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Artikel „Stahr, Adolf Wilhelm Theodor“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 403–406, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stahr,_Adolf&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 02:00 Uhr UTC)
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Band 35 (1893), S. 403–406 (Quelle).
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Stahr: Adolf Wilhelm Theodor St., Schriftsteller, wurde geboren am 22. October 1805 zu Prenzlau in der Uckermark als Sohn eines preußischen Feldpredigers, der ihn bis zum 14. Jahre selbst unterrichtete. Er studirte zu Berlin und seit 1825 zu Halle a. S. erst Theologie, dann classische Philologie unter Reisig, ward 1826 Lehrer am Pädagogium in letzterer Stadt, zwei Jahre später Gymnasiallehrer in Oldenburg und 1836, durch seine Aristoteles-Arbeiten bekannt und berufen, ebendaselbst Oberlehrer und Conrector. Gesundheitsrücksichten veranlaßten ihn 1845 zu einer Reise nach Italien, die in mehrfacher Beziehung wichtig für seine Zukunft wurde, der Schweiz und Paris. In Rom lernte er die Schriftstellerin Fanny Lewald (s. Stahr, Fanny Lewald-) kennen, der er sehr bald nahe trat. Dieses Verhältniß führte nach einigen Jahren zum Bruche mit seiner Gattin, und 1854, nachdem St. 1852 infolge fortgesetzter Kränklichkeit definitiv pensionirt und aus seinem Drange nach einer anregenderen und abwechselungsreicheren Umgebung die endgültige Uebersiedlung nach Berlin hervorgegangen war, zur Vermählung mit Fanny Lewald. Diese blieb ihm seitdem andauernd eine echt geistes- und gemüthsverwandte Lebens- und Arbeitsgefährtin, zu der auch die Kinder erster Ehe mit Achtung und Zuneigung emporsahen. In glücklicher Muße vollendete der nimmer Müde eine Reihe wissenschaftlicher, publicistischer und belletristischer Arbeiten, die seinen Namen weit verbreiteten und ihm zum großen Theile auch verdiente Anerkennung eintrugen. Wiederholte Reisen mit seiner Gattin, eigentlich gesundheitshalber unternommen, boten Ausbeute zu verschiedenartigen Studien und Anknüpfung auf dem und jenem Gebiete. Sein schwankendes Befinden nöthigte ihn öfters, den Wohnsitz zu ändern. Nachdem er vorübergehend in mehreren Kurorten geweilt hatte, wählte er Wiesbaden zum ständigen Aufenthaltsort und daselbst starb er auch am 3. October 1876.

Die litterarische Thätigkeit Stahr’s ist eine außerordentlich vielseitige. Schon früh errang er in der Aristoteles-Forschung Lorbeeren, die noch heute als berechtigt anerkannt werden. Die Schriften „Aristotelea“ (1830–32), „Aristoteles bei den Römern“ (1834) und die Ausgabe der „Politik“ (1836–38) gehören hierher; später schlossen sich ihnen an: „Aristoteles und die Wirkung der Tragödie“ (1859) und die Verdeutschung der Poetik, Politik, Rhetorik und Ethik [404] (1860–63). Dies sind die Hauptfrüchte seiner rein philologischen Gelehrsamkeit. Vielleicht mehr durch zufällige Anlässe ward Stahl’s Interesse auch auf Fragen der Geschichte unserer neueren heimischen Litteratur gelenkt. Bereits die Anfänge der Vierziger Jahre sahen ihn auf diesem Felde thätig. Die Herausgabe von „Johann Heinrich Merck’s ausgewählten Schriften zur schönen Litteratur und Kunst. Ein Denkmal“ (1840), „Zur Charakteristik Immermann’s“ (1842), „Shakespeare in Deutschland“ (in R. Prutz’ Litterarhistor. Taschenbuch