ADB:Goethe, Wolfgang Freiherr von
Goethe hielt den lebhaften aufgeweckten Knaben in seiner Nähe fest, freute sich seiner kindischen Possen und ertrug mit verzeihender Geduld wie seine unbequeme Geschäftigkeit so auch ein gelegentlich hervorbrechendes eigensinniges, ungebärdiges Betragen. Der Unterricht war einem Hofmeister, einem Candidaten Rothe, anvertraut, aber Goethe ließ es sich nicht nehmen, auch seinerseits auf die geistige Entwicklung des Enkels einzuwirken, ihm die Gestirne des Himmels zu benennen, ihn an bildende Kunst alter und neuer Zeit heranzuführen. Viel zu früh wurde der Knabe in der Welt der Kunst heimisch; zu früh und zu oft wurde ihm neben der seinem Geiste gemäßen Nahrung das Schaumgebäck theatralischen Zeitvertreibs und die ihm unverdauliche Kost erhabenster Dichtung dargebracht: ein Neunjähriger, wohnt er der Vorstellung des „Faust“ bei, mit elf Jahren sieht er den „Lear“. Die Atmosphäre, in der er aufwächst, ist [480] der Dunstkreis des Salons, durchweht von feinster gesellschaftlicher Bildung, erregt von den höchsten menschlichen Interessen; sein Inneres ist eine Pflanze im Treibhaus, von künstlicher Wärme schnell zu künstlicher Höhe und Blüthe emporgefördert, aber die aufgeregte Kraft gibt sich gleich beim ersten Male ganz aus, kein natürlicher Trieb und Schuß läßt der ersten Frucht eine zweite gleichwerthige folgen, den Lebenssäften mangelt das Gleichmaß von Schärfe und Milde. Die Sinnlichkeit, dem Großvater ein Göttergeschenk, den Eltern beiden mißleitete Leidenschaft, wird in ihm ein beunruhigendes Gedankenspiel, dem er nur zaghaft in seinen Schriften ein verstohlenes Ventil zu öffnen wagt; in krankhaft verfälschter Einbildung verkennt er die Welt und sich selbst. Die Realitäten seiner Umgebung sieht er durch das Medium einer exaltirten Empfindlichkeit wie durch einen Nebel, der sie zu unheimlichen Gestalten verzerrt; die eigenen Fähigkeiten werden bald in überspanntem Selbstgefühl maßlos überschätzt, bald in selbstquälerischem Kleinmuth mißachtet. Brennender Ehrgeiz treibt ihn an, als Dichter dem Großvater nachzustreben, er stellt sich faustische Probleme, aber seine Begabung entspringt aus erworbener Bildung, nicht aus angeborener elementarer Kraft.
Goethe: Maximilian Wolfgang von G., des Dichters jüngster Enkel, August v. Goethe’s zweiter Sohn, wurde am 18. September 1820 geboren. Ihm so wenig als seinem älteren Bruder Walther ist seine Abstammung zum Heile gediehen. Des Vaters düstere Verworrenheit, der Mutter zügellose Phantastik, in freudeloser Ehe sich aneinander verschärfend und steigernd, sind nicht die Elemente gewesen, aus denen ein harmonisch gesundes Gebilde erwachsen konnte; hinter den Eltern steht die riesenhafte Gestalt des Großvaters, der zu seiner ins Unendliche erhöhten Lebens- und Regenerationsfähigkeit die Kraft der Folgegeschlechter vorweg genommen hatte, dessen erhabenes Vorbild den Geist des Enkels zur Nacheiferung aufstachelte und der ihm die physiologische Möglichkeit dazu benahm. Den verderblichen Einflüssen der Herkunft schuf Erziehung und Ausbildung freie Bahn. Wolf war des Großvaters Lieblingsenkel. Nur mit tiefer Rührung kann man den innig-zutraulichen Verkehr Beider verfolgen, wie er seine Spuren fast auf jedem Blatte im Tagebuch des alternden Dichters hinterlassen hat.Am 22. April 1830 nahm August v. Goethe Abschied von seiner Familie, um seine Reise nach Italien anzutreten, von der er nicht zurückkehren sollte; am 22. März 1832 schied der Großvater vom Leben. Die Vormundschaft suchte in wohlmeinender Fürsorge strenger in der Erziehung der Kinder durchzugreifen, trotz des Widerstandes der Mutter setzte sie es durch, daß Wolf im Herbst 1835 nach Schulpforta geschickt wurde, aber schon zu Weihnachten kehrte der reizbare Jüngling heim, abgestoßen von dem derb-männlichen Geiste der Anstalt, weniger verschüchtert als verstockt. Neue, heftigere Conflicte der Mutter mit der Vormundschaft führten zu einem Ausgleich: Wolf blieb dem Familienleben erhalten, trat aber Ostern 1836 in die Obersecunda des Weimarischen Gymnasiums ein.
