom 26. April (Antwort auf die Replik des Königs vom 22.) mit unterzeichnet. Auch auf ihn macht die vielberufene ganz ständische Thronrede einen niederschmetternden Eindruck; denn seine Ueberzeugung ist und bleibt, daß die Macht der Krone durch Einführung des Constitutionalismus nur gesteigert werde. Mevissen’s wohl durchdachte und vorbereitete Reden finden einen großen Leserkreis. Am Rheine gewinnt er besonders durch seine unabhängige Haltung gelegentlich der Ausschußwahlen die Sympathien.

Daneben bleibt sein Interesse für die Lösung der deutschen Frage, die gerade jetzt nach mannichfacher publicistischer Vorarbeit in Süddeutschland von der Heidelberger Deutschen Zeitung kräftig aufgerollt wird, in alter Weise lebendig. Mit Bassermann’s berühmtem Antrage in der badischen Kammer vom 27. Juli ist M. natürlich völlig einverstanden. Wie fast alle Zeitgenossen hält er einen friedlichen Ausgleich des österreichisch-preußischen Dualismus und die Gründung eines großdeutschen Siebzigmillionenreichs für durchaus möglich. Für M. sind es bewegte Wochen, denn er bekleidet formell vom 22. Juni bis 27. Juli die Function eines Beigeordneten der Stadt Köln, bis die Regierung dem unbequemen Beamten die Bestätigung verweigert. –

Am 3. Februar 1848 reist Joseph Maria v. Radowitz durch Köln und trifft auch mit M. zusammen. Als guter Kenner französischer Verhältnisse prophezeit M. den baldigen Untergang des Julikönigthums. Radowitz will es nicht glauben. Aber der Kaufmann sieht hier weiter, als der Diplomat. Die Befürchtungen bestätigen sich, wie man weiß, überraschend schnell. Es tritt ein, was Mevissen’s Socialpolitik mit hat verhindern wollen: die Erhebung der niederen Massen des deutschen Volkes. Die Stadt Köln wird schnell zum Mittelpunkte der neuen von Karl Marx beherrschten internationalen communistischen Partei. Hier erscheint die Neue Rheinische Zeitung. Zugleich nimmt jetzt die deutsche Einheitsbewegung, wachgehalten durch die Kriegsfurcht vor dem republikanischen Frankreich, ein wahnsinnig beschleunigtes Tempo an. Als treuer Monarchist verlangt M. vor allem, daß man der Krone eine entscheidende Mitwirkung bei dem großen Einigungs- und Befreiungswerke zugestehe. Aber in Süddeutschland wächst die linksliberale Agitation über diesen Standpunkt sofort hinaus. Der alte Gedanke der Volkssouveränetät und der neue des allgemeinen gleichen Wahlrechts bringen die ganze Masse in Aufruhr. Das Ergebniß ist die Einberufung des Frankfurter Vorparlamentes auf den 30. März. Keinerlei Rechtstitel läßt sich für seine Existenz aufweisen. Ein Punkt ist damit erreicht, den weder M. noch der rheinische Liberalismus in solcher Schroffheit erstrebt haben, wie auch neuerdings ihr Bonner Programm vom 11. März aufs deutlichste zeigt. Noch am 15. hat der Kölner Gemeinderath den Versuch gemacht, den König dazu zu bewegen, an die Spitze der Einheitsbewegung zu treten. Friedrich Wilhelm IV. folgt diesen Anregungen in zwölfter Stunde mit seinem Patente vom 18. März. Aber es ist bereits zu spät. Die Berliner Märzrevolution veranlaßt den haltlosen König zu seinen Erklärungen vom 21. und 22., die einen völligen Bruch mit dem ganzen bisherigen gemäßigten oder nicht gemäßigten Systeme bedeuten. Die würdelose Capitulation der Krone vor der Revolution hat nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland die verderblichste Wirkung. Sie scheint für immer Mevissen’s Hoffnungen auf [780] eine preußische Führung der Einheitsbewegung zu zerstören. Indem der König zunächst Frankfurt gegenüber in die Rolle völliger Passivität zurückfällt, verbreitet sich die Begeisterung für das allgemeine Wahlrecht unter dem Eindrucke der damals noch siegreichen Pariser Arbeiterrevolution auch am Rheine in immer weiteren Kreisen und verdrängt immer mehr den von den Gemäßigten ausgebildeten Gedanken einer „organischen Fortbildung des berufsständischen Prinzips“. Nur ungern fügt sich M. dem steigenden Radicalismus. Wenigstens durch Befürwortung eines indirecten Wahlmodus sucht er den schädlichsten Wirkungen vorzubeugen.

Während in Preußen vor allem die Finanznoth zur Einberufung des liberalen Ministeriums Camphausen-Hansemann führt, richtet sich Mevissen’s Interesse mehr auf die Frankfurter Versammlung: als Abgeordneter für Siegen tritt er in das Parlament ein. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß er sich an die gemäßigte liberale Partei, das sog. Rechte Centrum (Casinopartei) anschließt *) und das er sich ernsthafter und eingehender, als mancher seiner optimistischen nur für das theoretische Staatsrecht interessirten Parteifreunde mit der Frage nach der praktischen Haltung der Regierungen, besonders Friedrich Wilhelm’s IV. beschäftigt.

