ADB:Guhrauer, Gottschalk Eduard

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Artikel „Guhrauer, Gottschalk Eduard“ von Hermann Hettner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 10 (1879), S. 99–102, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Guhrauer,_Gottschalk_Eduard&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 01:52 Uhr UTC)
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Guhrauer: Gottschalk Eduard G., besonders durch seine höchst verdienstvollen Arbeiten über Leibniz von bleibender Bedeutung, war am 15. Mai 1809 zu Bojanowo im Großherzogthum Posen geboren; er starb am 5. Januar 1854 zu Breslau. Nachdem er den ersten Unterricht in der Schule seiner Vaterstadt genossen und in den Jahren 1823–29 das Friedrichsgymnasium zu Breslau besucht hatte, studirte er 1829–32 auf der Universität zu Breslau, 1832–34 auf der Universität zu Berlin. Schon auf der Universität zeigte sich bei ihm jene eigenthümliche Verbindung des Philosophischen und Philologisch-historischen, die sein ganzes Leben hindurch der Grundzug seines Strebens und Wirkens geblieben ist. In Breslau hörte er vornehmlich die Vorlesungen von Steffens und Braniß, von Passow und Schneider, von Wachler und Stenzel, in Berlin die Vorlesungen von Steffens und Schleiermacher, Böckh, Lachmann, Bopp, Wilken und Ritter. Entscheidend wurde für ihn die am 3. August 1831 gewonnene Lösung einer Preisaufgabe der philosophischen Facultät in Breslau: „Laudationem Godofr. Guil. Leibnitii, in qua non tam philosophiae conditum [100] ab illo systema quam magnum ejus momentum ad literas, mores, religionem et res civiles Europae respiciatur“. Auch die Dissertation, mit welcher G. im September 1835 in Berlin die philosophische Doctorwürde erlangte, „Leibnitii de unione animae et corporis doctrina“, ist demselben Studienkreise entnommen. Er faßte den Plan, sein Leben dem Studium Leibniz’s zu widmen, da er sich längst überzeugt hatte, wie viel handschriftliches Material des großen Philosophen noch unbenutzt liege und wie wenig die Leibniz-Ausgabe von Dutens (Genf 1768) den Ansprüchen auf Vollständigkeit und kritische Genauigkeit entspreche. Am 25. Mai 1835 zum Christenthum übergetreten, absolvirte er 1836 sein Probelehrjahr auf dem Real-, jetzt kölnischen Gymnasium zu Berlin. Dann aber ging er nach Hannover, um auf der dortigen Bibliothek nach Leibniz’schen Handschriften zu forschen; er entdeckte die von Dutens verloren geglaubte Erstlingsschrift „De principio individui“ (1663) und eine Reihe bisher ungedruckter deutscher Handschriften. Die Unterstützung der preußischen Regierung setzte ihn in den Stand, diese Forschungen 1837–39 in den Bibliotheken und Archiven von Paris fortzusetzen. Die während eines längeren Aufenthalts in Berlin verfaßten Ergebnisse dieser Studien sind: „Leibniz’ Dissertation se principio individui, herausgegeben und kritisch eingeleitet“, Berlin 1837; „Leibnitz, Deutsche Schriften“, 2 Bde., Berlin 1838–40; „Mémoire sur le projet d’expedition en Egypte présenté en 1672 à Louis XIV par Leibnitz, par G. E. Guhrauer lu dans les séances le 24 février et le 7 juillet 1838“ (abgedruckt im Recueil des mémoires consacré aux savans étrangers“, 4. 1841; „Ideen zu einer künftigen kritischen Gesammtausgabe der Werke von Leibniz. Vorgelesen in der Gesammtsitzung der königl. preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 2. April 1840.