Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Müller, Julius“ von Rudolf Kögel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 638–641, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%BCller,_Julius&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 18:22 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 22 (1885), S. 638–641 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Julius Müller (Theologe) in der Wikipedia
Julius Müller in Wikidata
GND-Nummer 119380269
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|22|638|641|Müller, Julius|Rudolf Kögel|ADB:Müller, Julius}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=119380269}}    

Müller: Julius M., bedeutender Dogmatiker der Neuzeit, mit Nitzsch u. A. Vertreter einer nicht absorptiv, sondern positiv gedachten Union, ist am 10. April 1801 in Brieg in Schlesien geboren. Sein Vater war daselbst Pfarrer, später Superintendent in Ohlau, ein, wie der theologische Sohn bekennt, durch seine ἐπιείκεια (Billigkeit) ausgezeichneter, nach mehr als 60jähriger Amtsthätigkeit heimgegangener Geistlicher. Dies Pfarrhaus war gleichzeitig die Heimath von Otfried M., dem genialen Archäologen und Philologen, der in Athen begraben liegt, und Eduard M., der in Liegnitz als Director der Ritterakademie verstarb. Steffens in seinem „Was ich erlebte“ berichtet von seiner Begegnung mit den drei merkwürdigen Brüdern, unter denen der hier in Rede stehende ihm zum Freunde ward. M., den in der Kindheit ein Fall eines Auges beraubt hatte, besuchte in Brieg das Gymnasium und widmete sich 1819 dem Studium der Rechte, anfangs in Breslau, dann – Herbst 1820 – in Göttingen, an beiden Orten in juristischen Preisaufgaben als Sieger gekrönt, das eine Mal mit einer Abhandlung „Ueber das Verhältniß des Naturrechts zum positiven Recht“, das andere Mal „Ueber den Wucherhaß und seine Geschichte“. Allein weder seinem [639] speculativen Drange noch seinem religiösen Bedürfniß wollte diese Berufswahl genügen. „Tief in meinem Herzen“, so schreibt er auf einem lateinischen Tagebuchblatt, „schwebte mir ein dunkles Bild des göttlichen Wesens vor; Angst und Sehnsucht verzehrte mich, bis ich von der göttlichen Kraft des Evangeliums im innersten Gemüth ergriffen den seligen Frieden fand, den Christus allein geben kann.“ Nicht eine theologische Schule, nicht irgend welche akademische Persönlichkeit brachte diese Wendung hervor, lediglich der Umgang mit der heiligen Schrift und die Vertiefung in Tersteegen’s Werke. Nach Briefen zu schließen war eine schonungslose Selbstprüfung die letzte Wurzel jener Erfahrungen. Ostern 1821 ging er zur Theologie über. Aber neue Kämpfe bemächtigten sich seiner, da Gefühl und Erkenntniß noch nicht sobald ihre Ausgleichung fanden. – Auch boten die beiden Planck’s, Eichhorn und Stäudlin dem Suchenden kein Genüge. 1822 kehrte er nach Breslau zurück unter die reicheren Einwirkungen von Gaß, Scheibel und Steffens. Das letzte seiner Lehrjahre brachte er in Berlin zu. wo Tholuck und Neander, Kottwitz und der Hofprediger Friedrich Strauß, die Einen ihren theologischen, die Anderen ihren specifisch christlichen Einfluß auf ihn übten. Tholuck hat in seiner „Weihe des Zweiflers“ mit dem Briefwechsel zwischen Guido und Julius dem Freunde ein Denkmal gesetzt. – Lag es an des Jünglings damaliger innerer Verfassung, lag es an einem Vorgefühl abweichender Lehrart, genug, Thatsache ist es, daß er sich durch Schleiermacher, mit dem er im Freiheitsbegriff, in der Lehre von Sünde und Schuld, in der Christologie etc. principiell auseinandergehen sollte, schlechterdings nicht angesprochen fühlte und daß er die Vorlesungen dieses Meisters nach kurzem Versuch gänzlich mied. Von allen Seiten auf die Docentenlaufbahn angeredet, durch die eigene Begabung dazu im Grunde aufgefordert, wandte er sich doch zunächst dem praktischen Amte zu – ein Schritt, den er in schwermüthigen Stunden der späteren Zeit mit Unrecht als einen verfehlten bezeichnete. Daß er aber nach Jahren in der Pädagogik, vor Allem in der praktischen Theologie selbst, meisterhafte Vorlesungen halten konnte, daß er für das Ganze der Landeskirche in ihrem Bekenntniß und Verfassungsstand weittragende kirchenpolitische Blicke gewann, verdankt er zum Theil seiner Schulung durch eine an der Praxis geübte Theorie. 1824 absolvirte er in Berlin und Breslau die beiden theologischen Prüfungen und trat im Mai 1825 das Pfarramt von Schönbrunn und Rosen an, wo er mit Flora Holenz, der Tochter eines schlesischen Superintendenten, seinen häuslichen Heerd gründete. Für das praktische Geschick seiner erfinderischen Liebe spricht der Umstand, daß er, um den Begräbnißreden in seiner Gemeinde über die dürftigen persönlichen Lebensskizzen hinaus einen kernhaften Inhalt zu geben, von Sterbefall zu Sterbefall in fortlausender Reihenfolge die biblische Lehre von den letzten Dingen behandelte. Auch ein Conferenzvortrag „Ueber die Behandlung der biblischen Geschichte in den Landschulen“ erregte weithin Aufsehen. Aus den Entwürfen einer Darstellung der deutschen Mystik und den Vorstudien zu einer Geschichte des Pietismus wurde er in litterarische Fehden des Augenblickes gezogen, indem er erst anonym, dann mit offenem Visir gegen Ant. Theiner’s rationalisirende Reformerschrift „Die katholische Kirche Schlesiens“ von evangelischer Grundlage aus Front machte. Den Einen erschien er hier als Kryptokatholik, den Anderen als grimmigster Feind der katholischen Kirche, während er einfach an Stelle der Negation das christliche Bekenntniß vertheidigte und an Stelle des Fanatismus die objective geschichtliche Betrachtung walten ließ. 1829 ward ihm ein anderer Kampf verhängt. Gegner einer Unionsauffassung, die keinen Raum hat für das Bekenntniß, Mitbekenner der Fundamentalsätze der symbolischen Bücher als einer fortdauernden Verpflichtungsnorm für die Geistlichkeit, vor Allem Freund und Pfleger des Gedankens einer in Freiheit sich selbst verwaltenden [640] Kirche, konnte er die seit 1817 angestrebte Union als Ziel gutheißen, mußte aber den bureaukratisch gewaltsamen Weg ihrer mit der Agendensache vermischten Einführung perhorresciren. Er weigerte sich dem Consistorium gegenüber der Einführung einer Agende, die ohne Befragung der Geistlichen und Gemeinden, lediglich aus landesherrlicher Machtvollkommenheit, zu Stande gekommen sei. Man ließ ihn gewähren. Er aber war dankbar, als 1831 ihn ein Ruf nach Göttingen zum zweiten Universitätsprediger aus den unerquicklichen schlesischen Verhältnissen befreite. Die Göttinger Periode (1831–35) ist als „Werdezeit des Docenten und Blüthezeit des geistlichen Redners“ bezeichnet worden. Während er Vorträge über praktische Theologie hielt und einem homiletischen Seminar vorstand, sammelte er gleichzeitig um seine Kanzel eine Universitätsgemeinde. Bremen suchte ihn zum Nachfolger Dräsekes zu gewinnen. Er blieb in Göttingen, hier 1834 zum außerordentlichen Professor ernannt. Wir besitzen zwei Bände Predigten von ihm (bei Jos. Max in Breslau erschienen). 1. „Das christliche Leben, seine Entwicklung, Kämpfe und Vollendung.“ 2. „Zeugniß von Christo und von dem Wege zu ihm.“ Formell zeichnen sie sich durch Klarheit, Ordnung und Schönheit aus – auch die Homilie kommt zu ihrem Recht –, inhaltlich durch biblischen Lehrgehalt und durch die Kunst, den Entfremdeten „die Hände entgegen zu strecken“ und sie durch die Macht des Gedankens zu überwinden! Die Vorrede zum zweiten Band enthält einen Schatz homiletischer Rathschläge. – 1834 berief ihn die hessische Regierung zum ordentlichen Professor der systematischen Theologie nach Marburg. Göttingen ehrte den Scheidenden mit dem theologischen Doctordiplom. Marburg, wo er bis 1839 blieb, der Ort seiner Freundschaft mit Hupfeld, Kling, Puchta, V. A. Huber u. a., sollte ihm das Herzeleid des Verlustes seiner Frau bringen. – In Marburg gedieh das große monographische Werk „von der Sünde“, worin – unter speculativer Annahme einer „intelligiblen Selbstentscheidung“ – als das Wesen der Sünde die Selbstsucht nachgewiesen und unter anderen unzureichenden Erklärungen besonders die Ableitung aus der Sinnlichkeit abgelehnt wird. Während, zum Theil durch den Ruhm dieses Buches veranlaßt, Berufungen nach Dorpat, Greifswald, Rostock, Heidelberg, Kiel, später auch nach Tübingen und Leipzig erfolgten, schlug die nach Halle, wo Ullmanns Lehrstuhl erledigt war, durch. Hegelianer hatten sich – unter Benutzung der unvergessenen schlesischen Agendenkämpfe – dieser Berufung widersetzt; mit Recht fürchteten sie den gerüsteten Gegner des Pantheismus und Panlogismus, der 1836 in den Studien und Kritiken auch gegen David Strauß siegreich zu Felde gezogen war, indem er dem stolzen Verächter des Rationalismus die Blutsverwandtschaft seines „Lebens Jesu“ mit der Grundanschauung des Rationalismus unerbittlich nachgewiesen hatte. Der Gang nach Halle war kein leichter. Zur Signatur der dortigen Verhältnisse nur die Eine Erinnerung, daß hundert Studenten sich in einer Eingabe an den König für die Berufung von David Strauß nach Halle ausgesprochen hatten. Zu den Geistern, die in der Luft herrschten, gehörte das „Lichtfreundthum“. Und doch besann sich M. keinen Augenblick, daß er Recht daran gethan, den Katheder in Halle zu wählen und sich nicht durch die Perspective, auf einem Umweg durch das Consistorium in Breslau in die Leitung des Unterrichts im Cultusministerium einzutreten, für die Verwaltung gefangen nehmen zu lassen. Das Vertrauen des Ministers Eichhorn, das hierin sich aussprach, kam ihm bei der Beeinflussung entscheidender Besetzungen ungeschmälert zu Statten. Welches Ansehen er in Berlin genoß, beweist die Thatsache, daß er 1846 in die außerordentliche Generalsynode als Mitglied berufen ward. Seine Legitimation hierzu entnahm er nicht zum geringsten Theil seiner ein Jahr vorher erschienenen Schrift „Ueber die nächsten Aufgaben für die Fortbildung der deutschprotestantischen Kirchenverfassung“. In [641] der Generalsynode suchte er mit Nitzsch u. A. die dem Lichtfreundthum gegenüber brennend gewordene Frage einer Lehrordnung sowie die Lehrbegründung der Union zu lösen, davon überzeugt, daß sollte nicht die Einheit der Landeskirche zu einer bloßen Conföderation herabsinken, zu der wechselseitig zu gewährenden Abendmahlsgemeinschaft zwischen Reformirten und Lutheranern, sowie zu dem gemeinsamen Kirchenregiment der Nachweis eines thatsächlich vorhandenen Lehrconsensus treten müsse. Ging hiervon auch das hoffend, an die milden Lutheraner unter den Confessionellen gerichtete Buch: „Die Union, ihr Wesen und ihr göttliches Recht“ aus (Berlin 1854), so verkannte doch M. nicht, daß man 1846 die beiden Fragen über die Lehrfreiheit und den Inhalt der Union hätte getrennt und unvermischt behandeln müssen, damit nicht der vom mißtrauischen Gegner leicht ausgebeutete Anschein entstände, als solle das zu entwerfende Ordinationsgelübde den Werth eines Symbols für die Landeskirche gewinnen. Es ist bekannt, wie die Generalsynode unter dem Schwanken der Regierung und unter dem Andringen Hengstenberg’s resultatlos verlief, obschon ihre Verhandlungen noch heute einen Schatz praktischer Weisheit für kirchenregimentliche Fragen darreichen. Welchen Antheil M. an der Begründung des „Kirchentags“ (Wittenberg, September 1848), welchen durchschlagenden Erfolg er auf dem Frankfurter Kirchentag (1854) durch seinen Vortrag über die „Wiedertrauung geschiedener Personen“ gehabt – ein von ihm seit 1829 behandeltes Thema, bei dem er die Wiedertrauung Geschiedener schriftgemäß verwarf –, und wie er dadurch das Gewissen der Kirche geschätzt hat, ist allgemein bekannt. Seine Docentenwirksamkeit, Jahrzehnte hindurch von wachsendem Einfluß und Glanze begleitet, – Tholuck nannte ihn den aristokratischen, sich den demokratischen Professor – wurde im März 1856 durch einen Schlaganfall erst völlig unterbrochen, dann in einer freilich gehemmten Weise wieder aufgenommen. Auch in den Tagen der Gebundenheit trat noch immer die fast jungfräuliche Zartheit und der milde Ernst, die feste Geschlossenheit, die ganze ethische Persönlichkeit des seltenen Mannes imponirend hervor. Je schwermüthiger sein Temperament, um so tiefer litt er, der nach einer kurzen überaus glücklichen und gesegneten Ehe mit Elisabeth Klugkist aus Bremen zum zweiten Male vereinsamte, unter der theilweisen amtlichen Resignation. Am 27. September 1878 ging er heim. Col. 3, 3: „Unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott.“ Die Gedächtnißreden hielten ihm Professor Ed. Riehm, sein treuer College, und sein Schwiegersohn Dr. Leop. Schultze und der hier Unterzeichnete. Außer den im Laufe dieser Darstellung angeführten Schriften Müller’s sind noch zu nennen: „Die erste Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens und die kirchlichen Bekenntnisse“, Breslau 1847. „Consensus lutherischer und reformatorischer Lehre in der evangelischen Kirche Deutschlands“ (mit Ball), Berl. 1854. „Dogmatische Abhandlungen“, Bremen 1870. Unter seinen Dissertationen die bedeutsamen: „Lutheri de praedestinatione et libero arbitrio doctrina“, 1832. „De miraculorum Jesu Christi natura et necessitate“, 1839. „Lutheri et Calvini sententiae de sacra coena inter se comparatae“, 1854.

Zum Gedächtniß an D. Jul. Müller, Reden an seinem Sarge, Bremen 1878. – Dr. Julius Müller, Mittheilungen aus seinem Leben durch General-Superintendent Dr. Leop. Schultze, Bremen 1879.