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Artikel „Neidhart von Reuental“ von Richard Moritz Meyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 395–399, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neidhart&oldid=- (Version vom 12. Dezember 2024, 11:08 Uhr UTC)
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Band 23 (1886), S. 395–399 (Quelle).
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Neidhart von Reuental, nach Walther von der Vogelweide und vielleicht noch neben Heinrich von Morungen der bedeutendste und originellste Lyriker des deutschen Mittelalters, nimmt in der Geschichte des Minnesangs eine wichtige Stellung ein. Als Schöpfer der (von Lachmann so benannten) „höfischen Dorfpoesie“ vereint er in seinen Liedern die beiden großen Richtungen der mittelhochdeutschen Zeit, die höfische und die volksthümliche. Durch den Charakter seiner Poesie mehr, als man dem zeitlichen Verhältniß nach erwarten [396] sollte, von den Führern der mittelhochdeutschen Poesie, Wolfram und Walther, abstehend, vermittelt er in seiner Dichtung den Uebergang von der Blüthezeit zum Verfall. Endlich hat kein Dichter des deutschen Mittelalters so massenhaft Nachfolger und Nachahmer gefunden wie er. –

Für die Geschichte seines Lebens ist strengste Scheidung zwischen dem historischen und dem legendarischen N. erforderlich. Folgende Daten stehen fest: N. war von Geburt ein baierischer Ritter, der das Gut Reuental (wahrscheinlich das heutige Reintal bei Landshut) als Lehen besaß. 1217 betheiligte er sich an dem Kreuzzug Leopolds VII. von Oesterreich. Einige Zeit nach seiner Rückkehr verlor er mit der Gnade seines Lehensherrn sein Gut und verließ deshalb Baiern. Er fand in Oesterreich in Herzog Friedrich (der 1230 zur Regierung kam) einen gütigen Gönner, der ihm bei Melk ein Lehen verlieh und ihm auch sonst reiche Gaben zuwandte. Um 1236 war er noch in Oesterreich, scheint aber, als der Herzog mit dem Kaiser in Zwist gerieth, sich von der Partei seines Beschützers abgewandt zu haben. – 1250 erwähnt Wernher der Gärtner ihn als verstorben. – Unsicher ist, ob N. verheirathet war, doch spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß er Frau und Kinder besaß. Zweifelhaft ist auch die Meinung eines seiner spätesten Gedichte, in welchem er einen Bischof Eberhart anredet und Baiern begrüßt. Haupt deutet die Stelle dahin, daß N. mit Erzbischof Eberhart II. von Salzburg in Steiermark war und von dort nach Baiern zurückkehrte. Schmolke spricht das Gedicht N. ab. –

Die ungemeine Popularität seiner Dichtungen sowie die auffällige Verschiedenheit der bitteren und grämlichen Gedichte aus späterer Zeit von den fröhlichen und harmlosen Liedern seiner Jugend machten N. zum Gegenstand allgemeinen Interesses. Er fand schon bei Lebzeiten zahlreiche Nachahmer, die auch die Theilnahme an den persönlichen Schicksalen des Dichters zu befriedigen suchten. Weniger freie Erfindung als vielmehr falsche Erklärung und Ergänzung seiner eigenen Berichte verschoben in kurzem das Bild Neidhart’s. Die einseitige Betonung seines Bauernspotts machte eine wahre Caricatur aus ihm, seitdem diese Verhöhnung der Landleute zur Erheiterung der kleinen Edelleute und bald auch der Städter immer gröber betrieben wurde. Ueber die Entwickelung der Neidhartlegende fehlt noch eine eingehende Untersuchung. Die größte Verwirrung hat eine erst seit dem 15. Jahrhundert nachzuweisende Entstellung seiner Biographie verursacht. Der Dichter wird nämlich, soweit bekannt, zum ersten Male in einer apokryphen Grabschrift von 1479 „Neidhart Fuchs“ genannt und seit dem Ende des 15. Jahrhunderts als Hofnarr an den Hof Ottos des Fröhlichen († 1339) versetzt. Der Anachronismus erklärt sich aus der beliebten Zusammenstellung Neidhart’s mit dem Pfaffen vom Kalenberg, ebendaher auch die vergröbernde Auffassung, die ihn den Hofnarren spielen läßt. Unerklärt ist der Beiname. Wackernagel wollte den Dichter dem fränkischen Geschlecht derer von Fuchs zuweisen, darauf deutet jedoch kein einziges Anzeichen. Wol aber scheint er mit einem Glied jenes Geschlechtes verwechselt worden zu sein: mit dem Herrn Neidhart von Fuchs auf Burgpreppach, der 1499 im Dienst Herzog Alberts vor Groningen fiel (Mencken, Script. II, 1326. Krüger, Catalogus etc., Erfurt 1627. S. 202). Durch außergewöhnliche Körpergröße ausgezeichnet, war dieser Feldhauptmann bei den Friesen als „der große Fuchs“ bekannt; der Kampf, den beide Neidharte (freilich mit sehr ungleichen Waffen) gegen die Bauern führten, begünstigte die Verschmelzung, und lange vor dem Tod des fränkischen N. verwechselt jene Grabschrift (Pfeiffer’s Germ. 17, 40) den „strenuus miles“ mit dem Dichter. Auch spätere Gelehrte haben noch der prahlerischen Inschrift wegen, die im Würzburger Dom am Kenotaph des Feldhauptmanns prangt, den Schöpfer der höfischen Dorfpoesie für einen Würzburger gehalten. [397] Erst nachdem diese Vermischung sich durchgesetzt hatte, scheint das Grab des Dichters im Wiener Stefansdom mit dem Wappenzeichen des Fuchses geschmückt worden zu sein. Denn seine Leiche ward wol schon im 14. Jahrhundert dorthin übergeführt (Wattenbach. Schriftwesen S. 435), die Sculpturen aber müssen jünger sein, da sie das Verhältniß Neidhart’s zu Herzog Otto als wahr voraussetzen (vgl. Wackernagel, M. S. H. 4, 438b) Eben dieser Verwechselung wegen heißt N. der Dichter dann seit Mitte des 16. Jahrhunderts wiederholt „ein edler Franke“. –

