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Artikel „Curtius, Ernst“ von Otto Kern in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 580–597, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Curtius,_Ernst&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 00:27 Uhr UTC)
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Curtius: Ernst C. Seine Geburt (2. September 1814) fällt in die Zeit von Preußens Erhebung, an der auch die freie Reichsstadt Lübeck, wo er Fischstraße Nr. 92 (jetzt Nr. 8) als Sohn des Syndikus Karl Georg C. (1771–1857) geboren wurde, nach wechselvollen Schicksalen Antheil nehmen mußte. Die Familie Curtius war nicht altangesessen in Lübeck, sondern schrieb ihren Ursprung aus Livland her, aus dem Dr. med. Karl Werner C. nach Deutschland gewandert war, um in der alten Hansastadt an der Trave ein Geschlecht zu gründen, das der Stadt Lübeck und dem gesammten Vaterlande hervorragend tüchtige Männer geschenkt hat. Gleich der jüngste Sohn dieses Livländers, der Vater von Ernst C., wurde eine Zierde Lübecks und ihre thatkräftige Stütze in schwerster Zeit. 56 Jahre lang hat Karl Georg C. das Amt des Syndikus in seiner Vaterstadt versehen, und wo immer es galt, eine schwierige, verantwortungsvolle Mission zu übernehmen, wurde er von seinen Mitbürgern dazu erwählt. In steter gemeinnütziger Arbeit für das Wohl Lübecks ist sein Leben dahingeflossen. Während der Franzosenzeit hat er, von Napoleon I. geächtet, zwei Mal das schwere Loos der Verbannung aus seiner Vaterstadt kosten müssen. Als er nach der Schlacht von Leipzig, im December 1813, aus Mecklenburg nach Lübeck zurückgekehrt war, begann für ihn ein neues Leben. Neun Monate darauf wurde sein Sohn Ernst geboren, an dessen Wiege also stolze Lieder zum Preise der Befreiung Deutschlands aus der Fremdherrschaft ertönten. Ernst Curtius’ Mutter hieß Dorothea und war die jüngste Tochter des Senators Plessing, die erst zwei Jahre vor der goldenen Hochzeit ihrem Gatten durch den Tod entrissen wurde. Was Ernst C. seinem Elternhause verdankt, hat er öfter ausgesprochen, so vor allem in den Erinnerungen an seinen Bruder Georg (Alterthum und Gegenwart III, 216–233). Schon als 21jähriger Jüngling hat er in einem Briefe an seine Cousine Victorine Boissonnet, die ihm eine Schwester war, des Vaters Bild gezeichnet als den leuchtenden Stern seiner Lebensbahn. Wir verdanken die Kenntniß dieses Briefes dem Lebensbild von Ernst Curtius, das sein einziger Sohn Friedrich (Berlin 1903) aus den Briefen des Vaters zusammengestellt hat. Die dort veröffentlichten Jugendbriefe namentlich sind das wichtigste Document für Curtius’ Biographie und zeigen, daß der Greis die Traditionen des Vaterhauses und die Eindrücke seiner Jugend treu bewahrt hat. So schreibt er aus Berlin, 7. März 1836, dem Geburtstag des Vaters, folgende Worte (Lebensbild Seite 65): „Ich erkenne es dankend und preisend an am heutigen Tage, daß Gott mir einen Vater gegeben hat, der mir in jeder Beziehung ein Bild männlicher Tüchtigkeit sein kann. O wie herrlich steht er mir vor Augen – seine feste Gestalt, sein ernstes Gesicht, dessen starke Züge durch die Freundlichkeit seines [581] Blickes gemildert werden. Er ist mir das Vorbild eines christlichen Hausvaters. Das habe ich diesmal in ganzer Stärke empfunden, als ich zuerst wieder mit den Meinen am Tische saß und Vater die Hände faltete und für uns betete, wie ergriff mich das mit ungewohnter Rührung, mir drangen die Thränen in die Augen, und ich wußte mich kaum zu fassen. Die ganze Herrlichkeit eines christlichen Familienlebens trat mir vor die Augen; Und nun diese unermüdliche Thätigkeit als Staatsmann, dies Resigniren auf eigene Anerkennung, was nur zu gut angebracht ist in unserer Vaterstadt, dies lebendige Interesse für alles Einzelne seiner Geschäfte und endlich dieser offene Sinn für alles Herrliche in Wissenschaft und Kunst, welcher unter aller der Geschäftsthätigkeit nicht gebeugt wird. Dieser Eifer für alles Geistige, wie und wo es sich regt, und bei aller Tüchtigkeit und Verdienst die kindliche Demuth – ja das ist ein Größtes, das ist die Krone, die Glorie seiner Vortrefflichkeit. ‚He is a Man, take him for all in all‘, das gilt wahrhaft von ihm, denn sein Wesen ist so vollständig und so aus einem Gusse, seine Persönlichkeit so sicher und fest ausgeprägt, wie es jetzt immer seltener wird bei der zunehmenden Vermischung eigenthümlicher Individualitäten. Wie bewältigt fand ich mich immer neben ihm, und doch auch wieder gehoben. Seine Nähe war mir immer erbaulich, wie ich es diesmal erst recht empfunden habe. Solch ein Gefühl ist zu groß, um in Worte gefaßt zu werden. Es hat nur in Gesinnung und That seinen analogen Ausdruck, und es ist mein wärmster Wunsch, daß ihm immer heller auf diese Weise meine Dankbarkeit entgegentrete und daß sein Vorbild mehr und mehr ein leuchtender Stern meiner Lebensbahn werde! Und wie herrlich glänzt ihm zur Seite der Stern der mütterlichen Liebe, der unvergleichlichen Zärtlichkeit eines nur im Wohle der Kinder athmenden Mutterherzens – ja auf diese beiden Sterne will ich immer mehr meine Blicke heften und nach ihnen meine Schritte lenken. Sie führen Blick und Herz zum Himmel. Alle Liebe zu den Eltern ist wesentlich religiös. – –“

Neben der Pflege demüthigen, christlichen Sinnes, der den letzten Olympioniken nie verlassen hat, erwähnt C. in den Erinnerungen an seinen Bruder als Tradition seines Vaterhauses die Liebe zur bildenden Kunst. Auch die Neigung zu den classischen Studien hat Ernst von seinem Vater empfangen, der mit den heranwachsenden Söhnen in den Abendstunden gern lateinische Dichter las. Ernst C. war der dritte von vier Brüdern. Der älteste, Paul Werner, wurde Theologe und starb in frühen Jahren, als Ernst zum ersten Male in Griechenland weilte. Der zweite, Theodor, trat als Jurist ganz in die Fußstapfen des Vaters und wurde wie dieser ein hervorragender Beamter seiner Vaterstadt. Der jüngste Bruder, Georg, wurde wie Ernst zur classischen Alterthumswissenschaft gezogen und gehörte später wie er zu ihren bahnbrechenden Meistern. Alle vier Söhne haben das Katharineum besucht, dessen Angelegenheiten der Vater als Vorsitzender des Schulcollegiums seit 1810 leitete. Unter zum Theil vortrefflichen Lehrern hat C. seine Schulzeit mit Ehren durchgemacht und am 1. April 1833 unter dem Director Jacob sein Abiturientenexamen bestanden. Er hatte überall sehr gute Kenntnisse, nur in Hebräisch, Französisch und Mathematik gut. Daß sein Entschluß, classische Philologie zu studiren schon früh erwachte, beweist am besten ein Brief an seinen Bruder Theodor, den dieser als Student von dem 15jährigens Ernst empfing. Er schreibt an ihn aus Lübeck am 7. Januar 1830 (Lebensbild S. 2):

