ADB:Reinhard, Karl Friedrich Graf von

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Artikel „Reinhard, Karl Friedrich“ von Wilhelm Lang in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 44–63, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reinhard,_Karl_Friedrich_Graf_von&oldid=- (Version vom 21. Dezember 2024, 15:40 Uhr UTC)
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Reinhard: Karl Friedrich R., der französische Diplomat von deutscher Herkunft, von Napoleon zum Baron, von Ludwig XVIII. zum Grafen erhoben, zuletzt Pair von Frankreich, ist am 2. October 1761 zu Schorndorf geboren. Der Vater Georg Christoph Reinhardt (die Schreibung Reinhard hat der Sohn erst in Frankreich angenommen) war Diakonus in diesem württembergischen Städtchen. Gleich dem Vater sollte auch R., von 10 Geschwistern das älteste, die geistliche Laufbahn einschlagen. Nachdem er die niederen Seminarien Denkendorf und Maulbronn durchlaufen, trat er im Herbst 1778 in das Stift zu Tübingen. In derselben Promotion befand sich der Philosoph Chr. G. Bardili, etwas jüngere Stiftsgenossen waren der Dichter K. Ph. Conz, die Theologen Paulus und Stäudlin. Ephorus des Stifts war der gelehrte Orientalist Chr. Fr. Schnurrer, ein strenger, imponirender Lehrer, der mehr als die anderen auf R. Einfluß gehabt hat. Die zwei ersten Jahre waren der Philosophie, der Geschichte und Philologie gewidmet. Reinhard’s Lieblingsstudium waren die römischen Dichter und die orientalischen Sprachen. Unter dem Decanat Schnurrer’s erhielt er im September 1780 die Magisterwürde (als der zweite seiner Promotion) mit einer Abhandlung über die arabische Dichtkunst, welcher Uebersetzungsproben beigegeben waren. Jetzt begann der dreijährige theologische Cursus. Tübingen war damals eine feste Burg der supranaturalistischen Theologie, Storr der dogmatische Hauptlehrer. Doch die Neuerungen der rationalistischen Schriftauslegung waren auch ins Stift gedrungen, die Kirchengeschichte wurde durch Rösler in kritischem Geiste vorgetragen, Kant’s Gestirn begann eben aufzugehen, und durch die Zöglinge aus Mömpelgard kam man in Berührung mit der französischen Litteratur: Voltaire und besonders Rousseau wurden im Stift verschlungen. Auf die geistige Entwicklung der Zöglinge wurde kaum ein Zwang ausgeübt; einen um so größeren Gegensatz dazu bildete die strenge, mönchische Zucht, in der die jungen Leute gehalten wurden. R. hat diesen Zwang, in den das tägliche Leben eingeschnürt war, aufs bitterste empfunden. „Ich danke dem Stift“, schrieb er später an Schiller, „nichts als durch peinliche Entbehrung auf einen hohen Grad gespanntes Freiheitsbedürfniß.“ Neben den Fachstudien übte sich die Jugend in poetischen Versuchen. Die Gedichte, die im Wetteifer mit den Freunden Conz und G. Fr. Stäudlin, dem Bruder des Theologen, jetzt und in den folgenden Jahren entstanden, verrathen den Einfluß Klopstock’s, der Hainbündler, Rousseau’s. Freundschaft und Freiheit, jugendliche Ruhmbegierde, elegische Empfindungen sind der Inhalt dieser Gesänge. Der Dichter lehnt sich auf gegen den Zwang der Convention, er preist die Unschuld Otahaiti’s und der Schweiz, sehnt sich zu Bodmer’s Umarmung und zu Lavater’s Geniusflug. Die Einfalt der Natur wird der entnervenden Verschwendung und Pracht, die über Versailles schwebt, entgegengesetzt. Vaterländische Balladen sind in Bürger’s Art gedichtet. Am glücklichsten ist R. in der elegischen Form; eine gewisse Härte hat er aber nie überwunden, so eifrig er durch Uebersetzungen die Sprache zu beherrschen sich bemühte. Bemerkenswerth ist, daß dem Enthusiasmus frühzeitig ein Zug von Skepticismus, von illusionsfreier Nüchternheit beigemischt ist, „viel Satire bei Empfindsamkeit“, und schon jetzt fühlt der Dichter, wie auf Saul, einen schwarzen Geist auf seinen Nacken sich niedersenken – der finstere Geist, durch den er später seiner Umgebung [45] auffiel, ist hienach nicht einzig auf seine Lebensschicksale zurückzuführen. Die Erstlinge seiner Muse veröffentlichte R. noch als Stiftler in Stäudlin’s Schwäb. Musenalmanach auf 1782. Im October 1781 führte ihn eben die Angelegenheit dieses Musenalmanachs nach Stuttgart, wo er Schiller kennen lernte. „Damals sah ich zum ersten und letzenmale nur drei Tage lang Schillern, der soeben die Karlsakademie verlassen hatte. Meine metrischen Uebersetzungen aus dem Arabischen und aus Tibull gefielen ihm. Er faßte zu mir eine Zuneigung, die ihn nie verlassen hat.“ In den Osterferien 1783 sah R. seinen sehnlichen Wunsch einer Reise nach Zürich erfüllt. Zwar Bodmer war seit Januar todt; R. hatte ihm ein Klagelied nachgerufen: „O so höre die Klage des Jünglings, den du geliebt hast“; aber er lernte Lavater und dessen Kreis kennen, und schied nach drei Tagen mit einem begeisterten Gedicht an den neugewonnenen Freund, dem er an Geduld und Güte und tiefem gottgelenktem Forschungsgeist ähnlich zu werden gelobte. Im Herbst dieses Jahres verließ R. die Hochschule mit den besten Zeugnissen: ingenium felix, diligens, mores probi. Er nahm einen tüchtigen Schulsack mit und einen unbestimmten Drang zu höheren Dingen. Dem letzteren wurde zunächst ein Dämpfer aufgesetzt. R. wurde Vicar, Hülfsgeistlicher, bei seinem Vater, der im J. 1775 Special in Balingen geworden war. Ohne innere Befriedigung verbrachte er diese Zeit im geistlichen Dienst, der übrigens für die Wissenschaft und für dichterische Versuche reichliche Muße ließ. Noch im Herbst 1783 war in Zürich die dem Grafen Fr. L. Stolberg gewidmete Uebersetzung des Tibullus erschienen (die erste im Versmaß des Originals), welcher Proben einer Uebersetzung des Properz und eine Anzahl eigner Elegien beigegeben waren. Auch in den Schwäb. Musenalmanach der folgenden Jahre steuerte R. eine Anzahl Dichtungen bei, ebenso in das Poetische Portefeuille, herausgegeben von J. M. Armbruster, und noch später in L. Neuffer’s Taschenbücher. In Armbruster’s Museum für 1785 gab er Uebersetzungen neulateinischer Dichter, ein Feenmärchen in Wieland’s Geschmack, die Beschreibung eines Ausflugs nach dem Hohenzollern und einen Aufsatz über das Tübinger Stift. Endlich erschien im J. 1785 in Zürich von ihm und Conz gemeinschaftlich (aber anonym) eine Sammlung Episteln, deren Widmung an Goeckingk und Clamer Schmidt die Art dieser redseligen, nur für die Freunde bestimmten und genießbaren Dichtungen sattsam kennzeichnet. Eine unterscheidende Originalität will sich in diesen Gedichten nirgends zeigen. Es war bisher allerlei versucht, nichts mit Entschiedenheit ergriffen. R. empfindet Leere und Langeweile; es treibt ihn aus dem beengten Kreise der Landstadt in die Welt, aus dem Pfarrhaus in ein größeres Leben. Noch hielten die Eltern den unruhigen Geist zurück, als ihm die Wirkung jenes Aufsatzes über das Stift zu Hülfe kam. Dieser bezog sich auf einen pasquilleartigen Ausfall gegen das Stift, der in Weckhrlin’s Grauem Ungeheuer erschienen war. Die „Berichtigungen und Zusätze“ aber, die R. jetzt dazu machte, kamen in der Sache nicht minder einer entschiedenen Verurtheilung der Stiftseinrichtungen gleich. Der Grundgedanke ist: was könnte aus dieser einzigen Anstalt werden, wenn nicht die ganz mönchisch-despotische äußere und innere Verfassung wäre? Der Aufsatz machte Aufsehen, und obwohl er ohne Namen erschien, blieb der Verfasser nicht verborgen. Die Befürchtung lag nahe, daß die Kirchenbehörde dem Stipendiaten ein solches Verbrechen ins Wachs drücken möchte, und unter diesen Umständen war auch der Vater nicht länger dagegen, daß der Sohn sein Glück in der Fremde suchte. Ob jene Befürchtung Grund hatte, ist übrigens nicht ausgemacht; wenigstens ist noch in späteren amtlichen Berichten von R. nur mit Auszeichnung die Rede. R. ging nach der Schweiz und erhielt durch seine dortigen [46] Freunde eine Hauslehrerstelle in der Familie Blonay auf dem alterthümlichen Schlosse gleichen Namens bei Vevey. Es war „Heloisens Gefild“, der „Julien Land“, und der Dichter deutet einmal an, daß er hier ein Herzensverhältniß überwand. Schon hier im Waadtland wurde R. tiefer in französisches Geistesleben hineingezogen. Das Verhängniß wollte, daß er nach einem Jahre durch einen Landsmann, der in Montpellier Hauslehrer war, eine ähnliche Stelle in einem protestantischen Hause zu Bordeaux erhielt. Immer näher rückte er, wie von einem geheimnißvollen Zauber angelockt, jener Brutstätte einer ungeheuren Bewegung, der schon im voraus das Herz des schwäbischen Lyrikers arglos entgegenschlug. „Im Sommer 1787 ging ich nach Bordeaux. Es war unmittelbar nach der Trennung der ersten Notabelnversammlung, folglich in dem ersten Augenblicke der Gährung.“

