ADB:Lewald, Fanny (1. Artikel)

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Artikel „Lewald-Stahr, Fanny“ von Henriette Goldschmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 406–411, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lewald,_Fanny_(1._Artikel)&oldid=- (Version vom 9. Oktober 2024, 22:28 Uhr UTC)
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Stahr: Fanny Lewald-St.[WS 1] ist in Königsberg am 24. März 1811 geboren; sie entstammt einer angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie, deren Beziehungen bis in die Zeit Friedrich’s des Großen hinaufreichen. In ihrer „Lebensgeschichte“ (6 Bde., Berlin bei Otto Janke, 1861–62) hat sie ein Bild ihres Lebens- und Entwicklungsganges gegeben, dem wir das Wesentliche über ihre charakteristische Persönlichkeit entnehmen.

In den beiden ersten Bänden „Im Vaterhause“ schildert F. L. das Elternpaar und den Familienkreis, dem sie entstammt, in herzgewinnender Weise: Vater und Mutter, von inniger Liebe für einander erfüllt, mit Pflichttreue dem verantwortlichen Berufe der Erziehung ihrer Kinder lebend. Namentlich ist es der Vater, der es mit großen Anstrengungen nur zu einem mäßigen Wohlstand bringt, dessen energische, consequente und doch liebevolle Erziehungsweise F. L. nicht genug rühmen kann. Sie war die älteste und wol die Lieblingstochter des Vaters, der sie schon recht früh mit dem Bewußtsein erfüllte, durch ihr Beispiel einen erziehlichen Einfluß auf ihre Geschwister ausüben zu müssen. Die Pflicht der Selbsterziehung und das aus ihr gewonnene Recht, Andere „zu bessern und zu belehren“ ist ihr denn auch während ihrer langen und fruchtbaren schriftstellerischen Thätigkeit geblieben. Der echt patriarchalische Geist, der in dem Leben der damaligen jüdischen Familien der herrschende war, gab auch den festen Boden für F. Lewald’s Gemüths- und Charakterbildung. Durch die bis zur Stunde noch nicht besiegten Vorurtheile der Bevölkerung war selbst für die gebildeten und geachteten jüdischen Familien eine sociale Abgeschlossenheit, ein unsichtbares aber fühlbares Ghetto vorhanden, das den einen Vorzug in sich barg, die zerstreuenden Elemente einer Geselligkeit fern zu halten, die unbestreitbar einen großen Theil geistiger und oft auch sittlicher Kräfte der weiblichen Jugend der besser situirten Gesellschaftsclassen aufzehrt. Die Abgeschlossenheit nach außen bewirkte bei empfänglichen Gemüthern eine Vertiefung des Innern und befähigte zur Aufnahme derjenigen Culturelemente, in denen der deutsche Volksgeist in seiner besten Kraft und Schönheit sich geoffenbart. Nirgends wol fanden unsere deutschen Dichter und Denker eine, von größerer Begeisterung erfüllte Liebe und Verehrung als in den, durch die Sprache der Psalmisten und Propheten vorbereiteten Gemüthern jüdischer Männer und Frauen. „Ein armes Leben und ein reiches Herz“ – dieses Wort kennzeichnet den Familiengeist, in dem F. L.. (eigentlich Fanny Markus) aufwuchs.

Fanny erhielt den für die weibliche Jugend gebräuchlichen Unterricht in einer höheren Mädchenschule, die aber damals keiner staatlichen Controlle unterlag, [407] was unter Umständen einen Vorzug in sich schließen kann. Die Anstalt war eine eigenartige und hielt auch vor dem gereifteren Urtheil von F. L. stand. Sie wurde von Knaben und Mädchen besucht, und es ist nicht ohne Interesse, zu erfahren, daß Fanny in Bezug auf ihre Fortschritte nur von einem Knaben, dem späteren Präsidenten des ersten deutschen Parlaments im J. 1849 und Präsidenten des deutschen Reichsgerichts, Eduard Simson, übertroffen wurde. – Nach vollendeter Schulzeit begann für Fanny ein Leben häuslicher Sorgen und Pflichten, die um so drückender für sie waren, da ihr inneres Leben sein Recht verlangte. Aus diesem Widerstreit wurde sie auf kurze Zeit durch ein Liebesverhältniß zu einem jungen christlichen Theologen befreit: sie träumte sich in die Stellung einer Pastorsfrau hinein und erhielt den vorbereitenden Unterricht für den Uebertritt in die christliche Religion. Das Liebesverhältniß löste sich – F. L. macht keinen Hehl daraus, daß von da ab auch eine Ernüchterung für den Religionsunterricht sich bei ihr einstellte – namentlich was den dogmatischen Theil desselben betraf, und daß sie die Taufe geschehen ließ, nicht ohne einen innern Kampf zwischen ihrer wirklichen Ueberzeugung und dem von ihr geforderten Bekenntnisse.

Ein späteres Verhältniß, das sie zunächst als ein verwandtschaftliches mit ihrem Vetter Heinrich Simon aus Breslau (s. A. D. B. XXXIV, 371) verband und als freundschaftliches während ihres ganzen Lebens festgehalten wurde, hatte ihr, deren warmes Liebesgefühl von H. Simon nicht erwidert worden, „Leidensjahre“ gebracht, deren Darlegung den Inhalt der beiden nächsten Bände der Lebensgeschichte bildet.

In Rücksicht darauf, daß F. L. in einem ihrer Romane, „Diogena“, die Geißel der Satyre gegen diejenige Frau schwingt, der das Glück zu Theil geworden, von H. Simon geliebt zu werden, habe ich die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt.

Die bekannte Schriftstellerin, die man wol eine Dichterin nennen kann, Gräfin Iduna Hahn-Hahn, war die von H. Simon geliebte Frau. Ihre Romane bieten allerdinges den schroffsten Gegensatz zu denen von F. L. Ob die sittliche Entrüstung, „die Empörung und der Zorn über das Gift, das in den Hahn-Hahn’schen Schriften vorhanden,“ die Feder F. Lewald’s geführt, ob ein Gefühl von Neid und Eifersucht der sittlichen Entrüstung als Zusatz diente – wer mag es entscheiden? Die Gräfin mit ihrer feudal romantisch-phantastischen Richtung, „die immense Seele“, die, ewig unverstanden, keinen ernsten Lebensinhalt kennt, hat in F. Lewald’s bürgerlichem Standesbewußtsein, in ihrer von Vernunft und Pflichtgefühl bestimmten Lebensauffassung einen Widerpart, der auch ohne persönliche Motive sich geltend machen konnte. Jedenfalls ist „Diogena“ das einzige Buch von F. L., in dem sie ein nicht unbedeutendes Talent für Satyre zeigt.

Wir haben hier der „Lebensgeschichte“ vorgegriffen, denn die Leidensjahre waren vorüber, als F. L. schriftftellerisch thätig war. Diese Zeit bezeichnet sie in den letzten zwei Bänden ihrer Lebensgeschichte als „Befreiung und Wanderleben“. Die äußere Veranlassung zu ihrer schriftstellerischen Thätigkeit war folgende: August Lewald, ihr Vetter, war Redacteur der „Europa“ und verlangte von ihr einen Bericht über die Huldigungsfeierlichkeiten, die für den König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., in Königsberg im J. 1841 stattfanden. Der Bericht gefiel ihm und er ermuthigte F. L., die schriftftellerische Laufbahn zu betreten. Es klingt befremdlich, daß F. L., nachdem sie von ihrem Vater die Erlaubniß erhalten, sich entschließt, Schriftstellerin zu werden und zwar auf dem Gebiete freier Gestaltung: sie folgt nicht einem, mit elementarer Kraft sich bahnbrechenden Impulse – „sie commandirt die Poesie“. Dennoch ist ihr Gestaltungsvermögen nicht gering zu veranschlagen und wenn sie häufig für ihre Ideen die Figuren erfindet und die Tendenz ihr wichtiger ist, als die [408] Träger derselben, so hat sie doch in sich selber die Gedanken durch Erfahrungen gewonnen und mit warmer Empfindung durchlebt.