“ (Deutsche Vierteljahrsschrift 1841, Thl. 1.) „Leibnitz, Animadversiones ad Cartesii principia philosophiae, aus einer noch ungedruckten Handschrift mitgetheilt“, Bonn 1841. Und ebenso steht mit diesen Leibnizstudien in genauester Verbindung: „Kur-Mainz in der Epoche von 1672“ (2 Bde., Hamburg, Perthes 1839). Doch richtete G. seine Studien um diese Zeit auch schon auf andere litteraturgeschichtliche Fragen, die freilich in dieser Weise nur von einem gründlichen Leibnizkenner bearbeitet werden konnten. Noch in Guhrauer’s Berliner Aufenthalt fällt: „Das Heptaplomeron von Jean Bodin. Zur Cultur- und Litteraturgeschichte im Jahrhundert der Reformation. Mit einem Schreiben an den Herausgeber von A. Neander“ (Berlin 1841). Und: „Lessing’s Erziehung des Menschengeschlechts, kritisch und philosophisch erörtert“ (Berlin 1841); eine glänzende Streitschrift gegen Körte, welcher die Urheberschaft der berühmten Schrift Lessing’s dem bekannten landwirthschaftlichen Schriftsteller Thaer zuschreiben wollte. Am Ende des J. 1841 wurde G. als Custos an der Universitätsbibliothek zu Breslau angestellt. Gleichzeitig habilitirte er sich als Privatdocent an der Universität mit der Abhandlung: „Quaestiones criticae ad Leibnitii opera philosophica pertinentes“ (Breslau 1842).- Im J. 1842 erschien bei Ferd. Hirt in Breslau sein Hauptwerk, das ihm bei allen seinen Studien als Ziel vor Augen gestanden: „Gottfr. Wilhelm Freiherr v. Leibnitz. Eine Biographie.“ Eine zweite Ausgabe folgte 1846. Ein Meisterwerk gründlichster und allseitigster Forschung, das das Gesammtbild des großen Philosophen wol für immer endgiltig festgestellt hat, und ein Meisterwerk feiner biographischer Kunst, die um so mehr zu bewundern ist, je vielverschlungener und nach allen Seiten ausgreifend der Stoff ist, der in klare feste Einheit zu drängen war. Die allgemeinste Anerkennung fehlte nicht. Auch die Regierung suchte diese Anerkennung auszusprechen, indem sie ihn zum außerordentlichen Professor der allgemeinen Litteraturgeschichte ernannte. Noch lange Zeit weilte G. mit Vorliebe im Leibniz’schen Kreise. Dies bezeugen nicht nur einige Einzelabhandlungen in verschiedenen Zeitschriften (Neue Jena’sche Allg. [101] Litt. Ztg. 1847. Nr. 262–68. Blätt. für litt. Unterhaltung 1848. Nr. 82. Serapeum 1851 N. 1–3), sondern vor Allem auch die freilich unausgeführt gebliebene Absicht, ein Leben Boineburg’s zu schreiben. In diesen Kreis gehört auch die treffliche Schrift: „Joachim Jungius und sein Zeitalter, nebst Goethe’s Fragmenten über Jungius“ (Stuttgart und Tübingen 1850); auf breiter culturgeschichtlicher Grundlage ein würdiges Seitenstück der Leibnizbiographie. Uebersehen wir die späteren Schriften Guhrauer’s, so ist ein so festes einheitliches Band nicht mehr erkennbar. Es läßt sich nicht leugnen, daß ihm fortan oft nur die nächsten Tagesbeziehungen, oft zufällige bibliothekarische Funde, oft sogar äußere buchhändlerische Bestellungen den Stoff an die Hand gaben; vielfach zersplittert er sich in journalistische Vielthätigkeit. Er sah sich auf seine Feder angewiesen; er hatte eine Familie mit drei Kindern und er, den Deutschland unter seine ersten Gelehrten zählt, ist nie über einen Gehalt von 700 Thalern hinausgekommen. Aber was er schrieb, schrieb er mit vollster Seele und mit Aufbietung aller Kraft. Die meisten auch seiner Journalaufsätze sind ausführliche, gediegene, streng wissenschaftliche Untersuchungen. – 1) Allgemein Geschichtliches: „Elisabeth, Pfalzgräfin bei Rhein, Aebtissin von Herford“ (Raumer’s hist. Taschenbuch 1850); „Pfalzgräfin Marie Eleonore von Brandenburg“ (Bülau’s Geheime Geschichten und räthselhafte Menschen, Bd. II); „Die Königswahl in Warschau 1669“, (ibidem Bd. V); „Briefe einer deutschen Prinzessin vom Hofe der Kaiserin Katharina II.“ (Morgenblatt 1853. Nr. 26 u. 27); verschiedene Aufsätze über Graf K. F. Reinhard (Raumer’s hist. Taschenbuch 1846, Blätter für litt. Unterhaltung 1847, Nr. 79, Freihafen 1838, Heft 3, Panorama de l’Allemagne 1839); „Die Unionsversuche seit der Reformation“ (Deutsche Vierteljahrschrift 1846); „Die Anfänge der Prager Universität“ (ibid. 1848); „Zur 200jährigen Gedächtnißfeier des westfälischen Friedens (ibid. 1848); „Die Weissagung von Lehnin, eine Monographie“, Breslau 1850; „F. E. Nierig’s Reise nach Rom im Jahr 1663“ (Schlesische Provinzialblätter 1845); „Beiträge zur Kenntniß des 17. und 18. Jahrhunderts aus den handschriftlichen Aufzeichnungen