Im folgenden Jahre brachte R. mit der Familie seines Zöglings einen Monat in Cauterets, Pyrenäen, zu. Die politische Bewegung zeigte sich damals besonders in den zu Pau versammelten Ständen von Bearn. Dieses Vorspiel der Umwälzung begeisterte R. zu zwei französischen Gedichten, einer Ode an die Freiheit und einer Epistel sur la liberté réligieuse. „Ich sang wie Cassandra, von keinem geglaubt, mir selber nicht glaubend, ein weissagendes Lied, eh’ die Bastille noch fiel.“ Nach dem Ausbruch der Revolution lag es nahe, daß der deutsche Augenzeuge der französischen Vorgänge darum angegangen wurde und selbst den Beruf fühlte, zwischen beiden Nationen zu vermitteln. Gleich nach den Ereignissen des Juli 1789 schrieb er in Hausleutner’s Schwäbisches Archiv (I, 459 ff.) Briefe über die Revolution, die neben enthusiastischer Zustimmung doch wieder Zurückhaltung zeigen. Die Hauptsache ist ihm der philosophische Charakter, den die Berathungen über die Menschenrechte und die Verfassung an sich tragen. In einem Aufsatze in Schiller’s Thalia (III, 1791, Heft 12)[WS 1] greift er dann weiter zurück. Er untersucht die geschichtlichen Vorbedingungen der Revolution, schildert die Wirksamkeit Montesquieu’s, Voltaire’s, Rousseau’s, und wieder ist ihm die Revolution wesentlich das Werk der Aufklärung und der Triumph der Philosophie. Im J. 1791 kommt er auch einer Aufforderung des Journals de Bordeaux nach, über die neuere deutsche Litteratur zu berichten. Er thut es in einem Aufsatz, der an das absprechende Urtheil Friedrichs’s des Großen anknüpft und dasselbe zu widerlegen unternimmt. Auch hier bekennt er seine Liebe zur Revolution: „ich finde sie ganz einfach bewundernswerth, weil ich sie in dem Buche der Natur geschrieben finde.“ Gleichzeitig aber versichert er mit Stolz: „Beim Weggehen aus Deutschland hatte ich meinen Freunden geschworen, immer ein Deutscher zu bleiben.“ In diesem doppelten Bekenntniß liegt Reinhard’s ganzes künftiges Schicksal: die Revolution hat ihn zum Franzosen gemacht, mit dem Vorbehalt, ein Deutscher zu bleiben. Auch in Bordeaux hatte sich eine Filiale des überall verzweigten Clubs der Amis de la constitution gebildet. Der Vorsitz wechselte monatlich, einmal wurde er auch R. übertragen. Diese Theilnahme an der Revolution brachte ihn in freundschaftlichen Verkehr mit den Führern der Bewegung in der Gironde. Im September 1791 fanden die Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung in Paris statt, und R. entschloß sich, seine Freunde, die Abgeordnete geworden sind, nach der Hauptstadt zu begleiten, in der Eigenschaft eines Erziehers des 16jährigen Sohnes von Roger Ducos. In einem Wagen mit Ducos, Vergniaud und Guadet fuhr er nach Paris. Diesen Männern verdankte er zunächst sein Emporkommen. Durch sie wurde er mit Sieyès bekannt, der sich von dem schwäbischen Magister eine Abhandlung über Kant’s Kritik der reinen Vernunft schreiben ließ und ihm dauernd seine Gunst zuwandte. Seine Ansichten über die Revolution in diesem Zeitpunkte hat R. in einem ausführlichen Briefe an Schiller niedergelegt, der zwei Monate [47] nach seiner Ankunft in Paris geschrieben ist. Der Brief (von Vollmer in der Allg. Ztg. 1875 veröffentlicht) enthält Betrachtungen, die ebenso Reinhard’s Idealismus wie seine nüchterne unbestechliche Beobachtungsgabe bezeugen. Das Verständniß der Umwälzungen, führte er aus, dürfe nicht durch die unerfreulichen Erscheinungen des Tages verdunkelt werden. Er kennt genau die Gefahren der Bewegung, die Schwierigkeiten der Finanzfrage und er gibt die handelnden Personen alle preis, er kennt sie aus der Nähe, er weiß, daß in der gesetzgebenden Versammlung Mittelmäßigkeit, Eitelkeit, Anmaßung das erste Wort führen. Dennoch hat die Bewegung schon sichtlich wohlthätig gewirkt, sie hat die Aufklärung befördert; der Sturz der Privilegien, der Bruch mit der Kirche ist ein ungeheurer Fortschritt. Und welche Wirkungen wird erst dann die Freiheit zeitigen, wenn sie zu anderen, besser empfänglichen oder vorbereiteten Völkern getragen wird? Hier sehen wir in den Gedankengang, der es dem idealistischen Deutschen ermöglichen wird, auch zu dem welterobernden Frankreich zu halten. Er wird den siegreichen französischen Waffen zujauchzen, weil sie der Welt, weil sie auch seinem Vaterlande die Freiheit bringen. Im März 1792 kamen seine Freunde, die Girondisten, an die Regierung. Sie zogen sofort den jungen Schwaben, der mit soviel Enthusiasmus soviel Wissen verband, in den Dienst des auswärtigen Departements. „Er trat“, so hat später Talleyrand gesagt, „mit einem großen Schatze erworbener Kenntnisse in die Geschäfte. Er kannte wohl fünf bis sechs Sprachen, deren Litteraturen ihm vertraut waren. Er hätte sich als Dichter, als Historiker als Geograph berühmt machen können.“ Aueßerlich hatte der württembergische Pfarrerssohn nicht eben viel Empfehlendes. Er war hochaufgeschossen, hager, ungewandt, langsam mit der Zunge und wortkarg, das Gesicht blaß und blatternarbig; man fand daß er Schillern auffallend ähnlich sehe. Später verwandelte sich die natürliche Steifheit ungesucht in diplomatische Würde und Vornehmheit.

Im April wurde der Marquis von Chauvelin zum Botschafter in London ernannt und R. ihm als Gesandtschaftssecretär mitgegeben. Für einen angehenden Diplomaten konnte der Posten nicht lehrreicher sein. Die französische Regierung gab sich in dieser Zeit Mühe, England zum Bündniß oder doch zur Neutralität im Coalitionskrieg zu bewegen. Besonders wichtig war für R. die Berührung mit Talleyrand; denn dieser war der eigentliche Unterhändler, der aber als gewesenes Mitglied der constituirenden Versammlung kein Staatsamt bekleiden durfte. Talleyrand erkannte damals die Brauchbarkeit des jungen Deutschen und hat ihm fortan seine Gönnerschaft erwiesen. Die Bemühungen der französischen Diplomatie hatten aber keinen Erfolg. Auch die von Chauvelin im Juli begehrte Vermittelung Englands im Coalitionskrieg wurde von Lord Grenville abgewiesen. Nach den Augustereignissen wurde Chauvelin nicht mehr als Gesandter anerkannt; die Correspondenz mit ihm dauerte fort, nahm aber einen immer gereizteren Charakter an. Im September wurde die Fremdenbill erlassen, welche auch die Stellung des französischen Botschaftspersonals unsicher machte. Chauvelin legte zwar im Januar 1793 ein Beglaubigungsschreiben vom französischen Vollziehungsrathe vor, das aber von der englischen Regierung nicht anerkannt wurde. Die Hinrichtung des Königs machte dem diplomatischen Verkehr ein Ende. Am 14. Januar theilte der Staatssecretär dem Marquis v. Chauvelin mit, daß nach einem solchen Ereigniß der König seinen Aufenthalt nicht länger dulden könne und daß er binnen 8 Tagen das Land zu verlassen habe. Chauvelin zeigte sofort an, daß er andern Tages abreisen, daß aber Herr Reinhard, „welcher unmittelbar nach mir die erste Stelle bei der Gesandtschaft bekleidet“, 5 Tage länger bleiben werde, um die Papiere der Gesandtschaft in Ordnung zu bringen. Am 1. Februar folgte die Kriegserklärung.

[48] Am 16. Februar wurde R. durch Minister Lebrun zum ersten Gesandtschaftssecretär in Neapel ernannt. Er sollte über Rom reisen. Seit der Ermordung des französischen Gesandtschaftssecretärs Hugo v. Basseville in Rom am 13. Januar ging der Convent mit dem Gedanken einer Expedition nach dem Kirchenstaate um, und R. erhielt den Auftrag, diesen Einfall vorzubereiten, Mittel und Wege dazu zu studiren. Denn das Unternehmen sollte nur gewagt werden, wenn mit Sicherheit auf den Erfolg zu rechnen war. Schlüge die Expedition fehl, so schrieb Lebrun am 30. April an R., so würde der Papst nur triumphirender sich erheben und Europa hätte vielleicht noch Jahrhunderte lang die Schande seiner Existenz zu tragen. Am 13. März hatte sich R. mit Maindouze als zweitem Secretär in Toulon eingeschifft. Die Reise ging über Nizza, Genua, Livorno. Von hier wollte er sich nach Rom begeben. Die wunderbare Erfüllung eines Jugendtraumes! Doch die Rechnung war ohne den Papst gemacht. Im Hinblick auf das Schicksal Basseville’s fragte R. an, ob es ihm und seinem Begleiter erlaubt sei, den Weg über Rom zu nehmen. Der Papst erwiderte, er gebe seine Einwilligung, doch unter der Bedingung, daß sie des Abends ankämen und noch in der Nacht abreisten. Die Vertreter der Republik konnten in dieser Antwort nur eine höhnische Abweisung erblickten. R. mußte darauf verzichten Rom zu sehen und den Weg nach Neapel zur See nehmen. Am 4. Mai wurde er an der Küste von Latium vorüberfahrend der Kuppel von St. Peter ansichtig, und dieser Anblick gab ihm eine zornvolle Ode ein: „Basseville’s Schatten. Im Angesicht von Rom“, worin er in leidenschaftlicher Aufwallung dem „Priester auf dem morschen Throne“ Rache ankündigt und die Verantwortung für das in der Revolution vergossene Bürgerblut auf die Feinde der Freiheit überwälzt. Auch am neapolitanischen Hof war die Stellung der französischen Gesandtschaft eine peinliche. Der Gesandte, Bürger Mackau, hatte zwar mittelst einer Flottenkundgebung im December seine Anerkennung und die Neutralität des neapolitanischen Hofes durchgesetzt. Jedoch der Hof wartete nur auf eine Gelegenheit, die aufgezwungene Neutralität abzuschütteln. Als R. ankam, waren die Unterhandlungen mit England bereits im Gang. Im Juli kam der geheime Vertrag über den Beitritt zur Coalition zu Stande, und die französische Gesandtschaft mußte ohnmächtig die Vorbereitung zum Krieg mit ansehen. Im September erhielt sie, nachdem die neapolitanische Flotte bereits in See gegangen war, die Aufforderung zur Abreise.

Am 11. November ist R. wieder in Paris eingetroffen. Folgenden Tages erhielt er von der Regierung, in der jetzt die Freunde Danton’s saßen, eine neue Verwendung. Minister Deforgues ernannte ihn zum Vorstand einer Abtheilung im auswärtigen Ministerium. Während der Abwesenheit Reinhard’s hatte sich in Paris der Umschwung vollzogen, der die Gironde vernichtete. Infolge des 31. Mai waren seine Freunde geächtet, im Gefängniß oder todt. Seiner Entfernung hatte er es zu danken, daß er nicht in den Sturz der Freunde verwickelt wurde. Auch jetzt ging er mit seiner Rückkehr offenbarer Gefahr entgegen. Dennoch schwankte er keinen Augenblick; vielmehr war er entschlossen, seinem Adoptivvaterland bis zum letzten Hauche sich zu weihen. Uebrigens war man im auswärtigen Ministerium damals sicherer als anderswo, weil es von den Parteikämpfen weniger berührt wurde. Zu thun gab es wenig, denn die Beziehungen zu allen größeren Mächten waren abgebrochen. Die Ministerien waren zu willenlosen Werkzeugen des Wohlfahrtsausschusses herabgesunken. Doch zeichnete sich das auswärtige Ministerium noch immer durch die Ehrenhaftigkeit und Bildung seiner Beamten aus. Miot, der damals Generalsecretär im Ministerium war, schätzte sich glücklich einer Verwaltung anzugehören, „wo aufgeklärte, ehrenwerthe Männer wie Otto, Colchen, Reinhard an der Spitze der [49] Hauptabtheilungen standen und meine Collegen waren.“ R. war Vorstand der dritten Division, welche die Correspondenz mit Schweden, Dänemark, Rußland und Polen umfaßte. Kurze Zeit nach seinem Eintritt, am 4. December, wurde die Gewalt des Wohlfahrtsausschusses neu geregelt: sämmtliche Behörden wurden unter die unmittelbare Aufsicht des Ausschusses gestellt, ein strenges Ueberwachungs- und Schreckenssystem eingeführt. Ein vertrautes, verschwiegenes Gespräch war bloß mit den deutschen Landsleuten möglich, mit dem Grafen Schlabrendorf, Oelsner, Georg Kerner. Zumal Kerner schloß sich eng an den schwäbischen Landsmann an, so verschieden das ernste gemessene Wesen Reinhard’s von dem raschen unbändigen Temperament des um 9 Jahre jüngeren Kerner war. Der Sturz Danton’s am 1. April hatte zur Folge, daß eine ganz unfähige und pöbelhafte Creatur Robespierre’s als Commissar über das auswärtige Amt gesetzt wurde. Am 1. Juni wurde ein amtlicher Späherdienst für alle Ministerien eingerichtet. Niemand war sicher davor, als Verdächtiger angeklagt zu werden. Auch R. entging nur mit Noth den Gefahren, die ihn als Fremden und als Freund der Girondisten bedrohten. Zuletzt wurde er wirklich noch durch seinen Chef als verdächtig angegeben und zugleich mit den Collegen Miot, Otto, Colchen verhaftet. Zum Glück war es an demselben Tage, an dem Robespierre’s Schreckenszeit nach viermonatlicher Dauer ein Ende nahm, 9. Thermidor (27. Juni), so daß die Haft nur kurze Zeit dauerte. Die Geretteten konnten jetzt in den allgemeinen Jubel über den Sturz des Ungeheuers einstimmen. Robespierre war für R. der Ariman, der böse Dämon der Republik. Jetzt nach dessen Sturz war sein Glaube an die Menschheit aufs neue befestigt. Uebrigens hat die Schreckenszeit in Reinhard’s Geist einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen und von Robespierre hat er auch später nie ohne Aufregung sprechen können. Unter dem neuen Wohlfahrtsausschuß blieb R. Abtheilungsvorstand, sein Arbeitsgebiet umfaßte Preußen, Polen, Rußland, die Pforte. Mit der Wiederherstellung der Ordnung im Innern war die Zeit gekommen, da neben dem Krieg auch die Diplomatie ihr Recht verlangte. Mit mehreren Staaten wurden Unterhandlungen angeknüpft und R. hatte speciell den Auftrag, den Frieden mit Preußen vorzubereiten. Der diplomatische Dienst im Ausland sollte wieder wie vor 1789 reorganisirt werden. Am 5. April 1795 wurde der Friede mit Preußen unterzeichnet, dem am 17. Mai der Vertrag über die norddeutsche Neutralitätslinie folgte. Zum Gesandten bei den drei Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck wurde am 29. Juni R. ernannt. Georg Kerner begleitete ihn als sein Privatsecretär.

