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Artikel „Steffens, Henrich“ von Otto Liebmann (Philologe) in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 555–558, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Steffens,_Henrich&oldid=- (Version vom 7. Oktober 2024, 06:02 Uhr UTC)
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Steffens: Henrich S., seiner Geburt nach Norweger, seiner Bildung und ganzen Lebensentwicklung nach aus eigener Wahl der deutschen Nation angehörend, vielseitig begabter Naturforscher, Philosoph und Dichter, einer der engsten Freunde und Anhänger des um zwei Jahre jüngeren Schelling, wurde am 2. Mai 1773 zu Stavanger als Sohn eines aus Holstein eingewanderten Chirurgen geboren. Von Kindheit an zeigte sich in seinem Naturell die unruhige Betriebsamkeit seines nach außen thätigen Vaters und die innige Religiosität seiner ernsten, frommen Mutter zu einer Persönlichkeit verschmolzen, die den lebhaftesten Drang nach stets sich erweiternder Welt- und Naturkenntniß mit dem Hang zu tiefsinniger Speculation und schwärmerisch poetischem Sinn vereinigte. Seine Eltern wechselten während seiner Kinderjahre häufig ihren Wohnsitz. Von Stavanger wurde sein Vater als Regimentsarzt nach Trondhiem, von dort nach Helsingör, dann nach Roeskilde, endlich nach Kopenhagen versetzt. Hier starb seine Mutter, die in dem Knaben den angeborenen religiösen Sinn aufs eifrigste genährt hatte. Nach unregelmäßiger Schulbildung bezog er 1790 die Universität in Kopenhagen, gab die Absicht, Theologie zu studiren auf, widmete sich, von der Lectüre der Werke Buffon’s und Linné’s erfüllt, durch die mannichfaltigen Eindrücke einer großen Natur von früh auf angeregt, dem Studium der Naturgeschichte und erwählte die Mineralogie zu seinem Hauptfach. Von einer naturwissenschaftlichen Gesellschaft in Kopenhagen unterstützt, unternahm St. 1792 eine Seereise an der Westküste von Norwegen, um Mollusken zu sammeln, und erlitt auf der Rückfahrt in der Nordsee schweren Schiffbruch; eine Katastrophe, die er später in novellistischer Form ausführlich geschildert hat. Nachdem er in Hamburg und bei seinem in Rendsburg zurückgezogen lebenden Vater mehrere Jahre einsam zugebracht hatte, habilitirte er sich 1796 als Privatdocent an der Universität Kiel, wo seine erste deutsche Schrift „Ueber die Mineralogie und das mineralogische Studium“ abgefaßt wurde. Gleichzeitig machte sich bei ihm reges ästhetisch-litterarisches und philosophisches Interesse geltend. Kant und Fichte standen an seinem Horizont; namentlich aber ergriffen ihn Jacobi’s Briefe über die Lehre des Spinoza, eine Schrift, die nach seinen eigenen Worten „Epoche in seinem Leben gemacht hat“. Mit Leidenschaft vertiefte er sich in Spinoza’s seiner eigenen Ahnung entgegenkommende Lehre von der Einheitlichkeit des Weltwesens. Nur vermißte er in der starren Einheit und Ruhe der spinozistischen Substanz den belebenden Puls und die in der Fülle und