„– – Was sagst Du zu meinem Plan, mich ganz der alten Litteratur und ihrem Verständniß zu widmen? Welch ein Quell des reinsten, herrlichsten, [582] göttlichsten Lebensgenusses ist die classischen Litteratur, wie erfreulich und belehrend ist ein scharfes Eindringen in das hehre Alterthum und das Auffassen des wahrhaft Schönen in seinen edelsten Denkmälern! Und wie anziehend, wie geisteslabend sind ihre beiden Haupthülfswissenschaften, die Alterthumskunde im engeren Sinne und die Geschichte der Völker, Wissenschaft und Kunst! Wahrlich alles vereinigt sich, dies Studium so verlockend als möglich zu machen für jeden die Wissenschaft Liebenden. Aber die Musen sind spröde Damen. Sie wollen keinem Anderen den reichen Schatz ihrer Genüsse und Freuden öffnen als der durch viele Anstrengung den Standpunkt erklimmt, von wo er ihren nahen, blendenden Blick ertragen kann. Und, laß es mich Dir aufrichtig gestehen, noch fühle ich bei weitem nicht jenen Fleiß in mir, den eine tüchtige philologische Bildung schon früh erfordert. Ich treibe wohl eifrig, was mich anzieht, aber Vieles lasse ich weniger beachtend liegen. Ausdauer fehlt mir noch, und soll ich den Sonntag tanzen, so werfe ich schon Freitag Abend den Cicero in die Ecke. Dennoch hoffe ich, daß mit den Jahren und der hoffentlich zunehmenden Charakterfestigkeit auch Ausdauer und Fleiß wachse. Was mir besonders fehlt, ist ein guter Freund, der auf ungefähr gleichem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung stehend in freundschaftlichem Gedankenaustausche auf mich wirkte. – –“ Ein solcher Freund fand sich bald in Emanuel Geibel, dem auch in der Fischstraße wohnenden Predigersohne, mit dem er schon während seiner Primanerzeit näher bekannt wurde. Beide gehörten einem Schülervereine an, in dem man Vorträge hielt und wacker disputirte. Die Liebe zur Poesie, die in ihnen namentlich ihr Lehrer Professor Ackermann durch die geistvolle Erklärung der römischen Elegiker erweckt hatte, verband beide Jünglinge und führte sie zu Goethe, den sie viel zusammen lasen. C. verließ ein Jahr vor Geibel das Gymnasium, um in Bonn Philologie und Theologie zu studiren. Seine Briefe an die Eltern und Victorine Boissonnet sind dafür Zeugniß, daß die Philologie bald die Oberhand gewann, wenn ihn auch die Neigung zu wissenschaftlicher Theologie sein Leben lang begleitet hat. Er hat in der That einmal an die Theologie als seinen Lebensberuf gedacht. Den Abscheu vor allem Rohen und Gemeinen, den ernsten frommen Willen und den Sinn für alles Hohe und Ideale nahm er aus dem Vaterhause in das Universitätsleben mit, in dem ihm das gewöhnliche Thun und Treiben der Studenten sehr wenig behagte. Statt der Commerse suchte er sein liebes Thurmstübchen auf, in dem er täglich seinen alten Homer las, „um ihn im Zusammenhange aufzufassen und so den Geschmack für das wahrhaft Antike recht in sich zu beleben“. In Bonn führte namentlich Friedrich Gottlieb Welcker die philologischen Geister und packte auch den jungen C. so tief, daß er ihn zusammen mit Otfried Müller und Boeckh oft als seinen Meister bezeichnet hat. Einem Propheten ähnlich, verkündete Welcker vom Katheder herab die Botschaft des Hellenenthums und erläuterte, einem Dichter gleich, die größten Werke griechischer Kunst und Poesie. In einem Brief an seinen Vater (Lebensbild S. 15) bekennt C., daß ihm Welcker’s Weise in Behandlung der Philologie ungemein gefällt, während seine beiden anderen Lehrer, Naeke und Heinrich nur historisches Wissen haben. „Er hat eine ganz andere innere Anschauung von dem gesammten Nationalsinn der alten Welt und besonders von dem der alten Hellenen.“ Die Theilnehmer am philologischen Seminar behagen ihm nicht, weil sie größtentheils recht arm an geistiger und lebendiger Auffassung der Alterthumswissenschaft sind. Von anderen Lehrern der rheinischen Hochschule zog ihn besonders der Geschichtschreiber der griechischen Philosophie Christian August Brandis an, auf den der nur seinen Idealen lebende Jüngling einen besonders vortheilhaften [583] Eindruck gemacht haben muß, da er ihn später als Erzieher seiner Söhne mit nach Griechenland nahm. Auch mit Rud. Heinrich Klausen, dem Verfasser von „Aeneas und die Penaten“, trat er in nähere Verbindung, pries seine ausgezeichneten Kenntnisse, aber beklagte dabei sehr, daß er aus Mangel an äußerem Lehrtalent einen so geringen Wirkungskreis habe.

Während ihm bald (5. Juli 1834 an den Vater) eine Professur in Bonn als Lebensideal vorschwebte, gefiel ihm das dortige Studentenleben sehr wenig, und unverholen lobte er die norddeutsche Sitte „im Vergleich mit dem rheinischen Leben und Treiben“. Er gestand offen, daß sein Idealbild des Studentenlebens verloschen sei, träumte von der alten guten Zeit des Bruder Studios und fand statt Jugendmuth, Frohsinn und Lebendigkeit überall nur Ueberdruß, Langeweile, Trägheit, Geckenhaftigkeit und Jämmerlichkeit aller Art. Die Sehnsucht nach Freunden durchzuckte wieder seine Seele: mit Nicolaus Delius, dem späteren berühmten Shakespeareforscher, mit dem ihn auch die Herkunft aus einer Hansastadt verband, scheint er allein wirklich intimen Umgang gehabt zu haben. Nachdem er am Ende des Sommersemesters 1834 Abschied von Bonn genommen hatte, machte er seine erste größere Reise nach dem Schwarzwald und Tirol. Das Straßburger Münster machte auf ihn gewaltigen Eindruck; er mußte darüber weinen, daß „diese Krone deutscher Kunst, dies Unterpfand der Herrlichkeit unserer Väter das Paradestück einer feindlichen Grenzfestung ist“. Ueberall regt sich in dem jungen Sprossen der freien deutschen Reichsstadt das deutsche Nationalgefühl. In München empfindet er dankbar, „daß es hier mit der Kunst recht voller Ernst ist, während es oft nur Spielereien und Dilettantereien sind“. Glyptothek und Pinakothek erregten ihn tief. In Nürnberg steht er vor den Bildern Dürer’s, Cranach’s und Holbein’s bis zu Thränen gerührt, weiß noch nicht, ob es die christliche oder die deutsche Kunst ist, die so aufs Gemüth wirkt, und ihm wird hier so warm und weich ums Herz, wie es in der Münchener Glyptothek nicht möglich war. Sehr charakteristisch sind dafür die Worte, die er aus Erlangen am 17. October 1834 an die Eltern schreibt (Lebensbild S. 41):

„Bei den Werken alter Kunst sieht man nur, was da ist, sie hat bei ihrer menschlichen Vollendung, wie die ganze griechische Welt, die bestimmteste Beschränkung. Sie ist vollkommen verständlich und klar, und es ist Nichts versucht, was nicht auch durchaus durchgeführt und deutlich gemacht werden konnte. Aber bei christlichen Kunstwerken sieht man mehr, als was da ist. Die ganze Gegenwart, welche dem Griechen Alles war, drunter und drüber ist nur Schatten und Bild, ist dem Christen nur ein Anfang, dessen Vollendung der Zukunft angehört, die nur der Glaube erleuchtet und die Sehnsucht erfaßt. Deshalb mußte in allen seinen Leistungen und besonders in den Kunstleistungen, welche die unmittelbarsten sind; dieser Charakter des Anfänglichen, Unvollendeten, aufwärts Weisenden sich offenbaren. Man fühlt mit dem Künstler, was er sagen möchte, und das ist’s, was das Gemüth so ergreift. – –“

In Erlangen machte er noch die Bekanntschaft von Friedrich Rückert, dem er außerordentlich würdevolles und königliches Gepräge nachrühmt, und dabei auch in ihm den echten deutschen Biedermann erkennt, dem jede Schmeichelei und jede Redensart fremd ist. Ende October langte er in Göttingen an, wo er Herbart gegenüber in der Gothmarstraße seine Wohnung fand. Der norddeutsche Charakter heimelt ihn an; sofort gefällt es ihm hier viel besser als in Bonn, wenn auch die Göttinger Studentenschaft ihm wieder wenig behagt. Der Hauptgewinn aber, den ihm die Georgia Augusta brachte, waren die Vorlesungen und der Verkehr mit Karl Otfried Müller, durch den sich ihm die alte Welt in neuer Form erschloß. Schon der Göttinger Student erkannte [584] klar, daß die Philologie in C. O. Müller einen genialen Pfadfinder gefunden hatte, der die unzusammenhängende Masse von unzähligen Einzelheiten zu lebendigem Leben erweckte. Daneben bleibt ihm die Liebe zur Theologie: Herbart stößt ihn ab; seit Julius Müller’s Abgang findet er in Göttingen keinen einzigen erträglichen Prediger; aber er wandert gern nach dem kleinen, schmutzigen Dorfe Geismar, wo ein einfacher, schlichter Geistlicher mit eindringender Beredsamkeit und heiligem Eifer lehrt. Religiöse Befriedigung und vieles Andere, was er in Göttingen trotz C. O. Müller vermißt, hofft er in Berlin zu finden. Im November 1835 siedelt er nach Berlin über. C. hatte in Bonn und Göttingen oft das Verlangen nach echter Freundschaft gehabt. Gleich bei seinem Eintritt in Berlin scheint sich ihm dieser Wunsch zu erfüllen. Der am Rhein und an der Leine nicht warm wurde, schreibt schon am 4. November 1835, in der Sandwüste der Mark angelangt, folgende Worte an Victorine Boissonnet (Lebensbild S. 51):

„– – Die äußere Dürre führt zu den inneren Quellen des Glücks und der Freude, und so blüht, glaube ich, die Blume der Freundschaft nirgends schöner als in den Sandsteppen Berlins. – –“

In Berlin saß er nun auch zu Füßen des Mannes, der neben Welcker und C. O. Müller ihm zeitlebens als sein Meister gegolten hat. August Boeckh, dem er später, als der erste Redner der Universität Berlin, zum 100. Geburtstage die Gedächtnißrede gehalten hat, stand damals auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit. Staunend und ehrfurchtsvoll stand der Schüler Otfried Müller’s vor dem Lehrer seines Lehrers, sodaß der, von dem man wohl eine neue Periode der Alterthumswissenschaft datiren darf, weil er zuerst in großartiger Weise den Boden Griechenlands selber befragte, am 24. Januar 1836 an seinen Bruder Georg die Worte schrieb (Lebensbild S. 62):

„– – Die klassische Philologie steht auf einem ganz anderen Standpunkte; da läßt sich nicht viel mehr entdecken; auch sind für die jüngere Generation nach den Leistungen eines Boeckh und Müller für die Hauptsache allem Anscheine nach nicht viel Lorbeeren mehr zu pflücken. Aber nach meiner Ansicht bietet darum diese Wissenschaft desto reineren geistigen Gewinn dar.“

Neben Boeckh hörte er namentlich Trendelenburg, den er einen „wahren Gelehrten“ nannte, und Lachmann, den er besonders in seinen germanistischen Vorlesungen bewunderte. Schon in Bonn hatte er bei Lassen Sanskrit getrieben. Dies Studium setzte er unter Bopp dann fort, mit dem er gewöhnlich ganz allein zusammen saß, um bei ihm allgemeine Grammatik zu lernen. Die Stadt Berlin selbst gefiel seinem reinen Herzen wenig, und unmuthig schrieb er an seinen Vater von dem „verdorbenen Berlin“. Um so mehr bedurfte er auch hier der Freunde. Nicolaus Delius fand er wieder, durch den er „die eigentlich göttliche Weihe der Freundschaft ahnen“ gelernt hatte. Mit Heinrich Kruse und dem Grafen von Schack schloß er damals eine Freundschaft, die ihn durch sein ganzes Leben begleitet hat. Aber Epoche für ihn gemacht hat damals vor allem Emanuel Geibel, wie er schon in einem Briefe an Victorine Boissonnet vom 15. Mai 1836 bekannte. C. war kein unbedingter Bewunderer Geibel’s und hat mehr als einmal dem geliebten Freunde gegenüber auch das Messer der Kritik gezeigt. Schon in jenem Briefe an Victorine gibt er diesem Gefühle Ausdruck, wenn er schreibt (Lebensbild S. 72):

„Emanuel’s Ankunft hat für mich Epoche gemacht. Wir sind viel zusammen und leben uns gut in einander ein. Wir sind sehr verwandten und sehr verschiedenen Geistes, und gegen die mich oft heimsuchende grübelnde Kleinmüthigkeit ist seine lebensmuthige Frische ein heilsames Gegengewicht. Das Selbstbewußtsein des Talents ist seine gefährliche Klippe, denn sie wird leicht [585] Eitelkeit, wie bei allen nicht selbst erworbenen Vorzügen. Er wird gewiß die Klippe vermeiden, wenn er mehr und mehr den Kern des Lebens erfaßt und mit einer tieferen, ernsteren Richtung sein Talent sich vermählt. Sollte dies geschehen, so wie ich’s ihm wünsche und hoffe, dann wird er gewiß viel Bedeutenderes produciren, als jetzt, da ihm die Poesie noch zu sehr ein Spielwerk ist. Er fängt schon an, mehr aus dem Leben zu greifen, und das ist gewiß der rechte Weg, während es mir ein Abweg zu sein scheint, in rein erdichteten Anschauungen idealisirter Gegenden schwärmend sich zu verlieren, wie in seinen Venetianischen Liedern. Er las mir in diesen Tagen seine Novelle vor, die er mit Niebuhr gemacht hat. Sie enthält vortreffliche Schilderungen. Es ist in der That der Samen der Dichtkunst weit verbreitet in den Herzen der Jugend, und es sollte mir viel leichter sein, unter meinen Bekannten die sanglosen, als die Legion der sangbegabten aufzuzählen, und so ist das Verhältnis, glaube ich, überall in Deutschland. Der Waldstrom ist von den Bergen herabgekommen und hat sich nun im Thale in viele kleine Arme getheilt, in denen Himmel und Blumen sich gerne spiegeln. Die Welt wird frisch und bunt dadurch, aber das mächtig Ergreifende ist dahin. – –“ Auch noch in späten Jahren, wenn C., was er übrigens selten that, auf Emanuel Geibel zu sprechen kam, empfand man, daß er von ihm mit leiser Wehmuth sprach, weil er mehr von ihm erwartet hatte als die lyrischen Gedichte, die C. vielleicht deshalb ihrem Werthe nach nicht voll anerkannte, weil ihm von allen poetischen Formen die Lyrik überhaupt die geringste zu sein schien. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß ihm selbst so manches schöne lyrische Gedicht mühelos gelungen ist. In ihm haben immer die Natur des Künstlers und die Natur des Gelehrten gestritten. In diesem Widerstreit, über den er sich selbst klar bewußt war, lag seine Größe und für die, die ihn nie verstanden haben, seine Schwäche. Zeugniß dafür sind folgende zwei Gedichte, von denen nur das zweite Lebensbild S. 296 abgedruckt ist. Wir entnehmen sie beide einer Sammlung der Gedichte von Ernst Curtius, die die damalige Prinzessin Augusta von Preußen für den jungen Dichter, den Erzieher ihres einzigen Sohnes als Weihnachtsgabe veranstaltete, und die sich noch in den Händen der Familie befindet.

 Doppelberuf
 Klage und Trost.
 I.
Mancher schönen Lieder Keime
Regen in der Brust sich leise
Und zu mancher neuen Weise
Fügen sich von selbst die Reime.

Doch ob drin der Lenz sich reget
Und die Blüthen auferwecke,
Er durchdringet nicht die Decke,
Die der Winter drauf geleget.

Zwischen Staub und Folianten
In den dunkeln Burgverließen,
Können nicht die Blumen sprießen,
Die dem Sonnenlicht verwandten.

Und so sterben ungeboren
Fern vom Licht die lieben Kleinen,
Und ein leises, leises Weinen
Tönet oft zu meinen Ohren.

Ach, betrübter und verkehrter
Giebt es nichts auf dieser Erden
Als ein Zwitterwesen werden,
Halb Poet und halb Gelehrter.

 II.
Aber nein! Ich will nicht hadern
Mit dem Gotte, der mich schuf,
Daß ich fühl’ in meinen Adern
Glühen doppelten Beruf.

Folg’ ich seinen leisen Zügen,
Wird mich doch, mag’s auch verziehn,
Meine Hoffnung nicht betrügen
Und das Ziel nicht ewig fliehn.

[586] Nur nicht lässig, selbstbeschauend,
Nur nicht eitel und verkehrt,
Nur vor Müh’ und Kampf nicht grauend,
Wenn der Kampf auch lange währt!

Herr, gieb dazu deinen Segen,
Herr, mein Gott, ich lass’ dich nicht,
O verbirg’ auf meinen Wegen,
Birg’ mir nicht dein Angesicht!

Damals bereitete C. auch seine Doctordissertation vor, unter den Augen von Eduard Gerhard, der sein archäologischer Führer wurde und ihm die Schätze des Berliner Museums eröffnete; sie sollte den Dreifußraub des Herakles behandeln. Schon damals schrieb er an die Eltern, Lebensbild S. 77, daß er sich „mit entschiedener Neigung dem Theile der Alterthumswissenschaft zuwende, welcher das religiöse Leben der Griechen und dessen Ausdrücke in redender und bildender Kunst betrifft“. Schon der Student empfand also, worin seine Stärke lag und welche Seite des Hellenenthums am meisten seinem ganzen Wesen entsprach. Aber die Dissertation über den Dreifußraub ist nie geschrieben worden; denn Ende 1836 forderte ihn sein alter Lehrer Brandis auf, ihn als Hauslehrer seiner Söhne nach Griechenland zu begleiten. Auf Schelling’s Veranlassung hatte Brandis den ehrenvollen Ruf erhalten und angenommen, dem jungen König Otto von Griechenland als wissenschaftlicher Führer und Berather in Universitätsangelegenheiten zur Seite zu stehen. Am 18. December 1836 trat C. seine erste folgenschwere Reise nach Griechenland an. Rom wurde auf der Hinreise nicht berührt; aber ihn entschädigte dafür voll der Aufenthalt in Florenz, den er mit ganzer Seele genoß. Am 7. März 1837 feierte er den Geburtstag des Vaters in Korinth, nachdem er am 4. März mit der Familie Brandis in Patras den Boden Griechenlands betreten hatte. Aus seinen jetzt gedruckten Briefen an die Eltern sieht man, wie zielbewußt der junge Alterthumsforscher seine Wege ging. Mit dem Strabo in der Hand schweift er auf dem Isthmos herum. Ueber Megara und Eleusis ging es dann nach Athen. In Athen war durch König Otto auch für die Erforschung der Alterthümer ein großer Aufschwung gekommen. Der wahnwitzige Gedanke, auf der Akropolis den neuen Königspalast erstehen zu lassen, war längst aufgegeben, und statt dessen fanden damals, gerade als der junge C. in Athen eintraf, unter der wissenschaftlichen Aufsicht von Ludwig Roß auf ihr Ausgrabungen statt, deren Ergebniß in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den Ausgrabungen geführt hat, die unsere Vorstellung von dem Werden der attischen Kunst in neue Wege geleitet haben. Ludwig Roß, der Professor der Archäologie an der neugegründeten Universität Athen und Conservator der Alterthümer, und H. N. Ulrichs aus Bremen, Professor der lateinischen Sprache, haben den jungen C. in mannichfacher Weise angeregt. Dazu kamen die Besuche von Eduard Gerhard und Karl Ritter, die den schwärmerischen Jüngling in die Bahn der Wissenschaft wiesen. Wie er schon in der Jugend die Männer beurtheilt, mit denen er zusammentrifft, zeigt am besten sein Urtheil über Karl Ritter, von dem er am 12. October 1837 (Lebensbild S. 124) an die Eltern schreibt, daß er ein „Mann voll der reinsten Harmonie“ sei, und daß sich in ihm Wissenschaft und Religion durchdrungen hätten. Seine Hauslehrerthätigkeit bei Brandis war eine durchaus angenehme. Die Knaben hingen an dem ideal gesinnten Jüngling, die Eltern erkannten den Schatz, den sie in dem Lehrer ihrer Söhne gewonnen hatten und ließen ihm reichlich Muße, seinen eigenen Studien nachzugehen. Diese führten C. in die Natur hinaus. Auf seinen Streifzügen in Attika hat er zuerst sehen gelernt und sich seine unvergleichliche Fähigkeit erworben, die griechische Landschaft in sich aufzunehmen und zu verstehen. Es scheint mir charakteristisch für ihn zu sein, wenn er schon am 12. October 1837 (Lebensbild S. 123) an die Eltern schreibt: „Man bedarf gar [587] keiner Ruinen, die Anschauung des Terrains ist schon sehr lehrreich“. Ueberall kommt es ihm auf die Anschauung an, und alles, was er im neuen Griechenland sieht, bringt er in Verbindung mit dem alten. Wenn er auf dem Markt die Leute stehen und schwatzen sieht, kommen ihm Stellen aus Aristophanes in den Sinn, und in den Volksgrüßen der Neugriechen sucht er die Beziehung zum Alterthum. Aber so sehr er sich auch bei seinem langen Aufenthalt in Athen in das südliche Leben eingewöhnt, so eifrig er die Politik des neuen Königreichs verfolgt, so mächtig sein Inneres das hohe Gefühl durchbebt, an den Ufern desselben Flusses zu wandeln, an dem Sokrates und Platon gewandelt sind, die Liebe zu seiner deutschen Heimath hat ihn nie verlassen. Er wäre in Griechenland, das er gekannt und geliebt hat wie Wenige, nie glücklich geworden, wenn ihn das Geschick dort gelassen hätte. Er war Philhellene, aber schon in den Briefen an seine Eltern aus dieser Zeit erwähnt er die Schwächen des neugriechischen Charakters, die diesem Volke eine große politische Entfaltung immer unmöglich machen werden. So schreibt er z. B.. einmal von den Interessen einer kleinlichen Welt, die nirgends kleiner sei als am Fuße der Athenischen Akropolis. Er empfand es als großes Glück, als ohne sein Zuthun durch einen Zufall sein Freund aus der Lübecker Fischstraße, Emanuel Geibel, als Hauslehrer der Söhne des russischen Gesandten im Frühjahr 1838 nach Athen kam. Die beiden Jugendfreunde haben in Griechenland wundervolle Zeiten durchlebt, die sie zu manchem schönen Gedicht angeregt haben. Besonders bekannt ist ihre gemeinsame Sommerfahrt nach Paros und Naxos geworden. Geibel hat ihrer in seinem schönen an Ernst Curtius gerichteten Gedicht „Auf dem Anstand“ gedacht, und C. hat ihr in seinem vielgelesenen Aufsatze über Naxos ein kleines Denkmal gesetzt. Aus seinem Nachlaß ist mit Recht folgendes formvollendete Sonett über Naxos veröffentlicht worden (Lebensbild S. 212):

Leb’ wohl! mein Naxos! Sieh, es schwellt gelinde
Das Segel sich und führet mich von hinnen;
Noch seh’ ich drüben Deine weißen Zinnen
Und gebe diesen letzten Gruß dem Winde.

Hab’ Dank für jede Lust! Gleich einem Kinde,
Dem leicht und ohne Harm die Stunden rinnen,
Hab’ ich bei Dir gelebt, und dies Gewinnen
Es ist des Glückes schönstes Angebinde.

Wann werden wieder zu so holdem Frieden,
Zu Lust und Lieb’ mich duft’ge Gärten laden,
In welchen glüht die Frucht der Hesperiden?

O blühe, stille Wohnung der Najaden,
Und bleibe gern vom lauten Markt geschieden
Dir selbst genug; Du schönste der Kykladen.

Man merkt hier den Einfluß von Platen, der ihm nächst Goethe immer als der größte deutsche Lyriker erschienen ist. Platen’s Gedichte haben namentlich ihn und Geibel angeregt, damals auf griechischem Boden eine Reihe von Nachdichtungen griechischer Lyriker zu verfassen. Im Jahre 1840 konnten sie ein Heft classischer Studien veröffentlichen, das diese Nachbildungen enthielt und auch der von beiden jungen Dichtern hochgeschätzten, holdseligen Königin Amalie überreicht wurde. Dies dünne Heft ist der Anfang von Geibel’s classischem Liederbuch geworden, in dem manches Gedicht steht, das er zusammen mit C., auf den Marmorstufen eines Tempels sitzend, verdeutscht hat. Von C. rührt in diesem Hefte namentlich die Uebersetzung einer Stelle aus der Sophokleischen Elektra her, zu deren Nachbildung ihn ein nochmaliger Aufenthalt [588] in Mykenae angeregt hatte. Die Liebe zur Elektra hat ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet. Seit dem Sommer 1838 hat er in jeder Ferienmuße an ihrer Uebersetzung gearbeitet und sich noch wenige Wochen vor seinem Tode damit beschäftigt. Er hat die Uebersetzung nie veröffentlicht, weil ihm die metrische Wiedergabe der Chöre nicht genügte. In Hellas hat C. nun vor allen Dingen aber Grund gelegt zu dem Meisterwerk seines Lebens, dem Buche über die Peloponnes. Aus den Briefen an seine Eltern wissen wir jetzt, daß das großartige Werk in dem einfachen Wunsch seinen Ursprung hat, die epochemachenden Reisebeschreibungen des engl. Majors Martin Leake auch in Deutschland einzuführen. Außer Attika, Böotien und den Inseln hatte C. damals vor allem die Peloponnes besucht und sich durch mehrfache Reisen in anregender, immer anderer Gesellschaft eine genaue Kenntniß der für Hellas so wichtigen Halbinsel erworben. Keine seiner Peloponnesreisen war aber wichtiger als die letzte, die er im Frühjahr 1840 zusammen mit Karl Otfried Müller und Adolf Schöll ausgeführt hat. In Göttingen war Otfried Müller dem jungen C. zwar immer der begeisternde, geliebte Lehrer gewesen; aber dieser Lehrer hat offenbar seinen Schülern das nie gegeben, worin Ernst Curtius tausende von deutschen Universitätslehrern übertroffen hat, daß er sich nämlich als Menschen und als Freund gab. Otfried Müller blieb in Göttingen immer der Göttinger Hofrath. Diese Hofrathsglasur aber verlor er sofort, als er den hellenischen Boden betreten hatte. Er sah jetzt in seinem ehemaligen Schüler einen Kameraden, ließ sich von ihm in Athen zu den Alterthümern führen, wanderte mit ihm durch die Peloponnes und trat unter seiner Begleitung die verhängnißvolle Fahrt nach Delphi an. C. hat auf diesen Wanderungen viel Anregung von seinem Lehrer empfangen, der über Curtius’ litterarische Pläne längst orientirt war. Als gemeinsames Werk des Todten und des Lebenden erschienen dann später, im J. 1843, die „Anecdota Delphica“, in denen die Urkunden veröffentlicht wurden, die der todesmatte Müller, der Mahnungen von C. ungeachtet, in heißer Julisonnengluth an der Terrassenmauer Delphis abgeschrieben hatte. Es muß eine furchtbare Reise gewesen sein, die dann C. und Schöll über die Berge von Phokis und Böotien mit dem siechen Manne nach Attika durchgeführt haben. Mit dem sterbenden Lehrer zogen sie am Kolonos vorüber, auf dem sie ihn am 1. August 1840 in ein Felsengrab betten mußten. So schlossen die griechischen Jahre von C. mit schwerem Leid. Die Sehnsucht nach der Heimath erwachte mächtig, und „hellasmüde, heimatverlangend“ rüstete er zur Rückkehr. Bezeichnend für diese Stimmung sind folgende Verse (Lebensbild S. 220):

Wollt mich nicht im Süden halten
Bin ein deutsches Kind,
Sehne mich nach meiner alten
Heimath, wenn dort auch mit kalten
Lüften braust der Wind.
      Deutsche Männer, deutsche Frauen
Muß ich um mich seh’n,
In die lieben, offnen, blauen
Deutschen Augen muß ich schauen,
Die mein Herz versteh’n.
 