Die Hauptaufgabe des Gesandten war, die neutrale Stellung des deutschen Nordens befestigen zu helfen. Das Interesse der fränkischen Republik traf hier mit dem der Hansestädte zusammen, denen daran lag, auch zu Kriegszeiten, auch während der Reichskriege, die Beziehungen zu allen handeltreibenden Staaten zu erhalten. Beim bevorstehenden Reichsfrieden hofften die Städte völkerrechtliche Vereinbarungen zu erlangen, durch welche ihre Neutralität oder doch die ihres Handels in künftigen Reichskriegen sicher gestellt würde. Zu diesem Zwecke waren Verhandlungen mit Frankreich angeknüpft, die aber keinen rechten Fortgang genommen hatten. Nun konnte ihnen die Ankunft eines Gesandten der Republik nur förderlich sein, der die Ueberzeugung mitbrachte, daß die Hansestädte seit Jahrhunderten die Ideen der bürgerlichen Freiheit gegen die Barbarei des Feudalismus vertheidigt hätten und daß die Republik die natürliche Beschützerin aller freien Staaten sei. Im September traf R. in Hamburg ein und trat in Verkehr mit den Behörden, ohne sein Beglaubigungsschreiben zu überreichen. Letzteres unterließ er aus Rücksicht auf die Stellung Hamburgs im Reiche, [50] das mit der Republik noch im Kriege befindlich war. Am 26. December erhielt er jedoch ein neues Beglaubigungsschreiben mit der Weisung, es dem hamburger Senat zu überreichen und die Stadt zu verlassen, wenn es nicht angenommen würde. Der Senat suchte in dieser Bedrängniß Zeit zu gewinnen, womit auch R. einverstanden war, der den Schritt seiner Regierung nicht billigte und (jedoch ohne Erfolg) Vorstellung dagegen erhob. Erst am 21. Januar 1796 übersandte er sein Beglaubigungsschreiben. Der Senat beschloß am 25. Januar die Anerkennung zu verweigern und richtete eine Denkschrift an das Directorium, worin unter Betheuerung seine Sympathien für die Persönlichkeit Reinhard’s dieser Beschluß mit den Reichspflichten begründet war. Die Folge war, daß R. am 27. Februar die Weisung erhielt die Stadt zu verlassen. Er ging mit Zurücklassung seines Gesandtschaftssecretärs Lemaistre nach Bremen, wo er am 30. März eintraf. Während dem hatte sich ein Streit wegen der Demarcationslinie entsponnen, der auf die Frage der Anerkennung des Gesandten von Einfluß war. Von französischer Seite weigerte man sich, die Neutralität Hannovers anzuerkennen: hier allein schien England auf dem Festland verwundbar, hier hoffte man ein Pfand für die verlorenen westindischen Inseln zu erlangen. R., mit der Ueberwachung Hannovers speciell betraut, reichte anfangs Februar auf Verlangen des Directoriums eine ausführliche Denkschrift über die politischen, militärischen und wirthschaftlichen Verhältnisse Hannovers ein, und in einer Depesche vom 4. März wies er selbst auf die Räthlichkeit einer Besetzung Hannovers hin, weil man damit die Engländer von der Verbindung mit Weser und Elbe absperre. Preußen aber weigerte sich für die Anerkennung Reinhard’s in Hamburg thätig zu sein, so lange über die Demarcationslinie kein Einvernehmen erzielt sei. Für R. war dieser Gang der Sache um so unerwünschter, als er bald nach seiner Ankunft in lebhaften Verkehr mit der Hamburger Gesellschaft getreten und insbesondere in jenem vielgenannten Reimarus-Sieveking’schen Kreise heimisch geworden war, wo ein freier Geist wie in religiösen so auch in politischen Dingen gepflegt wurde, wenn auch die anfängliche Begeisterung für die Revolution längst durch die seitherigen Ereignisse gedämpft worden war. In den Briefen der Frau Doctorin Sophie Reimarus, der Gattin des Arztes und Schriftstellers A. H. Reimarus, ist Reinhard’s seit Anfang October 1795 erwähnt; häufig und mit zunehmender Geneigtheit. „Sehr vernünftig, kalt und ruhig, völlig seinem Amte gewachsen“, nennt sie ihn in einem Brief an Knigge vom 13. October. Am 4. December: „Der Herr Minister R. scheint ein braver Mann zu sein, etwas kalt und rückhaltend, aber gewiß vom besten Wollen.“ Am 13. Februar berichtet sie demselben, daß R. Kant’s Schrift vom ewigen Frieden ins Französische übersetzt und an Sieyès geschickt habe. „Daß R. hier erst recht festsäße, nicht mehr vom heil. römischen Reich chikanirt würde, wünschen wir herzlich. Er ist ein sehr wackerer Mann und paßt sich als Deutscher zu uns.“ R. selbst hatte schon am 22. November an den hanseatischen Vertreter in Paris, Dr. Schlüter geschrieben: „als Gesandter in Hamburg bin ich an diese Stadt so anhänglich, als ein Gesandter der Republik es sein kann und darf. Als Privatmann habe ich noch mehr Gründe diese Stadt zu lieben, die so viele durch ihren Patriotismus, ihre Einsicht und ihre Tugenden achtungswerthe Menschen einschließt. Sie denken leicht, daß ich vornehmlich von dem reizenden Kreise der Familie Sieveking rede.“ G. H. Sieveking’s Landhaus in Neumühlen unterhalb Altona war ein berühmter Mittelpunkt geistiger Interessen und vielseitiger Geselligkeit. Außer den nächststehenden Freunden, wie Büsch, Poel, Voght, lernte R. hier Klopstock und Fr. Jacobi kennen. Sieveking’s Gattin war die ältere Tochter von Reimarus, die jüngere aber, Christine, gewann in Kurzem das Herz Reinhard’s. Ein Jahr [51] zuvor hatte sich zwischen J. E. Bollmann, dem Befreier Narbonne’s, und Christine, „zuverlässig eines der gebildetsten Mädchen Deutschlands“, ein zärtliches Verhältniß angesponnen, das aber die Billigung der Eltern Reimarus nicht gewann. Christine wußte sich zu bezwingen, auch als Bollmann im October 1796 nach seinem Olmützer Abenteuer noch einmal in Hamburg erschien. Dann war er nach der neuen Welt abgereist, wo er am 1. Januar eintraf. Bald darauf erhielt er von Christine die Nachricht, daß sie, dem Willen der Eltern gemäß, sich mit R. verlobt habe. Daß die Frau Doctorin unter diesen Umständen R. „sehr ungern nach Bremen reisen sah und auf die hochweisen Herren des Senats übel zu sprechen war“, begreift sich. In Hamburg verursachte die Anerkennungsfrage große Aufregung. Senat und Bürgerschaft waren getheilter Meinung. Flugschriften erschienen hin und wieder. Da beschlossen im März die Vertreter der Kaufmannschaft, G. H. Sieveking nach Paris zu schicken, um die Verhandlungen zur Abwendung des Anerkennungsverlangens persönlich zu führen. Währenddem lebte R. in Bremen als Privatmann, ohne seine Anerkennung zu betreiben, im Verkehr mit einem Kreise hochgebildeter und freisinniger Männer. Im Mai kam er nach Altona zu einer Unterredung mit Hardenberg über die Pläne, die damals Hannover zum Gegenstand hatten. Frankreich beabsichtigte nämlich, Hannover an Preußen zu geben oder mit diesem zu theilen. Hardenberg erklärte aber, daß Preußen zu diesem Plane niemals seine Zustimmung gebe. Dagegen strebte Preußen eine engere Verbindung der norddeutschen Staaten zum Schutz der Neutralität an. Als am 4. Juli in Hildesheim die Vertreter der norddeutschen Reichsstände zusammentraten, welche sich an der Unterhaltung einer Neutralitätsarmee betheiligten, schickte R., der Ende Juni nach Bremen zurückgekehrt war, seinen Secretär Kerner nach Hildesheim, um Kunde von den dortigen Vereinbarungen einzuziehen, die das Mißtrauen Frankreichs erregten. Indessen war es Sieveking in Paris nach Ueberwindung großer Schwierigkeiten im Juni endlich gelungen, ein Abkommen abzuschließen, demzufolge die Anerkennung des Gesandten bis zum allgemeinen Frieden verschoben werden sollte. Die guten Beziehungen zwischen Hamburg und Frankreich waren wiederhergestellt, im August erfolgte auch die Verständigung zwischen Frankreich und Preußen wegen der Demarcationslinie und R. nahm im September seinen Sitz in Altona, von wo er mit dem Senat eine nichtamtliche Correspondenz unterhalten sollte. Am 12. October fand die Vermählung Reinhard’s mit Christine Reimarus in Neumühlen statt. Der Dichter schrieb zu diesem Tag eine schöne Elegie, worin er einen bewegten Rückblick auf seine Schicksale wirft, Hoffnungen an die Erinnerungen knüpft und sich glücklich preist, ein dreifaches Vaterland gewonnen zu haben: die Heimath, das Adoptionsvaterland und die Familie seiner Frau. Nach dem Präliminarfrieden von Leoben, April 1797 wurde R. auch amtlich als bevollmächtigter Minister der Republik von allen drei Städten anerkannt und siedelte jetzt nach Hamburg über. Anfangs Juli machte R. mit seiner Frau einen Besuch zu Ploen, wo der Oheim Christinens, August Hennings, der Herausgeber des Genius der Zeit, als dänischer Amtmann lebte. Von da an entspann sich ein lebhafter Briefwechsel zwischen R. und Hennings, der sich um die französische Revolution drehte, um ihre Ideen und ihre Wirklichkeit. R. verficht darin die Ueberzeugung, daß die Sache der Grundsätze und die Sache der Regierung, der er diente, eins und unzertrennlich sei; er vertheidigt sogar den Staatsstreich des 18. Fructidor und bedauert zwar die Mordscenen, meint aber, daß um der Menschheit willen zur Aufrechthaltung der Republik jedes Mittel erlaubt sein müsse. Ueber die Zukunft der Hansestädte wurden damals verschiedene Pläne erwogen; R. war bemüht, ihre Unabhängigkeit und Handelsneutralität zu erhalten, beklagte aber die Lauheit und Entschlußlosigkeit, die er [52] bei den Städten fand. Auf seine Anregung vereinigten sie sich zu einer Denkschrift, welche die Wünsche für die Sicherung ihrer Neutralität in künftigen Reichskriegen zusammenfaßten, Wünsche, die dann im Reichsdeputations-Hauptschluß vom Jahre 1803 den Städten wirklich zugestanden wurden, was freilich kein Schutz gegen die späteren Vergewaltigungen war. – Einer seiner Hamburger Freunde, Piter Poel, rühmte an dem Diplomaten R. den „Tiefblick und die seltene Combinationsgabe, sowie die eines geistvollen schriftlichen Vortrags“. In Paris war man aber der Ansicht, daß die Unparteilichkeit eines Gesandten fraglich sei, der am Orte seiner Beglaubigung durch Heirath mit den ersten Familien in Beziehung getreten war. Im December 1797 wurde er zum Gesandten bei dem Großherzog von Toscana ernannt. An Christinens Geburtstag, 22. Februar 1798, wurde zu Neumühlen das Abschiedsfest gefeiert, wozu R. wieder eine Elegie dichtete. Am 25. Februar erfolgte die Abreise, zunächst nach Paris, wo R. die Weisungen für seine neue Stellung in Empfang nahm. Er sah damals nicht nur Talleyrand, der das auswärtige Ministerium bekleidete, Sieyès, Barras, Reubel, sondern auch Bonaparte und war, wie Christine nach Hause schrieb, „ganz von der Allgewalt seines Genius durchdrungen“. Am 18. April brachen die Reisenden von Paris auf, in ihrer Begleitung Kerner, der Reinhard’s Privatsecretär blieb. Die Reise ging über Rastatt, wo damals der Friedenscongreß tagte, durch Schwaben, wo in Maulbronn und Balingen die Elternhäuser Kerner’s und Reinhard’s besucht wurden, nach Tirol, Verona, Mailand, und am 25. Mai trafen sie in Florenz ein. Toscana, bereits von drei Republiken umgeben, war ängstlich bemüht, seine Neutralität zu wahren, was nicht verhinderte, daß seine Regierung mit beständigen Beschwerden des Directoriums heimgesucht wurde, die besonders den Aufenthalt der Ausgewanderten, sowie des Papstes Pius VI. auf toscanischem Gebiet zum Gegenstand hatten. Reinhard’s humanes und rücksichtsvolles Betragen gegen Regierung und Hof fand auch die Anerkennung der Gegner. Später hat Mallet du Pan, der Gegner der Revolution, seine Mäßigung und Unbestechlichkeit gerühmt und geradezu gesagt, daß er das Großherzogthum vor der Plünderung bewahrt habe, welche das übrige Italien erlitt. Dagegen war das politische Schicksal des Großherzogthums nicht aufzuhalten. Während noch die Verhandlungen in Rastatt dauerten, begann Neapel, im Einverständniß mit England und Oesterreich, ungeduldig das Vorspiel des zweiten Coalitionskrieges, der auch den Großherzog, des Kaisers Bruder, ins Verderben reißen sollte. Als im März 1799 auch der Bruch zwischen Frankreich und Oesterreich erfolgte, begannen die Franzosen den Krieg mit der Invasion Toscana’s. Am 25. März rückte General Gaultier in Florenz ein, der Großherzog reiste am 27. nach Wien ab, und R. übernahm im Auftrag des Directoriums die Civilverwaltung des Landes. Der Vertreibung des Großherzogs folgte die des Papstes auf dem Fuße. Drei Monate dauerte das Regiment Reinhard’s, das, mit guten Vorsätzen begonnen, mit einem vollständigen Mißerfolg endete. Er berief ehrenwerthe Männer von liberalem Ruf in die Regierung, die „manches Gute thun, manches Schlimme verhindern konnten“. Mit dem übrigen Italien verglichen, waren die Zustände in Toscana verhältnißmäßig erträglich; weder die Neuerungen waren so einschneidend noch die Lasten so drückend als anderswo. Der vom Directorium beschlossene Raub der Kunstwerke, bei welchem R. mitzuwirken hatte, blieb wenigstens auf den Palast Pitti, das Privateigenthum des Großherzogs beschränkt, aus der Laurenziana wurde eine einzige Handschrift entführt, der älteste Codex des Vergilius. Inzwischen hing das Schicksal Toscana’s gänzlich von dem großen Kriege ab, und dieser hatte gleich eine den Verbündeten günstige Wendung genommen. Das war bald in der Stimmung der Toscaner zu spüren. [53] Schon zu Anfang Mai brach in Arezzo, Cortona, im oberen Tiber- und Arnothale ein von den Priestern geschürter Aufstand aus, worauf R. und Gaultier zu strengen Maßregeln griffen, mit strengeren drohten. Aber der Aufstand war nicht mehr zu bewältigen, und nach der Entscheidungsschlacht an der Trebbia, 17. bis 19. Juni, gab R. das Spiel verloren. Am 3. Juli verkündigte er den Abzug der Franzosen und anderen Tages flüchtete er mit den Seinigen nach Livorno. Von diesem Ausgang war er aufs schmerzlichste erregt. Er klagte den Undank des Volkes an, das die Freiheit verschmäht habe, und tief bekümmerte ihn das Schicksal, das dem unglücklichen Lande jetzt von der siegreichen Reaction drohte. In dieser Stimmung schiffte sich R. mit den andern Flüchtigen am 10. Juli in Livorno ein. „Sein Gemüth“, schrieb Kerner in sein Tagebuch, „ist tief ergriffen und seine ruhige Miene kann die Bewegung seines Herzens nicht verbergen.“ Viele Jahre später that R. an Goethe das Geständniß: „Mein Culminationspunct freier selbstgewählter Thätigkeit war Toscana. Die Ereignisse von 1799 und vor allem die Ursachen dieser Ereignisse lähmten meinen Muth, meine Freudigkeit war dahin.“ Auf der traurigen Ueberfahrt erkrankte das in Florenz geborene Söhnlein Reinhard’s, starb und mußte den Wellen übergeben werden. Am 28. Juli erfolgte die Landung in Toulon, wo die Reisenden längere Zeit Quarantäne halten mußten.