Neidhart’s Dichtungen sind inhaltlich wie formell von großer Bedeutung. Nach der stofflichen Seite zeichnet sie ihre culturhistorische Wichtigkeit aus: für jenen Kampf, in dem Fürsten und Adel den aufstrebenden Bauernstand zum dauernden Schaden Deutschlands von neuem niederdrückten, ist, neben dem trefflichen Wernher dem Gärtner und dem sog. Seifried Helbling, N. ein Hauptzeuge, freilich von Allen der am wenigsten objective. Denn nicht nur steht er – wie jene Beiden auch – mit Entschiedenheit in den Reihen des Adels, nicht blos verschärfen ihm persönliche Momente den Gegensatz, sondern die lyrische Form und die humoristische Tendenz beeinflussen seine Zeichnung so sehr, daß er nicht einmal als Vertreter des bauernfeindlichen Adels ohne weiteres für diesen sprechen kann. Desto mehr gelten die absichtslosen Züge und gelegentlichen Bemerkungen, die denn auch G. Freytag in seinen „Brüdern vom deutschen Hause“ mit großer Feinheit benutzt hat. Mehr aber noch als durch Einzelheiten ist Neidhart’s Stoffwahl als Ganzes ein Zeugniß für den Geist seiner Zeit, welches neben der Minnepoesie nicht übersehen werden darf. Das sociale Motiv, welches gerade für die Geschichte der deutschen Poesie stets von höchster Bedeutung war, stellt als für diese Epoche entscheidend den Gegensatz der französirenden Hofkreise gegen die noch unhöfischen breiten Schichten des Volkes vor Augen. Nicht fromm oder weltlich, wie zu Otfrieds Zeit, nicht gelehrt oder ungelehrt, wie in den Tagen Frauenlobs, sondern höfisch und „dörperlich“ sind hier die Schlagworte. Zugleich sehen wir aber, wie Vieles noch Allen gemein ist: außer dem nirgends fehlenden religiösen und einem nicht geringen politischen Interesse die Freude an der Natur im weitesten Sinn, an heitrer realistischer Lebensschilderung wie an Naturschilderung in traditionellem Stil, zugleich aber auch die Freude an der Kunstform, an poetischer und musikalischer Gewandtheit und treffendem Ausdruck. Für all dies war der lebhafteste Sinn in den breiten Kreisen rege, die sein Publicum ausmachen und die nur geographisch, keineswegs aber social eingeschränkt scheinen. –

