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Artikel „Tholuck, Friedrich August Gotttreu“ von Gustav Frank in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 55–59, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tholuck,_August&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 14:20 Uhr UTC)
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Tholuck: Friedrich August Gotttreu Th., eines Breslauer Goldschmieds Sohn, geboren am 30. März 1799, hatte, nach einer unter den Vexationen einer Stiefmutter verlebten Kindheit ein exaltirter Gymnasiast, bei dem es zu Selbstmordversuchen kam, in seiner Abiturientenrede Menu, Zoroaster und Confucius über Moses, Jesus und Muhammed gestellt, und albern dünkte ihm das Christenthum gegenüber der hohen Weisheit des Morgenlandes. In Berlin ist er durch den orientalistischen Legationsrath v. Diez (einst aufgeklärt und den Pfaffen feind, an deren Stelle Bettelvögte treten sollten, nun starkgläubig alle Rationalisten an den Galgen wünschend), und durch des Baron Kottwitz’, seines Vater Abraham, Einfluß aus einem Saulus ein Paulus geworden (1818), dem doch zuweilen in cyklopischem Trotze gräßliche Gedanken (Mord, Hohn, Verzweiflung) wiederkehrten, vom Teufel ihm in den Weg gestreut. Nun erbittet er göttliche Zeichen und erfreut sich vieler außerordentlicher Gebetserhörungen. Er möchte eine Thräne werden, ganz vor dem Herrn sich auszuschütten, und der Heiland läßt sich zu dem armen Wurm herab. Angezogen von Neander’s vortrefflichem Gemüthe, empfand er einen Widerwillen gegen Schleiermacher als einen gemüthlosen, satirischen, engherzigen Mann und listige Schlange. Als Berliner Docent (habilitirt 1821 mit der Schrift „Ssufismus s. theosophia Persarum pantheistica“), 1822 auf Kosegarten’s Empfehlung Jenaer Dr. phil., doch nicht honoris causa, seit 1823 außerordentlicher Professor, ließ er sein Büchlein „Von der Sünde oder die wahre Weihe des Zweiflers“ (ursprünglich nicht als Gegenstück zu de Wette’s Theodor gemeint, überhaupt weniger dem Rationalismus, als dem der Lebensfülle entbehrenden Supernaturalismus entgegengesetzt) ausgehen (1823, zum neunten Male 1871), das vielgelesene Manifest seiner Wiedergeburt (seiner „Höllen- und Himmelfahrt“), das

mit Schwert- und Glockenschlägen,
Donner bald, bald Frühlingsregen,
Tief in uns’re Herzen schlug.

Die Kirche Christi, so verkündet er, hat den zweiten Tod überwunden und feiert die zweite Auferstehung. Er hat als rechter Pietist (1824) seine Stimme gegen die Theaterlust erhoben – das Schauspiel eine lose Kunst, dem Christen zum Spielen und zum Schauen gleicherweise verboten – und mit den Studenten Collegia pietatis gehalten. Doch ist er kein Freund von Trübsinn und Kopfhängerei gewesen und von schroffen Einseitigkeiten, besonders seit seiner einjährigen Wirksamkeit als Legationsprediger in Rom (1828–29), mehr zurückgekommen zu conciliatorischer Milde. Gegen den Willen der theologischen Facultät, deren Rationalismus er in einer Rede, bei der Jahresfeier der Continentalgesellschaft in London gehalten, gegeißelt oder, wie die Gegner sagten, angeschwärzt hatte, 1825 an Knapp’s Stelle nach Halle berufen, ist er von [56] Hegel (sonst mit Th. unzufrieden, weil er die Trinität gar nicht für das Fundament unseres christlichen Glaubens halte) dahin mit der Weisung entlassen worden: „Bringen Sie dem Hallischen Rationalismus ein Pereat“. Er hat doch zunächst nur friedsam seinen Offenbarungsglauben gelehrt, hat sich auch denunciatorische Artikel gegen seine rationalistischen Collegen zu verfassen – Gerlach meinte, aus Menschenfurcht – geweigert, aber nicht ungern gesehen, daß Andere es thaten. Indeß, wenn er auch nicht mit der Hirtenschleuder gegen den Goliath Rationalismus Steine warf, als dem vornehmsten Haupte der Hallischen Pietisten, zu deren kleiner