I, 1843 [vgl. dazu Koberstein, Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte, S. 165 f.]), „Bettina und ihr Königsbuch“ (von A. St., 1844), die Veröffentlichung und treffliche Einleitung der auf der Großherzoglichen Hofbibliothek zu Oldenburg liegenden Abschrift eines Manuscripts von Goethe’s „Iphigenie“ (1839), die Graf Stolberg hingebracht hatte, legen ebenso Zeugniß dafür ab wie sein lebendiger Antheil am Aufschwunge der Oldenburger Hofbühne. Obwol er mit der Leitung der letzteren unmittelbar nichts zu thun hatte – die Intendanz führte Freiherr v. Gall[WS 1], die litterarische und artistische Direction lag in den Händen seines Freundes Julius Mosen (s. A. D. B. XXII, 359), dessen Berufung St. selbst angeregt hatte, – so trug doch sein warmes Eintreten für gediegene Reform ungemein zur Hebung dieses hervorragenden dramatischen Instituts bei. Die 1845 als Band I u. II seiner „Kleinen Schriften zur Kritik der Litteratur und Kunst“ gesammelten Theaterberichte, mit dem Untertitel „Oldenburgische Theaterschau. Bevorwortet von Julius Mosen“, sind von hohem Werthe für die Geschichte und die Entwicklung des besprochenen vortrefflichen Unternehmens und bilden einen erheblichen Baustein in der deutschen Bühnenhistorie. Die freie Bearbeitung von Shakespeare’s „Wintermärchen“, die Mosen und St. gemeinschaftlich für die Oldenburger Aufführungen einrichteten, stammt übrigens von ihnen beiden und nicht von Emil Palleske, wie dieser zeitweise sagte.[1] Die Kenntniß und Urtheilsfähigkeit Stahr’s auf kunstgeschichtlichem und ästhetischem Gebiete belegte sodann das viel befehdete Werk „Torso: Kunst, Künstler und Kunstwerk der Alten“ (2 Bde., 1854–55; 2. Aufl. 1878), während Stahr’s „Kleine Schriften zur Litteratur und Kunst“ (4 Bde., 1871–75) neben Aufsätzen dieser Art eine längere Anzahl gediegener Abhandlungen über Gestalten und Probleme des classischen und des modernen deutschen Schriftthums mittheilten, die stets durch die große Fülle der Gesichtspunkte ansprachen und so aufs neue seine Vielgewandtheit erwiesen. Namentlich wo St. hier eigene Erlebnisse verwerthet und Erinnerungen in die Darstellung verwebt, wie bei der Behandlung seiner Freunde Theodor Echtermeyer, Arnold Ruge, Heinrich Simon, fesseln seine gehaltreichen Essays. Denselben Stimmungen entwuchsen die Blätter „Aus der Jugendzeit“ (2 Bde., 1870–77), die weit mehr als eine bloße Autobiographie darboten: sie sind ein Reflector aller der stark abweichenden Strahlen des gleichzeitigen politisch-socialen und des künstlerisch-litterarischen Lebens. St. war eine ausgesprochen publicistische Natur modernen Geprägs, deren Schwärmerei für Idealismus und Humanität durch eine vernünftige Einsicht in den praktischen Gang der Dinge wesentlich gedämpft war. Auch „Fichte. Ein Lebensbild“ (1862) rechnet in diesen Gedankenkreis. Schon in seiner Studie über „Die preußische Revolution“ (2 Bde., 1850; 2. Aufl. 1852) gibt sich St. als einen Vorkämpfer modern liberaler Aufklärung ohne den damals beliebten radicalen Anstrich zu erkennen. Seine litterarische Hauptleistung, zugleich das bei weitem bekannteste aller seiner Erzeugnisse, „Lessing, sein Leben und seine Werke“ (2 Bde., 1859; 9. Aufl. 1887, von Fanny Lewald besorgt), fußt in derselben Tendenz, obzwar neuerdings hieraufhin ein scharfer radicaler Kritiker, Franz Mehring, in einer