Aber Mevissen’s Hoffnungen auf einen aufrichtigen preußischen Constitutionalismus erweisen sich als Illusionen. Schon am 30. März, einen Tag nach Einberufung des rheinischen Ministeriums, beginnt der General Leopold v. Gerlach von neuem an der Gründung eines „ministère occulte“, der Kamarilla zu arbeiten. Die Anzeichen mehren sich dafür, daß M. die altpreußischen Mächte mit vielen andern damals weit unterschätzt hat. Der König nähert sich wieder der Militärpartei.

Trotzdem wird M. nicht müde, in Frankfurt zur äußersten Mäßigung, d. h. zur Berücksichtigung der wirklichen Machtverhältnisse zu rathen. Man dürfe das Vertrauen auf Entgegenkommen der Einzelstaaten nicht aufgeben. Die Rechtscontinuität müsse gewahrt bleiben. Deshalb will er ähnlich wie Beckerath bei Konstituirung der Centralgewalt auf den Bundestag zurückgreifen. Aber diese realpolitischen Gedanken gehen in dem allgemeinen Frankfurter Rausche unter. Heinrich v. Gagern, dessen glänzende Persönlichkeit auch auf den empfänglichen Menschenkenner, M., ihres tiefen Eindrucks nicht verfehlt hat, thut am 24. Juni seinen „kühnen Griff“ und veranlaßt das Parlament zur autonomen Herstellung einer provisorischen Centralgewalt. M. fügt sich, obwohl Gagern’s Vorgehen seinen politischen Ueberzeugungen widerspricht. Er giebt nach, weil er mit diesem Zugeständnisse wenigstens die monarchische Spitze dauernd zu retten hofft. Ihr zu Liebe zollt er diesem Siege des radicaleren süddeutschen über den gemäßigten rheinischen Liberalismus seine Anerkennung. Aber die Wahl des Erzherzogs Johann zum Reichsverweser erscheint ihm als bedenklich. Er glaubt überhaupt nicht an die Allmacht der Paulskirche. In der Gestaltung des Reichsministeriums wenigstens, das theilweise aus seiner Partei, theilweise aus der Partei des Württemberger Hofes genommen wird, sucht er seinen conservativeren Tendenzen zu dienen. Aber die von ihm im Verein mit Gagern unternommenen Bemühungen, Camphausen zum Eintritt ins Reichsministerium zu bewegen, führen nicht zum Ziele. Er selbst wird schließlich zusammen mit seinem Freunde Fallati Unterstaatssecretär im Handelsministerium Duckwitz und sieht auch jetzt seine vornehmste Aufgabe darin, eine gütliche Vereinbarung mit den Einzelstaaten herzustellen.

Mevissen’s Mißtrauen gegen die Macht des neuen Parlamentarismus [781] erweist sich als durchaus berechtigt. Seitdem der französische General Cavaignac in der Junischlacht die Arbeiterrevolution niedergeworfen hat, mehren sich für die Frankfurter Versammlung die Enttäuschungen. Trotzdem verwirft das Parlament am 5. September den von der Krone Preußen mit Dänemark abgeschlossenen Malmöer Waffenstillstand, indem es dabei über Mevissen’s und des Reichsministeriums ernste Bedenken optimistisch hinweggeht. Die Ereignisse folgen einander nun sehr schnell. Eine Durchführung des Parlamentsbeschlusses ist unmöglich. Er wird infolgedessen am 16. September zurückgenommen. Das inzwischen natürlich abgetretene Reichsministerium soll seine Thätigkeit von neuem wieder beginnen; aber M. verweigert seinen Wiedereintritt. Er kann den Enthusiasmus Dahlmanns, von dem er sonst in mancher Hinsicht so viel erhofft, nicht theilen. Schon am 10. ist er nach Berlin gereist, um wegen Uebernahme einer Directorstelle im Schaaffhausen’schen Bankverein zu verhandeln. Dieser ist nach dem drohenden Bankerott in eine Actiengesellschaft umgewandelt worden. Mevissen’s Ernennung erfolgt am 15. In diesen Tagen wird er von neuem in die politische Bewegung der Hauptstadt hineingerissen. Während die Kamarilla gegen die Rheinländer schon jetzt die offene Reaction predigt und gelegentlich sogar zur Aufgabe der Westprovinzen geneigt ist, will Friedrich Wilhelm IV. so weit noch nicht gehen. Denn nach der Demission des zweiten Revolutionsministeriums (Hansemann-Auerswald) trägt er sich mit dem Gedanken, noch einmal einen Vermittelungsversuch zu machen. Auch M. soll in das neue Ministerium eintreten. Am 16. und 17. September hat er zusammen mit Beckerath dem Könige das Ultimatum der liberalen Partei unterbreitet. Aber der König verwirft dies Programm und beruft vier Tage später das reactionäre Uebergangsministerium v. Pfuel, bei dem die Kreuzzeitung sofort mit Genugthuung die gänzliche Abwesenheit des rheinischen Elements feststellt.