In formeller Hinsicht genügen Neidhart’s Lieder diesen Anforderungen vor allem durch den Zauber eines stets höchst glücklich gewählten Rhythmus, den eine zum Tanz unwiderstehlich lockende Musik verstärkte. Die Gedichte zerfallen in Reien für die Sommertänze im Freien und Lieder für die Wintertänze in der Stube und wurden ohne Zweifel meist wirklich zum Tanz vorgetragen. Beide Arten sind Fortbildungen uralter volksthümlicher Tanzlieder, von denen nur Reste erhalten sind und die den Schnaderhüpfeln, welche baierische und österreichische Bauern noch jetzt zum Tanz improvisiren, ähnlich zu denken sind (vgl. hierzu meine Abhandlung über „Altdeutsche Volksliedchen“ in d. Zeitschr. f. Deutsches Alterthum, Bd. XXIX, S. 121 ff.). Aber wie die Tänze selbst, tragen auch die dazu gesungenen Lieder für Sommer und Winter verschiedenen Charakter (vgl. v. Liliencron, Deutsches Leben im Volkslied, S. LVI f.). Die Reien, die im Sommer auf dem allgemeinen Tanzplatz unter der Dorflinde gesungen werden, sind leicht und lustig; dem entspricht der frische und harmlose Ton der Sommerlieder. Wie ferner mit dem Frühlingstanz die Anfänge nationaler [398] Dramatik zusammenhängen (Wettstreit von Sommer und Winter u. dgl.) so tragen auch diese Gedichte meist dialogische Einkleidung, die sich oft dramatischer Lebendigkeit nähert. Es werden hierbei die natürlich uralten Typen der Mutter und Tochter in Bewegung gesetzt, und zwar nach Motiven, die gleichfalls bereits der indogermanischen Poesie angehören. Immer dreht sich die Handlung um die mit dem Frühling neu erwachende Lust der Bäuerinnen zu Tanz und Minne (vgl. Uhland, Schriften III, 391 ff.). Entweder werden die jugendlichen Gefühle der Alten verspottet, oder es wird die wachsame „huote“ der Alten, die die Tochter vor den Gefahren des Tanzes hüten will, von der Jungen vereitelt, oder endlich es tritt auch zwischen den Mädchen selbst ein Gegensatz ein, indem das dankbare Motiv der ungleichen Gefährten, der „Bleichen“ und „Rothen“ (über das Uhland a. a. O. 403 ff. wunderschön gehandelt hat) in Scene gesetzt wird: die eine Jungfrau ist fröhlich im Besitz ihres Geliebten, die andere trauert um den Verlust des Liebhabers oder gar der Ehre. – Die Winterlieder werden in einer besonders weiten Stube „getreten“, sie sind schwerer und langsamer, den höfischen Tänzen näher verwandt. Hier findet denn mehr ernsthafte Betrachtung, besonders aber boshafte Spottsucht Raum zur Bethätigung. Der Vortänzer, der die Stube aussuchen und bei den Jungen den Tanz ansagen muß, spielt hier eine größere Rolle, und da er zugleich Vorsänger ist, hat das Wintertanzlied einen mehr monologischen Charakter. N. scheint zuerst mit der Aufforderung zum Tanz die beim Tanzen gesungenen Neckverse in die Litteratur eingeführt zu haben; die durchaus in volksthümlicher Art gehaltenen Spottstrophen gelten hier den Bauern und führen am liebsten die Motive des prunksüchtigen und doch rohen sowie des streitsüchtigen und doch zum Kampf ungeschickten Tölpels an. Eine Einheit wird in diesen Strophenreihen durch einen epischen Faden hergestellt, der den Verlauf des Tanzes von der Ansage bis zur Schlußprügelei vorführt. Doch bleibt das Gefüge ein lockeres, einige wenige Gedichte ausgenommen, die auf dem Kreuzzug unter der Einwirkung der altfranzösischen Pastourellen gedichtet zu sein scheinen. – Ein Fortschritt von rein typischer zu individualisirender Satire, dem aber wieder ein Sinken folgt, ist nicht zu verkennen. Im ganzen sind die Winterlieder erheblich gleichförmiger, als die Sommerlieder; ihre sehr viel größere Zahl aber deutet mit anderen Anzeichen darauf, daß sie von den Hörern noch vorgezogen wurden.