Zwar, ich leb’ hier ohne Reue,
Wo man griechisch spricht,
Schön ist Eure Himmelbläue,
Schöner doch die deutsche Treue
Und ein deutsch Gesicht.
 
Da fließt froh das Wort vom Munde,
Da erklingt Gesang,
Wandelt durch die Freundesrunde
In der frohen Feierstunde
Der Pokal entlang.
 
Mir behagt dies bunte Treiben
Und des Südens Pracht,
Wo sich Ost und Westen reiben,
Doch zu längerem Verbleiben
Ist es nicht gemacht.
 
Drum, wenn noch ein Jahr entschwunden,
Griechenland, ade!
Frisch den Ranzen aufgebunden
Und den Weg nach Haus gefunden
Ueber Land und See!

[589] Aber da ihm trotz alledem Land und Volk an das Herz gewachsen waren, bestieg er „weinend“ das Schiff. Dem langen athenischen Aufenthalte folgte nun ein anregender römischer Winter. Er schreibt am 7. Januar 1841 vom Capitol an seine Eltern, daß ihm dort „ein neues, an geistiger Förderung reiches Leben“ aufgegangen sei. Das deutsche archäologische Institut in Rom, dem er schon aus Griechenland Inschriften zur Publication geschickt hatte, nahm ihn gastlich auf, und wieder traf er hier mit seinem alten Lehrer Eduard Gerhard zusammen. Wol hatte C. für Rom und Italien offenes Auge und offenes Herz; aber er hat beides niemals ganz unbefangen beurtheilen können. Immer drängen sich ihm griechische Vergleichungen auf und immer sucht sein Auge hellenische Schönheit. Doch trotz dem Hochgefühle, in Hellas hellenische Geschichte wirklich gelernt zu haben, wurden ihm hier in dem Umgange mit bedeutenden deutschen Gelehrten bald die Lücken klar, die jeder Philolog nach jahrelangem Leben in einer bücherlosen Fremde, wenn sie auch Hellas ist, empfinden muß. So schreibt er schon am 7. Januar 1841 an die Eltern. (Lebensbild S. 253):

„– – Es ist wohl schwer, hier immer recht klar und bestimmt zu bleiben. Ich fühle mich ganz berauscht. Das einfache, klare, bescheidene, kleine Athen und dies unermeßliche Rom, die Welt von Geschichte. Und welche ein Unterschied des Lebens! Während das Leben in Athen eigentlich eine fortwährende Entsagung ist, ist hier wahrlich ein geistiger Luxus im höchsten Grade. Während ich auf der einen Seite sehe, daß mit Freundlichkeit und Interesse aufgenommen wird, was ich aus Athen mitbringe, so spüre ich anderseits auch mit Schrecken, wie weit ich in vielen Stücken zurückgeblieben bin in jener classischen Barbarei, und wie viel Ergebnisse der Wissenschaft gewonnen sind, von denen ich nichts wußte. Ich habe hier viel nachzuarbeiten.“

Hatte er sich vier Jahre lang auf dem Terrain und unter Ruinen getummelt, so suchte er nun unverdrossen den Staub der Bibliotheken auf. Auf der Barberina, in deren Nähe er später wohnte, studirte er das Skizzenbuch des berühmten Baumeisters San Gallo, der um 1460 Griechenland bereist hat, und römische Topographie lernte er nicht nur aus den Ruinen, sondern auch aus den litterarischen Quellen. Mit der Heimath verband ihn der Verkehr mit dem großen Maler Overbeck, auf den Lübecks junger Sohn stolz war, und in dessen Atelier er aus- und eingehen durfte. So sehr er den christlichen Ernst der Overbeck’schen Kunst bewunderte, bedauerte er die Tendenz seines damals in Arbeit befindlichen Bildes „Triumph der Religion in den Künsten“, dessen Gedanken der Maler in einer besonderen Schrift erläutert hatte. Er fragt nämlich in einem Briefe an Victorine Boissonnet vom 9. Februar 1841 in Beziehung auf dies Bild und diese Schrift (Lebensbild S. 260): „Denn was gibt es Unchristlicheres und dem Geiste unserer Religion mehr Entgegenstehendes, als über eine ganze Zeit und Alle, die ihr angehören, ein Urtheil der Verdammung auszusprechen und ihre entschiedene Verachtung zu fordern?“ Gerade in Rom wurde ihm christliche Unduldsamkeit als unchristlich klar, und so schrieb er angesichts St. Peters, daß ihm sein protestantisches Bekenntniß nirgends lebendiger gewesen sei als in Rom.

Im Frühjahr verließ er Rom und ging über Venedig nach Deutschland. Was er bei seinem Eintritt in das deutsche Vaterland empfand, sagen am besten die Worte, die er von München am 17. Mai 1841 an seine Eltern schrieb (Lebensbild S. 273):

„– – Ihr könnt euch denken, wie seltsam ein so plötzlicher Uebergang aus Italien nach Deutschland auf mich wirken mußte. Noch zogen meine Gedanken unwillkürlich nach der Zauberstadt Venedig und lebten in der poetischen [590] Schönheit des Markusplatzes, noch stand aus letzter Anschauung die schöne Piazza Bra von Verona mir vor Augen, wo an der einen Seite das riesige Amphitheater in dunkler Stille Wacht hält, auf der anderen in glänzend erleuchteter Reihe die Eisbuden ihre Schätze ausstellen, die bunte Welt sich in langen Zügen in der Abendkühle ergeht, unter unaufhörlichem Zitherspiele und Gesang, alles heitere Lebenslust athmend – und nun auf einmal, nachdem das südliche Tirol, das den immer schroffen Gegensatz einigermaßen vermittelt, in einer Nacht durchflogen ist, die Bierprosa von Alt-Bayern. Mir wurde ganz bange zu Muthe, wie ich zum ersten Male in Partenkirchen in eine solche Bierkneipe trat und die unendlichen Tische mit all den ernsten, feierlichen Gesichtern besetzt sah, welche bei ihrem Maße Bier und ihrer kurzen Pfeife dasitzen, als wären sie von Amts wegen dazu bestellt. Freilich treten auch die erfreuenden Seiten des Ubergangs von Italien nach Deutschland gleich hervor, offene Redlichkeit und Bescheidenheit, Eigenschaften, denen ich gewiß alle Gerechtigkeit widerfahren lasse. – –“ In Lübeck fand er Alles am alten Flecke, nur einen geliebten Bruder fand er nicht wieder, denn schon im November 1838 hatte er in Athen erfahren, daß sein ältester Bruder, Paul Werner, der vor allen den Sinn zur Theologie in ihm gepflegt hatte, von einem frühen Tode dahingerafft war. Von Lübeck wandte er sich nach Berlin, wo er zusammen mit seinem Bruder Georg, der sich dort, wie er, zur Gelehrtenlaufbahn vorbereitete, Wohnung nahm. In diesen Berliner Jahren ist das geistige Band, das dies Brüderpaar Zeit ihres ganzen Lebens umschlossen hat, besonders eng gewesen. Georg theilte dem älteren Bruder aus dem Schutze seiner sprachlichen Kenntnisse bereitwilligst alles mit, was dieser zu seinem Aufbau der alten Hellenenwelt gebrauchte, und Ernst legte dem Bruder alle jene großen, völkergeschichtlichen Probleme vor, die er frisch von Griechenland in seinem phantasiereichen Kopfe mitgebracht hatte. Was die beiden Brüder einander gewesen sind bis zu dem Tage, an dem Georg als vielbewunderter Lehrer an der Leipziger Universität seine Augen schloß, hat Ernst in seinen Erinnerungen an den Bruder ausgesprochen, die dem im Jahre 1886 erschienenen ersten Bande von Georg Curtius’ Kleinen Schriften voraus geschickt sind (wieder abgedruckt in Alterthum und Gegenwart III., S. 216–233). Nächst dem Bruder waren es namentlich Nic. Delius und Wilh. Wattenbach, mit denen C. viel verkehrte. Er trat dann bald am Joachimsthal’schen Gymnasium, das damals unter August Meineke’s Leitung stand, sein Probejahr an und fand dabei genügend Zeit, um sich der Bearbeitung seiner griechischen Ausbeute zu widmen.