Das Frankfurter Mandat hat M. noch bis zum Mai 1849 innegehabt. In den späteren Monaten macht er sich vor allem um den volkswirthschaftlichen Ausschuß verdient. Aus dem August 1848 stammt eine Denkschrift über die Centralisation des deutschen Bankwesens. Mit Saint-Simon sieht er darin den wichtigsten „Hebel zur Begründung des kommenden industriellen Systems“. Zusammen mit Fallati kämpft er auch für Vereinheitlichung der Eisenbahnen- und Bergwerksverwaltung und, als Vertrauensmann der Kölner Handelskammer, für die Befreiung des Rheines. Aber das Interesse für diese und die ebenso brennenden sozialpolitischen Fragen verschwindet doch immer wieder unter der Masse der politischen Verhandlungen. Die Männer der Paulskirche zeigen auf diesem Gebiete nur geringes Verständniß. Nach der Niederwerfung des Pariser Aufstandes wächst vielmehr der unsoziale manchesterliche Capitalismus zu solcher Stärke, daß er auch in den nächsten Jahren die Vorherrschaft behauptet.

Gagern’s kleindeutsches Programm vom 18. December 1848 hat, seitdem von Oesterreich in Kremsier die Brücken abgebrochen worden sind, auch M. eingeleuchtet. Bei den Berathungen über die Reichsverfassung hat er, um das Zustandekommen des Ganzen in letzter Stunde zu fördern, seinen Widerspruch gegen das allgemeine Wahlrecht und das suspensive Veto aufgegeben. Bis zuletzt hofft er noch auf eine Lösung. Um so schwerer trifft auch ihn die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV.

Nur kurz noch hat sich M. in den nächsten Jahren an den ephemeren Einigungsversuchen der preußischen Regierung betheiligt, so an den Gothaer Berathungen der Erbkaiserlichen am 26. Juni 1849 und am Erfurter Reichstage vom 20. März bis zum 29. April 1850. Wie er sich in der deutschen Frage trotz aller Gegensätze den preußischen Intentionen zur Verfügung stellt, [782] so warnt er auch für Preußen selbst vor aller rein passiven Obstruction, obwohl das Dreiclassenwahlgesetz vom 30. Mai 1849 über die rückschrittliche Gesinnung der Regierung keinen Zweifel mehr übrig läßt. Gewiß steht er dem Ministerium Brandenburg-Manteuffel mit der größten Abneigung gegenüber. Aber er will doch auch verhüten, daß infolge der Passivität der Liberalen alle Errungenschaften der Revolution nun sofort verloren gehen. Für die Gründung eines Herrenhauses ist er schon 1847 eingetreten. Das Princip der Volkssouveränetät giebt er leichten Herzens auf. An der Gleichheit des Wahlrechtes ist ihm nichts gelegen. Aber die Allgemeinheit will er erhalten sehen. Vor allem eine Ueberzeugung verstärkt sich in ihm in diesen politisch so enttäuschungsreichen Monaten, daß nach seiner politischen Niederlage das Bürgerthum nur um so mehr die Pflicht habe, an der Steigerung seiner wirthschaftlichen Kraft und Selbständigkeit zu arbeiten. In sich selbst fühlt er diese Pflicht. Er glaubt seinem Volke besser dienen zu können, wenn er mitten in dem bald mächtig aufblühenden rheinischen Wirthschaftsleben auf seinem Posten bleibt, und der Verzicht auf ein Abgeordnetenmandat in der zunächst zur Bedeutungslosigkeit verurtheilten Zweiten Preußischen Kammer erscheint ihm deshalb als unerläßlich.

M. ist der Führer bei allen großen Unternehmungen in der Provinz, so bei Gründung der Kölner Lebensversicherungsgesellschaft Concordia 1852, die aus der Verschmelzung zweier Concurrenzunternehmen hervorgeht, der Rückversicherungsgesellschaft 1853, bei socialpolitisch bedeutungsvollen Feuerversicherungsprojecten, die er zusammen mit F. Diergardt und Josua Hasenclever ausarbeitet. Auch verschiedene Gründungen auf dem Gebiete der Textil-, Eisen- und Montanindustrie (von besonderer Bedeutung ist der Maschinenbau) beeinflußt er mit seiner kräftigen kaufmännischen Initiative, freilich zunächst noch unter Heranziehung auswärtigen Capitals. Als eine der ersten Actienunternehmungen erlangt der Kölner Bergwerksverein 1849 die Concession der Regierung. Nach dem Vorbilde des 1852 begründeten Pariser Crédit Mobilier erfolgt nach eifrigen Bemühungen Mevissen’s am 2. April 1853 die Concessionirung der Darmstädter Bank für Handel und Industrie mit der ausgesprochenen Absicht, mittels eines corporativen Unternehmens die private Rothschild’sche Alleinherrschaft auf dem Geldmarkte zu brechen. Es ist die erste moderne Creditbank auf Actien in Deutschland. Der Name Mevissen ist mit ihrer Gründung und ersten Entwicklung, mit dem raschen Aufschwunge des Capitalismus in Deutschland überhaupt unauflöslich verbunden. 1856 folgt, wiederum unter Mevissen’s Leitung, die Gründung der Internationalen Bank von Luxemburg. Auch hier wird er, wie in Darmstadt, zum Präsidenten gewählt. Daran reihen sich weitere Bankprojecte, die auch in die Hauptstadt hinübergreifen und die besondere Absicht verfolgen, die hohe Aristokratie „mit der Industrie in den innigsten Contact zu bringen“.