Am 4. Juli, demselben Tage, an dem R. Florenz verließ, war er vom Directorium zum Gesandten in der Schweiz ernannt worden. Jedoch in Toulon traf er bereits einen neuen Beschluß des Directoriums vom 20. Juli vor, der ihn zum Minister des Auswärtigen, an Talleyrand’s Stelle, ernannte. Seine Ernennung erklärt sich aus der kritischen Lage, in der sich das Staatswesen vor dem 18. Brumaire befand. An die Dauer der Verfassung des Jahres III glaubte Niemand. Talleyrand, von den Jacobinern angefeindet, nahm seine Entlassung, um abzuwarten, bis aus dem Zerfall der Republik eine neue Macht erstanden wäre. Man brauchte einen Zwischenmann, der ohne ausgeprägte Physiognomie, ohne persönlichen Ehrgeiz, den Parteien und den Intriguen fremd, aber in den Geschäften erfahren und ein tüchtiger gewissenhafter Verwalter war. R. selbst hat seine Ernennung nicht anders angesehen. Von dieser Periode zumeist gilt es, wenn er an Goethe schrieb: „Später ward mein Schicksal das Spiel mir fremder, aber von mir wohl geahndeter, zum Theil auch durschschauter Combinationen.“ Erst am 5. September ist er in Paris angekommen und am 8. hat er Besitz von seinem Portefeuille ergriffen, das er nach dem 18. Brumaire wieder verlor. Thatsächlich hat er es also nur 21/2 Monate bekleidet. Noch während er in Toulon sich befand, hatten die Jacobiner gegen seine Ernennung Lärm gemacht, und jetzt wurden die Angriffe auf den Deutschen, den würdigen Nachfolger Talleyrand’s, den Freund der Engländer, auch auf die Tribüne gebracht. Das Directorium nahm sich aber kräftig seines Schützlings an. Dieser begann damit, daß er eine gründliche Säuberung in seinem Departement vornahm und dem ganzen Dienst eine Organisation gab, die sich als praktisch erwies und später von Talleyrand im wesentlichen beibehalten wurde. Das nächste Geschäft, das zu erledigen war, betraf das Schicksal des Heeres in Egypten. Als die Gerüchte über dessen Lage immer besorgnißerregender geworden waren, hatte Talleyrand am 3. September dem Directorium einen Bericht vorgelegt, der die Eröffnung von Verhandlungen in Constantinopel vorschlug, um mittelst einer Art Capitulation den Abzug Bonaparte’s aus Egypten zu ermöglichen. Der Gesandte des befreundeten Spanien, Bouligny, sollte diese Unterhandlung mit der Pforte führen. R. übernahm diesen Plan und legte am 10. September den Entwurf einer Convention vor, der vom Directorium gebilligt wurde. Nur machte sich unter den Directoren ein Widerstreben gegen die spanische Vermittelung [54] geltend, und die Folge war, daß am Schlusse der Depesche, die R. am 18. September an Bonaparte sandte, um ihm die eingeleitete Unterhandlung anzuzeigen, dem General gleichzeitig volle Selbständigkeit des Handels vorbehalten wurde. Am 5. October trafen Nachrichten aus Egypten ein, welche die Niederlage der Türken bei Abukir meldeten und die Besorgnisse über die Lage Bonaparte’s verscheuchten. Das Directorium beeilte sich deshalb, die vorgeschlagene Capitulation ganz zurückzunehmen und die Vermittelung Spaniens überhaupt zu beseitigen. Durch Schreiben Reinhard’s vom 10. October wurde vielmehr Bonaparte eine unbegrenzte Vollmacht übertragen. Kaum war diese Depesche abgefertigt, so traf die Nachricht ein, daß Bonaparte in Frejus, am 9. October, gelandet sei, zur großen Bestürzung des Directoriums, das den General nicht vor dem Frühjahre erwartete. Bonaparte hatte inzwischen selbst einleitende Schritte zu einem Abkommen mit der Pforte getroffen. Dieses sollte jetzt zu Ende geführt werden. Ein Bericht, von R. am 3. November vorgelegt, schlug die Ernennung eines Gesandten nach Kairo vor, der dort über die Räumung Egyptens verhandeln sollte. Die Directoren holten aber zuvor die Meinung Bonaparte’s ein, der vielmehr die Absendung von Verstärkung nach Egypten empfahl, und in diesem Sinne schrieb dann R. am 6. November an den General Kleber. – Von den auswärtigen Verhandlungen während Reinhard’s kurzem Ministerium ist die wichtigste der Schriftwechsel mit Preußen wegen der Räumung Hollands und Herausgabe der von den Franzosen besetzten preußischen Besitzungen jenseits des Rheines. Preußen hatte eine kriegerische Demonstration gemacht, doch ohne ihr Nachdruck zu geben. Man zog von beiden Seiten die Verhandlungen hinaus, um den Ausgang des Kriegs in Holland abzuwarten, wo die Engländer und Russen den Feldzug gegen den General Brune eröffnet hatten. Der Krieg nahm einen ungünstigen Verlauf für die Verbündeten und sie mußten sich Ende October zur Räumung Hollands entschließen. Die Folge war, daß man sich zu Berlin wieder auf die Linie der strengsten Neutralität zurückzog, ohne etwas erreicht zu haben. In den Berichten des preußischen Gesandten Sandoz-Rollin ist angedeutet, daß R. den preußischen Wünschen geneigt, gegen Sieyès aber ohnmächtig war.

An den Vorbereitungen zum Staatsstreich hatte R. keinen Theil. Ganz ohne Kenntniß war er schwerlich. „Der 18. Brumaire machte mir keine Illusion; ich kannte die Menschen und den Mann.“ Das auswärtige Ministerium war Talleyrand zugesagt als Lohn für seinen Antheil an der Verschwörung. Einige Tage behielt R. noch das Portefeuille, er verfaßte noch das Rundschreiben, das den Vertretern der Republik die vollzogene Revolution ankündigte. Am 21. November nahmen die Consuln die Entlassung Reinhard’s an, der froh war, „die unseligste Epoche seines Lebens“ beendet zu sehen. Unter Worten der Anerkennung wurde seine Ernennung zum Gesandten bei der helvetischen Republik erneuert.

Kurze Zeit nachdem R. das Ministerium übernommen, Ende September, hatte Massena die Herrschaft der französischen Waffen in der Schweiz wieder hergestellt. Der helvetischen Republik gab dies für den Augenblick einen neuen Halt. Dafür verdoppelten sich bald die Beschwerden über das unerträgliche Aussaugungssystem der französischen Armee. Vom Directorium aufgefordert, erstattete R., noch als Minister, einen vertraulichen Bericht, der die Unerträglichkeit der Bedrückungen zugestand, das Directorium jedoch nicht vermochte Abhülfe zu leisten. Vielmehr erließ dasselbe am 20. October ein Decret an das helvetische Directorium, worin dessen Vorstellungen in gebieterischem Tone zurückgewiesen wurden. An dem französischen Gesandten Perrochel besaß die Schweiz einen unermüdlichen Anwalt; er wurde auf einen neuen Bericht Reinhard’s [55] wegen seiner lästigen Erinnerungen durch Beschluß vom 29. October zurückgerufen. Der Staatsstreich Bonaparte’s belebte auch in der Schweiz die Hoffnungen auf eine durchgreifende Veränderung, die Parteien erhoben sich gegen das Directorium und stürzten es durch den Staatsstreich vom 7. Januar 1800. Ein Vollziehungsrath sollte bis zur neuen Verfassung die Regierung führen; anstatt des aufgezwungenen Schutz- und Trutzbündnisses verlangte man allgemein die Wiederherstellung der Neutralität. Reinhard’s Ernennung zum Gesandten (er hat sein Amt am 6. März angetreten) wurde in der Schweiz mit großen Hoffnungen begrüßt, man vertraute auf seinen gerechten Sinn und ehrenhaften Charakter. Lavater, der Freund von 1783, empfahl ihm aufs dringendste sein gequältes Vaterland. Einzelne Beschwerden hat er auch wohl abgestellt, Beispiele erzählt Zschokke, und in einem Briefe vom 9. Mai dankt ihm Lavater „für alles Gute, was Sie unsrem armen zerrütteten Vaterlande thun wollten, thun wollen und wirklich thun; für alle Lastenerleichterung, für jedes Streben, jeden Versuch, was Böses wegzulenken.“ Das System selbst abzustellen, lag nicht in seiner Macht. Die Weisungen, die er empfangen hatte und die auf einer von Talleyrand zu Anfang des Jahres dem Ersten Consul vorgelegten Denkschrift beruhten, waren zwar in wohlwollenden Ausdrücken für die Schweiz abgefaßt; aber es sollte vorläufig nichts Entscheidendes geschehen; sowohl die Neutralitätsfrage als die neue Verfassung sollten bis zum allgemeinen Frieden verschoben werden. Inzwischen beschäftigten sich die Räthe und die öffentliche Meinung mit aussichtslosen Verfassungsplänen, was zu erbitterten Kämpfen zwischen Centralisten und Föderalisten führte. R. suchte den Vollziehungsausschuß gegen die Räthe zu stützen, zwischen den Parteien zu vermitteln, die Anhänger des Alten für die neue Ordnung zu gewinnen. Der Zug Bonaparte’s über die Alpen im Jahre 1800 bewirkte einen Waffenstillstand unter den Parteien: der Erste Consul verlangte gebieterisch Ruhe bis zum Ende des Feldzugs. Um den Schwankungen dauernd ein Ende zu machen, rieth R. eine Aenderung der vollziehenden und gesetzgebenden Gewalt an, wie sie in der Revolution vom 7. August ausgeführt wurde. Doch schon am 31. October berichtet er, daß auch die bescheidensten Erwartungen, die er von der Veränderung gehegt, nicht in Erfüllung gegangen seien. Er empfahl ein directes Eingreifen Frankreichs, das die Revolution gemacht habe und auch allein beendigen könne. Mit dem Anfang des J. 1801 wurden die Verfassungspläne aufs neue aufgenommen. Schon jetzt wurde von Frankreich das Einlenken in die föderalistische Bahn begünstigt. Am 30. April legte Bonaparte den schweizerischen Abgesandten den sog. Entwurf von Malmaison vor, für den auch R. wirken sollte. Die Stellung des Gesandten wurde aber immer unerquicklicher, immer wieder hatte er im Namen seiner Regierung wegen des Unterhalts der französischen Truppen drückende Forderungen zu stellen, und auch die Art seiner Einmischung in die Verfassungsangelegenheit wurde unangenehm empfunden, man warf ihm besonders Hinneigung zu der Aristokratie vor. Schon im Februar hatte ihm der Erste Consul durch Talleyrand seinen Tadel wegen allzu directer Einmischung ertheilen lassen; am 15. August, mitten in den Vorbereitungen für die Einführung der neuen Verfassung erhielt er seine Abberufung. Kerner, der R. auch in die Schweiz gefolgt war, rühmt diesem ein ausdauerndes und uneigennütziges Bemühen nach, die Geister zu versöhnen und eine allgemeine Einigung herbeizuführen, was ihm aber nur Haß zugezogen habe. Uebrigens trennte sich Kerner jetzt von dem Freunde; er verließ, in seinen Freiheitshoffnungen betrogen, den diplomatischen Dienst und die Sache Frankreichs. R. vermochte sich nicht loszureißen, er fuhr fort, seine Dienste dem französischen Staate zu widmen, unter jeder Regierung, auch unter Bonaparte, dessen Persönlichkeit und Gewaltherrschaft ihm im innersten widerstrebten.