Gottlieb Stolle’s (Allgem. Zeitschrift für Geschichte 1847); „Aus den Denkwürdigkeiten der Aerzte Peter und Joseph Frank“ (Deutsches Museum 1852 und 1854). – 2) Litteraturgeschichtliches. a) Ueber Goethe: „Ueber Goethe’s Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ (Anzeigeblatt 1846); „Goethe im Verhältniß zu Politik und Geschichte“ (Minerva 1846); „Festrede bei der Goethefeier am 28. August 1849“ (Schles. Provinzialblätter 1849); „Aus Goethe’s Archiv“ (Deutsche Vierteljahrsschrift 1849); „Excurse zu Goethe’s Briefe an Frau v. Stein“ (Blätt. für litterarische Unterhaltung 1849, Nr. 225. 226); „Goethe’s Sammlungen“ (ibid. 1850, Nr. 41); „Goethe in Karlsbad“ (Deutsches Museum 1851); „Briefwechsel zwischen Goethe und Knebel“, 2 Thle., Leipzig 1851; „Zum Goethe-Knebel’schen Briefwechsel“ (Deutsches Museum 1851); b) Ueber Lessing: „Lessingiana“ (Blätt. für litterarische Unterhaltung 1843, Nr. 244–49); „Eine Mahnung an Lessing und Lessing’s Grundzüge der deutschen Aesthetik“ (Europa 1853 Nr. 19–31); c) Vermischtes: „Ueber Schiller’s auserlesene Briefe“ (Litterar. Zodiacus 1835); „Wilhelm v. Humboldt’s Gesammelte Werke“ (Blätter für litterarische Unterhaltung 1847, Nr. 119 und 120); „Ein Lustspiel der Frau Gottsched“ (ibid. 1847, Nr. 298); „Voltaire und sein Verhältniß zur Geschichte der Litteratur“ (Mag. für Litt. des Auslandes 1847, Nr. 74–76); „Kant und die deutsche Poesie“ (Bl. für litt. Unterhaltung 1849, Nr. 191); „Der erste deutsche Staatsroman“ (Deutsches Museum 1852); „Briefe aus Warmbrunn 1) zu Schiller’s Piccolomini, 2) zur Erinnerung. an K. Seydelmann“ (Deutsches Museum 1852); „Ueber den Verfasser der Thomas von Aquino beigelegten Schrift „De eruditione principum“ (Serapeum 1849); „Die Encyklopädieen“ [102] (Deutsche Vierteljahrschrift 1845); „Die philosophischen Preisfragen der preußischen Akademie der Wissenschaften“ (Hall. Allg. Monatsschrift 1852); „Kritische Bemerkungen über den Verfasser der Fama Fraternitatis des Ordens des Rosenkreuzer“ (Zeitschrift für histor. Theologie 1852); „Bonaparte’s Bibliothek aus Aegypten“ (Bl. für litt. Unterh. 1839, Nr. 47); „Ueber ein Manuscript von Lacroze in der königlichen Bibliothek zu Breslau“ (Serapeum 1850); „Marcus Marci und seine philosophischen Schriften“ (Zeitschrift für Philosophie 1852); „Tagebücher Franz v. Baaders“ (Deutsches Museum 1851). Ueberdies viele Abhandlungen allgemeineren Inhalts, unter denen wir besonders die Abhandlung „Ueber die ästhetische Erziehung der Proletarier“ (Deutsche Vierteljahrschrift 1848) und „Utopien und das Nicht-Utopische in Utopien“ (Schles. Volksblatt 1849, Nr. 15 u. 70) hervorheben. Die letzten Lebensjahre Guhrauers waren wieder durch eine größere zusammenhängende Arbeit ausgefüllt. Als Danzel nach der Vollendung des ersten Bandes seiner berühmten Lessingbiographie gestorben war, erhielt G., der sich in seinen Lessingstudien bereits so trefflich bewährt hatte, von der Verlagshandlung die ehrenvolle Aufforderung, die Fortsetzung des abgebrochenen Werkes zu übernehmen. Der zweite Band erschien unter dem Titel „G. E. Lessing’s Leben und Werke in der Periode vollendeter Reife“, Leipzig 1853 und 1854. Einen würdigeren Abschluß hätte Danzel’s Werk nicht finden können. Dieselbe Treue und Sorgfalt der Forschung wie bei Danzel, die nur darum nicht so in die Augen fällt, weil die geschmackvollere und gewandtere Darstellung den Schweiß der Arbeit mehr vermischt hat: in der Behandlung der philosophischen und theologischen Fragen Weite des Blickes und streng sachliche Unbefangenheit. Es ist dieselbe Wissenschaftlichkeit und Darstellungskunst, die Guhrauer’s Leibnizbiographie auszeichnet. Ein stilles bedrängtes Gelehrtenleben, arm an äußeren Ereignissen, reich an bitteren Sorgen, die durch ein schleichendes Unterleibsleiden noch beträchtlich vermehrt wurden. Nie wird man Leibniz, nie wird man Lessing nennen können, ohne Guhrauer’s ehrend zu gedenken.