Mannichfaltigkeit der Naturerscheinungen sich äußernde Triebkraft. An das Sterbebette seines Vaters nach Rendsburg berufen, eilte er dorthin; und als er tief erschüttert nach Kiel zurückkam, fand er Schelling’s „Ideen zu einer Philosophie der Natur“ vor. Diese sowie Schelling’s Schrift von der „Weltseele“ wurden für sein Denken entscheidend, erfüllten seine tiefsten Hoffnungen und „bestimmten seine Thätigkeit für sein ganzes Leben“. Deutschland, mit dessen großer geistiger Bewegung er schon vertraut war, wurde das Land seiner Sehnsucht. Durch den dänischen Minister Grafen Schimmelmann mit einem Reisestipendium versorgt, eilte er im Frühjahr 1798 von Hamburg aus theils im Postwagen, theils als Fußwanderer über den Harz und Erfurt nach Jena, brachte dann mehrere Wochen mit geognostischen Untersuchungen beschäftigt im Thüringer Walde zu, [556] studirte in der idyllischen Waldeinsamkeit von Schwarzburg Fichte’s „Wissenschaftslehre“ und kehrte nach Jena zurück, kurz bevor A. W. Schlegel und Schelling daselbst eintrafen. Er hörte Schelling’s Probevorlesung mit an, worin die Idee einer Naturphilosophie und die Nothwendigkeit, die Natur aus ihrer Einheit zu erfassen, energisch auseinandergesetzt wurde. Von diesen mit seiner eigenen Intention zusammentreffenden Gedanken fühlte St. sich ganz hingerissen, suchte Schelling persönlich auf und schloß mit ihm einen Freundschaftsbund, der sich fürs ganze Leben haltbar erwiesen hat. Auch in Fichte’s Vorlesungen hospitirte er, gewann Goethes Wohlwollen, verkehrte bei A. W. Schlegel sowie im Frommann’schen Hause und fand damit dauernde Aufnahme und Anerkennung in den höchsten, maßgebenden Kreisen der deutschen Litteratur. Im Sommer 1799 ging St. von Jena über Berlin, wo er Tieck, Schleiermacher und Fr. Schlegel kennen lernte, nach Freiberg, um an der dortigen Bergakademie unter Werner’s sachkundiger Leitung sein mineralogisches Fachstudium fortzusetzen. Werner’s Geognosie und Schelling’s Philosophie wirkten nun in seinem Geiste zusammen; ihr gemeinschaftliches Erzeugniß war das von Steffens in Freiberg ausgearbeitete Werk „Beiträge zur inneren Naturgeschichte der Erde“ (1801); ein Buch, welches von den naturphilosophischen Anhängern Schelling’s mit Begeisterung begrüßt wurde, und von dem St. selber erklärt: „Alle Erscheinungen des Lebens in der Einheit der Natur und Geschichte zu verbinden und aus diesem Standpunkt der Einheit beider die Spuren einer göttlichen Absichtlichkeit in der großartigen Entwicklung des Alls zu verfolgen, war die offenbare Absicht dieser Schrift“. „Was ich in dieser Schrift zu entwickeln suchte, bildet das Grundthema meines ganzen Lebens.“ Mit geistvoller Verwerthung naturwissenschaftlicher Specialkenntnisse und dichterisch freier Phantasie wird darin der Gedanke einer stufenförmig schaffenden Natur durchgeführt, die, mit anorganischen Processen und Producten beginnend, in der freien menschlichen Persönlichkeit ihren Gipfel und ihr Ziel erreicht.