Reisen, die sie mit ihrem Vater schon früher gemacht, ein längerer Aufenthalt in Berlin gaben ihr Gelegenheit, ihr Beobachtungsvermögen nicht nur auf sich selbst und die Vorgänge im Innern, sondern auch auf die Außenwelt zu richten. Sie war mit Börne, von dessen Einfluß auf die deutsche Jugend man sich heutzutage keine Vorstellung machen kann, in Baden-Baden zusammengetroffen und gleiche Abstammung, gleiche Gesinnung – hervorgegangen aus dem zwiefachen Druck der allgemeinen deutschen und der specifisch jüdischen Verhältnisse – machten dieses Begegniß für F. L. zu einem Ereigniß. Sie sagt von ihm (2. Band, Lebensgeschichte): „Seine Auffassung hatte etwas typisch Nationales, das uns Alle mächtig ergriff, seine Ideen hatten etwas Erweckendes, das die erzeugte Erregung nicht mehr zum Einschlafen kommen ließ. Jede einzelne der Börne’schen Skizzen war ein zündender Funke, in jeder seiner Schriften fühlte man, mit welcher Kraft der feste Verstand das heiße Herz zu bemeistern strebte und wie das heiße Herz den Verstand zu seinen Schlüssen vorwärts trieb. Auch die kleinste seiner Schriften war ein Aufruf zur Befreiung von irgend welchem Vorurtheil, ein Aufruf zur Freiheit überhaupt und wie die Gedanken darin stark und muthig waren, so war auch der Stil freier, die Sprache, in welcher er redete, flüssiger und energischer geworden, als man es seit den Zeiten Lessing’s erlebt hatte.“ Diese Auffassung von Börne zeigt den verwandtschaftlichen Zug, den F. L. auch nicht verleugnet, als sie den Eindruck schildert, den die Schriften der Rahel Varnhagen auf sie gemacht. „Das war Fleisch von meinem Fleische“, sagt sie beim Lesen derselben. Einen Hauch jenes Geistes, der von Rahel, Henriette Herz, Dorothea Veit später Schlegel, der Tochter Moses Mendelssohn’s und gleichstrebenden Frauen und Männern ausgegangen, glaubt sie noch zu spüren, als sie in Berlin in den Kreis der „Ueberlebenden“ tritt. „Diese (nunmehr hinfälligen) Frauen waren es gewesen, deren Geist und Bildung die Schranken des Kastengeistes durchbrochen, die in eigner Machtvollkommenheit in Berlin die Gewalt der Vorurtheile besiegt; diese Greisinnen und ihre Gesinnungsgenossinnen waren es gewesen, welche, sich aus dem Pariathume ihres Volkes erhebend, die Bildung als den höchsten gültigen Adel zu vertreten und so eine Befreiung und eine Cultur der Geister in ihrer Vaterstadt herbeizuführen gewußt, welche ihre Nachkommen nicht zu behaupten vermocht.“

Wir wenden uns nun der schriftstellerischen Thätigkeit F. Lewald’s zu. Im J. 1842 erschien ihr erster Roman: „Clementine“. „Das innerlich selbst Erlebte“ führt die Feder der Verfasserin, und sie sagt in dem fünften Bande ihrer „Lebensgeschichte“: „Mir klopfte das Herz vor Entzücken, wenn ich niederschrieb, was ich über die Liebe, über die Ehe dachte. Es war mir wie das Niederlegen eines Glaubensbekenntnisses.“ „Ich hasse die Ehe nicht“, lasse ich die Heldin meines Buches „Clementine“ sagen, „ich hasse die Ehe nicht, im Gegentheil! ich halte sie so hoch, daß ich sie und mich zu erniedrigen fürchte, wenn ich dies heilige Band knüpfte, ohne daß mein Gefühl Theil daran hätte. O, ich habe mir das oft himmlisch schön gedacht: Alles, was mich berührt, theilt und fühlt mein bester Freund mit mir. Die Ehe ist in ihrer Reinheit die keuscheste, heiligste Verbindung, die gedacht werden kann. Die Ehen, die ich aber täglich vor meinen Augen schließen sehe, sind schlimmer als Prostitution. Erschrick nicht vor dem Worte. Ist es denn nicht gleich, ob ein leichtfertiges, sittlich verwahrlostes Mädchen sich für eitlen Putz dem Manne hingibt oder ob Eltern ihr Kind für so und soviel Tausende opfern? Ich gestehe dir, ich würde das Weib, das augenblickliche Leidenschaft hinreißt, groß finden gegen diejenige, [409] die, das Bild eines geliebten Mannes im Herzen, sich dem Ungeliebten ergibt für den Preis seines Ranges und Namens.“

Diesem ersten Roman, der „Freiheit des Herzens“ für die Frau verlangt, folgt bald ein zweiter: „Jenny“ (1843); hier ist die Befreiung von dem Drucke, der auf den Bekennern der jüdischen Religion lastet und die Gleichberechtigung der Confessionen das bewegende Motiv, die Tendenz, für deren Darlegung die Personen und deren Geschichte kaum zu erfinden, sondern aus der Umgebung und den Verhältnissen der Verfasserin zu entnehmen waren. Führte doch damals ein jüdischer Arzt aus Königsberg jahrelange Kämpfe gegen Regierungsverordnungen wegen der Legalität seiner Ehe mit einer Christin.