Deutlich zeigt sich hier, wie verschieden die Genien waren, die das Leben des Enkels und das des Großvaters leiteten. Der Großvater der Götterliebling, dem alle Dinge zum Besten dienten, der Enkel ein „Ritter Unstern“ – jeder Zustand schlägt ihm zum Unsegen aus. Wolf ist recht eigentlich die problematische Natur, wie sie der bekannte Ausspruch des Großvaters geschildert hat, von jeder Lebenslage werden ihm nur die Schattenseiten zu Theil. Die Trennung von der Mutter war ihm nicht fördersam gewesen, ihre Nähe war ihm unheilvoll. Schon darum, weil der frauenhafte Zug seines Wesens sich vertiefte und vorherrschend wurde: frauenhaft ist er in seinen Vorzügen und Schwächen, in der fliegenden Hitze großer Pläne und der schnell erlahmenden Kraft bei der Ausführung, in Edelsinn und Eigensinn, nicht am wenigsten in dem naiven Egoismus des subjectiven Gefühls, mit dem er in späteren Jahren den berechtigten Forderungen nach dem Nationalgut des Goethe’schen Nachlasses auswich. Dann und vor allem darum, weil er, selbst eine sinnlich erregbare Natur, mit einem Verständniß für erotische Beziehungen, das durch frühen und häufigen Theaterbesuch geschärft worden war, die Mutter von leidenschaftlichen Erregungen umhergeworfen sehen mußte, die Mutter, die er über alles liebte, weil er von ihr, der alternden Frau, die nicht resigniren wollte, den Namen Goethe, der ihm das Höchste auf der Welt war, dem begründeten Gespött der Gesellschaft preisgegeben sah. Niemals freilich hat er es über sich vermocht, seiner Verurtheilung dieses würdelosen Gebahrens Ausdruck zu geben, wie er auch später, als Ottilie v. Goethe das nicht unbeträchtliche Vermögen der Familie vertändelt hatte, mit Schweigen die peinliche Dürftigkeit auf sich nahm, in die eine kindische Verschwendung ihn gestürzt [481] hatte. Ein Anderes aber hat selbst ihm bittere Worte auf die Lippen gelegt, das Bewußtsein, wie wenig die Erziehung der Mutter ihn für das Leben gestählt habe. „Du weißt ja, wie wir durch unsere Mutter auf das Edle, auf große Gesinnung dressirt worden sind“, dieser herbe Ausspruch, den er als Mann einer vertrauten Freundin gegenüber gethan, charakterisirt das nichtige, hohle Treiben Ottiliens, die sich an erhabenen Vorstellungen berauschte, die mit ihrem Phrasenschwall auch den Sinn ihrer Söhne betäubte und sie untüchtig machte, das Gemeine, Allgemeine des Lebens zu erfassen. Es ist bezeichnend für Wolf, daß nur die Gewißheit, durch solchen ausgeblasenen Idealismus wahrem Menschenwerth entfremdet worden zu sein, daß nur sie ihm ein scharfes Wort über die Mutter entlocken konnte; über die Schädigungen, die seine äußere Existenz betrafen, schwieg er. Er schwieg, aber er zog sich in sich selbst zurück, versteckte sich vor der Welt, an deren Urtheil er nur mit Beschämung denken konnte. Daß aus dem heiteren offenen Kinde ein menschenscheuer Mann geworden ist, daran tragen die Verfehlungen der Mutter einen großen Theil der Schuld; schon als Primaner zog Wolf es vor, einsam für sich im Gartenhause vor der Stadt zu wohnen. Freilich hatte er damals noch einen weiteren Grund, der ihn die Stille suchen ließ: December 1836 hatte er die ersten Anfälle jener Krankheit zu überstehen, die in mannichfaltigen Aeußerungen, wenn auch mit zeitweiliger Unterbrechung, ihn durch sein ganzes ferneres Leben begleitet hat, der zu Grunde lag die Nervenzerrüttung eines im Niedergange begriffenen ausgelebten Geschlechtes. Auf mehrmonatlichen Bade- und Erholungsreisen suchte er Heilung und die Fähigkeit, dem Maturitätsexamen zustreben zu können; er bestand die Prüfung mit Auszeichnung am 18. September 1839.
Von 1839–1845 studirte Wolf Jurisprudenz und Philologie in Bonn, Jena, Heidelberg, Berlin und promovirte Anfang 1845 in Heidelberg zum Dr. juris. Aus dieser Zeit stammen seine ersten Veröffentlichungen.
Ganz conventionell sind die „Studenten-Briefe. Erstes Semester. Briefe und Lieder eines alten Burschen und eines krassen Fuchses“, die 1842 in Jena bei Friedrich Frommann erschienen sind, ein dünnes Heftchen in Octav von 72 Seiten. In der alt-bequemen Briefform werden Interessen des akademischen Lebens behandelt, in etwas gar zu abstract doctrinärer Weise, auch sind es mehr die allgemeinen, gewissermaßen zeitlosen Probleme deutschen Studententhums, die zur Besprechung stehen, als die individuellen Strömungen und Bestrebungen der damaligen Studentenschaft: der politischen Erregung wird nicht gedacht. Erfreulich sind hübsche Naturschilderungen, weniger angenehm wirkt hier und da ein forcirt burschikoser Ton, zu solchem gelegentlichem Bierbaß taugt das weiche Organ des Briefschreibers nicht. Des Büchleins Bedeutung liegt in seinem autobiographischen Charakter, es ist das eigene ideale Streben, das Wolf schildert, die eigene Unbefriedigung, die eigenen Liebesregungen. – Im Gegensatz zu diesen „Studenten-Briefen“ tragen die folgenden Erzeugnisse genau bestimmtes Gepräge, ein Gepräge, das sonderbar genug im Jahrzehnt der Revolution anmuthet, und nichts kennzeichnet besser des jungen Dichters einsiedlerische, weltfremde Denkweise, als in einer Epoche, da nur ein Jahr später die gellenden Stimmen der Zeit sich zu Freiligrath’s „Ça ira“ vereinigten, als Nur-Dichter, Nur-Denker auf den Markt hinauszutreten, der von Politik und Tendenzgeschrei widerhallte, das Banner der Romantik noch einmal zu erheben genau in dem Zeitpunkt, da sich Heine anschickte, der Romantik das „letzte freie Waldlied“ im Atta Troll zu singen. Wie im Leben, so ist auch in der Dichtung Wolf G. nur der kümmerliche [482] Sproß absterbender Geschlechter gewesen, und jenes scharfe Urtheil, das einst der Großvater über romantische Kunst und Lebensauffassung gefällt hat: „Classisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“, ungerecht in dieser Verallgemeinerung, hat sich für den Enkel als nur zu treffend erwiesen.