Gemeinde Tholuck’s Hausgenosse, der theologische Arzt de Valenti, sein treuer, durch Leiden und Thränen ihm verbundener Bruder Guericke und der pommersch gebildete Conventikelmensch E. L. v. Gerlach gehörten, war ihm der Gegensatz aufgedrungen zu den „Abimelechs Knechten, die den Brunnen zu verstopfen gelaufen kamen“. Sein Verhältniß zu Gesenius war ein ungemüthliches. Die Klage über Intriguen flog herüber und hinüber. Der litterarische Streit entzündete sich an Tholuck’s, des Schwärmers, Commentaren. Bereits 1824 war sein Commentar zum Brief an die Römer (5. Aufl. 1856) erschienen; ihm folgte der Commentar zum Johannesevangelium (1827, 7. Aufl. 1857), abhängig von Lücke und Lücke’s Freundeskreis durch sein Erscheinen verstimmend, dann zur Bergpredigt (1833, 5. Aufl. 1872) und zum Hebräerbrief (1836, 3. Aufl. 1850), endlich „das A. Testament im N. T.“ (1836, 6. Aufl. 1872). Er hatte es darin, unter Anlehnung an die Kirchenväter und Reformatoren, auf eine sachliche, theologische Auslegung abgesehen, auf eine Reproduction des Geistes, aus dem das Wort hervorging. Dieses Beginnen, mit jugendlicher Begeisterung in schwungvoller Schreibart ausgeführt, kam dem trocken grammatisch-historischen Rationalismus wie ein Umsturz seiner exegetischen Errungenschaften vor, und sein Wortführer C. F. A. Fritzsche deckte schonungslos alle Fehler und Uebereilungssünden, die Exuberanzen, den Mangel an eindringenden Sprachkenntnissen, für welchen die religiöse Erfahrung keinen Ersatz biete, in der anonymen Schrift auf: „Wie Herr Doctor Th. die heilige Schrift erklärt, wie er beten lehrt und dichtet“ (1840). Dem berühmten Erbauungsbuche des Rationalismus, den „Stunden der Andacht“, an denen er die Strenge der christlichen Selbsterkenntniß vermißte, setzte Th. „Stunden christlicher Andacht“ (1839, 8. Aufl. 1870) entgegen, plump-indecent, für den geistigen Pöbel berechnet, sagten hochmüthig die Junghegelianer. Er hat de Wette, der gemäß seinem Fries’schen Dualismus mit dem Herzen gläubig sein wolle, während er mit dem Kopfe leugnet, ein unseliges Ja-Nein vorgeworfen, bei Lücke zu viel Vertrauen in die Tonangeber der Zeit, zu wenig in das Wort der Offenbarung gefunden, und in Hase’s Leben Jesu unwürdige, profanirende Aeußerungen entdeckt. Er ist auch gegen David Strauß aufgetreten, verletzt nicht durch dessen Kritik an sich, sondern durch den profanen Geist, in welchem sie geübt worden, und hat witzig auf die Retorten und Destilliröfen hingewiesen, aus denen die evangelischen Thatsachen als lustiges Sublimat hervorgingen („Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte, zugleich eine Kritik des Lebens Jesu von Strauß“ 1837). Tholuck’s eigner theologischer Standpunkt ist zu keiner Zeit ein ausgeprägt fester und scharf umgrenzter gewesen. Dazu fehlte es ihm an systematischem Talent. Er machte seinen Gang „an der schlaffen Leine der Meinungen“. Gedankenblitze durchbrechen die lose gefügten Reihen. Rosenkranz berichtet: „Was Th. seine wissenschaftliche Dogmatik nannte, hatte einen ziemlich compilatorischen Charakter und oft gebrauchte er Bestimmungen der Schleiermacher’schen Dogmatik als Fäden zu den Guirlanden von Bibelstellen, womit er seine Zuhörer überschüttete“. Die Hallischen Jahrbücher meinten: den lebendigen Glauben, den Glauben an die Idee habe Th. [57] weder philosophisch noch poetisch in seine Gewalt bekommen, weil er nie die Linie des Hegelianismus passirte. „Es fehlt ihm in Poesie und freier Wissenschaft die zeugende Kraft des Absoluten. Darum ist das Feuer seiner Begeisterung nur ein trübes Irrlicht, sein Rednerzorn nur Röcheln, sein Pathos nur ein Schrei“. Er war zuweilen von einer fast fanatischen Strenge. So wenn er es in einer Predigt einen grauenvollen Tausch nannte, statt Jesum den Sohn Gottes Jesum das Menschenkind zu erwählen; denn