„Eine Lebensfrage“ (2 Bde., 1845) tritt in der Tendenz wieder einen Schritt zurück, zu der des ersten Romans; „die Ehescheidung“ ist die Frage, die zum Austrag gebracht wird. „In dem Roman „Eine Lebensfrage“ wünschte ich zu beweisen, daß die große Anzahl von Ehen, welche ohne innere Nothwendigkeit geschlossen werden, nur zu häufig den Keim einer unheilvollen Entwicklung in sich tragen, und wie das eheliche auf die bloße Gewohnheit und die kirchliche Erlaubniß begründete Zusammenleben von Mann und Weib eine Unsittlichkeit wird, wenn dieser Verbindung die Liebe abhanden gekommen.“

Wir müssen auch hier zu besserem Verständnisse der Persönlichkeit den chronologischen Bericht unterbrechen. Es ist der Vorwurf nicht erspart worden, daß sie zur Ehe mit einem verheiratheten Manne schritt, der die Scheidung von seiner ersten Frau voraufgehen mußte. Ob die bereits im J. 1845 ausgesprochenen Ansichten von der Pflicht der Ehescheidung, sobald die Liebe aus der Ehe geschwunden, vor dem Forum einer sittlichen Lebensanschauung, vor der Auffassung der Familie als einer Gesammtpersönlichkeit, in der das subjective Recht der Einzelnen, namentlich der Gatten, als Gründer der Familie aufzugehen hat – bestehen kann, ist nicht unseres Amtes, zu entscheiden. Wir können indeß F. L. vor dem Vorwurf retten, als habe sie ihre Anschauung von dem Rechte der Ehescheidung sich nach eigenem Bedürfniß gestaltet. Sie sagt (6. Band, „Lebensgeschichte“): „Als ich im J. 1844 in der friedlichen Stille meiner kleinen Stube mit Seelenruhe an meinem Roman arbeitete, war ich weit entfernt, zu ahnen, daß ich Verhältnisse erfand, Schmerzen und Leiden darstellte, welche ich in weit höherem Maße selbst zu durchleben haben sollte, daß ich mich ein Jahr nach dem Erscheinen meines Romans als Mitleidende in den Seelenkämpfen befinden werde, welche durch die Trennung einer nicht mehr glücklichen und darum nicht mehr aufrecht zu haltenden Ehe veranlaßt wurden.“