„Der Mensch und die elementarische Natur“, 1845 im J. G. Cotta’schen Verlag zu Stuttgart und Tübingen erschienen, zerfällt in drei „Beiträge“, deren jeder für sich entstanden und dann auch gesondert für sich in Einzeldruck gegeben worden ist. Schon diese Methode ist romantisch, einer Frage nach einander auf philosophisch-wissenschaftlichem und auf dichterischem Wege nachzugehen. Der erste „Beitrag“ hat dem ganzen Buche den Titel gegeben, er stellt eine historisch-kritische Untersuchung dar, die zuerst 1844 in Jena bei Frommann herausgekommen ist, eine Charakteristik der im Laufe der Zeiten vielfach modificirten Anschauung des Menschen von seinem Verhältniß zur Natur. Mit raschen Schritten, nur selten bei besonders verehrten Denkern verweilend, eilt die Darstellung aus der Periode des Polytheismus zur jüngsten Gegenwart herab, mit großen Zügen wird die Auffassung umschrieben, die jeweilig herrschend gewesen ist. Das Interesse an der Frage, wie der Mensch seine Stellung zur unbeseelten Natur betrachtet habe, wie er sie betrachten solle, konnte nur romantischer Geistesrichtung entspringen. Das war eben der Fortschritt der Romantiker über die classische Weltanschauung gewesen, erkannt zu haben, wie der Kreis sittlicher Beziehungen nicht auf die Gemeinschaft der Menschen unter sich beschränkt sei; in der Ahnung einer uranfänglichen Verwandtschaft zwischen der Natur des Menschen und der der Elemente hatten sie die Wechselwirkungen beider zu erkennen und poetisch zu fixiren gesucht. Schelling’s Identitätsphilosophie ist der systematische Ausbau dieser Speculationen. Wolf G. war in Berlin Schelling’s begeisterter Schüler geworden, seine Arbeit steht ganz unter dem Einflusse seines Lehrers. Natur und Geist sind auch ihm identisch im Absoluten; die polaren Gegensätze, in die die ursprüngliche Einheit auseinander getreten ist, streben unablässig nach Wiederverbindung. Wie im Menschen ein unverdrängliches Bedürfniß einer höheren Vereinigung mit der Natur lebendig ist, so hebt sich die Natur dem Menschen in Sehnsucht entgegen, ihre Kräfte, ihr Lebensprinzip – Wolf spricht von der Seele der Natur, wie Schelling von der Weltseele – wirken beständig auf das menschliche Dasein in allen seinen Formen. Den Juristen interessirt namentlich die Abhängigkeit des Rechtslebens von der Natur; daß dabei das deutsche Recht des frühen Mittelalters die Hauptaufmerksamkeit auf sich lenkt, ist nur selbstverständlich bei dem Romantiker, dem auch sonst die germanistischen Studien der Romantik nicht fremd geblieben sind. Weiß er doch sogar einen Vers Neidhart’s in mittelhochdeutscher Fassung zu citiren. – Durchaus der juristischen Seite des Problems ist der zweite „Beitrag“ gewidmet: „De fragmento Vegoiae, cuius sit momenti in tractandis antiquitatibus iuris romani, dissertatio“. Es ist Wolf Goethe’s Doctordissertation, als solche zuerst Heidelberg 1845 erschienen. Sie beschäftigt sich mit dem altetruskischen Agrimensorenfragment des Vegoia, in dem die Unverletzlichkeit der Ackergrenzen auf Jupiters unmittelbare Willensäußerung zurückgeführt wird. Gewissenhaft angeführte Litteratur läßt den weiten Umkreis überschauen, den der fleißige Student nach Parallelen zu jenem italischen Gesetze durchschritten hat, Sprache und Weisheit der Indier, durch Friedrich Schlegel vermittelt, wird ebenso herangezogen als Deutsche Mythologie und Deutsche Rechtsalterthümer, wie er sie aus Jacob Grimm’s Untersuchungen kennen gelernt hatte, die Vorliebe für romantisch-germanistische Forschung ist unverkennbar.
Was aber der erste Beitrag in der abstracten Form eines philosophischen [483] Aufsatzes zum Ausdruck bringt, das hatte schon lange im Geiste des Verfassers nach plastischer Gestaltung durch ein Dichterwerk gerungen. Nach den Jahreszahlen, die auf dem Zwischentitel stehen, ist der dritte, umfangreichste „Beitrag“ in den Jahren 1839–1842 entstanden, das lyrische Drama „Erlinde“. Die alte Melusinensage, die in Fouqué’s „Undine“ 1811 in lieblichster Neudichtung aufgelebt war, ist hier zur Trägerin Schelling’scher Naturphilosophie gemacht worden. Das Verlangen der Elemente nach der gottgewollten Vereinigung mit dem Menschen, ihre Sehnsucht nach Neubegründung der anfänglichen Harmonie, die durch Kirchenwahn und Teufelsglauben vernichtet worden ist, wird in der Nixe Erlinde symbolisirt, die aus den Wellen der Ilm aufsteigt, um sich mit Eginolph, dem Grafen von Berka, zu verbinden. Aber die Menschheit erweist sich in ihrem Repräsentanten noch nicht reif zu solchem innigem Verkehr; Eginolph, durch Priesterwort mit Heilwig verbunden, schwankt haltlos zwischen seiner Gemahlin und Erlinde hin und her, zwischen beschränktem Gehorsam gegen die Kirchensatzung und freier Hingabe an die Natur. Befangen in der finsteren Mönchslehre, die in der Natur das Reich des Teufels sieht, vermag er sich nicht zur Ueberzeugung von dem göttlichen Lebensprincip der Elemente zu erheben, zur Ueberzeugung, daß kein noch so liebevolles Umfassen der Natur Sittlichkeit und Religion verletze. Wie Fouqué’s Undine ihre elementarische Herrlichkeit freudig verläßt, um einer Seele theilhaftig zu werden, wie sie die Taufe in demüthigem Schauer empfängt, so bekennt sich auch Erlinde zu einer von Menschenzuthat freien Form des Christenthums, ihrem Wesen ist lauterste Religion zu eigen, denn Religion ist ja doch selbst nur Aeußerung einer elementarischen Kraft, einer psychologischen. Eginolph’s Herz nur ist zu enge, sein Geist zu pfäffisch verdumpft, um Religion und Naturverehrung, die Liebe zu Heilwig und die Leidenschaft für Erlinde zu reinem Einklang, zu schönem Doppelglück zu verschmelzen – da raffen ihn denn die erzürnten Naturgewalten hinweg, und auch Erlinde muß ihr verfrühtes Vertrauen mit langem elementarischem Schlummer büßen. Doch scheidet sie nicht, ohne ihrer Hoffnung auf einen „Bruder des Gekreuzigten“ Ausdruck gegeben zu haben, der Mittler werde zwischen Natur und Menschen, wie Christus Versöhner zwischen den Menschen und Gott gewesen ist – die „Johanneskirche“, die Schelling in der Zukunft aufgerichtet sah, in der alle Gegensätze verschwunden sein werden, steigt am Horizonte auf: „An Johannes“, so lautet die Widmung des Dramas.
Es ist dem Dichter nicht gelungen, den Grundgedanken seines Werkes, wie er hier dargestellt worden ist, mit wünschenswerther Deutlichkeit herauszuarbeiten. Vielmehr hat er ihn selbst zugedeckt durch das dilettantenhafte Bestreben, das Verhältniß des Menschen zur Natur möglichst nach allen Seiten hin zu beleuchten. Da ist des Grafen Knappe Engelram, die beliebte Pansa-Folie des Helden, der sich von übermüthigen Nixen nasführen läßt; da ist der Bruder Felix, den das Wunder, das an ihm geschehen ist, hundert Jahre in einer Stunde zu verleben, in geistigem Hochmuthe nur verstockt hat, der für seine mönchische Verachtung der Natur durch Fall und Sinnenschuld bestraft wird; da ist vor allem der Sänger des Grafen, Kurt der Langenwiesner, den trotz treuen Suchens die Natur nicht annimmt, den aber der „weise Meister“, eine nebelhafte Klingsorgestalt, wie sie durch die romantischen Dichtungen zu wandeln liebt, dem Ideal romantischer Geistesausbildung zuzuführen sucht. Vertraute Freunde des Dichters haben in Kurt ein Selbstporträt Wolf Goethe’s zu finden geglaubt, die Figur des „weisen Meisters“ hat Züge von der Persönlichkeit Schelling’s geborgt. Ihren Gesprächen, in denen höchste Fragen der Menschheit verhandelt werden, Klarheit und folgerechte [484] Durchführung zu ertheilen, hat weder des Dichters poetische Kraft noch die eigene philosophische Bildung ausgereicht.
Das Grundgebrechen der „Erlinde“ liegt darin, daß die Schuld des Helden, die seinen Untergang herbeiführt, vom moralischen Gebiet auf das intellectuelle hinübergespielt wird, daß er für einen Irrthum büßt, der ihm mit seinem Jahrhundert gemein ist – Eginolph fällt, weil seine Erkenntniß sich nicht aus den Schranken seiner Zeit hervorgehoben hat. Die formale Unzulänglichkeit der Dichtung, dieser losen Folge selbständiger Scenen, kommt der materialen gegenüber kaum in Betracht. An trefflichen Einzelheiten freilich ist kein Mangel. Seine Gabe anschaulicher Naturschilderungen hat Wolf auch hier aufs schönste bewährt; liebevolles Versenken in das Wesen und Weben der Elemente befähigte ihn zu glücklichen Personificationen, so daß Fouque’s Kühleborn kaum sicherer geschaut und dargestellt ist als die Wellenkindelein, in denen die kurzen, schnellen, spielerischen Wogen der kleinen Ilme personificirt werden. Die Gewandtheit der Sprache, die Fülle des Wortes, die Herrschaft über Ausdruck und Reim sind erstaunlich; wäre die Sprache nur nicht zu glatt, die Diction zu beredt, der Ausdruck zu abgeschliffen: die Vorzüge des Epigonen sind es, über die der Dichter verfügt, es ist die technische Fertigkeit, die ein feingebildeter Geist als mühelos erworbenes Erbgut von der schweren Arbeit der Vorgeschlechter übernimmt. Und so trägt die politisch-reale Tendenz der Zeit nicht allein die Schuld daran, daß „Erlinde“ den erhofften Erfolg nicht gefunden hat.
Wolf hat die schwere Enttäuschung, die ihm aus der Ablehnung seines Erstlingswerkes erwachsen ist, niemals verwinden können, dieser Mißerfolg hat nach seinem eigenen Geständniß großen Einfluß auf sein ganzes Leben ausgeübt. Nach welcher Richtung hin, ist unschwer zu erkennen. Mit Stolz hatte er sich bisher als den geliebten Enkel des Mannes gefühlt, dem als Dichter das deutsche Volk keinen Ebenbürtigen zur Seite zu stellen hatte, seinem jugendlichen Ehrgeiz war es ein lockendes Ziel gewesen, diesem Manne nachzustreben, den Namen „Goethe“ zu verdienen, die räumlich-verwandtschaftliche Nähe der Personen hatte auch die Nähe solches Zieles vortäuschen gedurft – nun aber sah er sich schonungslos über die Grenzen seiner Kraft aufgeklärt, sah seinen Traum zerstört, und jener erhabene Name, dessen durch Thaten würdig zu sein er verzweifelte, wurde ihm zur Pein. Nun erkannte er sich als den dürftigen Zwerg, vom Schicksal in ein stolzes Prunkgewand gesteckt, das mit schweren Faltenmassen ihn zu erdrücken droht; nun kamen die dunklen Stunden, in denen er dem Gedanken an seine erlauchte Abstammung gegenüberstand wie der zahlungsunfähige Schuldner dem dringenden Gläubiger. Im Verhältniß zur Mutter war die Unbefangenheit längst gestört, nun schwand sie auch dem Andenken an den Großvater: ohne Bitterkeit konnte die Erinnerung an ihn fürder nicht mehr sein. Und für die Welt schloß Wolf sich vollends zu. Hatte er früher schon, namentlich in der reizbaren Stimmung physischen Unbehagens, die Neugier als lästig empfunden, die dem Nachkommen Goethe’s wie „einem wilden Thiere“ folgte, so ward sie ihm von nun an ganz und gar unerträglich, weil sie die Vorstellung in ihm wach erhielt, die er gern für immer vergessen hätte, und mit wachsender Erregung fühlte er, der kein Goethe sein konnte, durch diese aufdringliche Theilnahme sich daran verhindert, ein namenloser Mensch zu sein. In der Bewunderung für den Großvater argwöhnte er die Kritik der eigenen Leistung, andererseits mochte er sich für berechtigt halten zu glauben, daß die Verehrung für den Großvater ein größeres Wohlwollen für des Enkels Schaffen hätte zur Folge haben dürfen. So im Tiefsten verletzt und jeder tröstenden Zuversicht des inneren Werthes [485] beraubt, verstrickte er sich mehr und mehr in Menschenflucht und Weltscheu; es hat sich an ihm das schlimmste Verhängniß erfüllt, durch treue Arbeit nicht gefördert und befreit, nur gehemmt und gefesselt zu werden.