[56] Im April 1802 wurde er zum Gesandten bei dem niedersächsischen Kreise ernannt. In Hamburg, wo er am 6. Juni eintraf, fand er diesmal nicht die günstige Stellung, wie bei seinem früheren Aufenthalt. Er war nicht mehr der Vertreter einer befreundeten Macht; selbst in der Familie fand er sich nicht mehr zurecht. Hamburg war auf die Fortdauer der Handelsverbindung mit England angewiesen und Frankreich verfolgte immer sichtbarer die Politik, den englischen Handel in den Elbe- und Wesermündungen zu bekämpfen. Die Uebergriffe in das Neutralitätsgebiet mehrten sich. Französische Truppen besetzten im J. 1803 das Kurfürstenthum Hannover und das hamburgische Amt Ritzebüttel mit Cuxhafen, das R. selbst schon im J. 1797 einen unter englischer Herrschaft stehenden Platz genannt hatte. Der Stadt Hamburg wurde ein Zwangsanleihe auferlegt. R. hatte die unerfreuliche Aufgabe, die französischen Gewaltthätigkeiten zu beschönigen, gelegentlich bei denselben mitzuwirken; nur ausnahmsweise konnte er einen ermäßigenden Einfluß ausüben. Doch fand der preußische Gesandte in Hamburg, Schultz, daß „deutsch-schwäbische Ehrlichkeit dem Charakter dieses französischen Ministers noch immer zu Grunde liege“. Unter den Freunden, die R. in dieser Zeit gewann, war Charles de Villers, „Janus bifrons“, der deutsch gewordene Franzose, wie R. ein französisch gewordener Deutscher war. R. hatte nicht nur geschäftlichen Verkehr mit Villers, der damals in Lübeck lebte, er konnte dem Freund auch rückhaltlos sein Herz über die gemeinsam empfundene schwere Zeit eröffnen. In der näheren Umgebung Reinhard’s fiel jetzt seine zeitweise trübe Laune, seine schweigsame Verstörtheit auf. Wie von bösen Geistern geplagt, so schildern ihn Briefe aus dieser Zeit. Im October 1804 ließ Bonaparte, jetzt Kaiser Napoleon, ergrimmt über die Umtriebe der britischen Diplomatie, in Hamburg einen völkerrechtswidrigen Gewaltstreich ausführen. Auf seinen persönlichen Befehl wurde der englische Geschäftsträger Rumbold in seinem Landhause überfallen, weggeführt und seiner Papiere beraubt. R. war von dem Anschlag in Kenntniß gesetzt und hatte Einwendungen erhoben, bis er sie gegenüber dem bestimmten Befehl Napoleon’s als nutzlos erkannte; seine Mitwirkung lehnte er ab und in einem Schreiben an Talleyrand vom 22. October deutete er seine Mißbilligung des Streichs auf eine Weise an, die ihm die Ungnade des Kaisers zuzog. Er wurde abberufen und am 22. März 1805 durch Napoleon’s Privatsecretär, den berüchtigten Bourienne ersetzt, blieb aber noch bis zum Juni in Hamburg. R. dachte nun daran, ganz von den öffentlichen Geschäften sich zurückzuziehen und wollte sich in den deutschen zu Frankreich gehörigen Provinzen ankaufen. Er ging mit seiner Familie nach Köln, wo ihm der mit dem Reimarus’schen Haus befreundete Sulpiz Boisserée zu diesem Zwecke behülflich war. Mit Friedrich Schlegel zusammen besuchten sie verschiedene Güter am Rhein. Der Zweck wurde damals noch nicht erreicht; „indessen“, schreibt Boisserée, „war damit der Grund zu einem Verhältniß mit dem würdigen Mann gelegt, welches sich nach und nach zu einem wahrhaft freundschaftlichen für das ganze Leben entwickelte. Es war eine merkwürdige und wohlthuende Erscheinung, daß der Mann, der durch besondere Schicksale und Verdienste in den höheren französischen Staatsdienst gekommen war, nicht nur eine edle, humane Gesinnung sich bewahrt, sondern auch die lebhafteste Theilnahme für deutsche Litteratur und Bildung, ja seine eigenthümliche schwäbische Gemüthlichkeit erhalten hatte“.

Im März 1806 ging R. nach Paris. Dort gab ihm Napoleon während des Krieges gegen Preußen und Rußland eine neue Verwendung, die er nicht ablehnen zu dürfen glaubte. Er wurde im Juli zum Residenten in den türkischen Donauprovinzen und Generalconsul in der Moldau mit dem Sitz in Jassy ernannt. Es war eine Art Exil, in das er Ovid’s Tristia mitnahm. Gleichzeitig [57] war General Sebastiani nach Constantinopel geschickt worden, um den Sultan Selim auf die französische Seite zu ziehen: die russischen Streitkräfte sollten durch einen Türkenkrieg getheilt werden. R. hatte eben begonnen, sich in Jassy einzurichten, als in Folge der feindseligen Schritte gegen Rußland, zu denen sich Selim hatte bewegen lassen, russische Truppen in die Donaufürstenthümer eindrangen. Sie besetzten Jassy und schleppten R. mit Frau und zwei Kindern und seinen Beamten fort, nach Sibirien, wie sie sagten. In Krementschuk am Dniepr wurde Halt gemacht. Kaiser Alexander ordnete, sobald er benachrichtigt war, die Freilassung an und ließ R. und die Seinigen bis nach Brody geleiten. Das war im tiefsten Winter und die Beschwerden dieser Reisen hatten die Gesundheit Reinhard’s und noch mehr die seiner Frau stark angegriffen. Sie suchten Erholung in Karlsbad und hier traf R. mit Goethe zusammen. Bekannt ist Goethe’s Bericht über dieses Zusammentreffen, das zu einer dauernden Freundschaft führte. R. ließ sich in die Farbenlehre einweihen und versuchte sie ins Französische zu übersetzen; seine Genesung schrieb er mehr der neugewonnenen Freundschaft als dem Karlsbader Wasser zu. Ein mit Vertrauen sich öffnender Briefwechsel schloß sich an diese erste Begegnung an, und R. wurde Pathe von Goethe’s jüngerem Enkel Wolfgang. Von Karlsbad ging R. nach Dresden, wo er den Kaiser sah und mit Talleyrand seine künftigen Aussichten besprach, dann nach Weimar, wo er am Hofe und bei den Freunden Goethe’s die entgegenkommendste Aufnahme fand. Mehr als je fühlte er sich „als ein Mensch ohne Vaterland“. Dann ging es, Ende August, an den Rhein und im folgenden Monat nach Paris, wo R. außer seinen persönlichen Angelegenheiten eifrig für Goethe’s Farbenlehre wirkte. Dann wurde ein Besuch in Hamburg gemacht, wo damals Steffens im Sieveking’schen Hause sich aufhielt. In dessen Schilderung erscheint der R. dieser Tage als mürrisch und nichts weniger als angenehm. „Freilich mochte er von einem tiefen Grame niedergedrückt sein. Er haßte, wie ich später von ihm selbst erfuhr, Napoleon, dessen Gewalt er mit Unwillen wachsen sah, und der deutsche Mann hatte die Liebe zu seinem Vaterlande nicht aufgeben können“. Die Wintermonate 1807–8 brachte R. wieder in Köln zu, im Umgang mit Sulpiz Boisserée und Friedrich Schlegel. Der Gutskauf kam jetzt zu Stande. R. erwarb das Schloß Falkenlust bei Brühl zwischen Köln und Bonn und außerdem wurde mit Boisserée gemeinschaftlich der Apollinarisberg erworben, eine Besitzgemeinschaft, die erst im J. 1822 in gütlicher Weise gelöst wurde. Ende December wurde ihm die Stelle eines Generalconsuls in Mailand angetragen, die er aber ablehnte. Mit dem März 1808 zog er nach Falkenlust, wo er den größten Theil des Jahres zubrachte. Während dieses beglückenden Landaufenthaltes suchte er seine Lücken in der Kenntniß der neuesten deutschen Litteratur auszufüllen und konnte am 9. August an Goethe schreiben, daß er sich nun in jedem Sinne wieder germanisirt habe. In der Versenkung in Goethe’s Werke umgibt er sich mit einer Gegenwart, „worin der schwere Druck der Zeiten elastischer und leichter wird“.