Nachdem St. in seine Heimath zurückgekehrt war, zwei Jahre in Kopenhagen gelebt und sich mit einer geborenen Reichardt verheirathet hatte, erhielt er auf Reil’s Betrieb einen Ruf als ordentlicher Professor der Naturphilosophie, Physiologie und Mineralogie an der Universität Halle a. S. Hier traf er hoffnungsfreudig im September 1804 ein und trat sein Lehramt an, um nun dauernd dem preußischen Staat seine Dienste zu widmen. Schleiermacher, F. A. Wolf, Reil waren seine Collegen und Freunde in Halle. Von der zündenden Einwirkung seiner Vorlesungen auf die akademische Jugend berichtet Varnhagen von Ense in seinen „Denkwürdigkeiten“. Zu gleicher Zeit publicirte St. seine Schrift „Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft“ (1806), eine Verherrlichung der Ansichten Schelling’s.

Nach der unglücklichen Schicksalsschlacht von Jena und Auerstädt, deren fernen Kanonendonner St. auf der Landstraße nach Merseburg mit an die Erde gelegtem Ohr in ängstlicher Spannung verfolgte, wurde die Universität in Halle von Napoleon aufgehoben. St., von dem Zusammenbruch des Staates aufs tiefste erschüttert, nahm vorläufig bei dem preußischen Ministerium Urlaub, hielt sich als Emigrant zwei Jahre lang in Holstein, Hamburg und Lübeck bei Freunden auf, kehrte dann aber 1808 in das nunmehr „königlich westfälisch“ gewordene Halle zurück und begann an der wiederhergestellten, jedoch nur kümmerlich vegetirenden Universität vor wenigen Zuhörern von neuem seine Lehrthätigkeit. An den von Berlin und Halle aus geleiteten Unternehmungen patriotischer Männer, die den Sturz der napoleonischen Gewaltherrschaft vorbereiten sollten, betheiligte sich St. aufs lebhafteste, wobei er gegenüber den französischen Polizeispionen in nicht geringe persönliche Gefahr gerieth. Nach den fruchtlosen Aufstandsversuchen [557] Schill’s und Dörnberg’s wurde die erhoffte Wiedergeburt Preußens und Deutschlands aufs Unbestimmte vertagt.

Unter diesen Umständen mußte ihm eine an ihn gelangende Berufung nach Breslau höchst willkommen sein. Im Herbst 1811 siedelte er von Halle nach Breslau über, richtete dort das physikalische Institut ein, hielt Vorlesungen über Physik und Philosophie, arbeitete ein mineralogisches Handbuch aus, verfolgte aber zugleich mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit den Gang der preußischen Politik, die, wie ganz Europa, Napoleon auf seinem russischen Feldzug Heeresfolge zu leisten gezwungen war. Trotz aller bitteren Enttäuschungen verließ den patriotischen Mann der Glaube an eine bessere Zukunft nicht. Er trat mit Gneisenau und Scharnhorst in vertrauliche Beziehungen. Er sah nach dem Untergang der großen Armee und Napoleon’s heimlicher Flucht die Morgenröthe des längst ersehnten Tages aufdämmern; und als nach General York’s entscheidender That König Friedrich Wilhelm III. in Breslau den Aufruf an das Volk erließ, hielt Steffens an die massenhaft zusammenströmende vaterländische Jugend in grenzenloser Erregung flammende Reden, die zum Kampf aufforderten und in denen er den Entschluß, selbst die Waffen zu ergreifen, bestimmt aussprach. Er hat Wort gehalten. Ein vierzigjähriger Stubengelehrter und Familienvater, bis dahin dem Kriegsdienst völlig fernstehend, ging er mit dem Beispiel voran. Als Freiwilliger, mit dem Recht die Officiersuniform zu tragen, trat er in das Heer ein und hat den ganzen Krieg von 1813–14 mitgemacht. Im Hauptquartier Blücher’s nahm St. an den Schlachten von Groß-Görschen, von Bautzen, von Wartenburg, an der Völkerschlacht bei Leipzig, am Winterfeldzug in Frankreich theil, bis er nach der Einnahme von Paris, mit dem eisernen Kreuze geschmückt, im Mai 1814 aus dem Militärdienste entlassen wurde.