Auf dieser Anlehnung an den Volkstanz beruht es, daß die Reien (neben den sogenannten Leichen) von allen mittelhochdeutschen Liedern fast allein mit ihrem zweitheiligen Strophenbau eine Ausnahme von dem durch J. Grimm entdeckten Gesetz der Dreitheiligkeit machen. Häufige Anwendung von volksthümlich-unhöfischen Ausdrücken und Bildern, Gebrauch komisch wirkender Eigennamen, ein loseres Gefüge der Rede, bei dem wol der Satz aber nicht immer der Sinn mit der Strophe abschließt entsprechen dem Ursprung wie dem Zweck dieser Lieder. Da der Dichter sich jedoch seit seiner Uebersiedelung nach Oesterreich ausschließlich den höfischen Kreisen widmete und directe Berührung mit den Bauern mied, nähert sich seine Poesie seitdem der höfischen mehr, doch nur in Aeußerlichkeiten: er nimmt in das lockere Gefüge seiner Strophenreihen auch Minnestrophen auf, gebraucht die hergebrachten Ausdrücke und Wendungen der Hofdichtung und ersetzt die volksthümlichen Anklänge durch Reminiscenzen an Walther und Reinmar. Der Kern seiner Dichtung wird dadurch nicht berührt. Eben hierdurch ist es ermöglicht, die in einer guten Handschrift überlieferte Reihenfolge seiner Lieder zu prüfen; es ergibt sich dabei ein stetiger Fortschritt in Hinsicht der Technik, bis ein starker und zunehmender Verfall eintritt; durch alle Epochen aber bleiben die charakterisirten besonders inhaltlichen Merkmale unverändert. Die Thatsache, die seine Entwickelung unterbrach und von ihm [399] selbst als Beginn der verbitterten Zeit des Sinkens aufgefaßt wird, die geheimnißvolle Geschichte von dem Spiegel einer Bauernmagd Friderun, den dieser der Bauer Engelmar entriß, hat ihre Bedeutung jedenfalls gerade in der Entfremdung von den Landleuten. Gehässige Verfolgung tritt seitdem auf beiden Seiten an die Stelle leichter Neckereien und Neidhart’s Augenmerk geht von der formellen und technischen Behandlung allzusehr auf den Inhalt. Durch diese Tendenz hat er die Fülle grober und meist schmutziger Anekdoten von Bauerntölpeleien leider selbst angeregt, die dann auf seinen Namen gingen und gegen 1500 in einem Volksbuch gedruckt wurden. –

N. war eine echte Künstlernatur, voller Begabung und Temperament, erfüllt von Liebe zu seiner Kunst, liebenswürdig und elegant, zugleich aber unpraktisch und unselbständig, eitel und empfindlich, man möchte fast sagen nervös, wie denn bei ihm oft moderne Gedanken und Wendungen überraschen. Neben einer stark hervortretenden Spottsucht lag eine Sentimentalität, die in kleinen Bitt- und Dankstrophen gelegentlich rührenden Ausdruck findet; seine Religiosität ist dagegen trotz wiederholter Selbstbekehrungen nie tief gegangen. Sein Talent wie seine Neigung wiesen ihn auf die in der Form leichte, im Inhalt oberflächlich aber anschaulich skizzirende Poesie, die ihn berühmt gemacht hat; wo er ernstere Melodien anstimmt oder allgemeine Gedanken aussprechen will, wird er leicht schwerfällig oder trivial. Deshalb hat er auch zu seiner Zeit mehr die Menge für sich gehabt als den Beifall der Besten. Wolfram gedenkt seiner mit gutmüthigem Spott, Walther scheint ein scharfes Streitlied auf seine Art zu dichten gemünzt zu haben. Die späteren Dichter loben den gefeierten Eponymus einer allverbreiteten Gattung gern; den Meistersingern galt er für einen der zwölf Stifter der Singschule. Mehr als dies alles zeigt aber die Legende wie ihn das Volk auffaßte. So ist die Tradition zur Rächerin seines aristokratischen Uebermuths und seiner bezahlten Satire geworden, ohne doch seinen hohen Gaben und sympathischen Eigenschaften gerecht zu werden. Eine eingehende Würdigung seines weitreichenden Einflusses ist noch kaum versucht.

Neidhart’s Gedichte sind in unübertrefflicher Weise von M. Haupt 1858 herausgegeben worden. – Aus der Litteratur über ihn sind besonders wichtig: Wackernagel in von der Hagens Minnesingern IV, 435–42 und Schmolke im Programm des Gymnasiums zu Potsdam, Ostern 1875 für die Biographie; Wackernagel in den Blättern für litt. Unterhaltung, 1838, Nr. 139 u. 140 für die Legende; ferner v. Liliencron, Haupt’s Zs. VI, 69–117; Tischer, Ueber Nithart von Riuwental, Leipzig 1872, Wilmanns, Ztschr. f. d. Alterth. XXIX, 64 f. für die literar-historische Würdigung. Weitere Litteraturangaben im meiner Dissertation Die Reihenfolge der Lieder Neidhart’s von Reuenthal, Berlin 1883, S. 6 f.