Aus Curtius’ Briefen wissen wir jetzt, daß er damals schon bei den bedeutendsten Gelehrten Berlins in hoher Gunst stand und freundschaftlich mit ihnen verkehrte. Er ist nie einseitig gewesen und nie ein vertrockneter Bücherwurm. Wenn er den Tag über mit Richard Lepsius Hieroglyphen getrieben hatte, turnte er abends mit Du Bois Reymond oder tanzte und focht wie ein junger Student. Wie seine Hellenen hat er neben dem Geist nie die Ausbildung des Körpers vergessen, und auch die, die erst dem Greise näher treten durften, besinnen sich noch deutlich auf das Paar Hanteln, das in seinem Studierzimmer lag, und mit dem er täglich, auch noch im hohen Alter, die Kraft seiner Arme zu erproben pflegte. Von litterarischen Arbeiten vollendete er zunächst seine Dissertation De portubus Athenarum commentatio, auf die er 1842 in Halle promovirt wurde. Es ist wohl die erste deutsche Doctordissertation, die ein solches Thema nach eigener Anschauung behandelte, und wenn auch ihre Resultate heute namentlich durch die Arbeit von Ulrichs veraltet sind, wird das Büchlein aus diesem Grunde immer seine Bedeutung [591] behalten. Daneben arbeitete er eifrig an seinen Anecdota Delphica, der Frucht seiner delphischen Reise mit Müller, die er schon 1843 der Berliner philosophischen Facultät als Habilitationsschrift vorlegen konnte. Mit diesem Schritt war die Laufbahn von Ernst C. entschieden. Die deutschen Universitäten waren um einen gottbegnadeten Lehrer reicher. Es bedürfte eines besonderen Aufsatzes, um darzustellen, was C. in seiner mehr als 50jährigen akademischen Lehrthätigkeit an den Universitäten Berlin und Göttingen der deutschen Jugend gewesen ist. Glänzende Namen könnte man nennen, die in seinen Vorlesungen Richtschnur gebende Anregung gefunden haben. Berühmt vor allem sind seine akademischen Festreden, die in den drei Bänden Alterthum und Gegenwart gesammelt vorliegen.

Bei seinem Tode ward dann auch in vielen der Zweifel rege, ob je eine Persönlichkeit wiederkommen wird, die in dem Maaße durch ihre Wissenschaft erzieherisch wirken wird wie er, der ohne alle schulmeisterliche Pedanterei, ohne jede Philisterhaftigkeit durch sein Wort und durch sein Leben fortwährend zum Lehrer seiner Umgebung ward. Alles Maßlose, jede Unruhe, jedes Haschen und Hasten lag ihm fern. Was er that und was er sprach, alles war von demselben Geiste des Maaßes und der Harmonie erfüllt. Ich glaube, wir können dies nicht besser zusammenfassen als mit seinen eigenen Worten, mit den schönen Zeilen, die er nach dem Tode seines von ihm hochverehrten Lehrers, des Geographen Karl Ritter, in den Göttinger gelehrten Anzeigen niedergeschrieben hat, in welchen er von der „ethischen Würde“ spricht, die Ritter zum Muster eines deutschen Gelehrten gemacht habe, und deren Eindruck allen, die das Glück hatten, ihm nahe zu treten, unvergeßlich sei. Wer in Ernst Curtius’ Arbeitszimmer eintrat, fühlte, daß er sich in einem geweihten Raum befand, in dem ein erregtes oder gar ein böses Wort Lästerung gewesen wäre. Was er von Kaiser Wilhelm I. gesagt hat, daß wir durch ihn nicht nur mächtiger und ruhmreicher, sondern auch innerlich freier, reiner und besser geworden seien, wir dürfen es auch von C. selber sagen, vor allem die Unzähligen, denen er in seinem langen Leben ein freundlicher, nie versagender, immer zur Besonnenheit mahnender Berather gewesen ist. Es war das Ethos, durch das er auf die Alten wie auf die Jungen wirkte; es waren nicht allein die großen Thaten, die die Geschichte der Wissenschaft für alle Zeiten von ihm bewahren wird, und von denen die gebildeten Zeitgenossen alle wissen. Mit einem König ist er von seinem Freunde Herman Grimm verglichen worden; gewiß –

er nur merkt’ nicht des Siegels Gewalt, die alle Herzen ihm beuget,
     einfach ging er und still durch die eroberte Welt.

Wie mächtig sein edles, begeisterndes Wort auf die Zuhörer zu wirken vermochte, beweist vor allem der Erfolg eines Vortrages über die athenische Akropolis, den der junge Privatdocent in der Singakademie am 10. Februar 1844 gehalten hat. Nahezu tausend Menschen lauschten gespannt seinen Worten, darunter das gesammte preußische Königshaus. Am nächsten Tage sprach ganz Berlin von dem Vortrag, dessen Eindruck am besten Kurd v. Schlözer in einem Briefe an Theodor C. geschildert hat (Lebensbild S. 314). In der königlichen Loge saß die junge Prinzessin Augusta von Preußen, die nach dem Vortrag keinen Geringeren als Karl Lachmann zu sich bitten ließ, „um sich nach dem jungen Mann auf das Angelegentlichste zu erkundigen“. Wenige Tage darauf wurde der junge Lübecker Patriciersohn trotz der Bedenken kurzsichtiger Hofmänner der Lehrer des Prinzen Friedrich Wilhelm, des nachmaligen Kaiser Friedrich. Aus den jetzt veröffentlichten Briefen des Prinzen, deren letzter vom 2. April 1888 aus Charlottenburg datiert ist, lernen wir das schöne, innige Verhältniß kennen, in dem diese beiden nur für die höchsten [592] Ideale lebenden Männer zeitlebens zu einander gestanden haben. C. ist nie ein Höfling gewesen. Nach einem Ausspruch Alexander v. Humboldt’s, der ihm ganz besonders zugethan war, bewegte er sich auf dem Parket des königlichen Schlosses wie in seiner Studierstube. C. ist seinem hohen Schüler immer ein offener Freund gewesen und hat mit seinen Mahnungen und Bedenken nie zurück gehalten. Er sah mit Freuden, wie sich in dem Jünglinge langsam und still der männliche Wille entwickelte, und wie er gegen ihn selber unverändert wie ein Freund blieb und auch später nicht die geringste Veränderung in dem gegenseitigen Verhältnisse eintreten ließ (Lebensbild S. 481). Den Dank aber für alles, was der Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen in schweren Zeiten von seinem Lehrer gelernt hat, hat er in königlicher Weise als Kronprinz des deutschen Reiches abgestattet, als durch seine Bemühungen Curtius’ Lieblingswunsch, die Ausgrabung von Olympia, erfüllt wurde. Nichts beweist seine Hochachtung des alten Lehrers mehr, als jene denkwürdigen Worte, die Kaiser Friedrich nach der Lectüre von Curtius’ Gedächtnißrede am 22. März 1888 an ihn geschrieben hat (Lebensbild S. 677). „ – Auf Ihren schönen an mich gerichteten Brief aus Anlaß des Heimganges meines geliebten Vaters, folgte bald die Rede, welche Sie zu seinem Andenken am 22. März gehalten haben. Ich danke also für zwei Ergüsse Ihres Herzens in dieser Zeit der erschütternden Eindrücke. Nicht besser jedoch weiß ich denselben zu fassen, als daß ich von meinem Standpunkte aus behaupte, daß Niemand den in Gott ruhenden Kaiser so zu kennzeichnen vermochte wie Sie, der Sie Jahre lang ein theures Mitglied unseres Hausstandes gewesen sind. In jedem Worte Ihrer Rede finde ich Mahnungen aus alten Zeiten, gestützt auf persönliche Erlebnisse, aber auch treffliche Darstellungen des inneren Lebens meines Vaters. Daß Sie zwei Strophen aus Ihrem schönen Gedichte mit aufnahmen, freute mich. Besonders aber hebe ich die Stelle hervor, in welcher Sie sagen, daß durch den Heimgegangenen wir nicht nur mächtiger und ruhmreicher, sondern auch innerlich freier, reiner und besser geworden sind! Mehr kann ich nicht schreiben, ich mußte aber Ihnen sagen, wie mich Ihre Worte bewegt haben, der ich in unwandelbarer Anhänglichkeit und Dankbarkeit bin Ihr wohlgeneigter Friedrich, I. R. –“

Bis zum Frühling 1850 hat C. zur steten Begleitung des Prinzen gehört, ist in seiner Umgebung Zeuge der Märztage des Jahres 1848 gewesen und hat ihn auch als Studiosus in Bonn eingeführt. Man sollte meinen, daß er in diesen Jahren, die zudem durch den Anfang seiner akademischen Thätigkeit ausgefüllt waren, keine Zeit zu wissenschaftlichen Arbeiten gehabt hätte. Und doch erschien schon im Jahre 1851 der erste Band seines großartigen Werks über die Peloponnes, das noch heut zu den Meisterwerken der Alterthumswissenschaft gehört und Curtius’ Meisterwerk geblieben ist. Das Buch ist die Frucht jener Vereinbarung, die er einst in Hellas mit C. O. Müller getroffen hatte. Durch den Zusatz des Titels schon, „Eine historisch-geographische Beschreibung der Halbinsel“ deutet er den Inhalt an. Man merkt den Einfluß Karl Ritter’s, fühlt aber deutlich, daß der Schüler seinen Meister an historischen Kenntnissen sowohl wie an künstlerischer Gestaltungskraft übertrifft. Alle Vorzüge von C. sind in diesem Werke, von dem schon 1852 der zweite Band erschien, vereinigt. Nie wieder sind griechische Landschaften mit solcher Wahrheit und Wärme geschildert worden, wie in diesem Buche. C. selbst hat diese Schilderungen, so oft auch immer er noch später eine griechische Gegend beschrieb, niemals übertroffen. Auf einsamer Höhe steht das Werk da, und Niemand hat den Wettkampf mit ihm aufgenommen. Selbst Ludwig Roß, dessen Lob sonst so karg war und der später den ersten Band von Curtius’ griechischer Geschichte [593] sehr hart beurtheilt hat, konnte es nur preisen. Sein Urtheil bedeutet viel, weil er selbst ein vortrefflicher Kenner der Peloponnes war und bereits im J. 1841 ein wichtiges Buch über dieselbe veröffentlicht hatte. Kein Wunder also, daß C. die preußische Akademie der Wissenschaften schon im October 1852 zu ihrem ordentlichen Mitgliede wählte.