Die geistigen Anstrengungen der letzten Studentenjahre hatten höchst ungünstig auf Wolfgang’s Gesundheit eingewirkt. Seine nervösen Leiden traten mit erneuter Heftigkeit auf und suchten ihn mit unerträglichen neuralgischen Gesichtsschmerzen heim. Sie zu lindern begab sich der Kranke nach geschehener Promotion in die heißen Bäder von Capri, die keine Heilung brachten. Fünf qualvolle Jahre folgten. In „körperlicher Verzweiflung“, während der ersten Zeit unfähig, das Gesicht auch nur zu bewegen, zwei Mal dem Tode nahe, so brachte Wolf die Jahre zu, gepflegt von der Mutter, die selbst leidend war. Die drei ersten Winter verlebte er in Rom, die beiden letzten in Wien, wohin Ottilie v. Goethe ihren Wohnsitz verlegt hatte; Frühling und Sommer hielt er sich von 1848 ab mehrfach in Freiwaldau bei Prießnitz auf, um dessen Wassercur zu gebrauchen. Der Winter 1850/51 fand ihn wieder in Rom. Familienangelegenheiten führten ihn 1850 und 1851 im Sommer nach Weimar, wo er vom Großherzog Karl Friedrich zum Kammerherrn ernannt wurde; sein Befinden hatte sich inzwischen so weit gebessert, daß zu gleicher Zeit ernstlich der Gedanke an eventuellen Eintritt in den weimarischen Staatsdienst erwogen werden konnte. Bereits im August 1844, da Wolf noch in Berlin studirte, hatte der Erbgroßherzog Karl Alexander dieserhalb bei seinem Jugend- und Spielgefährten anfragen lassen; damals hatte Wolf, ein kranker Mann schon damals, keine entscheidende Antwort geben können, jetzt war überhaupt nur ein ablehnender Entschluß möglich: ein Dreißigjähriger, konnte er bei seinem schwankenden Gesundheitszustand nicht daran denken, sich der Anstrengung des erforderlichen Staatsexamens zu unterziehen. So suchte er in der preußischen Diplomatie Anstellung. Prinz Wilhelm von Preußen verwandte sich für ihn, zweifellos bestimmt durch seine Gemahlin Augusta, die weimarische Prinzessin; auch Alexander v. Humboldt, mit Varnhagen einer der wenigen, die dem Dichter der „Erlinde“ ein freundliches Wort der Anerkennung gegönnt hatten, trat für ihn ein: als Gesandtschaftsattaché kehrte Wolf G. Frühling 1852 in das geliebte Rom zurück. Eine neue Periode begann für ihn, die Periode praktischer Wirksamkeit, und gleichsam als ob er ihre Schwelle als ein neuer Mensch hätte überschreiten wollen, als ob er vorher hätte abthun wollen, was ihn früher im phantastischen Spiel seiner Dichterträume bewegt hatte, hat er im Jahr vorher eine Sammlung seiner Poesien, seine letzte dichterische Gabe, erscheinen lassen: „Gedichte von Wolfgang von Goethe. Stuttgart und Tübingen. J. G. Cotta’scher Verlag. 1851“. Gar wenig Erfreuliches bietet dieses Büchlein, so schmächtig es ist. Entstanden in kraftlosen Stunden jener fünf Leidensjahre, bringt es matte Empfindungen, blasse Gedanken, elegische Eintönigkeit – Reconvalescentenpoesie. Selbst zum vollen Seufzer des Schmerzes wagt die kranke Brust sich kaum auszuweiten. Dafür findet sich viel Triviales, Abgeschmacktes. Sieht man, wie Wolf sich nicht selten damit begnügt, statt eines Gedichtes zwei reimlose Zeilen zu geben, nur den Schluß eines Gedichtes, die Pointe, die dann in naiver Selbstgefälligkeit die ganze Buchseite für sich in Beschlag nimmt, so möchte man ihm fast die Absicht romantisch-souveräner Verhöhnung des Publicums unterschieben – aber solche Opposition verlangt Kraft und Selbstgefühl; oder den Gedanken bitterer Selbstironie – aber dazu gehört der traurige Muth, der Kunst selbst zu spotten. Die metrische Form ist auch in den „Gedichten“ nicht zu tadeln; Ghaselen, streng gebaut nach Platen’schem Muster, einwandfreie Sonette legen Zeugniß ab von der Bildung ihres Verfassers. Eben die Sonette, namentlich die [486] „Römischen“, entziehen sich inhaltlich einigermaßen dem Werthurtheil über das Buch im ganzen, und autobiographisch ist das zwölfte von ihnen bedeutungsvoll, indem es in einer Vorstellung wurzelt, mit der Wolf in der römischen Leidenszeit, durch körperliche Schmerzen seelisch niedergedrückt, zu spielen geliebt, in der Vorstellung vom Uebertritt zum Katholicismus, ja zum katholischen Priesterthum. Er war ein Nachfahr der Romantiker, das durfte selbst in gelegentlich so ausgeprägter Hinneigung zum Glauben des Mittelalters nicht unausgesprochen bleiben; einer gewissen unentschiedenen, läßlichen Haltung Rom gegenüber hat Wolf sich zeitlebens nicht entschlagen können. Doch war er nicht umsonst ein Enkel jenes freien modernen Geisteshelden, der niemals müde geworden war, in Kunst und Wissenschaft zu protestiren, und so hat er sich, helleren Sinnes und erneuerter Kraft, auf sein Erbgut protestantischer Ueberzeugung immer wieder zurückbesonnen, hat sogar, wie ein eingeweihter Freund zu berichten weiß, später, Ende der fünfziger Jahre, lieber der Verbindung mit einem theuren Weibe entsagt, als die Kinder aus dieser Ehe, dem kirchlichen Bekenntniß der Mutter entsprechend, katholisch werden sehen zu müssen. Es war die Zeit, in der ein ständig wachsender Ultramontanismus die Erinnerung an den Streit über die Mischehen nicht zur Ruhe kommen ließ.
