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Artikel „Wattenbach, Wilhelm“ von Carl Rodenberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 44 (1898), S. 439–443, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wattenbach,_Wilhelm&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 20:15 Uhr UTC)
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Wattenbach *): Ernst Christian Wilhelm W. wurde am 22. September 1819 zu Ranzau in Holstein geboren, im Hause seines Großvaters mütterlicherseits August v. Hennings (A. D. B. XI, 778). Er entstammte einer Pastorenfamilie, doch hatte sein Vater die gelehrte Laufbahn aufgegeben und lebte als Kaufmann in Hamburg. Nach dem frühen Tode desselben siedelte die Mutter mit ihren Kindern nach Lübeck über, wo W. das Gymnasium besuchte und mit seinen Mitschülern Ernst und Georg Curtius und E. Geibel Freundschaft fürs Leben schloß. Im J. 1837 bezog er die Universität, um in Bonn, Göttingen und Berlin classische Philologie und Alterthumswissenschaften zu studiren. Neben diesen Hauptfächern beschäftigten ihn vergleichende Sprachforschung und germanische Philologie; in Berlin besuchte er auch Vorlesungen bei Ranke, ohne [440] diesem jedoch damals näherzutreten. Seine Neigung war dem Alterthume zugewandt. Am 22. Juli 1842 promovirte er in Berlin mit der Dissertation: „De quadringentorum Athenis factione“, und nachdem er das Oberlehrerexamen bestanden hatte, trat er als Probecandidat in das Joachimsthal’sche Gymnasium ein.

Hier war Wilh. Giesebrecht sein College, und dem Verkehre mit diesem dürfte ein Antheil an der Wandlung beizumessen sein, die nun in W. vor sich ging. Die wieder lebendig gewordenen Erinnerungen an die mittelaterliche Kaiserzeit, die genährt wurden durch die Sehnsucht nach der politischen Wiederaufrichtung Deutschlands, ergriffen auch ihn: er begann sich mit den mittelalterlichen Quellen zu beschäftigen. Als G. Waitz 1843 an die Universität Kiel berufen wurde, trat W. in seine Stelle als Mitarbeiter bei den Monumenta Germaniae ein. Seitdem hat sein Leben und seine Arbeit ganz der mittelalterlichen Geschichte angehört. In dem neuen Stoffe wurde er bald heimisch, wie er überhaupt leicht und schnell producirte; und die Vertrautheit mit der Methode und Editionstechnik der classischen Philologie, dazu seine hervorragende Kenntniß des Lateinischen in Poesie und Prosa sind ihm auf dem neuen Arbeitsfelde, und besonders bei den Arbeiten für die Monumenta, die historische und philologische Schulung zugleich verlangen, sehr zu statten gekommen. Seine Ausgaben, deren erste die Chronik von Monte-Cassino 1846 (Scriptores VII) war und die sich dann rasch folgten, zeichnen sich ebenso sehr durch ihre philologische Sicherheit wie durch ihre historische Kritik aus.

Für die Herausgabe des wirren Knäuels der österreichischen Annalen, die vom 12. bis ins 16. Jahrhundert reichen, unternahm W. im August 1847 eine Forschungsreise durch die österreichischen Archive und Bibliotheken. Er lernte hierbei das Oesterreich vor der Revolution kennen. In den von der neueren Zeit wenig berührten österreichischen Stiftern, die den Fremden und Protestanten gastfrei und unbefangen aufnahmen, sah er Bilder klösterlichen Lebens, die er als eine werthvolle Ergänzung der ihm aus den mittelalterlichen Quellen gewordenen Anschauungen betrachten durfte; denn immer war es ihm Bedürfniß die Vergangenheit als Bild mit festen Linien und klaren Farben zu sehen. Die Revolution von 1848, an der er innerlich starken Antheil nahm, unterbrach seine Arbeiten in Oesterreich, die 1849 wieder aufgenommen und vollendet wurden. Der Hauptertrag der Reise war die vortreffliche Ausgabe der österreichischen Annalen in Scriptores IX. Aber auch mancherlei anderes wurde bei ihm durch das Studium von Handschriften und Urkunden angeregt, das später ausgearbeitet und veröffentlicht wurde, Untersuchungen zur ältesten slavischen Kirchengeschichte, über das Zeitalter des heiligen Rupert, über mittelalterliche Briefsteller und Formelbücher und anderes mehr. Aufsehen machte sein Nachweis, daß das sogenannte größere Privileg Friedrich’s I. für das Herzogthum Oesterreich von 1156 eine Fälschung und nur das kleinere echt sei. Der Widerspruch, der sich dagegen in Oesterreich erhob, ist längst verstummt.