1850 hatte sich C. mit der Wittwe eines Freundes, des Buchhändlers Besser, vermählt, die ihm eine Tochter in die Ehe brachte und einen einzigen Sohn schenkte. Bald nach der Geburt des letzteren starb sie und C. heirathete ihre jüngere Schwester Clara (geb. Reichhelm), die ihn überlebt hat und am 5. Septbr. 1900 zu Berlin gestorben ist. Die einzige Tochter, die aus dieser überaus glücklichen Ehe hervorging, ist mit dem bekannten Erforscher der Geologie Griechenlands, Geheimrath Lepsius in Darmstadt, dem Sohne von Curtius’ langjährigem Freunde Richard Lepsius, verheirathet. In seiner akademischen Thätigkeit brachte es C. damals in Berlin nur zum außerordentlichen Professor, obwohl die Facultät, vor allem Boeckh, seine Bedeutung erkannte und ihn die volle Gunst der Hohenzollern begleitete. Mit beispiellosem Erfolg hielt er 1852 wieder in der Singakademie einen Vortrag über Olympia, der so zündete, daß König Friedrich Wilhelm IV. um eine Sammelbüchse bat, mit der er für die Ausgrabung der Altis werben wollte. Trotz alledem nahm C., dessen gerechte Wünsche das preußische Cultusministerium nicht erfüllen konnte oder wollte, einen ehrenvollen Ruf nach Göttingen an, der ihm als dem Lieblingsschüler C. O. Müller’s als Nachfolger K. F. Hermann’s angeboten wurde. In freimüthiger Weise machte er am 20. März 1856 seinem Prinzen Mittheilung von dem Entschlusse, Preußen zu verlassen, und siedelte zum Sommersemester desselben Jahres nach Göttingen über. Seine besten Mannesjahre hat er der Georgia Augusta gewidmet und an ihr bis zum Jahre 1868 als vielgefeierter Lehrer gewirkt. Nicht nur die philologische Jugend saß zu seinen Füßen; auch Theologen und Juristen lauschten den Worten des begeisternden Mannes, der einem alten Seher glich, wenn er Land und Werke der Hellenen pries. Sicherlich sind diese Göttinger Jahre die glücklichsten seines glückerfüllten Lebens gewesen; denn Schaffenslust und Arbeitskraft gingen ihm hier nie aus. Zeugniß dafür ist seine „Griechische Geschichte“, die in drei Bänden in dem kurzen Zeitraum 1857–1861 zum ersten Male erschien. Die letzte (sechste) Auflage erschien 1887–1889. Dies große Werk brachte C. allen Gebildeten nahe und regte sofort die Vergleichung mit Theodor Mommsen’s Römischer Geschichte an, die kurz vorher in demselben Verlage (Weidmann) erschienen war. Ludwig Roß eiferte gegen beide Werke, weil er sie nicht verstand. Curtius’ idealer Sinn war der eigentlichen Politik immer fern. Mommsen stand immer mitten in der politischen Bewegung seiner Zeit. So zeichnet sich seine Geschichte neben scharfer Kritik der Quellen durch zutreffende Beleuchtung der politischen Verhältnisse aus. Diese beiden Eigenschaften werden allerdings in Curtius’ griechischer Geschichte vermißt. Wirkliche Quellenstudien hat er nie betrieben, und gläubig nahm er manches hin, was spätere Forschung als unbezeugt erweisen mußte. Dabei hielt er mit geistreichen eigenen Hypothesen nicht zurück; namentlich der erste Band enthält viel davon und gibt statt der Thatsachen manches Phantasiegebilde. Aber Eines wird auch bei Curtius’ griechischer Geschichte immer anerkannt werden müssen: er hat ein litterarisches Kunstwerk geschaffen, das einem Werke der Plastik gleicht. Wie in Stein gehauen stehen manche seiner Charakteristiken großer Männer da, und prächtigen Gemälden gleichen auch hier die Schilderungen, die er von griechischen Landschaften an verschiedenen Stellen des Werks entwirft. Der [594] Erfolg des Buches war denn auch ein großer. Zwei Generationen haben von C. griechische Geschichte gelernt. In Stil und Form könnte auch noch heut manch Historiker der alten Geschichte von ihm lernen. Mit vollem Recht beklagte er es, daß Eduard Meyer, dessen großartigem Werke der Greis natürlich nicht mehr gerecht werden konnte, seine Geschichte des Alterthums in Paragraphen einteilte. Alles Schulmeisterliche war ihm, dem treuesten Freunde der Gymnasiallehrer, verhaßt. Daß alle Geschichtschreibung eine Kunst ist, war für ihn ein unumstößlicher Grundsatz. Harte Kämpfe mit hervorragenden Gelehrten brachte das Erscheinen namentlich des ersten Bandes, dem bereits 1855 als Vorläufer eine kleine Schrift über die Ionier vor der ionischen Wanderung vorangegangen war, die manches ruhige Gelehrtenblut erhitzte. Aber in dasselbe Jahr fällt auch seine classische Abhandlung über die Geschichte des Wegebaues bei den Griechen, die noch heute in keiner Weise überholt ist und alle Vorzüge C.’scher Forschung und Darstellung zeigt. In Göttingen nahm C. auch seine Studien zur attischen Topographie wieder auf, die er in seiner Dissertation so verheißungsvoll begonnen hatte. 1862 und 1865 erschienen die beiden Hefte der „Attischen Studien“, die lebhaft in den Kampf um die attische Topographie, der niemals ruhen wird, eingriffen, und 1868 die sieben Karten zur Topographie von Athen, die zusammen mit dem erläuternden Text bis zum Erscheinen des Atlas von Athen die Grundlage für jede topographische Erforschung des alten Athens blieben. In den zwölf Jahren seiner Göttinger Thätigkeit ist C. außerordentlich fleißig gewesen; denn neben diesen großen Aufgaben hat er noch manche andere Abhandlung damals geschrieben und vor allem auch als alljährlicher Redner bei der Universitätsfeier am 4. Juni mächtig gewirkt. Die Göttinger Festreden brachten ihm denselben Ruhm wie die beiden Berliner über die Akropolis und Olympia. Nur berührte er hier mehr allgemein menschliche Probleme. Er hielt z. B. 1859 die Rede zur Feier des Schillertages, sprach 1860 über Rom und die Deutschen, 1861 über die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten, 1863 über die Freundschaft im Alterthume, 1864 über die Unfreiheit der alten Welt, 1866 über den historischen Sinn der Griechen und 1867 über die patriotische Pflicht der Parteinahme. Mit dem Jahre 1868 endete seine glückliche Thätigkeit in Göttingen, auf die er immer mit großer Freude zurückgeschaut hat; denn als es sich darum handelte, einen Nachfolger für Eduard Gerhard zu gewinnen, fiel der Blick auf Ernst C., der dann als Professor der classischen Archäologie an der Berliner Universität und Director des Antiquariums an den königlichen Museen nach Berlin zurückberufen wurde. In Berlin hat C. bis zu seinem am 11. Juli 1896 erfolgten Tode gewirkt. Diese Jahre wurden vor allem von der Sorge für Olympia ausgefüllt. C. hat aber auch in Berlin als akademischer Lehrer den Verkehr mit der heranstrebenden Jugend liebevoll gepflegt; er hat ferner als Museumsdirector die Sammlung des Antiquariums, später namentlich von Ad. Furtwängler als Assistenten unterstützt, zu einer ungeahnten Höhe gebracht, indem er vor allem Fundstücke aus Griechenland bevorzugte. In seine Amtsthätigkeit fällt sowohl die Erwerbung der Tanagräerinnen als auch die der Sarkophage von Klazomenä. Auch als langjähriger Secretär der Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender der Archäologischen Gesellschaft hatte er wichtige Verpflichtungen genug. Sein Haus war ein Mittelpunkt der gelehrten Welt; denn auch Ausländer kehrten oft bei ihm und seiner geistreichen Gattin, der Freundin von Männern wie Treitschke, Harnack und Diels, ein. Trotz all diesem, das er mit treuem Pflichtgefühl besorgte, konnte er mit Recht Olympia als das Ziel und Streben seiner Berliner Jahre bezeichnen. Der Wunsch, der sich schon in seiner Brust regte, als er zum ersten Male die heilige Altis am [595] Alpheios betrat, wurde bald nach der Gründung des deutschen Reichs erfüllt. Durch die Verwendung seines Kronprinzen wurden die Mittel geschaffen, die von 1876–1881 die Ausgrabung von Olympia ermöglichten. In dem Vertrag, den das deutsche Reich mit dem Königreich Griechenland schloß, zeigt sich Curtius’ hoher, wissenschaftlicher Sinn. Er grub Olympia nicht aus, um sein Museum zu füllen, er grub nicht nach Schätzen wie H. Schliemann u. A., sondern ihm kam es darauf an, ein Bild von dem Festplatze zu gewinnen, auf dem zu siegen für viele Hellenen Jahrhunderte lang das Lebensziel war. Die alte, elische Cultstätte wollte er mit all ihren Gebäuden, Urkunden und Statuen der Welt wiederschenken. Darum verband er sich von Anfang an mit einem Architekten, seinem Freunde Friedrich Adler. Unter der Leitung dieser beiden Männer, begleitet von dem Wohlwollen Kaiser Wilhelm’s I. und seines kunstsinnigen Sohnes, die den zeitweiligen Widerstand von Bismarck zu brechen wußten, wurden diese Ausgrabungen das Muster für alle Unternehmungen ähnlicher Art und förderten eine große Anzahl neuer Probleme herauf. Die Nachricht von dem Fund des Praxitelischen Hermes begeisterte die ganze gebildete Welt. Die Giebelsculpturen des Zeustempels regten die Zunft der Archäologen auf, und wie man mit Schachfiguren spielt, suchte man die Stellung der einzelnen Figuren wiederzugewinnen und verkannte, daß C. von vornherein im wesentlichen alles richtig angeordnet hatte. Tüchtige Archäologen und Architekten arbeiteten Jahre lang emsig auf der Altis, während C. und Adler in Berlin ihre Resultate ausarbeiteten. Von all diesen um Olympia verdienten Männern muß neben C. am meisten Wilhelm Dörpfeld genannt werden, der auf diesem Ruinenfelde sein Adlerauge übte und der Architekturgeschichte der Hellenen neue Wege wies. Kurz nach Curtius’ Tode ist das große litterarische Werk über die Ergebnisse der olympischen Ausgrabungen vollendet worden. Von ihm selbst rührt nur die Geschichte von Olympia im ersten Bande her. An seinem 80. Geburtstage wurde in Olympia als Stiftung seiner deutschen Freunde, Schüler und Verehrer seine von Schaper’s Meisterhand geformte Büste enthüllt: die Einweihung der Büste nannte er in einer Danksagung, die er in den griechischen Zeitungen veröffentlichen ließ, „ein Fest von seltener Weihe, ein Fest friedlicher Eintracht und reiner Begeisterung für das unvergänglich Schöne und Gute, das in den Werken der Alten erhalten ist“. Für sich selber hatte er, der letzte Sieger von Olympia, wie er oft genannt worden ist, keine höhere Anerkennung und Ehre sich ausdenken können. Der Abend seines Lebens war, wie er damals schrieb, mit unerwartetem Glanze verklärt.