Derselbe Mann, dessen Unternehmungsgeist und Integrität in gleicher Weise der hohe Aufschwung des westdeutschen Bankwesens in den fünfziger Jahren zu verdanken ist, steht an der Spitze der Rheinischen Eisenbahngesellschaft. Gegen sein linksrheinisches Bahnproject, das Nord- und Süddeutschland miteinander verbinden soll, werden auch nach der Revolution noch strategische Bedenken geltend gemacht. Aber M. verfolgt seinen Plan mit zäher Energie weiter, und 1855 gelingt es wirklich, von dem fähigen Handelsminister v. d. Heydt für die Rheinische Eisenbahngesellschaft die Concession zum Baue der linksrheinischen Trace zu erlangen. M. spricht ihn auf der Pariser Weltausstellung, wo er, ebenso wie auf den folgenden Ausstellungen, der internationalen Jury für Leinenindustrie angehört. Am 5. Mai 1856 erhält M. [783] die Concession für die ganze linksrheinische Strecke von Nijmegen bis Bingen, nachdem die Bahnen von Bonn und Crefeld nach Köln mit der Rheinischen Eisenbahn verschmolzen worden sind. Der zukunftsreiche Plan wird 1859 vollendet.

Mevissen’s drittes von ihm früher schon oft angebautes wirthschaftliches Bethätigungsfeld ist die Zollpolitik. Als Mitglied der Kölner Handelskammer hat er in den Jahren der Zollvereinskrisis (1850–53) von neuem mit größter Hingebung einen Weg durch die zahlreichen gefährlichen Klippen gesucht. Es gewinnt für kurze Zeit den Anschein, als wenn Oesterreich nach seinem in Olmütz über den preußischen Rivalen erfochtenen diplomatischen Siege nun auch handelspolitisch seine Vorherrschaft durch Eintritt in den Zollverein (und zwar mit dem Gesammtstaate) für immer begründen wird. Aber den geschickten preußischen Operationen gelingt es 1853, die Südstaaten trotz ihrer politischen Abneigung und trotz der starken schutzzöllnerischen Strömung beim Zollvereine festzuhalten. Der im gleichen Jahre mit Oesterreich abgeschlossene Separathandelsvertrag bedeutet den ersten Sieg der wieder emporsteigenden Macht seit der Olmützer Punktation. Als solcher wird er von M., dem unermüdlichen Verfechter des kleindeutschen Programms, mit Erleichterung begrüßt. Wie hoch man seine Wirksamkeit in der Kölner Handelskammer bewerthet, lehrt seine Wahl zum Präsidenten im J. 1856, obwohl die Kammer dauernd eine freihändlerische Majorität aufweist. M. hat sich ihrer Theorie, die eben jetzt – es sind die Glanzjahre des Freihandels – in den Congressen deutscher Volkswirthe seit 1857 auch eine machtvolle äußere Vertretung erhält, niemals unterworfen. Sein volkswirthschaftlicher Standpunkt bleibt protectionistisch. Er nähert sich z. B. dem Nationalökonomen Knies. Es ist besonders die Rolle, die M. dem Staate im Wirthschaftsleben zuweist, was ihn dauernd der Freihandelslehre und allgemein dem Manchesterthume entfremdet.

Wenn er auch besonders auf handelspolitischem Gebiete für die hohen Verdienste der preußischen Bureaukratie stets ein offenes Auge besessen hat, so bleibt sein Verhältniß zum preußischen Reactionsregimente doch zunächst noch recht unerquicklich. Die Haltung des neuen Oberpräsidenten v. Kleist-Retzow, der am Rheine so regiert wie etwa in Pommern, erfährt bei ihm eine scharfe Ablehnung. Aber eine rein negative Opposition hat M. niemals getrieben. Freundschaftliche persönliche Beziehungen zu dem Kölner Regierungspräsidenten Ed. v. Moeller lehren ihn immer wieder das Gute von dem Verwerflichen unterscheiden. Schon im J. 1855 hat er wieder seine unwandelbare monarchische Ueberzeugung ausgesprochen.