Im Jahre 1851 habilitirte sich W. in Berlin als Privatdocent. Als Specialgebiet erkor er sich Quellenkunde, Paläographie und Diplomatik. Las er auch über politische Geschichte, so zogen ihn doch Politik, Staat und Recht viel weniger an als die Bewegungen des geistigen Lebens, die Geschichte der gelehrten Bildung, die Klöster, Schulen und Vaganten und ihr Kleinleben; hier war er wie kein zweiter zu Hause. Seine Erfolge als Docent waren anfangs beschränkt, wenn er auch treue Schüler hatte. Sein Vortrag war nicht blendend; er hatte nicht die Persönlichkeit, die beim ersten Auftreten fortriß oder imponirte; und immer ist bei ihm das geschriebene Wort wirksamer gewesen als die Rede.

Da die erwartete Professur ausblieb, nahm W. 1855 die Stelle eines [441] Provinzialarchivars in Breslau an. Er war eine Natur, die das Bedürfniß und die Fähigkeit hatte sich ihrer Umgebung anzupassen und die für äußere Anregungen empfänglich war. Durch seine Amtsthätigkeit in die schlesische Geschichte geführt, vertiefte er sich in dieselbe und wurde ihr eifriger Förderer. Er eröffnete 1858 den Codex diplomaticus Silesiae mit Publicationen von Urkunden schlesischer Klöster, und die Zeitschrift für schlesische Geschichte verdankt ihm eine Reihe werthvoller Aufsätze.

Daneben ruhte weder die Thätigkeit für die Monumenta noch verlor er sein eigentliches Arbeitsgebiet aus den Augen. In Breslau ist das Hauptwerk seines Lebens entstanden, „Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts“ (1858), veranlaßt durch eine Göttinger Preisaufgabe. Das Buch war ein großer und glücklicher Wurf. Indem W. nicht von den einzelnen Chroniken und Annalen, sondern von der Geschichte der gelehrten Bildung und der Schulen ausgeht, entwickelt er aus der Vorstellungswelt und den geistigen Hülfsmitteln der Epochen und den Lebensverhältnissen und den persönlichen Eigenschaften der Autoren die charakteristischen Züge ihrer litterarischen Production. In glänzender Darstellung, mit einer kräftigen Anschaulichkeit schildert er eine Seite des mittelalterlichen Geisteslebens. Zugleich aber hat er für jeden Autor die ganze, damals weit verstreute Litteratur über seinen Bildungsgang und seine Arbeitsweise, über Ausgaben, Ueberlieferung und anderes zusammengetragen, mit kundiger Hand gesichtet und ergänzt und sauber verarbeitet, und so ein Nachschlagebuch geschaffen, das seitdem unentbehrlich geworden ist. Die neue kritische Methode, welche verlangt, daß man die Quellen zunächst ohne Rücksicht auf die in Aussicht genommene Verwendung für sich behandelt, um für jeden Schriftsteller aus der Gesammtheit seines Schaffens einen sicheren Standpunkt für seine Beurtheilung zu gewinnen, ist von W. nicht erfunden; aber außer Waitz hat wol niemand mehr dafür gethan, daß sie als unabweisbare Forderung allgemein anerkannt und beachtet wurde, und durch ihn waren Vorbild und Grundlage für weitere Untersuchungen gegeben. Die neuen Auflagen der Geschichtsquellen wurden von W. stets auf der Höhe der zeitigen Forschung gehalten; die sechste erschien 1893/94, 2 Bde.