Von nun an konnte er sich, nach Breslau zu seiner Familie und seinem akademischen Wirkungskreis heimgekehrt, in ungestörter Muße wissenschaftlichen und litterarischen Arbeiten widmen. Nach Abschluß des Friedens, nach der Neugestaltung Europas durch den Wiener Congreß und im Zusammenhang mit den aufgeregten Erwartungen der Nation waren es begreiflicher Weise zunächst Fragen politischer Art, von denen sein Interesse lebhaft in Anspruch genommen wurde. Zwei größere Schriften gingen hieraus hervor: „Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden“ (1817) und „Caricaturen des Heiligsten“ (1819–21). Darauf folgte, den feststehenden Grundgedanken seiner Naturphilosophie wieder aufnehmend, die „Anthropologie“ (2 Bde., 1822), worin der Mensch als lebendige Einheit des Geistes und der Natur, somit als mikrokosmischer Vertreter des Universums begriffen werden soll. Ganz im schellingianischen Sinne zieht St. Physik, Geologie, Physiologie herbei, um mit phantastischem Analogienspiel und willkürlicher Symbolik die teleologische Weltentwicklung von den anorganischen Naturfactoren an bis zu dem in freier Sittlichkeit und religiösem Bewußtsein sich entfaltenden Typus des Menschenthums vor Augen zu führen. Daß diese phantastische Anthropologie neben lautem Beifall auch heftige Angriffe erfuhr, ist kein Wunder. Eine sehr scharfe und bittere Recension schrieb Herbart. – Einige größere Reisen unterbrachen den Aufenthalt in Breslau. Im Jahre 1817 ging St., von Schütz begleitet, nach Süddeutschland, hielt sich acht Tage lang in München bei seinem alten Freunde und verehrten Meister Schelling auf und machte die persönliche Bekanntschaft des greisen F. H. Jacobi sowie des Mystikers Franz v. Baader. Sieben Jahre später (1824) unternahm er mit seinem Neffen eine skandinavische Reise, die ihn nach Stockholm, Upsala und zu seiner in Hedemarken lebenden Schwester führte. Mehrfach wurde St., abgesehen von philosophischen Meinungsgegensätzen, in heftige Conflicte und [558] Streitigkeiten verwickelt. So über das von Jahn geförderte Turnwesen, dessen Berechtigung er aus höherem ethisch-pädagogischem Gesichtspunkt anzweifeln zu müssen glaubte. Hauptsächlich aber waren es innere und äußere Kämpfe confessionell-religiöser Natur, von welchen er bei der Einführung der Union in Preußen ergriffen wurde. Er nahm gegen die ministeriellen Anordnungen für die streng lutherisch gesinnten Gemeinden Partei, hielt in Breslau auf eigene Hand religiöse Versammlungen ab, veröffentlichte 1824 sein Buch „Von der falschen Theologie und dem wahren Glauben“, sprach später in der Schrift „Wie ich wieder Lutheraner wurde“ (1831) sein persönliches Glaubensbekenntniß aus und bat, von einem Ministerialschreiben tief verletzt, den König um Entlassung aus dem Staatsdienst. Diese wurde ihm zwar, trotz wiederholten Abschiedsgesuches, unter ausdrücklicher Anerkennung seiner Verdienste nicht gewährt; indessen mehr und mehr fühlte sich St. in Breslau isolirt und sehnte sich aus einer immer unerquicklicher gewordenen Lage heraus.

Inzwischen hatte der alternde Gelehrte auch seiner poetischen Naturanlage Spielraum gegeben; und zwar nach einer Richtung, die durch sein religiöses Innenleben wesentlich mitbestimmt war. Er schrieb eine längere Reihe von Novellen, wie „Die Familie Walseth und Leith“ (3 Bde., 1827) und „Die vier Norweger“ (6 Bde., 1828); Dichtungen, die vielen Beifall fanden und in denen die Schilderung großer nordischer Naturscenerien sich mit seiner psychologischer Beobachtung und dem Grundton einer tief empfundenen Religiosität auf eigenthümliche Weise verschwisterten.

Seine Sehnsucht, aus den Breslauer Verhältnissen herauszukommen, wurde endlich ganz seinen Wünschen entsprechend dadurch befriedigt, daß St. auf Verwendung des ihm persönlich wohlwollenden Kronprinzen (des nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm IV.) in seinem 59. Lebensjahr einen Ruf an die Universität in Berlin erhielt. Am 14. April 1832 traf er in Berlin ein, hielt hier Vorlesungen über Naturphilosophie, Anthropologie und Religionsphilosophie und wurde, obwohl der Mehrzahl seiner Collegen innerlich fremd und mit dem wissenschaftlichen Geiste der Zeit in Zwiespalt, nach Ablauf von drei Semestern zum Rector gewählt. Sein letztes wissenschaftliches Werk ist eine „Christliche Religionsphilosophie“ (2 Bde., 1839). Unmittelbar daran schloß sich eine äußerst inhaltreiche Autobiographie, welche wegen der nach dem Leben entworfenen Schilderungen zahlreicher hervorragender Menschen und interessanter Zustände einer hochbedeutsamen Periode der neuesten deutschen Geschichte als werthvolle Quellenschrift betrachtet werden darf. Sie erschien unter dem Titel „Was ich erlebte“ in 10 Bänden; Breslau 1840–1844. St. starb in Berlin am 13. Februar 1845.

Nachgelassene Schriften von H. Steffens, mit einem Vorwort von Schelling, 1846. – Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten. – R. Haym, Die romantische Schule. – Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. VI.