Eine besondere Vertrauensstellung, die ihm Napoleon zugedacht hatte, riß ihn aus diesem Tusculum. Während des Fürstentages in Erfurt beschloß der Kaiser, ihn zum Ministre de famille bei seinem Bruder Jerome, König von Westfalen, zu ernennen. „Die Ernennung geschah durchaus aus eigenem Antrieb des Kaisers, und nach meiner individuellen Anschauung find’ ich hierin einen wirklich schönen und edlen Zug. Ich mußte dankbar sein, und ich bin es. Ich muß und ich werde folgen wohin er mich rief, und sollte ich dabei zu Grunde gehen.“ Steffens urtheilt über die Beweggründe seines Entschlusses wohl treffend: „Er war noch in seinen besten Jahren, gewohnt in die großen [58] Verhältnisse eines mächtigen Reiches bedeutend einzugreifen und konnte sich mit der Hoffnung schmeicheln, in einer höchst bedenklichen Zeit seinem Vaterlande nützlich zu sein. Dem armen Predigersohne mochte es schwer fallen zu vergessen, daß er einmal französischer Minister gewesen war.“ R. eilte nach Paris, um von dem Minister des Auswärtigen, Champagny, seine Weisungen in Empfang zu nehmen. Im December traf er auf seinem Posten ein, der ohne Frage der schwierigste und peinlichste war von allen die er bekleidete. Daß der deutschgesinnte Mann im Stande war, dem Unterdrücker Deutschlands gerade an dieser Stelle zu dienen, hat die schärfsten Urtheile über seinen Charakter herausgefordert, so besonders von Seite E. M. Arndt’s, der sich heftig darüber ausließ, daß man „diesen Renegaten einen Warner, Helfer und Beschützer der Deutschen, ja einen edlen Deutschen, einen deutschen Mäcenaten und Musageten“ nennen konnte. Gewiß ist, daß er ebenso die Zufriedenheit Napoleon’s sich erwarb als er in der Achtung seiner deutschgesinnten Freunde sich behauptete. Mit seiner persönlichen Geradheit glaubte er durch die Klippen seiner Kasseler Sendung hindurchsteuern zu können. Sein vertrauter Hausarzt Harnier rühmt nicht nur seine Freundschaft mit Gleichgesinnten, die Einheit und Festigkeit seines sittlich guten Willens, sondern auch sein beharrlich deutsch gebliebenes Gemüth. Er berichtet von dem Einschreiten Reinhard’s zu Gunsten verdächtiger und verfolgter Deutscher, von dem Haß der Höflinge und Glücksritter, die ihn in Paris als Haupt einer sogenannten deutschen Partei anklagten. Der Kaiser jedoch, die Zuverlässigkeit des Staatsmannes schätzend, hielt ihn aufrecht, so daß R. sich „keinen Augenblick in der großartigen Zuversicht seiner Handlungsweise irren ließ“. Auch das aber erzählt Harnier, daß Reinhard’s natürlicher Ernst nicht selten durch den Zwiespalt der Zeit sich zu düsterem Unmuth steigerte. Karl Sieveking, Reinhard’s Neffe, der ein Jahr lang sein Privatsecretär in Kassel war, sagt, „daß durch sein Leben sich der schwarze Faden eines Mißtrauens zieht, welches ihn wie Rousseau und alle, die sich über die Selbstgenügsamkeit ihrer sittlichen Kräfte täuschen, gespensterartig verfolgt“. R. hatte in Kassel den Vorrang vor allen anderen Gesandten. Der preußische Geschäftsträger Küster schrieb von ihm: „er scheint viel Bescheidenheit mit Kenntnissen und hervorragender Begabung zu vereinigen“. Vom 1. Januar 1809 begann R. seine Berichte nach Paris. Er hatte den Auftrag, über alle Theile der Verwaltung des Königreichs, über die Haltung des Königs und der Minister zu berichten, und dabei in die größten Einzelheiten zu gehen. Außer den an den Minister Champagny gerichteten Depeschen hatte er noch vertrauliche Bulletins für den Kaiser selbst zu schreiben, welche Nachrichten aus der Gesellschaft, Stadtgerüchte, Anekdoten enthalten sollten. Diese Berichte geben, fast von Tag zu Tag, ein wahrheitsgetreues Gemälde der Zustände im Königreich Westfalen. Durch das Vertrauen des Kaisers gedeckt, nahm R. eine Stellung über den Parteien, über der Regierung ein, er konnte in äußersten Fällen seine Autorität als Vertreter des Kaisers gegenüber dem König zur Geltung bringen. Er hat diese Stellung mit Freimuth und mit außerordentlichem Tacte behauptet, und zuletzt doch ohne Erfolg: man ersieht aus seinen Berichten, wie der Wille des Kaisers, der Charakter des Königs, die Zwangslage des Königreichs, das vom ersten Tage an unheilbarer Finanzzerrüttung litt, unübersteigliche Hindernisse schufen. R. traf in Kassel Johannes Müller, den er in Bern kennen gelernt hatte, als Unterrichtsminister: dieser wurde sein fast täglicher Umgang. Als Müller Kränkungen erlitt, denen er am 29. Mai erlag, trat R. persönlich gegenüber dem König, wie in seinen Berichten nach Paris, nachdrücklich für den Freund ein. Wie Müller, widmete auch R. den Universitäten des Königreichs besondere Sorgfalt. Von ihnen hoffte er einen moralischen Einfluß auf das übrige Deutschland. Er rieth, die Deutschen [59] zu gewinnen: „Sobald die Westfalen merken, daß man gewillt ist, sie als Deutsche zu achten, so werden Aller Herzen gewonnen sein.“ Im Juni begleitete R. mit dem übrigen diplomatischen Körper den König auf seinem Feldzug in Sachsen. Auf der Rückkehr von diesem kopflosen Unternehmen brachte er bei Goethe in Weimar zwei Tage zu. Im folgenden Jahre hat er die folgenreiche Verbindung Sulpiz Boisserée’s mit Goethe vermittelt. „Um die Zeit zu täuschen“, beschäftige er sich mit der neuesten deutschen Litteratur. Die Brüder Grimm lasen im Hause des französischen Gesandten das Nibelungenlied vor. Häufig war Villers, damals in Göttingen, sein Gast, und er nahm sich dieses Freundes gegen die Verfolgungen des Marschalls Davoust an. Im Spätjahr 1809 wurde R. von Napoleon mit einer vertraulichen Sendung nach den Hansestädten betraut. Es handelte sich um deren Anschluß an den Rheinbund. R. erhielt neben dem Gesandten Bourienne den Auftrag, weil der Kaiser keine Geldschmuzereien wollte. Die Verhandlungen, im October und November zu Hamburg geführt, blieben schließlich ohne Ergebniß. Damals haben sich R. und der dänische Gesandte J. G. Rist näher kennen gelernt. „Einen der seltensten Männer, von wahrem tiefem Gehalt, in allen wesentlichen Verhältnissen durchaus tadellos und gerecht, in politischen gewandt und umsichtig, ohne Verläugnung der Selbständigkeit, doch bei dem bitteren Widerspruch seiner Lage ohne inneres Glück und Harmonie“ – so schildert Rist seinen damaligen Collegen. Im Frühjahr 1810 hatte R. als kaiserlicher Commissar mit den Bevollmächtigten Jerome’s die Verhandlungen über den Anschluß Hannovers zu führen, ein Danaergeschenk für das Königreich Westfalen wegen der schweren finanziellen Verpflichtungen, die dem letzteren auferlegt wurden. In den letzten Jahren der westfälischen Herrschaft nehmen Reinhard’s Berichte einen immer entschiedeneren Ton an. Seit der Verabschiedung des Finanzministers Bülow, April 1811, sieht er die Dinge immer schlechter gehen, er schont weder den König noch seine Räthe, eindringlich beklagt er sich über die Uebergriffe der französischen Polizei, er ruft die Gnade des Kaisers an für das unglückliche Land, für den oft mit unverdienter Härte von seinem Bruder behandelten König, er schildert die allgemeine Unzufriedenheit und Niedergeschlagenheit, er klagt daß es in diesen fünf Jahren immer abwärts gegangen ist „in den Regierungsgrundsätzen, in Talenten und Kenntnissen und vor allem in der Moralität“. Nach dem Ausgang des russischen Feldzugs ließ sich auch das Schicksal des Königreichs Westfalen voraussehen. Im Juli 1813, während des Waffenstillstandes, wurde R. zum Kaiser nach Dresden berufen und hatte mit ihm eine Unterredung über die Lage des Königreichs. Noch vor der Leipziger Schlacht wurde Kassel von den Russen überrascht und König Jerome floh am 24. September nach Coblenz. R. blieb bis zuletzt an seiner Seite, „ich floh mit ihm, dem keine Thränen flossen“. Am 13. October aber kehrte der König in seine Hauptstadt, die sich schon befreit geglaubt hatte, zurück und der französische General Allix wollte an der städtischen Commission, die sich in der Zwischenzeit gebildet hatte, ein blutiges Exempel aufstellen, das nur durch Reinhard’s nachdrückliche Dazwischenkunft abgewandt wurde. Am 26. October floh der König zum zweiten Male, zunächst nach Köln, dann am 4. November nach Aachen. Dorthin brachte ihm R. am 8. November die letzten Befehle des Kaisers, und als Jerôme dessen Befehlen zum Trotz am 11. November nach Pont sur Seine abreiste, erklärte R. seine Mission für beendet.

R. wollte in Paris den weiteren Gang der Dinge abwarten. Am 26. November traf er daselbst ein. Was er erlebt hatte und was er jetzt in Frankreich vor sich gehen sah, erweckte ihm zum ersten Mal den Gedanken der Rückkehr ins Vaterland. Der hoffnungsvolle Aufschwung Gesammtdeutschlands ließ ihn nicht gleichgültig. Am 31. März sah er die Verbündeten in Paris einziehen. [60] Durch die vielen Besuche alter Bekannter aus Deutschlands in den nächsten Wochen gewann jener Gedanke an Stärke, die Gattin drängte in demselben Sinne, rückhaltlos äußerte sie ihre Freude über Deutschlands Befreiung und Auferstehung. Am 10. Mai schrieb R. an Karl Sieveking, sein Entschluß sei im Ganzen gefaßt, nur müsse er mit Klugheit durchgeführt werden: „ich gehöre vermöge meiner Besitzungen Deutschland an; für meine Person wenn oder sobald es die Umstände erlauben; meine Kinder gewiß“. Dennoch hat er den halbgefaßten Entschluß nicht durchzuführen vermocht. Talleyrand, nach der Restauration zum auswärtigen Minister ernannt, rief R. wieder zu sich und bot ihm am 14. Mai die Stelle des Kanzleidirectors in seinem Ministerium an. Zum großen Leidwesen seiner Frau nahm er den Antrag an. Die Gewöhnung an Einfluß und an die Geschäfte, ein Gefühl der Pflicht und vielleicht auch Rücksichten auf die äußere Lage mögen zu diesem Entschluß zusammengewirkt haben. Ihm selbst schien es „ehrenvoll und selten“, aus 25jährigen Stürmen so hervorzugehen. „Wir sind an Frankreich gebunden“, schrieb er an Harnier und fügte hinzu: „möge das wiedergeborene Vaterland kräftig zur Freude aller Edlen erstehen!“ Die amtliche Stellung erwies sich aber bald als unbefriedigend, ja unleidlich; es kamen wieder Stunden düsteren Unmuthes, das Schwanken zwischen Pflicht und Neigung erneuerte sich. Für das Frühjahr wurden Pläne geschmiedet, mit Boisserée und Goethe am Rheine zusammenzutreffen. Da traf ihn der Verlust Christinens, die am 19. Februar 1815 ihren langjährigen Nervenleiden erlag. In einer Gesellschaft, drei Tage zuvor, hatte sie Schiller’s Cassandra vorgetragen und mit einer Tiefe des Gefühls, welche die Zuhörer erschreckte, die Worte: „So muß ich fallen in der Fremden Land“ ausgesprochen. Die Rückkehr Napoleon’s von Elba setzte Reinhard’s Schicksal aufs neue ins ungewisse. In Talleyrand’s Abwesenheit hatte er die Geschäfte des Ministeriums zu führen; am 20. März wenige Stunden vor dem Einzug Napoleon’s verließ er diesen Posten und ging nach Brüssel. Auf den Ruf Napoleon’s erwiderte er ablehnend. Der Hof Ludwig’s XVIII., in den Händen der Ultra’s, zeigte ihm Kälte und Mißtrauen. Er verlangte seinen Abschied, der ihm in Form eines Urlaubs ertheilt wurde. Wieder ist es seine Absicht, dem Adoptivvaterland ganz den Rücken zu kehren. Da begegnet es ihm, daß er auf der Reise nach seinen Gütern am Rhein am 2. April von der preußischen Militärpolizei verhaftet, nach Aachen gebracht, dort seiner Papiere beraubt und dann nach Frankfurt geschickt wurde, wo er unter Aufsicht bleiben sollte. Die Schritte, die er bei den Verbündeten that, blieben zunächst erfolglos. Dagegen verwendete sich Ludwig XVIII. angelegentlich für ihn, und durch Talleyrand, der sich nach Stützen gegen die Ultras’s umsah, wurde er wiederholt in des Königs Dienst zurückgerufen. Dies stimmte ihn wieder um. Als ein edler Mann – so schreibt Boisserée, der den Verdächtigen in Frankfurt besuchte – hat er dem Könige gerade im Unglück seine ferneren Dienste nicht versagen können. Am 20. April kam ein Courier aus Wien, der ihm sein Portefeuille wieder zustellte, und Fürst Hardenberg entschuldigte den Vorfall als ein Mißverständniß. R. ging nach Gent zum König, dann mit ihm nach Paris; doch dauerte das Schwanken zwischen dem alten und dem Adoptivvaterland bis gegen Ende des Jahres fort. „Nicht ohne die stärksten inneren Kämpfe erlangte es R. von sich selbst, in das thätige Leben wieder einzukehren“. Im August erfolgte seine Ernennung zum Staatsrath und die Erhebung des Pfarrersohnes in den Grafenstand. Am 26. December wurde er zum Bevollmächtigten beim deutschen Bundestage ernannt. Diese Ernennung kam seinem geheimen Wunsch entgegen. Er sagte sich, daß er nun doch zugleich dem alten Vaterland wieder gehöre. Jetzt in den Friedenszeiten hoffte er, seine Verbindungen in Deutschland unbefangen [61] pflegen, gleichzeitig ein Diener Frankreichs und unter Deutschen ein Deutscher sein zu können. Eine gewagte Hoffnung; und wie sie sich erfüllt hat, sagt manches schmerzliches Geständniß aus der späteren Zeit. Uebrigens wurde nicht ohne Kampf die Zulassung auswärtiger Vertreter beim Bundestag durchgesetzt. Frankreich war der natürliche Beschützer der kleineren Staaten, des „reinen Deutschland“, und so schloß sich auch gesellschaftlich R. am meisten den Vertretern dieser Staaten an. Oelsner, der, jetzt in preußischen Diensten, aus einem Freund ein leidenschaftlicher Gegner geworden war, schildert ihn als geschäftigen Ränkeschmied: „trotz seiner unbehülflichen Außenseite, die bis zur Grobheit geht, trotz seiner Hypochondrie, die ihn zum Tübinger Magister stempelt, ist er der größte, der scharfsichtigste, der gewandteste diplomatische Netzjäger, den es in Frankreich gibt … Da Frankreichs beständige Politik dahin geht, Deutschland wenn nicht zu unterjochen, doch zu trennen, so verdient R. im höchsten Grade beobachtet zu werden“. Er selbst sagte zu Goethe: „In Frankfurt bin ich eigentlich gleich Null“. Von seiner schwierigen Lage, seiner „Dornenbahn“, von den „Unbehaglichkeiten, die mir fast ausschließlich von Ihren Landsleuten kommen“, ist in den Briefen an Goethe öfter die Rede. Als er im Herbst 1818 in gewohnter Weise auf seinen Apollinarisberg gezogen war, wurde er vom Herzog v. Richelieu zum Congreß nach Aachen gerufen, wo er drei Wochen verweilte: die ehrenvolle Stellung in der europäischen Diplomatie bewirkte, daß er sich jetzt mehr als je in Frankreich heimisch fühlte. Im Juli 1821 erwarb er ein Gut in der Normandie, auf welches ein Majorat für den Sohn gegründet wurde. Im August d. J. besuchte er Schwaben und brachte die Herbsttage zum letzten Mal auf dem Apollinarisberg zu, in Gesellschaft Boisserée’s, der aus Rücksicht für ihn es unterließ, am 18. October ein Freudenfeuer auf dem Berge anzuzünden. Falkenlust hatte er schon früher veräußert. Von da an war er in den Ferien des Bundestags häufig in Cronberg am Taunus, unfern Hornau, dem Gute des befreundeten Frhrn. v. Gagern. Dieser, der Frhr. v. Wessenberg und der weimarische Kanzler Müller gehörten in diesen Jahren zu seinen nächsten Freunden. Im October 1823 führte er einen siebentägigen Besuch in Weimar aus, über den der Kanzler Müller berichtet. Goethe sagte zu Müller: „ich lasse ihn sobald nicht fort, ich klammere mich an ihn an.“ Und R. an Goethe: „Tage wie diese kommen nicht wieder.“ Einen erneuten Besuch bei Goethe führte er am 7. April 1825 aus. Damals hatte die thüringer Reise einen romantischen Hintergrund. Reinhard’s Tochter Sophie, von ihm sorgfältig und gelehrt erzogen, auch dichterisch begabt, wußte die Verbindung mit einem thüringischen Edelmann von dem widerstrebenden Vater zu ertrotzen; dieser rächte sich durch den plötzlichen Entschluß, die junge Gesellschafterin seiner Tochter, Virginie Freiin von Wimpffen, zu heirathen. Er war 62 Jahre alt, hatte aber diesen Schritt nicht zu bereuen, freundlich ist sein Lebensabend durch diese Verbindung erhellt worden. Den eigenen Sohn, der in Straßburg und Göttingen studirt hatte, führte er in die französische Diplomatie ein, indem er ihn als Secretär zu sich nahm. Derselbe hat später mehrere diplomatische Posten bekleidet und sich mit einer Tochter des bairischen Bundestagsgesandten Frhrn. v. Lerchenfeld vermählt.