Im J. 1862 wurde W. in die akademische Laufbahn zurückgeführt, indem er nach Heidelberg berufen wurde, und hier hat er im Kreise von bedeutenden Collegen und Freunden wie Häusser, Zeller, Helmholtz, Wundt, Treitschke elf glückliche Jahre verlebt. Sein Arbeitsgebiet erweiterte sich nach zwei Seiten. Die Gelehrtenpoesie des Mittelalters, die lateinischen Reime und Rhythmen, bisher meist wenig beachtet, aber für die Litteraturgeschichte und Culturgeschichte von Werth, fanden an ihm einen liebevollen Bearbeiter. Er hat eine Menge unbekannter Stücke aus den Handschriften ausgegraben, deren oft stark verderbte Texte er wie kein anderer wiederherzustellen wußte. In diesem Fache galt er als der beste Kenner. Andererseits behandelte er die Anfänge des Humanismus in Deutschland. W. verstand in Handschriften zu finden, was eine Gabe und nicht nur Glück ist, und solche Funde wußte er zu anziehenden kleinen geschichtlichen Bildern zu verarbeiten. So entstand eine Reihe von Aufsätzen über ältere deutsche Humanisten.

Das Hauptwerk der Heidelberger Zeit war sein „Schriftwesen im Mittelalter“ (1871), ebenfalls ein Buch, das jetzt in den Händen aller Fachgenossen ist. Die Technik der Schreibekunst hatte W. immer beschäftigt, und in Vorlesungen behandelte er die Paläographie als gesonderte Disciplin, was seiner Zeit etwas neues war. Auch in diesem Fache entwickelte sich W. zu einer ersten Autorität. Aus lithographirten Blättern, die er für seine Collegien herstellen ließ, gingen seine Anleitungen zur griechischen und zur lateinischen Paläographie [442] hervor (1867 und 1869), anspruchslose Hefte, aber ungemein instructiv und später wieder aufgelegt. Daneben sammelte er alles, was auf die Herstellung der Bücher und Urkunden Bezug hatte, und aus einem Material, das von den entlegensten Stellen mit bewunderungswürdiger Umsicht und Findigkeit zusammengebracht war, schuf er in seinem Schriftwesen ein Buch, das voll von fremdsprachigen Citaten ist, aber frisch und lebendig geschrieben uns Bilder von großer Unmittelbarkeit aus den mittelalterlichen Schreiberstuben und Bibliotheken und von dem Vertriebe der Schriftwerke gibt. Die dritte Auflage erschien 1896.

Im J. 1873 wurde W. für das Fach der historischen Hülfswissenschaften nach Berlin berufen. Er fand hier alte Freunde, eine erfreuliche Lehrthätigkeit und mannichfache andere Arbeit. Als 1875 die Monumenta Germaniae reorganisirt wurden, trat W. in die Centraldirection ein und übernahm die Abtheilung Epistolae und die Redaction des „Neuen Archivs für ältere deutsche Geschichtskunde“, doch lieferte er auch Arbeiten für andere Abtheilungen. Nach dem Tode von Waitz 1886 wurde ihm provisorisch die Leitung des ganzen Unternehmens übertragen, die er fast zwei Jahre führte. Daß ihm dann die Stelle von Waitz doch versagt wurde, war für ihn ein Schmerz, den er lange nicht verwunden hat. Er zog sich von seiner Thätigkeit bei den Monumenta zurück, blieb aber in der Centraldirection und hat sich schließlich auch mit denen, die ihm damals gegenüberstanden, wieder ausgesöhnt.