Durch den Ultramontanismus hatte Wolf sich schon vorher eine andere Geliebte entfremdet gesehen – sein „einzig Lieb“, wie er sie in seinen Gedichten genannt hatte, sein Rom. Den Aufgaben seiner diplomatischen Stellung war er im allgemeinen gerecht geworden, selbst als ihm in Abwesenheit des Gesandten zeitweilig die Führung der Geschäfte zugefallen war; April 1854 hatte er den Charakter eines Legationssecretärs erhalten. Aber das Mißtrauen, mit dem man sich seit Anfang der fünfziger Jahre im Vatican gewöhnt hatte, in der preußischen Gesandtschaft ein Institut protestantischer Propaganda zu wittern, war nur zu sehr geeignet, ihm seine Stellung zu verleiden, um so leichter, als zu gleicher Zeit neue Anfälle seines alten Leidens ihn mit nervöser Verstimmung und krankhafter Ungeduld heimsuchten. So wurde er denn persönlich in Berlin wegen seiner Versetzung vorstellig, im Juni 1856 erfolgte seine Ernennung zum etatmäßigen Legationssecretär bei der Gesandtschaft in Dresden. Das Schillergedenkjahr 1859 brachte am 28. August, am Geburtstage des Großvaters, dem Enkel die Erhebung in den erblichen Freiherrnstand. Von seinem Aufenthalt in Dresden fühlte Wolf sich noch weniger befriedigt als von dem in Rom, weder das Klima noch die Gesellschaft noch seine Thätigkeit sagten ihm zu, daher richtete er von Wien aus, wohin er im Herbst 1860 zur Erholung gegangen war, an den Minister das Ersuchen, seine in Aussicht gestellte Beförderung und Versetzung im Urlaub abwarten zu dürfen. Ende 1860 erhielt er den Titel Legationsrath, in den activen Dienst ist er nicht wieder zuückgekehrt.
Acht Jahre nur hat Wolf’s amtliche Wirksamkeit gedauert; es ist die dürrste Zeit in diesem früchteleeren Leben gewesen. Dem phantastischen, sensitiven Sonderling war nichts weniger verliehen denn das Haupterforderniß des Diplomaten, reale Verhältnisse zu erfassen, zu beherrschen. Was auch im einzelnen den Ausbruch seiner Mißstimmung hervorrufen mochte, diese Mißstimmung selbst war doch nur das Ergebniß der Unfähigkeit einer problematischen Natur, ihrer Lage gerecht zu werden. Den Erscheinungen der Wirklichkeit stand er fremd gegenüber, sein Reich war das Gebiet geistiger Gestalten, sei es nun, daß er selbst als Dichter sie aus dem Nichts hervorrief, oder als Gelehrter sie in historischen Forschungen aus der Nacht der Vergangenheit wieder auftauchen ließ. Den geschichtlichen Studien hat er den Rest seines Lebens gewidmet. Hier wurde er mit seinen Interessen seßhaft, in der äußeren [487] Existenz hingegen mußte er unstäter sein als je zuvor. Wien, fürs erste sein eigentlicher Wohnsitz, sah ihn verhältnißmäßig selten. Zur Bekämpfung seiner Krankheit mußte er die Bäder Böhmens aufsuchen, seine Stellung als weimarischer Kammerherr legte ihm die Verpflichtung auf, am Hofe in Weimar und Wilhelmsthal zu erscheinen, zu gelehrten Zwecken bereiste er Oberitalien oder hielt sich zeitweilig in Jena auf. Das wissenschaftliche Interesse war schon in seinen ersten italienischen Jahren historischen Problemen zugekehrt gewesen, aber es hatte seinen Hauptreiz für Wolf vornehmlich von der romantisch-poetischen Tendenz der in Aussicht genommenen Aufgaben geborgt, die alle mehr oder weniger darauf hinausliefen, die Nachwirkung vorchristlichen Glaubens in Satzungen und Gebräuchen des Christenthums nachzuweisen: wie „Erlinde“ den Gegensatz zwischen der Kirche und der heidnischen Personification der Elemente dargestellt hatte, so sollte nun ihre thatsächliche Verschmelzung aufgedeckt werden. Noch als Wolf Ende 1849 nach manchem anderen den Plan gefaßt hatte, die „erhaltenen Bruchstücke eines der letzten Bücher des Dio Cassius“ zu commentiren, eine Arbeit, in deren Mittelpunkt Heliogabalus stehen sollte, gedachte er sein Thema als Denker, Gelehrter und Dichter anzugreifen, in innigerer Verschwisterung dieser drei Anschauungsweisen als es in der „Trilogie“: „Der Mensch und die elementarische Natur“ geschehen war. Collectaneen wurden gesammelt, Excerpte gehäuft, Localstudien betrieben – von all den Vorsätzen, die sich in seinem regsamen Geiste drängten, ist nichts zur Ausführung gelangt; denn was ihnen früher zur Empfehlung gedient hatte, ihre dichterische Seite, mußte sie in gleichem Maße entwerthen, wie Wolf seinem Dichtertraum mehr und mehr entsagte. Er resignirte, das rein wissenschaftliche Interesse behielt die Oberhand, greifbare Ergebnisse traten nun zu Tage. Es war eine Untersuchung über „die italienischen Bibliotheken bis zum Jahre 1500 und ihre Verzeichnisse“, von der Wolf Anfang der sechziger Jahre angelockt wurde und von da an bis zum Ende seines Lebens festgehalten worden ist, freilich nicht, ohne daß dieses Thema mehrfache Verschiebungen zu erfahren gehabt hätte. Man kann es als typisch für seine Gemüthsverfassung betrachten, die sich bald in weitfliegendem Enthusiasmus über alle Schwierigkeiten hinwegsetzte, bald muthlos in sich selbst zurückzog, wie er seine Aufgabe bald erweiterte, bald beschränkte. Die Studien, die