Im Herbst 1825 war R. mit seiner Frau, die ihn fast um fünf Jahrzehnte überlebte, in Paris, und im folgenden Jahre führte er sie nach der Schweiz und Oberitalien, wo Manzoni besucht wurde. Im Herbst 1827 brachte er seine Frau nach Hamburg; die dortigen Freunde fanden, daß R., „welcher nur noch in seiner jungen Frau zu leben schien, umgänglich und zutraulich“ geworden war und die Verwandten Christinens selbst beglückwünschten ihn zu seiner zweiten liebenswürdigen Frau, nachdem die „ästhetische Koketterie“ und Kränklichkeit der [62] ersten ihm das Leben schwer gemacht hatte. Das Ministerium Polignac rief ihn im Herbst 1829 plötzlich von Frankfurt ab. Vor der Rückkehr nach Frankreich besuchte er noch einmal Weimar, wo die verheirathete Tochter lebte. Später hat er dem Schwiegersohn ein Gut in der württembergischen Heimath gekauft. Die Julirevolution verlebte R. auf seinen Gütern in der Normandie. Im October wurde er zum Gesandten in Dresden ernannt. Dort besuchte ihn im April 1832 der alte Freund Boisserée und war so glücklich, „ihn ohne Podagra und in gutem Humor zu finden“. Im Juli d. J. wurde er durch den Minister Grafen Sebastiani endgültig in den Ruhestand versetzt. Von da an lebte er in Paris, das ihm bisher nur ein „Absteigequartier“ gewesen war. Am 11. October folgte seine Erhebung zum Pair von Frankreich, und um dieselbe Zeit trat er in die wiederhergestellte Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften, nachdem er dem Institut schon seit 1795 in der Classe de l’histoire et littérature ancienne angehört hatte. Sein Haus war ein Vereinigungspunkt von Schriftstellern und Gelehrten, und gegen Deutsche blieb er stets zuvorkommend. Die protestantischen Interessen in Paris fanden an ihm einen Förderer, dem Consistorium gehörte er als Mitglied an. Wie er in der Politik sich stets zu den Liberalen zählte, so blieb er auch in Sachen der Religion auf dem rationalistischen Standpunkt seiner Jugend. Das Leben Jesu von Strauß war eines der Bücher, die zuletzt noch den alten Stiftler beschäftigten. Im J. 1837 machte er mit seiner Frau noch eine große Reise durch England und Holland, und am Ende derselben nahm er an dem Jubelfeste der Universität Göttingen Theil, hauptsächlich um hier seine Freunde Gagern und Kanzler Müller zu treffen. Ueber Belgien kehrte er im Herbst nach Paris zurück, ermüdete von den Anstrengungen der Reise, und am ersten Weihnachtsfeiertag[WS 2] desselben Jahres ist er, nach kurzer Krankheit, 76 Jahre alt gestorben.

Die Quellen für Reinhard’s Lebensbeschreibung sind zahlreich und weit zerstreut. Nachrufe sind ihm gewidmet worden: von Talleyrand in der Akademie, in der Pairskammer von Bignon, in der Allg. Ztg. (28. und 29. April 1838), von Gagern. Dann hat sein Kasseler Freund Harnier in Bran’s Minerva (Mai und Juni 1838) Erinnerungen an ihn mitgetheilt, und im Histor. Taschenbuch für 1846 veröffentlichte G. E. Guhrauer ein Lebensbild, das bis jetzt der einzige biographische Versuch geblieben ist. Seitdem ist aber im Lauf der Jahre eine Menge urkundlichen Materials ans Licht gebracht worden, wodurch diese Arbeit vervollständigt wird. Was Reinhard’s diplomatische Thätigkeit betrifft, so kommen besonders in Betracht: Masson, Le dep. des affaires étrangères; Boulaye de la Meurthe, Le directoire et l’expédition d’Egypte; Monnard, Geschichte der helvetischen Revolution; La correspondance de Napoléon I, Mémoires et correspondance du roi Jerôme Bonaparte; Ducasse, Les trois frères de Napoléon I; Bailleu, Preußen und Frankreich 1795–1807, Ders., Talleyrand’s Briefwechsel mit König Ludwig XVIII.; Goecke-Ilgen, Das Königreich Westphalen; A. Wohlwill in seinem Lebensbild G. Kerner’s und in mehreren in Zeitschriften niedergelegten sehr verdienstvollen Abhandlungen, welche Reinhard’s diplomatische Thätigkeit in Hamburg urkundlich beleuchten (Hansische Geschichtsbl. Jahrg. 1875, Aus Hamburgs Vergangenheit, 1. Bd., Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte, Bd 7 und 8). Was aber die persönlichen und litterarischen Verbindungen Reinhard’s betrifft, so finden sich Einzelheiten in zahlreichen Briefsammlungen, Denkwürdigkeiten und Biographien, von denen nur die wichtigsten durch die Namen Poel, Sieveking, Zschokke, Villers, Boisserée, Dorothea Schlegel, Steffens, Rist angedeutet sein mögen. Eine Biographie zu schreiben wird erst möglich sein, wenn der litterarische Nachlaß des Grafen ans Licht gestellt und seine Briefe gesammelt [63] sind. Von letzteren sind bloß die an Villers (1883) und der mit Goethe geführte Briefwechsel (1850) veröffentlicht. Dann wird auch erst ein abschließendes Urtheil über den merkwürdigen Mann möglich sein, der, nach Rist’s Ausdruck, auch dem unbefangensten Beobachter eine Menge von Räthseln zu lösen läßt. Urtheile der Zeitgenossen über ihn sind unserer Darstellung eingestreut. Wie ihm selbst, wenigstens in trüben Stunden, die Summe seines Lebens erschien, das zeigen seine Bekenntnisse gegen Harnier und Goethe. Seine positive Wirksamkeit, klagte er gegen jenen, reducire sich auf Zero. Und an diesen: „So war mein Leben! Eitel Stückwerk und umhergeworfen vom äußeren und inneren Schicksal“. Ein fatalistischer Zug geht durch seinen Lebenslauf. Aus richtiger Selbstkenntniß sagt er einmal: „Immer hatt’ ich ohne Calcul und wie instinktartig gehandelt; nicht ich hob’ mich, ich wurde gehoben“. Seine Schmiegsamkeit war größer als seine Willenskraft. Stets ergriff er als Pflicht was fremder Wille ihm auferlegte. In dieser Pflichterfüllung tadellos zu sein, war sein Ehrgeiz. So hat er nacheinander den Girondisten und dem Convent, dem Directorium und dem Kaiserreich, den Bourbonen und dem Julikönigthum gedient. Geschick, Erfahrung, persönliche Geradheit und Zuverlässigkeit haben seine Dienste den wechselnden Machthabern unentbehrlich gemacht. Einem politischen Systeme ergeben, das ihm mit der Sache Frankreichs untrennbar verknüpft schien, und zugleich im Vertrauen auf seine unerschütterliche Rechtschaffenheit scheute er vor den mißlichsten Aufgaben nicht zurück, doppelt mißlich für ihn als Deutschen. Denn dieser französische Staatsmann ist zugleich in seiner Art ein guter Deutscher gewesen. Durch Gemüthsart wie durch seine litterarischen Verbindungen blieb er einer der Unsrigen, auch dann noch, als ihm die „Träume“ der Rückkehr ins Vaterland entgültig zerronnen waren. Eine solche Erscheinung – ein Weltbürger, der gleichmäßig Frankreich und Deutschland angehörte, ist nur in jener Zeit möglich gewesen, und man darf hinzufügen, nur dem Sohn eines süddeutschen Kleinstaats war es möglich, ein Franzose zu werden und ein Deutscher zu bleiben. Von all den Deutschen, die in begeisterter Jugend in den Strudel der französischen Umwälzung sich hineinstürzten, ist keiner, der anscheinend so sicher gerettet ans Land trieb, so erfolgreich und vom Glücke getragen, ein langes Leben mit nützlicher Thätigkeit für den Staat ausfüllend. Und doch ist keiner, dem sein Dasein so andauernd von innerem Widerstreit gestört und gespalten blieb. Eines der lehrreichsten Beispiele von deutscher Treue für fremdes Volksthum.


Anmerkungen (Wikisource)