In der Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er 1881 wurde, hielt er u. a. Vorträge über das Sectenwesen und die Inquisition in Brandenburg und Pommern im 14. Jahrhundert, auf Grund handschriftlicher Funde. Zusammen mit Sybel und Weizsäcker, später mit Lenz und Koser hatte er die Direction des historischen Instituts in Rom. Unter seiner Aufsicht und Mitwirkung veranstalteten Kaltenbrunner, Ewald und Löwenfeld 1885–1888 die zweite Auflage von Jaffé's Regesta Pontificum. Im J. 1873 ward er zum ordentlichen Mitglied der Münchener „Histor. Commission“ ernannt, an deren Jahressitzungen und Berathungen er stets den regsten Antheil nahm. Auch schrieb er für die Allgem. Deutsche Biographie eine Reihe werthvoller Artikel, hauptsächlich aus dem Gebiete der älteren deutschen Geschichtsschreibung. Dazu hielten ihn Recensionen und kleinere Monographien und die dauernden Arbeiten für die neuen Auflagen seiner Bücher in Thätigkeit.

Wattenbach’s eigentliches Arbeitsgebiet war nur den Fachgenossen zugänglich. Wie er sich aber gegen die lebendige Welt nicht abschloß – er hat auf Reisen, meist mit seinem Bruder, fast alle Länder Europas kennen gelernt –, so hat er stets gewünscht, daß die Ergebnisse der gelehrten Forschung auch weiteren Kreisen mitgetheilt würden, und er war zu einer solchen Vermittlung durch seine Gabe leicht und gefällig zu schreiben wie wenige befähigt. Zu populärwissenschaftlichen Vorträgen ließ er sich nicht schwer bewegen. Aus Vorträgen in Berlin ist seine „Geschichte des Papstthums“ (im Mittelalter, 1876) hervorgegangen, ein Werk, das zwar den Gegenstand nicht erschöpft, aber scharf und fein gezeichnete Bilder von Persönlichkeiten und geistigen und religiösen Zuständen bietet. Von Pertz übernahm er die Leitung der „Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit“, einer Sammlung von Uebersetzungen der wichtigsten mittelalterlichen Geschichtserzählungen, deren Bearbeitern er ein ebenso selbstloser wie kundiger Helfer war. Im deutschen Schulverein war er ein thätiges Mitglied. Weiter ins öffentliche Leben hinauszutreten, fehlte ihm der Beruf, doch hatte er seine bestimmten politischen und kirchlichen Anschauungen, welche die des gemäßigten Liberalismus waren.

Seit seiner Breslauer Zeit lebte er mit seinen beiden Schwestern Sophie und Cäcilie zusammen. Als beide gestorben waren, verheirathete er sich Ostern [443] 1885 mit seiner Cousine Marie v. Hennings, mit der er bis zu seinem Tode in glücklichster Ehe gelebt hat. W. liebte die Geselligkeit, und sein Haus ist alle Zeit gern besucht worden. Ganz gab er sich aber erst im kleineren Kreise, wo er sich mit einer gewissen Gemächlichkeit gehen lassen konnte. Hier war er ein vortrefflicher Erzähler, voll Laune und Humor. Bei einem großen natürlichen Wohlwollen war er milde im Urtheil und im Verkehr ohne persönliche Schärfe, doch konnte man gelegentlich ganz derbe Worte des Tadels von ihm vernehmen. Aber er fand schnell das Gleichgewicht der Seele wieder, das er sich nicht stören lassen wollte. Nachdem er sich in früheren Jahren hatte durchringen müssen, ist ihm ein glückliches Alter in Ehre und Anerkennung beschieden gewesen. Seine Arbeitsfähigkeit war kaum vermindert, als er am 20. Septbr. 1897 vom Tode ereilt wurde. In Heidelberg neben seinen beiden Schwestern ist er begraben worden.

S. Löwenfeld, Wilh. Wattenbach, Preuß. Jahrbücher (1889) 64, 408 bis 429. – K. Zeumer, Wilh. Wattenbach, Histor. Zeitschr. 80, 75–85. – G. Seeliger, Deutsche Zeitschr. f. Geschichtswissensch., N. F. 1897/98, 2. Bd. Monatsbl. 7/8, 205–211. – E. Dümmler, Neues Archiv für ältere d. Gesch. 23, 569–578, wo die zahlreichsten litterarischen Nachweise über Wattenbach’s Arbeiten zu finden sind.

[439] *) Zu Bd. XLI, S. 244.