Mitten in diesen arbeitsvollen, unruhigen Jahren erleidet M. den denkbar schwersten Verlust: am 29. Mai 1857 wird ihm nach elfjähriger glücklicher Ehe seine überaus verständnißvolle Gattin durch den Tod entrissen. Der schwer Geprüfte ist in dieser Zeit selbst leidend und muß auf längeren Reisen Erholung und Zeit zur ruhigen Befriedigung seiner noch immer so mächtigen rein geistigen Bedürfnisse suchen. 1860 geht er mit seiner Schwägerin Therese Leiden eine zweite Ehe ein. Die Hochzeitsreise führt ihn nach Italien, mitten hinein in die italienische Einheitsbewegung, in der er den „Geist des Jahrhunderts“ an der Arbeit sieht. Wie andere Liberale, z. B. Hermann Baumgarten, lebt er der Ueberzeugung, daß nun auch in Deutschland der Stein ins Rollen kommen werde. „Preußen wird“, so schreibt er, „unter dem Zujauchzen Europas an die Spitze des mächtigen, einigen Deutschlands geschnellt werden.“ Bei den hoffnungsvollen Anfängen der Neuen Aera erwachen seine alten politischen Neigungen. Aber er widersteht der Versuchung, ins Abgeordnetenhaus einzutreten. Gerade die fortgesetzt kritische Lage der europäischen Politik [784] fesselt ihn dauernd an das rheinische Wirthschaftsleben, in dem er die verantwortungsvollsten Posten bekleidet. Zudem ist der alsbald wegen der Heeresreform ausbrechende preußische Verfassungsconflict wenig geeignet, ihm eine Rückkehr zur Politik als verlockend erscheinen zu lassen. M. ist kein Freund der von Scharnhorst und Boyen organisirten allgemeinen Wehrpflicht. Er verlangt Schonung der in der Industrie unentbehrlichen Arbeitskräfte und außerdem die auch fachmännisch empfohlene zweijährige Dienstzeit. Größeres Gewicht als auf die Reform des Landheeres legt er überhaupt auf die Marine. Im allgemeinen aber ist er, und das trennt ihn von der preußischen Fortschrittspartei, dagegen, daß man eine abweichende Anschauung in der Militärfrage zur parlamentarischen Obstruction benutze. Zu dem Thronfolger, dessen Residenz in Koblenz sehr günstig gewirkt hat, entwickelt sich jetzt ein besseres Verhältniß. Ganz besondere Verehrung aber bringt er der zukünftigen Königin entgegen. Weimarisch-Goethischen Geist glaubt er in ihr wiederzufinden. Die Prinzessin Augusta wird eine der eifrigsten Förderinnen seiner rheinischen Verkehrspläne. Seine Beziehungen zu ihr haben sich in den folgenden Jahren immer intimer gestaltet.

Der preußisch-französische Handelsvertrag vom 2. August 1862 zeigt deutlich genug, daß der Staat seine wirthschaftspolitische Vormacht weiter ausbaut. Für M. liegt darin eine erneute Aufforderung, auf wirthschaftlichem Gebiete alle Kräfte anzuspannen. Der Eindruck, den er auf der im selben Jahre veranstalteten Londoner Weltausstellung von der Ueberlegenheit der englischen Industrie gewinnt, drängt ihn zu immer energischerer Verfolgung seiner Eisenbahn- und Canalpläne, die durch einen Kölner Localconflict des Jahres 1860 nur vorübergehend gestört worden sind. 1865 erfolgt die Eröffnung der ganzen seiner Oberleitung unterstehenden Strecke bis Nijmegen. Gegenüber der Köln-Mindener Bahn, deren monopolistische Tarifpolitik die industriellen Interessen schädigt, setzt er die Gründung einer Concurrenzlinie durch. Auch in diesen Jahren aber hat er fortgesetzt mit Hemmungen der Regierung zu ringen, besonders seit dem Jahre 1862, in welchem v. Itzenplitz das Portefeuille des Handels erlangt hat.

Aber im Verfassungsconflicte haben ihn auch diese Irrungen nicht auf die linke Seite hinüberziehen können. Er bleibt bei seinem alten maßvollen Standpunkte, wie man u. a. aus der von ihm am 11. November 1862 bei Grundsteinlegung der Koblenzer Rheinbrücke gehaltenen Rede ersehen kann. Die nahen Beziehungen, die M. seit 1861 mit dem in Bonn wirkenden Historiker Heinrich v. Sybel verbinden, machen ihn darin nicht irre. Wenn auch ihre Grundüberzeugungen übereinstimmen: das taktische Zusammengehen mit dem Fortschritte ist nur Sybel’s und des Linken Centrums, nicht Mevissen’s und der Altliberalen Forderung. M. betheiligt sich deshalb nicht an dem Kölner Abgeordnetenfeste vom 18. Juli 1863, auf dem Sybel und der Rothe Becker die Hauptrolle spielen. Freilich hat er die Gewaltpolitik des neuen Conflictsministers Bismarck, insbesondere die an das Polignac’sche Vorbild gemahnende Preßordonnanz vom 1. Juni ebenso scharf getadelt, wie jeder Fortschrittsmann.