den italienischen Bibliotheken im allgemeinen gelten sollten, concentrirten sich auf die Büchersammlung des Cardinals Bessarion vor ihrer Constituirung als die Marcusbibliothek Venedigs, dehnten sich aus von da zu einer Betrachtung des gesammten Wirkens des Bessarion, zogen sich zusammen zu einer Monographie über den Antheil des Cardinals am Einigungsconcil zu Florenz. In dieser seiner letzten Beschränkung war das Werk im August 1869 bis auf einen geringen Rest so weit gediehen, daß der Verfasser, der seine Arbejt gern bald gedruckt gesehen hätte, das Manuscript einem bewährten Freunde, dem hallischen Kirchenrechtslehrer Otto Mejer zur Begutachtung unterbreiten konnte, mit der Bitte, ihm einen Verleger zu besorgen. Mejer mochte die Verantwortung nicht auf sich nehmen, dem Werke, wie es ihm vorlag, den Weg in die Oeffentlichkeit zu bahnen. Er verkannte nicht die unsägliche Mühe, die daran gewendet worden war, die „eingehendste, ernsthafteste, treueste, gelehrteste Forscherarbeit“, aber er vermißte mit Recht die wissenschaftliche Verarbeitung des zusammengetragenen Stoffes. Und damit war denn das Grundgebrechen des Werkes getroffen, mit dem es schon in der Conception behaftet worden war; denn Wolf’s Absicht ging eben von vornherein nur auf bloße „Zusammenstellung, Inventarisirung und theilweise unmittelbare Nutzbarmachung der über Bessarion bereits durch den Druck veröffentlichten, in den verschiedensten Werken zerstreuten Schriftstücke“ aus; ein [488] Mann der Extreme, hatte er es bei seiner principiellen Abkehr von dichterischer, künstlerischer Behandlung mit Absicht vermieden, seinen Untersuchungen einen bestimmten Abschluß zu verleihen – so war denn seine Arbeit eben nur Apparat, eine „kaum zu überblickende Menge von Einzelheiten höchst verschiedener Bedeutung“. Mejer erklärte sich außer Stande, für den Freund etwas zu thun; Wolf’s Enttäuschung war furchtbar. Sein Werk in der Weise, wie es Mejer als nöthig bezeichnet hatte, umzuarbeiten, mangelte ihm die Kraft, war er doch nicht einmal fähig, den bislang fehlenden Schluß hinzuzufügen; da entschloß er sich, es als Manuscript bei Frommann in Jena drucken zu lassen: „Studien und Forschungen über das Leben und die Zeit des Cardinals Bessarion 1395–1472. Abhandlungen, Regesten und Collectaneen von Wolfgang von Goethe. I. Die Zeit des Concils von Florenz. Erstes Heft. (Als Manuscript gedruckt.)“ 8°. VI, 222 S. Im Jahre 1873 hat er dann noch ein Handschriftenverzeichniß des Paduaner Klosters Sancta Justina von 1462, das er Winter 1863 in der Municipalbibliothek zu Padua gefunden hatte, bei Frommann in Druck gegeben, womit er den ersten Band der geplanten „Verzeichnisse italienischer Bibliotheken des Mittelalters“ zu eröffnen gedachte; an der Einleitung dazu hat er bis zu seinem Tode gearbeitet, ohne zur Vollendung zu gelangen. Seinen gesammten wissenschaftlichen Nachlaß hat er testamentarisch der Universität Jena überwiesen.
Spärlich beachtet ging „Bessarion“ vorüber, die poetischen Versuche waren längst der Erinnerung der Mitwelt entschwunden, seine persönliche Existenz barg Wolf in scheuer Abgeschiedenheit, dennoch war er der Welt, der wissenschaftlichen wenigstens, nicht vergessen. Aber wenn sie seiner gedachte, des Mannes, dem seine Freunde stets nur aufrichtige Verehrung dargebracht haben, so geschah es nicht in wohlwollender Gesinnung: die furchtsame, engherzige Art, wie er und sein Bruder Walther ihr Amt als Hüter des großväterlichen Nachlasses ausübten, war nicht geeignet, ihnen neue Freunde zu erwerben. Wer immer bei ihnen um Materialien aus dem Goethearchiv anklopfte, sah sich abgewiesen. Unter ihrer Obhut war der reiche Schatz kein lebendiges Gut, aus dem sie mit freigebiger Hand austheilten, sondern ein ängstlich verhülltes Geheimniß, den Besitzern selbst nicht ein Ehrentitel, nur eine todte schwere Last, eine Quelle des Aergernisses, nicht freudiger Erhebung. Schon als nach Goethe’s Tode der Kanzler Friedrich v. Müller, der gemäß des Dichters letztwilliger Verfügung die Verwaltung des Archivs übernommen hatte, sein Recht der Schwiegertochter des Abgeschiedenen gegenüber in schroffer Weise zur Geltung brachte, mußten die Söhne die der Mutter widerfahrenen Kränkungen aufs schwerste mitempfinden – fand doch Ottilie einmal die Räume, in denen sie dem „Vater“ so oft Gesellschaft geleistet, in denen sie ihn in seinen letzten Stunden gepflegt hatte, mit einem Vorlegeschloß abgesperrt! Und in ihren zartesten Erinnerungen durften sich die Hinterbliebenen verletzt fühlen, wenn in den Folgejahren die Stätten einstigen traulichen Verkehres fremder Neugier geöffnet wurden. Daher stellten im Mai 1840 Walther und Wolf den Antrag, daß des Großvaters Zimmer und Sammlungen fürderhin nicht mehr besichtigt werden dürften, und die Regierung als Obervormundschaft entschied am 26. Juni 1840 in diesem Sinne. Die Brüder fürchteten Indiscretionen, sie fürchteten für die Erhaltung des Archivs. Nicht mit Unrecht. Schriftstücke