Wir sind nun bei einem Wendepunkte in dem Leben und in dem schriftstellerischen Wirken F. Lewald’s angelangt. Die Reise nach Italien im J. 1847 war von entscheidendem Einfluß für ihr Innen- und Außenleben. Bis jetzt hatte sie Gelegenheit gehabt, diejenigen Kräfte zu üben, zu entwickeln, mit denen sie von der Natur vorzugsweise ausgestattet war: Verstand und Beobachtungsgabe. Ihr Geburtsort, nach ihrem großen Landsmann Kant „die Stadt der reinen Vernunft“ genannt, ihr Vaterhaus mit seinem zwar gemüthlichen, doch verständig-sittlichen Charakter, der Protestantismus mit dem weniger die Phantasie als den Gedanken anregenden Wesen, der geringe Reiz der ostpreußischen Landschaft – selbst das damalige Berlin mit den kritisch zersetzenden, geistreichen Salongesprächen stärkten nur die starke Seite der Schriftstellerin. In Italien lernte sie die Bedeutung des „Sinnlich-Uebersinnlichen“ verstehen und schätzen. Dem Katholicismus mit seiner Bilderpracht und seinem Mysticismus hielt wohl die religiöse Auffassung F. Lewald’s Stand, aber trotzdem macht sich der Einfluß auf die Schriftstellerin geltend. Die Blässe des Gedankens schwindet vor [410] dem Licht und der Farbe der Phantasie; sie belebt die Darstellung der „Reiseschriftstellerin“. Das „Italienische Bilderbuch“ (2 Bde., 1847) schildert Land und Leute in lebendiger Weise. Das Reisen gefällt ihr und sie hat in den Büchern „England und Schottland“ (1851 und 1852) sich als gewandte, feinsinnige Darstellerin der Landschaft, der Zustände, der Persönlichkeiten bewährt. Aber auch hier verleugnet sie die Tendenzschriftstellerin nicht. Sie tadelt, lobt und belehrt – sie hat aber auch warme Empfindung für die Unglücklichen, für die Mühseligen und Beladenen; namentlich fühlt sie tiefen Schmerz über Unrecht, hervorgegangen aus dem Vorurtheil der Menschen. Als sie in Rom im J. 1847 Diebe öffentlich dem Volke zur Schau ausgestellt sieht, ist sie im tiefsten Innern empört und nimmt Partei für die unglücklichen Verbrecher. „Ich konnte den Anblick nicht ertragen. – Macht den Verbrecher, der sich gegen die Gesellschaft versündigt hat, unschädlich für diese, aber brüstet euch nicht, mit der Macht zu strafen! Führt den Elenden, den nur zu oft die Schlechtigkeit unsrer Institutionen zur Missethat verleitet, nicht wie ein gefangenes wildes Thier triumphirend durch die Straßen. Betet nicht für die Seelen der Gestorbenen, rettet die Seelen der Lebenden. Gewiß, die Feuerqual des Leidens, des Mangels, wenn dicht daneben der Reichthum schwelgt – die Feuerqualen des sündenbelasteten Gewissens sind härter als das Fegefeuer, aus dem ihr mit eurem Almosen und euren plärrenden Gebetsformeln die Todten erlösen wollt.“

In Italien, in Rom 1847 lernte F. L. den damals schon bekannten Schriftsteller Adolf Stahr aus Oldenburg kennen und lieben. Die ehrliche Verbindung konnte erst nach vielen Kämpfen und nach erfolgter Scheidung Stahr’s von seiner ersten Gattin stattfinden. F. Lewald’s Wohnort war seitdem Berlin, wo ihr Haus ein Mittelpunkt für die litterarischen Größen gewesen und wol der Abschluß für diejenige Geselligkeit, die das Gepräge der ehemaligen „Salons“ trug, in denen man zusammenkam, um sich zu unterhalten, nicht, um mit einander zu speisen.

Wir kommen nun zu ihren umfänglicheren schriftstellerischen Arbeiten, von denen wir nur einige kurz skizziren wollen:

Ein Roman in drei Bänden „Prinz Louis Ferdinand“ (1849) entstand wol, beeinflußt von dem Verkehr mit Varnhagen von Ense, dessen Gattin Rahel „dem Prinzen Ferdinand Mansardenwahrheit“ sagte. Die Nachklänge einer Zeit, in der ein preußischer Prinz die Dachstube einer weder schönen noch reichen Jüdin aufsuchte, um diese zur Vertrauten seiner persönlichen Leiden und Freuden, sowie seiner patriotischen Schmerzen und Hoffnungen zu machen, mußte in F. Lewald’s Herzen ein starkes Echo finden. Der Roman enthält einzelne interessante Episoden, es fehlt ihm aber die künstlerische Abrundung, sowie die Kraft der vollen plastischen Ausgestaltung der einzelnen Charaktere. – Es folgen nun eine große Zahl von Romanen: „Liebesbriefe eines Gefangenen“ (1850), „Auf rother Erde“ (1850) sind von der inzwischen stattgehabten Revolution von 1848 beeinflußt.

Ein vierbändiger Roman „Wandlungen“ (1853) gibt Zeugniß von der nunmehr gewonnenen größeren Gestaltungskraft der Verfasserin. Hier treten die Menschen wol auch als Träger bestimmter Richtungen auf, aber es pulsirt ein eigenes Leben in ihnen, und man kann diesen Roman den Romanen Gutzkow’s vergleichen, die, von einem Grundgedanken ausgehend, doch tief innerliche, psychologisch interessante Menschen zeichnen. Noch umfänglicher ist ein acht Bände umfassender Roman „Von Geschlecht zu Geschlecht“ (1864–1868). Die Vorzüge und Mängel der Verfasserin zeigen sich auch hier: ihre Sympathie ist auf Seiten des Bürgerthums, der Adel verfällt von Geschlecht zu Geschlecht durch eigene Schuld.

[411] Wir beschränken uns auf diese kurze Skizzirung der genannten Romane, die andern nur im Titel anführend: „Dünen- und Berggeschichten“ (1856), „Das Mädchen von Hela“ (2 Bde., 1860), „Sommer und Winter am Genfer See“ (1869), „Gesammelte Werke“ (1870–74), „Helmar“ (1880), „Reisebriefe aus Deutschland, Italien und Frankreich“ (1880), „Vater und Sohn“ (1881), „Vom Sund zum Posilipp“ (1882), „Treue Liebe“ (1882), „Stella“ (1883), „Abendroth“ (1885), „Familie Darner“ (1887), „Zwölf Bilder aus dem Leben“ (1888), „Josias, eine Geschichte aus alter Zeit“ (1888).

Ist F. L. auch in allen ihren Schriften Tendenzschriftstellerin, wie wir das immer betont, so hat sie doch von Zeit zu Zeit direct Tagesfragen behandelt, und wir müssen sie namentlich auf dem Gebiete der „Frauenfrage“ als eine tapfere Kämpferin anerkennen. Auch verschmähte sie es nicht, der praktischen Seite der Frauenfrage und den unteren Ständen sich zuzuwenden. In ihren „Osterbriefen für Frauen“ 1863 erschienen, ist es die „dienende Klasse“, für die sie eintritt und manches beherzigenswerthe Wort den wohlhabenden Frauen zuruft. Institutionen, die sie zur Hebung des Standes der weiblichen Dienstboten verlangt, „Vorbereitungsstätten, Herbergen etc.“ sind seitdem hie und da entstanden und theilweise auf ihre Anregung zurückzuführen. Bedeutender ist die zweite Tendenzschrift „Für und wider die Frauen“ (1870), in der sie für Pflicht und Recht auf Arbeit der Frau nach individueller Befähigung eintritt. Auch sie, wie weiland Elisabeth von England, will nichts von der Schwäche ihres Geschlechts wissen. Bereits in ihrer „Lebensgeschichte“ (Band 6) zeigt sie, wie diese Schwäche als berechtigtes Attribut der Weiblichkeit nur so lange für berechtigt gilt, als glückliche Lebensverhältnisse es gestatten: „Nehmt einem Weibe die Voraussetzung des Glückes, für welches ihr dasselbe erzieht und alle die unthätigen Tugenden, welche ihr ihm anerzogen habt, werden zu Sünden, zu schweren Unterlassungssünden, die auf euch zurückfallen. Habt ihr noch nicht dagestanden vor der weiblichen Hülflosigkeit, die sich nicht zu rathen und zu helfen weiß? die mit herabgesunkenen Armen, mit gefalteten Händen den Blick zu euch erhoben? Wenn ihr vor solchen Frauen, Müttern, Witwen gestanden, hättet ihr dann nicht wünschen mögen, daß diese Demuth Selbstgefühl, diese Weichheit Stärke und Kraft, diese Zuversicht zu euch und zu des lieben Herrn Gott’s Hülfe Selbstvertrauen und Thatkraft gewesen wäre?“

F. L. ist in ihrem 79. Lebensjahre am 5. August 1889 in Dresden gestorben. Sie kann nicht als schöpferischer Geist betrachtet werden, der mit „urkräftigem Behagen die Herzen der Hörer zwingt“; sie ist keine deutsche George Sand, die mit dichterischem Seherblick in die Tiefen der menschlichen, der weiblichen Seele schaut – wir verdanken ihr keine Offenbarungen. Aber sie ist ein Kind jenes Stammes, der „die Lehre“ gebracht. Ohne Prophetin zu sein und zu verkünden, lehrt sie und hat die Kraft zu sagen, was sie als wahr und recht erkannt. Sie lehrt mit Klarheit, mit Wärme, mit Ueberzeugungstreue. „Sie hat einen hohen Begriff von der Aufgabe des Schriftstellers“ und sie hat dieser Auffassung getreu sich bewährt. Nicht Genie, aber Talent auszusprechen, was sie innerlich und äußerlich erlebte, können wir ihr zuerkennen und ihren Manen gebührt das Wort: „Mensch sein heißt ein Kämpfer sein.“


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Über diese Person existiert in Band 52 ein weiterer Artikel.