Allein schon der erstaunliche Erfolg der genialen Bismarck’schen Diplomatie im J. 1864 hat ihn auch aus dieser Oppositionsstellung herausgedrängt. Er hat ein Gefühl dafür, daß wieder ein Mann das Präsidium des preußischen Ministeriums führt. Vertrauen auf Bismarck ist schließlich wohl das stärkste Motiv gewesen, das ihn dem Fortschritte dauernd fern gehalten hat. Im März 1865 hat M. ein interessantes Gespräch mit König Wilhelm über die Annexion des Kieler Hafens, bei dem er im Gegensatze zu dem kühn vorstürmenden [785] alten Könige (ähnlich wie Bismarck) eine vorherige Auseinandersetzung mit dem eifersüchtigen England empfiehlt. Aus voller Ueberzeugung, nimmt er an der rheinischen Jubelfeier desselben Jahres und an der Enthüllung des Denkmals Friedrich Wilhelm III. zu Köln Theil. Die Wahl zum Beigeordneten der Stadt und sein Eintritt ins Herrenhaus als ihr Repräsentant entfernt ihn immer weiter von dem unfruchtbaren Oppositionsgeiste der Fortschrittspartei. In gehaltvollen wohl für die Königin bestimmten Denkschriften umgrenzt er seine politischen Anschauungen. Seitdem das Jahr 1866 die vorläufige Lösung der deutschen Frage gebracht hat, faßt er mit Eifer den neu zu gründenden Bundesstaat ins Auge und vertritt auch für ihn sein altes constitutionelles Programm. In der Militärfrage entwickelt er den Gedanken der Wehrsteuer und, wie schon früher, die Nothwendigkeit einer Beschränkung der allgemeinen Dienstpflicht in den Kreisen der industriellen Arbeiterschaft. Im Herrenhause vertheidigt er gegenüber der nach den Siegen von 1866 eine gründliche Reaction ersehnenden Rechten natürlich die Indemnitätspolitik. Außerdem bearbeitet er finanzpolitische Fragen. Bei der Votirung des Wahlrechts bleibt er dagegen absichtlich im Hintergrunde. In der äußeren Politik hofft er auf eine weitere friedliche Entwicklung und ist sehr glücklich darüber, daß der Luxemburger Conflikt schließlich doch gütlich beigelegt wird. Den gewaltigen Ereignissen des französischen Krieges folgt er mit nicht minder großer Begeisterung. Die von ihm geleitete Rheinische Eisenbahn, das Organ der Mobilmachung im Westen, löst die ihr im Interesse der Allgemeinheit gestellte Aufgabe glänzend. Bismarck’s auswärtige Politik und des alten Königs stille Größe erfüllen ihn mit steigender Bewunderung.

Aber im Neuen Reiche führen neu auftauchende Probleme auch wieder zu neuen Gegensätzen. Es ist die Beurtheilung des Culturkampfes, die den liberalen Rheinländer einerseits von der kaiserlichen Familie, besonders der Kaiserin, andererseits von Bismarck scheidet. Während die Kaiserin zu weitgehendem Rückzuge vor der katholischen Kirche bereit ist, verlangt M. eine klare Antwort auf die ins politische Gebiet hinübergreifenden Anmaßungen des römischen Stuhles. So spricht er am 7. März 1872 im Herrenhause für das Schulaufsichtsgesetz, u. a. mit folgender Wendung: „Im preußischen Staate, in dem verschiedene religiöse Bekenntnisse mit gleicher Berechtigung neben einander stehen, kann die Parität nur dann eine wahre sein, wenn die selbständige Schule die Bildnerin und die Trägerin wahrhaft religiöser Gesinnung, die Trägerin einer reinen, der Wissenschaft und Religion gemeinsamen Sittenlehre, der Toleranz, der christlichen Liebe, der demüthigen Gottesfurcht ist, nicht aber die Trägerin der Intoleranz verschiedener sich ausschließender, sich allein als berechtigt affirmirender kirchlicher Bekenntnisse.“ Deshalb stimmt er auch 1873 für die Maigesetze und 1874 für die Civilehe. Wenn er so einer Kampfgesetzgebung gegen den politischen Katholicismus das Wort redet, so verwirft er doch (hierin in Uebereinstimmung mit dem kleineren linken etwa durch die Frankfurter Zeitung vertretenen Flügel des Liberalismus) das weitergehende Staatskirchenthum Bismarck’s, das nichts anderes ist, als der absolutistisch fortgebildete landesskirchliche Gedanke, vollkommen. Er bleibt seinem alten kirchenpolitischen Systeme treu. Nicht die Bismarck’sche Culturkampfpolitik, sondern die Trennung von Staat und Kirche könne einen Ausweg bieten. Ueberhaupt hält er das Tempo des Kampfes für überhastet. Generationen könnten erst leisten, was Bismarck von wenigen Jahren erwarte.

Noch stärker wird er natürlich von den brennenden wirthschaftlichen Fragen in Anspruch genommen. Mit überlegener Geschicklichkeit hat er die [786] vielen von ihm geleiteten Unternehmungen durch die schwere Krisis des Jahres 1857 hindurch gerettet.