fehlten, selbst der Kanzler hatte sich eigenmächtige Schmälerung des Bestandes erlaubt. Im August 1842 – Wolf war ein Jahr vorher mündig geworden – kamen die Brüder bei der Regierung darum ein, daß ohne ihre Einwilligung weiterhin nichts mehr aus dem Archiv ausgeliehen werden dürfe, es war ein Act der Nothwehr gegen Müller, der in der Ueberlegenheit [489] seines kühl-praktischen Wesens ihre Erbitterung aufs schärfste gegen sich herausgefordert hatte. Es war ihm im selben Jahre gelungen, den Deutschen Bund zu dem Entschluß zu bestimmen, das Goethe’sche Haus mit seinen Schätzen um die Summe von 60 000 Thalern als Nationaleigenthum erwerben zu wollen, aber aus Mißtrauen gegen den Vermittler lehnten die Brüder jeden Verkauf ab, und als die Regierung das Gebot des Bundes wenigstens für die noch unmündige Schwester Alma annehmen zu müssen erklärte, kauften sie dieser ihren Antheil an dem Erbe um einen der Schätzung des Bundes entsprechenden Betrag ab. So waren es keine freudigen Erinnerungen, die sich für Wolf mit dem Gedanken an des Großvaters Nachlaß verknüpften. Und das Wichtigste: in diesem Nachlaß verkörperte sich gewissermaßen die dunkle Gewalt, die alle Aeußerungen eigenen selbständigen Lebens zurückdrängte, und die Kette, mit der Wolf sich an den Namen „Goethe“ gefesselt fühlte. Den Bedenken, die er jedem Wunsche nach Benutzung des Familienarchivs entgegenstellte, lag zutiefst, wenn gleich ihm selbst unbewußt, der Widerwillen zu Grunde, mit eigener Hand immer neue Steine darzureichen, die sein Dasein zu verschütten bestimmt waren, und damit verbunden die Unlust, seine Persönlichkeit als die Stufe betrachtet zu sehen, über die man in die letzten Räume und Winkel im Leben und Dichten des Großvaters hineindrängen wollte. Nicht übermäßig zahlreich waren daher auch die Veröffentlichungen, die von der Familie selbst veranstaltet wurden. Im J. 1850 gab Karl v. Reinhard im Namen der eigenen und der Familie Goethe’s den Briefwechsel Goethe’s mit dem Grafen K. F. v. Reinhard heraus; im J. 1851 folgte die Correspondenz mit Knebel, von Guhrauer besorgt, im J. 1863 die mit Karl August, die Vogel geordnet hatte. Besonders war es F. Th. Bratranek, dem die Familie ihr Vertrauen geschenkt hatte; ihm übertrug sie die Bearbeitung des Briefwechsels mit dem Grafen v. Sternberg (1866), der Naturwissenschaftlichen Correspondenz (2 Bände, 1874) und des Briefwechsels mit den Brüdern v. Humboldt (1876). Waren auch alle diese gehaltvollen Publicationen mit großem Danke entgegenzunehmen, so ward darum der Abweisung, die ausnahmelos erfolgte, wenn die Forschung an selbst gewähltem Punkte einsetzen wollte, nichts von ihrer peinlichen Wirkung genommen. Das Goethearchiv blieb verschlossen, sein unermeßlicher Reichthum war verloren – „ist reich vergrabner Urne Bauch?“
Die Beschäftigung mit dem Nachlaß des Großvaters hatte Wolf mehrfach in den letzten Jahren nach Weimar geführt; seitdem die Mutter 1870 endgültig hier ihren Wohnsitz wieder aufgeschlagen hatte, wurde auch für Wolf die Geburtsstadt wiederum zur Heimath. Die kleine Familie bewohnte den Oberstock des Goethehauses. Am 26. October 1872 starb Ottilie v. Goethe; bis zuletzt hatte ihr lebhafter Geist Gäste um sich versammelt, nach ihrem Abscheiden fielen die Söhne gänzlich der Vereinsamung anheim. Wolf’s Befinden wurde von Jahr zu Jahr schlechter, die ständigen Badereisen brachten nur unvollkommene Linderung. Nächtliche asthmatische Krämpfe traten hinzu, verbunden mit schweren Angstgefühlen. Der ständigen Nähe und Hülfe eines Wärters konnte der Kranke nicht entrathen. Und da sich im Goethehaus ein Diener nicht unterbringen ließ, siedelte Wolf im Herbste 1879 nach Leipzig über, wo er einen jungen Mann, Namens Thalmann, gefunden hatte, der ihm Pfleger, Secretär, Freund wurde, bei dessen Eltern er lebte. Nicht lange mehr. Am 20. Januar 1883 ist er aus einem Krampfe, der ihn bald nach Mitternacht befallen, nicht wieder zu sich gekommen. Sein Tod ist ihm leichter geworden als sein Leben ihm gewesen war.
- [490] Herman Grimm, Goethe’s Enkel (Vorrede zur vierten Auflage von „Goethe“ 1887). – Géza Kuun, Erinnerungen an Goethe’s Enkel (Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Nr. 84. 24. März 1888). – Otto Mejer, Wolf Goethe. Ein Gedenkblatt. Weimar 1889. – Ludwig Geiger, Wolfgang Goethe der Enkel (Wissenschaftliche Rundschau der Münchener Neuesten Nachrichten. 42. Jahrg. Nr. 310. 9. Juli 1889). – Lily v. Kretschman, Ottilie v. Goethe und ihre Söhne (Westermann’s Monatshefte. 35. Jahrg. 415. Heft). – J. Schwabe, Goethe’s Enkel (Deutsche Revue. 16. Jahrg. Decemberheft). – F. Katt, Goethe’s Lieblingsenkel Wolf (Burschenschaftliche Blätter. 6. Jahrg. Nr. 9, 10. 1., 15. Februar 1892). – Jenny v. Gustedt, August v. Goethe und seine Söhne (Aus Goethe’s Freundeskreise. Braunschweig 1892). – G. Rohlfs, Goethe’s Enkel (Deutsche Revue. 22. Jahrg.). – Jenny v. Gerstenbergk, Ottilie v. Goethe und ihre Söhne Walther und Wolf. Stuttgart 1901.