das sei die Erwählung eines Frevlers und Verbrechers, eines Barrabas, welcher um seiner eigenen Sünde und Thorheit willen ans Kreuz geschlagen worden. Und doch hat derselbe Th. in seinem „Litterarischen Anzeiger“ (1830–49) Alle sich aussprechen lassen, die nur von der Anerkennung Christi als unfehlbaren Meisters ausgehen, auch das Christenthum für nichts anderes, als den hervorstechendsten Punkt in der gesammten religiösen Welt erklärt. Daher er auch die Schätze aller Welt auszubreiten liebte vor der Krippe zu Bethlehem. Er hat den Propheten Namen-, Zahl- und Sachprädictionen zugeschrieben, die den Ursprung aus einer höheren Welt als der der vernünftig-politischen Combination unverkennbar an sich tragen („Die Propheten und ihre Weissagungen“ 2. Aufl. 1861), und doch bei den biblischen Schriftstellern ebenso grobe Irrthümer entdeckt, als die von ihm verketzerten Interpreten. Er hat Paulus von Andern nicht meistern lassen wollen, und doch demselben Apostel schuld gegeben, daß er häufig Citate beibringe, wo das alttestamentliche dictum hinter der Fülle des neutestamentlichen factum, oder wo das neutestamentliche factum hinter der Fülle des alttestamentlichen dictum zurückbleibe. Er kennt direct messianische Weissagungen (wie 2. Sam. 7, 14), aber sie malen doch nicht den in der Geschichte aufgetretenen Jesus, sie erfüllen sich im untergeordneten Sinne an einem niedern, im vollern und höhern Sinne an dem vornehmsten Nachkommen Davids, an Christus. Er war einmal nahe daran, von der Union hinüberzugleiten zur Conföderation, also daß er sich von seinem jüngern Collegen Jacobi an die evangelisch-freie Theologie erinnern lassen mußte, in welcher er bisher in Segen gewirkt und mit welcher er zu brechen im Begriff stehe. Diese seine freie Theologie zeigte sich darin, daß er die Inspiration der Bibel, welche nicht lauter unmittelbare Geschichtsnachrichten enthält, auf einen religiösen Tact, auf eine empfundene, aber nicht ins Bewußtsein getretene Regel reducirte. Er hat auch in der Trinität ein bloßes scholastisches Fachwerk, in der Rechtfertigung eine anticipirende Erklärung erblickt, welche den Keim nach seiner vollen Entfaltung, der einstigen vollkommenen Gesetzeserfüllung beurtheilt; er hat sich zur Abendmahlslehre Calvin’s bekannt, die Zurechnung der Sünde Adam’s geleugnet und die Vergebung der Sünden noch im Jenseits für möglich gehalten. Und da er nun überdies die von Schleiermacher aus der Dogmatik gewiesene Speculation als unentbehrlich, den Inhalt frommer Erregungen als einen dem denkenden Geiste nothwendigen darzustellen, zurückforderte, und die gute Zuversicht hatte, es werde der Christenglaube auch vor der Vernunft oder als Vernunft sich rechtfertigen, – die Vernunft eine Prophetin, die auf den Zukünftigen hinweist, wie das Alte Testament auf das Neue: – da schüttelten die Rationalisten verwundert über solche Verwandtschaft mit ihnen das Haupt. „Was würden Luther, Calvin und Spener hierzu sagen, in deren herrlichem Glauben doch der tiefe und gläubige Schriftgelehrte in Halle nach wie vor seine Ehre, seine Kraft und seinen Trost zu finden versichert?“ A. Ritschl nennt ihn wissenschaftlich incommensurabel. „Ich habe ihn sprechen hören wie weiland die Hallischen Jahrbücher, und dann wieder wie einen Herrnhuter.