In dem letzten Drittel seines Lebens ist er wieder mehrfach in Griechenland gewesen. Noch von Göttingen aus unternahm er mit seinen Freunden H. Strack und K. Bötticher, den beiden berühmten Berliner Architekten, unterstützt von der preußischen Regierung, eine Reise nach Hellas, die neuen Untersuchungen auf der athenischen Akropolis galt, und später führten ihn noch die Ausgrabungen von Olympia mehrere Male dahin. Im Jahre 1871 sah er zum ersten Male Kleinasien. Er war der Führer einer preußischen Expedition, an der Adler, Major Regely, Gustav Hirschfeld und Heinrich Gelzer theilnahmen, und die sich zur Aufgabe gestellt hatte, eine Anzahl berühmter Ruinenplätze aufzunehmen. Smyrna, Pergamon, Sardes, Ephesos und andere Orte wurden damals besucht und topographisch aufgenommenn. In Pergamon lernte C. den Ingenieur Karl Humann kennen, der im Dienste der türkischen Regierung dort beim Chausseebau beschäftigt war. C. ist immer darauf stolz gewesen, Karl Humann sozusagen entdeckt und damit den Blick auf Pergamon gelenkt zu haben. Die Frucht der kleinasiatischen Expedition [596] wurde schon 1872 in den Abhandlungen der Berliner Akademie unter dem Titel „Beiträge zur Geschichte und Topographie Kleinasiens“ veröffentlicht. Neben Olympia nahmen C. in diesen Berliner Jahren vor allem wieder die attischen Studien in Anspruch, mit denen er an die Göttinger Arbeiten anknüpfte. Mit J. A. Kaupert gab er 1878 den vorzüglichen Atlas von Athen heraus und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur athenischen Topographie. Als sich seine Sonnenbahn dem Ende neigte, konnte er der Wissenschaft noch im J. 1891 das große Werk seiner Stadtgeschichte von Athen schenken. Den Wegen, die namentlich Wilhelm Dörpfeld der athenischen Topographie erschloß, konnte er freilich selten folgen; aber neidlos und freudig erkannte er dessen epochemachende architektonische Untersuchungen an und trat seinen zum Theil sehr stürmischen topographischen Forschungen als weiser Mahner entgegen. Im allgemeinen mußte er sich freuen, daß der erste Secretär des deutschen archäologischen Instituts in Athen ein so glühendes Interesse an den topographischen Fragen nahm; denn als 1873, vor allem durch seine Verwendung bei Kaiser Wilhelm I. und dem Kronprinzen, das deutsche Institut in Athen gegründet wurde, sollte es nach seinem Sinne besonders Topographie, Landeskunde und Epigraphik pflegen. Obwol er Eduard Gerhard’s Nachfolger in Berlin geworden war, blieb sein Hauptinteresse doch immer auf Landeskunde und Geschichte von Griechenland gerichtet. Um so schmerzlicher berührte es den Greis, daß seine Vorlesungen über Landeskunde, mit denen er an der Georgia Augusta so gezündet hatte, in Berlin bei der studirenden Jugend wenig Anklang fanden. Am meisten wirkten in Berlin seine Vorlesungen über alte Kunstgeschichte und namentlich Olympia, bei denen sich Studirende aller Facultäten und manche reife Männer einfanden. Amtlicher Aerger und Sorgen blieben auch diesem Menschenleben nicht fremd. Als er aber am 15. Juli 1896 auf dem Matthäikirchhof, wo wenige Monate vorher zu seinem größten Schmerze sein Freund Heinrich v. Treitschke bestattet worden war, zur ewigen Ruhe gebettet wurde, hat mehr denn einer der Anwesenden gesagt, daß eins der glücklichsten Menschenleben aller Zeiten jetzt ausgelebt sei. Wie sein Blick bei aller Freude an dem Edlen und Schönen der Gegenwart in die Ewigkeit gerichtet war, zeigen ergreifend die letzten Verse, die er gedichtet hat, und in die das Kunstwerk seines Lebens, von dem er selbst gesprochen hat, harmonisch ausklingt (Lebensbild S. 714):

Wie der Vogel auf dem Baum,
Der sich müd’ am Tage sang,
Nur noch zwitschert leis im Traum,
Daß es in die Nacht verklang –

Also werden meine Lieder
Leiser gegen meine Nacht,
Und die lauten sing’ ich wieder,
Wenn mein neuer Tag erwacht.

Eine Zusammenstellung der zahlreichen Werke und Schriften von Ernst Curtius findet sich z. B. in Ludwig Gurlitt’s Erinnerungen an Ernst Curtius, Berlin 1902, S. 27–32. Von biographischen Skizzen über Ernst Curtius oder Schriften, die diesem Aufsatz zur Grundlage gedient haben, seien außerdem erwähnt: Julius Schubring, Aus Ernst Curtius’ Kindheit und Schulzeit zum 2. Septbr. 1884. Als Manuscript gedruckt. Lübeck 1884. – Bernhard Brandis, 1899. Reise nach Griechenland. Eine Erinnerungswallfahrt. Als Manuscript gedruckt. Univ.-Buchdr. v. K. Georgi in Bonn. – Die Ernst Curtius-Büste im Museum zu Olympia. Bericht f. die an d. Stiftung Betheiligten. 1895. – Heinrich Gelzer, Wanderungen und Gespräche mit Ernst Curtius. Deutsche Revue Bd. 22, Juli- u. Aug.- Heft- – R. Kekulé von Stradonitz, Ernst Curtius. Gedächtnißrede, geh. bei der von d. Berliner Studentenschaft am 26. Juli 1896 veranstalteten Trauerfeier. Berlin, W. Spemann, 1896. – Hans v. Fritze, Ernst Curtius. [597] Westermann’s illustr. deutsche Monatshefte, 1897, S. 449–464. – Charlotte Broicher, Erinnerungen an Ernst Curtius. Berlin 1897; – dieselbe, Erinnerungen an Clara Curtius. Berlin 1900. – Ulrich Köhler, Gedächtnißrede auf Ernst Curtius. Abhandl. d. Berl. Akademie 1897. – Richard Schöne, Zur Erinnerung an Ernst Curtius. – Anderes siehe bei L. Gurlitt a. a. O. S. 2.