Artikelreihe „Die Lessing-Legende. Eine Rettung“ („Die Neue Zeit“ IT, Bd. 1 [1892], besonders S. 632–640) das St. gebührende Lob arg [405] zu verkleinern und ihn selbst als einen feilen Trabanten des angeblich pseudoaufklärischen Aufklärungszeitalters Friedrich’s des Großen zu brandmarken sucht. Wir urtheilen mit E. Schmidt’s Kritik der Vorarbeiten am Ende seines „Lessing“ (1892). Daß St. nichts geleistet habe als das im vorausgehenden Jahrzehnt erschienene imposante Lessingdenkmal Danzel’s und Guhrauer’s „popularisirt und dem deutschen Publicum in die Hände gespielt,“ wie W. v. Maltzahn und R. Boxberger noch 1880 im Vorwort zur Neubearbeitung jener großen Biographie behaupteten; ist eine ungerechtfertigte Ausstreuung. Allerdings steht er natürlich auf jener beider Schultern, aber mit völlig selbständiger Eigenart und keineswegs blind nachbetend, und sein Buch hat für die Ausbreitung Lessing’scher Ideen im deutschen Volk verdienstlich gewirkt. Ehrende Anerkennung wird St. für dieses mit seiner ganzen Ueberzeugung geschriebene Buch stets geziemen. Auch die zwei Bände über „Goethe’s Frauengestalten“ (1865–68; 8. Aufl. 1891) haben für ähnliches Verdienst vollen Anspruch auf Lob. Ihr Inhalt berührt sich mannigfach mit dem interessanten Tagebuche „Weimar und Jena“ (2 Bde., 1852; 3. Aufl. 1892), daß der langen Reihe der Bücher angehört, in denen St. als ungemein anmuthiger und scharfäugiger Reiseschriftsteller auftrat. „Ein Jahr in Italien“ (3 Bde., 1847–50; 4. Aufl. 1874), „Herbstmonate in Italien“ (1860), „Herbstmonate in Oberitalien“ (1866; 3. Aufl. 1884), „Ein Winter in Rom“ (1869, mit Fanny Lewald), dazu die Pariser Skizzen „Zwei Monate in Paris“ (1851) und „Nach fünf Jahren“ (1857) vertreten diese besondere und gewiß bezeichnende Seite von Stahr’s litterarischem Wesen. Weniger erfolgreich wurde Stahr’s Eintreten für Persönlichkeiten der römischen Kaiserzeit, die Tacitus und sein Anhang als verwerflich hingestellt hatten. In seinen „Bildern aus dem Alterthum“ (4 Bde., 1863–66) versteifte sich St. darauf, jene möglichst rein zu waschen und als unschuldige Opfer politisch-litterarischer Anschwärzesucht aus dem Rufe ihrer Böswilligkeit zu erlösen. Diese „Rettungen“ von „Tiberius“ (2. Aufl. 1873 u. 1885; vgl. Joachim, Tiberius von Adolf Stahr, Schulprogramm 1865; G. Lejeune Dirichlet, Der Kaiser Tiberius und die Majestätsprocesse: Sonntagsbeilage Nr. 28 zur Vossischen Zeitung 1892; W. Ihne, Zur Ehrenrettung des Kaisers Tiberius. Aus dem Engl. mit Zusätzen von W. Schott, Straßb. 1892), „Kleopatra“ (3. Aufl. 1879), „Römische Kaiserfrauen“ (2. Aufl. 1880), „Agrippina, die Mutter Nero’s“ (2. Aufl. 1880) müssen im ganzen als verfehlt, Stahr’s Beweisführung als nicht stichhaltig gelten. Die speciell belletristische Thätigkeit Stahr’s, durch den historischen Roman „Die Republikaner in Neapel“ (3 Thle., 1849) und die lyrische Sammlung „Ein Stück Leben“ (1869) vertreten, zeigen, daß hier nicht die Wurzeln seiner Kraft lagen. Von anderweitigen Publicationen seien noch genannt: „Christian Ruben’s: Columbus im Augenblicke der Entdeckung der neuen Welt. Bruchstück aus einem Reisejournal“ (1844); „Theodor von Kobbe. Ein Denkstein“ (1845); „Ueber Goethe’s Faust. Zwei dramaturgische Abhandlungen“ (1845, mit J. Mosen); „Ueber die moderne Tragödie und Julius Mosen’s ‚Don Johann von Oestreich‘“ (1845).