“ Seine theologischen Freunde (Heubner, Rothe, Stier) aber bezeichneten ihn als einen christgläubigen Neologen oder pietistischen Rationalisten und Latitudinarier, bei welchem alle Heilslehren an ihrer objectiven Wahrheit verlören. Gerlach [58] beschwerte sich über seine große dogmatische Unentschiedenheit, und Hengstenberg verfolgte den vormaligen Herzensfreund mit seinem Mißtrauen. So ist der alternde Th. in Gegensatz gerathen zu den Gefährten von ehedem. Er hat 1849 seinen „Litterarischen Anzeiger“ eingehen lassen, namentlich infolge der immer unaufhaltsameren, geflissentlichen Parteiisolirung Derjenigen, die früher sich als Arbeiter an einer gemeinsamen Sache betrachtet hatten. Er, der Elastische, hat Klage geführt über den spröden Hengstenberg, dem er doch in Berlin die Pfade geebnet und für dessen Kirchenzeitung er seiner Zeit eifrig geworben: „er ist kein milder Wein und keine Mehlspeise und er kann sich auch nicht herablassen, milden Wein zu geben“. Wie er einst (in einer Predigt von 1835) den separirten Lutheranern das Licht der Besonnenheit, so hat er der lutherischen Vollblutstheologie mit ihrer alle Entwicklung verleugnenden Repristination der Vergangenheit und ihrem schroffen, unabänderlichen Wesen wie die Vernunft so die Christlichkeit abgesprochen. „Es ist schon so weit gekommen, daß manche die Stärke ihres Glaubens nur durch die Härte ihres Urtheils über Andere erkennen geben zu müssen glauben“. Das 18. Jahrhundert werde künftig weit mehr Recht behalten, als die jungen Eiferer meinen. Er hat in seinen Büchern über die Vorgeschichte des Rationalismus („Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs“ 1852; „Das akademische Leben des 17. Jahrhunderts“, 2 Abtheilungen 1853 u. 54; „Das kirchliche Leben des 17. Jahrhunderts“, 2 Abtheilungen 1861 u. 62; „Geschichte des Rationalismus“ 1. Abth. 1865) den Kämpfern der Gegenwart die Folgen der ketzermacherischen Aetze vor Augen führen wollen – der Rationalismus eine heilsame Krankheitskrisis, herbeigeführt durch stockende oder unreine Säfte des kirchlichen Organismus. Diese Arbeiten wurden eines Seniors und ordentlichen Professors der Theologie wenig würdig befunden: er wende den Abend seines Lebens daran, den kleinlichen Schmutz aufzusammeln der den armen Menschen des 17. Jahrhunderts, wie uns allen, angeklebt hat. – Ungetheilteren Beifall hat er als Prediger, insbesondere als Universitätsprediger (1839 als solcher ernannt) gefunden. Wenn Th. predigte, erzählt Rosenkranz, so war es als vernähme man einen Urchristen, der die Begeisterung seines Glaubens mit einer solchen Innigkeit, mit einer so flammenden Beredtsamkeit aussprach, der ich nichts zu vergleichen wüßte. Seine Gebete namentlich waren überwältigend. Und wie seine Predigten unmittelbar ins Leben hineingriffen – denn eine rechte Predigt soll den Himmel zum Vater, aber die Erde zur Mutter haben – so hat er Vielen zum Segen als Studentenprofessor eine Art socratischer Mäeutik ausgeübt, auch junge und alte Häupter mit seinen Vexirfragen in Verlegenheit gesetzt. Und weil er so noch tiefer in die Herzen als in die Bücher sich geschrieben, ist er allezeit ein vielgefeierter Mann gewesen. Wahnvorstellungen und Anfechtungen, Folgen zunehmender Gehirnerweichung, trübten den Abend seines Lebens, bis sich der Schmachtriemen der Endlichkeit ihm löste (am 10. Juni 1877). – Tholuck’s Werke erschienen gesammelt zu Gotha 1862–73 in 11 Bänden, seine „Vermischten Schriften“ in 2 Bänden 1839, in zweiter, verkürzter Auflage 1867.

L. Witte, Das Leben Tholuck’s, 2 Bde., Bielefeld und Leipzig 1884 und 86 (hier auch ein genaues Verzeichniß der von Th. verfaßten und herausgegebenen Schriften). Außerdem: Tholuck’s 25jähriges Amtsjubiläum, Halle 1846. Tholuck’s 50jähriges Jubiläum, Halle 1871. Mathilde Th., Erinnerungen an Prof. Tholuck’s Heimgang, Leipzig 1892. – Charakteristiken von C. Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie, 4. Aufl. (1869) S. 109–21; A. Mücke, Dogmatik des 19. Jahrh. (1867) S. 215; F. Nippold, Handbuch der neuesten Kirchengeschichte III, 1, 120; O. Pfleiderer, Die Entwicklung der protestantischen Theologie (Freiburg 1891) S. 188; [59] M. Kähler in Herzog’s R.-E., 2. Aufl. XV, 560. – Ueber Th. als Prediger: K. H. Sack, Gesch. d. Predigt S. 377; A. Brömel, Homilet. Charakterbilder II, 158; A. Nebe, Zur Gesch. d. Predigt III, 280.