Das Präsidium der Rheinischen Eisenbahn führt er nach altbewährten Grundsätzen weiter. Es kommt ihm dabei nicht in erster Linie auf die Erzielung hoher Dividenden an. Er bedauert den Fiskalismus der Köln-Mindener Gesellschaft. Die Eisenbahnactien sollen vielmehr überhaupt keine Speculationspapiere werden. M. sieht es viel lieber, daß die Ueberschüsse theilweise gemeinnützigen Unternehmungen zu Gute kommen: der Kriegsinvalidenstiftung, dem Kölner Dome, dem Siebengebirgsvereine. Auch in technischer und sogar in ästhetischer Beziehung thut er Alles, um das ihm ans Herz gewachsene Unternehmen auf der Höhe zu halten. Betriebswirthschaftlich ist er ein Anhänger des in Preußen historisch gewachsenen zwischen Privat- und Staatsbetrieb gemischten Systems. (Am Rheine steht z. B. den beiden mehrfach genannten Privatgesellschaften die staatliche Bergisch-Märkische Bahn gegenüber.) Weder die Privat-, noch die Staatsbahn sollen eine Alleinherrschaft ausüben. Er erblickt in der Concurrenz mehrerer Bahnlinien, dem „Föderalismus gegenseitiger Anregung und Ergänzung“ einen volkswirthschaftlichen Vortheil: die nothwendige Vorbedingung für eine gesunde Tarifpolitik. Auch während der Gründerzeit, die allmählich ein allgemeines Mißtrauen gegen die Privatunternehmung überhaupt hervorruft, bleibt M. ein Gegner der Verstaatlichung. Aber die allgemeine Entwicklung, insbesondere Bismarck’s 1875 inaugurirte Verkehrspolitik entscheidet gegen ihn. Trotz Mevissen’s Widerspruch, der vor allzu großer Uniformirung und Steigerung der wirthschaftlichen Staatsmacht angelegentlichst warnt, erfolgt 1879 der Uebergang der Köln-Mindener Bahn in den Staatsbetrieb. Sowohl hier, wie bei der Verstaatlichung der Rheinischen Eisenbahn im nächsten Jahre, sind in den Kreisen der Actionäre, die die Direction völlig im Stiche lassen, zu seinem größten Bedauern nur private finanzielle und keine volkswirthschaftlichen Gesichtspunkte maßgebend.

Für die Enttäuschungen, die ihm die preußische Verkehrspolitik bringt, wird er in etwas durch den schutzzöllnerischen Umschwung der gesammten Handelspolitik seit 1879 entschädigt. Mit Befriedigung sieht er, wie seine alten durch List und Carey genährten Theorien nun doch noch in gewisser Beziehung Wirklichkeit werden. Ingleichen dringen jetzt die socialpolitischen Anschauungen, die er zusammen mit den wenigen Gesinnungsgenossen schon vor der Märzrevolution vertreten hat, weiter vor. Der preußische Staat vor allem, von Bismarck gelenkt, erinnert sich seiner großen Traditionen auch auf diesem Gebiete. Dem Staate gebührt für die auch von M. freudig begrüßte, bedeutungsvolle socialpolitische Gesetzgebung der achtziger Jahre das größte Lob, während im Bürgerthum unter der Vorherrschaft der Freihandelslehre und den demoralisirenden Folgen der Gründerzeit die unsociale Gesinnung zunächst wenigstens als unausrottbar erscheint: das Bürgerthum ist nun nicht nur politisch, sondern auch socialpolitisch von dem vielfach mit alten Mitteln arbeitenden Staate besiegt worden. – Als Director der Rheinischen Eisenbahn ist M., wie oben S. 778 erwähnt, immer der Socialpolitik näher geblieben. Sein besonderes Interesse ist dabei dem Fortbildungsschulgedanken zugewandt.

Mehr, als bisher, widmet er sich seit seinem Ausscheiden aus dem Wirthschaftsleben seiner Familie – er sieht in ihr einen ethischen Mikrokosmos von unschätzbarem Werthe – und seinen Freunden. Seine Besitzungen in Köln und Godesberg sind von edler Gastfreundschaft belebt. Besondere Sorgfalt verwendet er immer auf seine Bibliothek (25 000 Bände), die später den Städten Köln und Dülken vermacht wird. Zahlreiche Reisen sorgen für neue Anregungen. Häufig trifft er mit den Bonner Freunden Sybel [787] und Dechen zusammen. Von Parlamentariern stehen ihm nationalliberale Abgeordnete, wie Bennigsen, Berger-Witten, Gneist, Hammacher und Miquel näher, von Männern der Wissenschaft u. a. Dernburg, Dubois-Reymond, Helmholtz, Jähns, Treitschke, Waitz.

Die Arbeit an der Lösung zweier wichtiger ins geistige Gebiet hinüberragender Aufgaben hat mit dazu beigetragen, Mevissen’s Lebensabend zu verschönen.

Zu einem seiner Lieblingsgedanken gehört die Reform des kaufmännischen Bildungswesens. Schon im J. 1879 hat er der Stadt Köln ein Capital, das später auf 1 Million Mark erhöht wird, zur Gründung einer Handelsakademie zur Verfügung gestellt und einen Lehrplan ausgearbeitet, der in gleicher Weise vertiefte Fach- und erweiterte Universalbildung berücksichtigt. M. hat die definitive Verwirklichung dieses Planes nicht mehr erlebt. Aber nach manchem Jahre allgemeiner Interesselosigkeit kommt er gemeinsam mit dem Bonner Nationalökonomen Eberhard Gothein 1893 auf die alten Gedanken zurück. Und Gothein arbeitet dann nach Mevissen’s Tod, aber im Anschluß an seine früheren Darlegungen, im J. 1900 einen neuen Plan aus. Ostern 1901 wird die Kölner Handelshochschule eröffnet, die in M. ihren materiellen Stifter und geistigen Vater verehren darf.

Bei einem zweiten Altersunternehmen, der Gründung der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, lenkt er noch stärker zu alten Jugendgedanken (oben S. 773 f.) zurück. Wie er seine wirthschaftstheoretischen Darlegungen schon immer historisch vertieft hat, so wird besonders der Verkehr mit Sybel manch neue Anregung auf historischem Gebiete gebracht haben. In Mevissen’s Sinne erläßt Sybel 1868 einen Aufruf zur Gründung eines Vereins für rheinisch-westfälische Geschichte. Trotz der Protection des Kronprinzen vermag er aber damals noch nicht durchzudringen. Wirklichkeit wird der Plan erst, seitdem M. in Karl Lamprecht eine befähigte wissenschaftliche Hülfs- und Organisationskraft gefunden hat (Herbst 1879). Von ihm läßt er sich im Januar 1880 einen schriftlichen Plan „einer rheinischen Geschichte im Mittelalter mit Betonung der realen Cultur von Recht und Wirthschaft“ vorlegen. Nachdem Lamprecht im Herbst 1880 als Privatdocent nach Bonn gegangen ist, tritt auch die Landesuniversität in den Kreis der Interessenten ein. Unter Mitwirkung des Kölner Stadtarchivars Konstantin Höhlbaum wird die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde am 1. Juni 1881 gegründet. Seit dem Frühling 1882 subventionirt M. ferner einige wissenschaftliche Hülfskräfte für das Historische Archiv der Stadt Köln und errichtet 1890 noch eine besondere Stiftung für darstellende Arbeiten aus dem Gebiete der gesammten Landesgeschichte, während die Gesellschaft eine Reihe der werthvollsten Quellenpublicationen auf ihr Programm setzt. Als ein Zeichen der Dankbarkeit wird diesem größten Förderer der rheinischen Geschichtsstudien 1895 eine besondere historische Festschrift der betheiligten Kreise dargebracht. Wie auf all den anderen Gebieten, so sind auch hier Mevissen’s Anregungen auf fruchtbaren Boden gefallen. Was er gesät hat, sprießt fröhlich empor. Noch auf Menschenalter hinaus wird man das Fortwirken dieses großen, echten Lebens in der Provinz spüren können.

Bis in die letzten Lebensjahre hinein hat er in gewohnter Weise alle Vorgänge im öffentlichen Leben mit tiefster innerer Antheilnahme begleitet. Die überragende Gestalt des Kanzlers ist nicht wieder aus dem Bereiche seiner Sympathien verschwunden. Unter den 35 Frankfurter Erbkaiserlichen, die Bismarck zum siebzigsten Geburtstage beglückwünschen, befindet sich auch M. Besonders bedauerlich erscheint ihm der Zwiespalt innerhalb des bürgerlichen [788] Liberalismus (Secession). Mit tiefer Bewegung sieht er dann drei Jahre später den alten Kaiser und bald auch seinen treuen Diener und seine Gattin vom Schauplatze abtreten. Die großen socialpolitischen Pläne des neuen Kaisers erscheinen ihm als weiterer zukunftsreicher Schritt. In den letzten Jahren, nach dem Tode der Kaiserin Augusta, hat er noch mit der Großherzogin von Baden in näheren Beziehungen gestanden.

Es wird einsamer um den alternden, seit 1891 auch körperlich mehr behinderten Mann. Am 13. August 1899 hat dies reiche Leben in Godesberg seinen Abschluß gefunden.

R. Haym, Reden und Redner des ersten preußischen Vereinigten Landtages (1847) S. 225–259. – (N. Hocker) Unsere Zeit I (1857), 274 ff. – K. Höhlbaum in der Historischen Zeitschrift 94 (1899), 72–79. – Joseph Hansen, Gustav von Mevissen, 2 Bände, Berlin 1906; erster Band: Darstellung, zweiter: Abhandlungen, Denkschriften, Reden und Briefe. – M. Philippson, Nation 24 (1906). – Fritz Friedrich, Preuß. Jahrb. 127 (1907). – M. Schwann, Rheinlande 7 (1907).

[772] *) Zu Bd. LII, S. 332.

[780] *) Ihr Programm entwirft er zusammen mit Droysen und H. v. Gagern.