Ein entschiedener und bewußter Charakter bleibt St. auf alle Fälle, mag man auch an einzelnen Seiten seines Schaffens mancherlei aussetzen wollen. Er darf den Ehrennamen eines Hauptvorkämpfers modern-deutscher Denkfreiheit verlangen (vgl. „Das Bremer Glaubensgericht des Jahres 1844. Weihnachtsbrief“, 1844) und hat zur litterarischen Allgemeinbildung der Gegenwart sehr viel beigetragen, was durch das erklärliche Schwinden seines Einflusses in unseren Tagen verdunkelt wird. Er erscheint zudem stets als klarer Denker und Urtheiler, sowie als eine feine Natur, als ein hoher, ernster und edler Geist, der das Wahre und Schöne begierig sucht, freudig begrüßt und mannhaft verficht.

[406] Die beste Lebensbeschreibung und Charakteristik Stahr’s bietet der von sehr naher Freundeshand herrührende Aufsatz Adolf Glaser’s in „Unsere Zeit. Neue Folge. XII. 2. Hälfte“ (1876). Eine abschließende Würdigung des weitausgreifenden Mannes fehlt noch. Eine solche wird wesentlich erleichtert werden, sobald seine Briefe und anderen Papiere zugänglich gemacht werden, nachdem nun – Anfang 1892 – sein ältestes Kind, Alwin, in Neapel gestorben ist.[2] Eine Fülle von Briefen Stahr’s und seiner Gattin besitzt das „Goethe- und Schiller-Archiv“ zu Weimar infolge einer Schenkung des regierenden Großherzogs von Sachsen-Weimar seit 1891/92 (s. VII. Jahresbericht der Goethe-Gesellschaft, S. 9); Herr Director Prof. Suphan konnte sie mir leider noch nicht nutzbar machen. Für mehrere Mittheilungen bin ich dem Großherzogl. Oberbibliothekar Herrn Dr. R. Mosen in Oldenburg, für bibliographische Glossen Herrn A. Schwartz, Inhaber der Schulze’schen Hofbuchhandlung ebenda, sehr verbunden. Für einige einzelne Punkte vergleiche man R. v. Dalwigk, Chronik des Alten Theaters zu Oldenburg 1833–81 (Oldenb. 1881) und Mielke, Der deutsche Roman des 19. Jahrh., S. 329.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 404. Z. 23 ff. v. o.: Nach gütiger Mittheilung des Herrn Oberbibliothekar Dr. Mosen in Oldenburg stammt diese Bearbeitung des „Wintermärchen“ dennoch wirklich von Palleske, wie dieser in einer „Thal, 30. Mai 1880“ datirten öffentlichen Erklärung in der Weserzeitung feststellte, damit nicht „eine so unbedeutende Arbeit, die das Original nicht productiv umgestaltet“ versehentlich länger Stahr und Mosen zugeschrieben werde. [Bd. 36, S. 792]
  2. S. 406. Z. 3 f. v. o: Ad. Stahr’s nachgelassene Papiere sind testamentarisch nicht seinem hier genannten ältesten Sohne, sondern dem Herrn Ad. St. in Köln vermacht. So lange Fanny Lewald-Stahr lebte, befanden sie sich in deren Besitz. (Nach Familienmittheilungen.) [Bd. 45, S. 673]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ferdinand Wilhelm Adam Freiherr von Gall (1809–1872); Intendant der Hoftheater zu Oldenburg und Stuttgart und Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins