ADB:Kottwitz, Hans Ernst Freiherr von

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Artikel „Kottwitz, Hans Ernst Freiherr von“ von Wilhelm Baur in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 16 (1882), S. 765–772, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kottwitz,_Hans_Ernst_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 22:19 Uhr UTC)
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Kottwitz: Hans Ernst Freiherr v. K. (1757–1843), Bekenner des Christenglaubens in einer glaubensarmen Zeit, Freund des Volks in der Volksnoth, ein Vorbild für die Arbeit der inneren Mission, Sohn des Adam Melchior Freiherrn v. K. und der Johanna Luise, geb. Freiin v. Kock, ist aus einem alten schlesischen Adelsgeschlechte am 2. Septbr. 1757 zu Tschepplau, Kreis Glogau, geboren. Aus den ersten 50 Jahren seines Lebens ist wenig bekannt. Auf einer Erziehungsanstalt in Breslau entging er den Nachstellungen der Jesuiten. Auch in seinem reifen Glaubensleben nahm er eine scharfe Stellung gegen römische Anmaßungen ein. Er war Page am Hof Friedrichs des Großen. Das Verdienst, die trübe Gährung seines sittlichen und religiösen Lebens zur friedevollen Klarheit des biblischen Christenglaubens gebracht zu haben, welche ihn nie wieder verließ, hat sich die Brüdergemeinde erworben. Seine Frömmigkeit hatte von nun an durchaus die Art dieser Gemeinde. Er vermählte sich mit Charlotte Helene Gräfin Zedlitz, welche ihm die Peilauer Güter mitbrachte († zu Nimptsch am 31. Jan. 1829). Aus dieser Ehe stammten zwei Söhne und eine Tochter, die unverheirathet blieben.

Früh trieb ihn sein Glaube zum Werk. Die Armuth seiner schlesischen Landsleute, namentlich der Spinner und Weber, jammerte ihn. Er errichtete Fabriken, um ihnen Arbeit und Verdienst zu schaffen. Dabei erfuhr er die empfindlichsten Vermögensverluste. Doch setzte er bis an sein Ende, wohl mit Staatszuschüssen, das schlesische Werk fort. „Die Zeit seines ersten Mannesalters“, so erzählt Seminardirector Zahn aus vertrauter Bekanntschaft, „war für den theuren Mann eine Zeit mannigfacher Demüthigungen in seinem äußeren Lebensgeschick, wozu auch manches häusliche Ungemach kam. Es ging ihm, wie wir das so oft bei ausgezeichneten Männern finden, daß ihnen gar manches unter den Händen zerbricht, bis sie durch allerhand Irr- und Kreuzwege endlich zu dem Berufe hingedrängt werden, in dem ihnen erst der rechte Segen zugedacht ist. Es ging in Noth und Liebe dem Ziele zu, ein Wort, das der Selige oft und gern gebrauchte. Man könnte ihn in einer Art da mit Pestalozzi vergleichen, dem auch alles zerbrach, bis er endlich als Fünfziger unter den armen Kindern in Stanz seine Lebensaufgabe erkannte“. – Ein Fünfziger war K., als er, in der schwersten Noth seines Volkes, mitten in der Hauptstadt des Landes, in Berlin, das Werk begann, das seinen Namen in der Gemeinde der Christgläubigen und Werkthätigen unvergeßlich gemacht. Nach der Schlacht bei Jena waren die siegreichen Franzosen am 24. Octbr. 1806 in Berlin eingezogen. Sofort hörten die Arbeiten in den Fabriken auf. Viele Tausend Arbeiter wurden brodlos und die Lebensmittel waren theuer. Auf den Straßen, auf den Brücken lagerte die Bettelei. K. konnte das Elend nicht ansehn, ohne Jammer zu fühlen. Er suchte durch Verschaffung von Arbeit der Noth der Leute zu steuern. Zuerst trieb er das Werk im eigenen Hause. Dann bestimmte er den französischen Civilgouverneur Bignon, ihm die v. Winning’sche Kaserne in der Nähe des Alexanderplatzes, in welcher sich bisher ein großes Lazareth befunden, zu seinem Werk der Barmherzigkeit zu überlassen. Am 1. Oct. 1808 zog er in dem unfreundlichen Gebäude ein und errichtete in demselben eine „freiwillige Beschäftigungsanstalt“. Hier lebte der Baron wie ein Vater unter Kindern mitten in einer Hausgemeinde von Hunderten armer Leute. Der Grundgedanke, der aus seiner warmherzigen, hellsichtigen Liebe [766] stammte, war dieser: Rettung aus der Noth schafft nicht Geld, sondern Arbeit, nicht die einmalige Hülfe, sondern die stetige Anleitung zur bürgerlichen Tüchtigkeit, nicht die Auflösung verkommener Familien zum Behufe der Unterstützung ihrer einzelnen Glieder, sondern ihr geordnetes Zusammenleben, nicht der staatliche Zwang, welcher blos das ärgerliche Elend aus den Augen schafft, sondern die freie Liebe, welche des Menschen sich annimmt, um ihm seinen ewigen Werth vor Gott zurückzugeben. So wurden denn die Arbeitsfähigen im Hause mit lohnender Arbeit versehen, bis sie außer dem Hause sich wieder forthelfen konnten, die Kranken und Schwachen verpflegt, die Kinder unterrichtet. K. wandelte in der großen Hausgemeinde umher, er berieth den Einzelnen seelsorgerlich, die ganze Gemeinde sammelte er zu Andachten. In allem, was er that, war Christus sein Vorbild, von welchem es heißt: da er das Volk sah, jammerte ihn desselben. Nicht in falsch geistlicher Weise fühlte er Jammer nur über den sittlichen und religiösen Zustand, sondern in gesunder christlicher Frömmigkeit brach er vor allem den Hungrigen das Brod, führte den Elenden ins Haus, kleidete den Nackten. Dann aber, in der klaren Erkenntniß, daß der Mensch nicht vom Brod allein lebe, nicht mit dem Kleide des Leibes seine Seele vor dem Auge des Richters decken könne und eine bleibende Stätte hienieden nicht habe, versorgte er seine Pflegekinder reichlich mit dem Evangelium. So sicher K. in der Ueberzeugung war, daß es für die Armuth kein besseres Heilmittel gebe, als das gesunde Christenthum, so fern blieb ihm doch der Gedanke, daß er, um seinem Werke den entschiedenen christlichen Charakter zu bewahren, aus dem communalen Leben sich in eine heimliche Ecke zurückziehen müsse. Im Gegentheil hatte er den Wunsch, seine freiwillige Beschäftigungsanstalt mit der städtischen Zwangsarbeitsanstalt, nämlich dem Arbeitshause, vereinigen zu dürfen. Am 23. Mai 1809, als die Stadtverordnetenversammlung eben erst ins Leben getreten war, wandte sich K. an dieselbe mit der Bitte, einige Deputirte zu ernennen, welche sich der Controle seiner Anstalt unterziehen möchten. Damit begannen die langjährigen Verhandlungen zwischen K. und den städtischen Organen über den Fortbetrieb des Werkes. K. wünschte dasselbe in seiner freien persönlichen Weise fortzuführen, der Magistrat hatte bei seiner Armenpflege andere Gesichtspunkte. K. war bange, das Gebäude, in welchem er sich mit seinen Armen eine warme Häuslichkeit in „Noth und Liebe“ geschaffen, verlassen zu müssen, der Magistrat empfand es als eine ärgerliche Verlegenheit, daß er durch die Einräumung der Kaserne für die Beschäftigungsanstalt genöthigt war, quartierlose Soldaten bei den Bürgern einzuquartieren. K. hatte den Drang, den Geist der christlichen Armenpflege der gesammten städtischen einzuhauchen: der Magistrat will „die verunglückte Privatanstalt des Barons v. K. nicht übernehmen“. Lange dauerten diese Agonieen. Aber der Vorsprung, den K. mit seiner freien Liebe vor der amtlichen Verpflichtung gewann, die Unfähigkeit der städtischen Organe, für das unentbehrliche Hülfswerk, das K. nun einmal übernommen, einen raschen Ersatz zu schaffen, namentlich aber die Gunst des Königs und der Regierung, welche dem „frommen Baron“ zugewendet blieb, waren lauter Bewahrungen für diesen. Und bis zu seinem Lebensende konnte er, auch als die Anstalt einer besonderen Direction, deren Mitglied er war, übergeben ward, in seiner Kaserne bleiben.

Die Armenpflege ist aber nur eine Seite der christlichen Gesammtwirkung, welche K. auf seine Zeitgenossen übte. Er gehörte zu den Wenigen, welche sich den evangelischen Glauben durch die Zeit des herrschenden Rationalismus durchgewintert hatten. Mit der Kraft wärmster Unmittelbarkeit suchte er jeden, der ihm nahe kam, zu der gleichen Seligkeit in Christus, die er selbst genoß, hinzuführen. Und die Zeit war dazu angethan, dem ehrwürdigen Meister lernbegierige [767] Jünger zu schaffen. Die Tage der deutschen Erniedrigung waren von den edelsten Geistern als eine Strafe für deutsche Sünden in Buße erkannt, wie Wunder der erbarmenden Gottesgnade während der deutschen Erhebung die Siege empfunden worden. „Das ist Gottes Finger“, so hatte man ausgerufen, und Gottes Angesicht gesucht. In Berlin zumal geschah in dem zweiten und dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in vielen Herzen eine Erweckung, Erneuerung, Vertiefung christlichen Lebens. Das neue Leben freute sich, um einen erfahrenen Christenmann sich sammeln zu dürfen. K. weckte durch das Werk, das er that, die Frage: aus welchem Glauben solches Werk entstammen möchte. Er zog die Suchenden an und wie gerne ließen sie sich ziehen! So ward Jahrzehnte lang die alte Kaserne, in welcher der Laienbruder unter seinem armen Völklein wohnte, eine Brunnenstube, aus der so frisches geistliches Leben quoll, als je aus einer Kirche, darinnen ein mächtiger Prediger sein Wort erschallen ließ. Seine Laienart bewahrte K. mit der liebenswürdigsten Demuth. Er hatte nicht die Weise so manches nichtamtlichen Erweckungspredigers, die Leute merken zu lassen, bei ihm sei doch etwas viel Besseres zu haben, als bei den Männern im Talar. Er sprach nicht gerne frei: in seinen Andachten gab er neben dem Wort der Schrift am liebsten das Wort bewährter Gottesmänner, und wenn ein Geistlicher als Gast da war, so ward er aufgefordert, der Hausgemeine eine geistliche Gabe mitzutheilen. Aber während sonst die Predigt nur die Forderung aufstellen kann, daß der rechte Christenglaube in der Liebe thätig sei, gingen in Kottwitz’ Haus die Hörer durch die lebendigen Erweisungen, die gepflegten Armen, hindurch. Welch eine Bedeutung Kottwitz für das Wachsthum des Reiches Gottes, für die Belebung der evangelischen Kirche Deutschlands, für die Gewinnung edler jugendlicher Kräfte hatte, läßt sich am besten durch das Beispiel eines der gesegnetsten deutschen Kirchenlehrer, August Tholuck, zeigen. In seinem Buche „Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder die wahre Weihe des Zweiflers“, das zuerst 1823 erschien, gibt uns der junge Tholuck aus der wärmsten, dankbarsten Herzensbewegung ein Bild von K. Daß das Bild der Wirklichkeit entspricht, beweist die Unlust des Originals, aus welcher er dem Vorleser des Buches wehrte, die ihn betreffende Stelle zu lesen: „Stille, stille, nicht weiterlesen!“ und das Zeugniß noch lebender Jünger des alten Barons. „Ich schreite nun noch zur Beschreibung von etwas anderem“, sagt Tholuck, „was einen entschiedeneren Einfluß auf mein Denken und Leben gehabt hat, als das System und mein Forschen. Ich habe eine Gemeine wahrer Jünger Christi kennen lernen“. Er meint die Gemeinde, die sich um K. gesammelt. Und von diesem selbst gibt er die folgende Schilderung, welche, um des Mannes willen, dem sie gilt und um des Verfassers willen, kirchengeschichtlichen Werth hat: „Dieser ehrwürdige Greis lebt hier seit wenigen Jahren in einem Sabbath, wie ihn die Seligen feiern werden, wo nämlich die seligste Ruhe und die seligste Wirksamkeit der Liebe eins geworden. Bis in sein hohes Greisenalter war er unermüdet beschäftigt, auf Reisen und in stehendem Aufenthalte mit Werken der Menschenliebe und der Gottesliebe. Die Stätten des Elends und des Jammers sahen ihn am öftersten, weil er nichts Lieberes wußte, als Thränen trocknen. Er reiste selbst umher in mehreren Staaten. Wohin sein Einfluß und sein Vermögen im Großen reichten, verbesserte er Krankenhäuser und Gefängnisse; wo seine Thätigkeit einen großen Widerstand fand, wandte er sich zu einzelnen Hülflosen und bot sich ihnen an als Freund. Er war der Meinung, daß großes leibliches Elend den menschlichen Geist so niederdrücke, daß er darunter kaum zu dem, was droben ist, aufzublicken wage. Ehe er daher den am Leib und Geist sehr Elenden die Wunden ihrer Seelen zeigte, trocknete er erst die Thränen, die über irdische Schmerzen flossen, und hatten sie so als ihren Wohlthäter ihn [768] lieben lernen, so hörten sie williger an, was er ihnen von den Wunden ihrer Seele sagte und dem Helfer dazu. Viele leiblich und geistlich Arme dankten es ihm auf diese Weise, daß sie weder leiblich noch geistlich ferner noch Thränenbrod essen dürften … In dieser Wirksamkeit war der begnadigte Diener Jesu Christi eine sehr lange Reihe von Jahren in verschiedenen Gegenden Europas umhergereist, hatte bald hier bald dort eine längere Zeit sich aufgehalten und überall von dem apostolischen Privilegium Gebrauch gemacht, mit den Weinenden zu weinen. Es war von dieser Wirksamkeit nichts öffentlich bekannt geworden. ⊿αϑε βιωσας war sein Lieblingsspruch. Er hielt Werke der Liebe für einen Balsam, wird er geöffnet, so verliert er Kraft und Würze. Wie sein Heiland liebte er, wenn er Jemand wohlgethan, die Worte: Gehe hin und siehe zu, daß du es Niemand sagest! Es konnte nicht fehlen, daß manche, die ihn nicht verstanden, ihn auf dieser seiner Laufbahn nicht für einen Samariter hielten oder ihm sagten: du hast einen Teufel. Diesen pflegte er blos zu antworten: Ich bin kein Samariter und habe keinen Teufel. Es geschah wol auch, daß mancher Simei ihm fluchte und ihn einen losen Mann nannte. Wollte man hingehen und rächen, so antwortete auch er: Lasset ihn fluchen, denn der Herr hats ihm geheißen. – So hatte dieser Jünger den schmalen Pfad bis ans Ende durchpilgert, schon konnte er von ferne in sonnenhellen Stunden den Schimmer des Landes schauen, wohin er wanderte. Nun wollte er noch auf eine kurze Zeit ruhen, um stark und jugendlich seiner himmlischen Verjüngung entgegenzugehen. Er beschloß daher, hier in unserer Stadt den Rest der Tage seiner Wallfahrt zu verweilen, und hier von seinem Pflegesohn, der bei ihm wohnt, sein Pilgerkleid zur Ruhe bestatten zu lassen“. Und nun erzählt Tholuck, indem er sich selbst unter dem Namen Otto einführt, seine erste Begegnung mit dem Greise: „Er fand den Patriarchen mit einem anderen jungen Manne allein. Das Zimmer war außerordentlich einfach. Der Patriarch selbst, ein Greis von fast siebenzig Jahren, stand wie eine Erscheinung aus einer höheren Welt vor seinen Augen. Auch in seinem Angesichte lagen die Spuren eines verborgenen Harmes, doch war es, wie wenn ununterbrochen das Lächeln der Ueberwindung darüber schwebte, das Auge leuchtete von einem geheimen Feuer, wie er es noch in keinem irdischen gesehen und darüber hinab legte sich oft das Augenlid, als wolle die Seele der irdischen Welt sich zuschließen und allein der inneren sich aufthun, in der Sprache lag nichts weniger als Süßlichkeit, sondern ein männlicher Adel, welcher von einer kräftigen und großen Seele zeugte. Das Gespräch handelte nur von Dingen des gewöhnlichen Lebens, aber über allen lief es wie ein sanftes Wetterleuchten, das aus einer anderen Welt stammte. Besonders bemerkenswerth war auch Otto’n die warme Liebe, mit welcher das Interesse des Greises stieg, sobald von Leidenden irgend einer Art gesprochen wurde, es war dann, als sei er von Gott zum Stellvertreter auf die Erde gesandt, um Allen Trost und Linderung zu gewähren. – Als nach diesem Ankunftsbesuch Otto sich entfernen wollte, geschah die Frage an ihn, ob er schon ein Zimmer sich besorgt habe und die Antwort war: nein. Und mit einer anmuthigen Milde, als habe Otto eine Gunst zu gewähren, bat der Greis ihn, in seinem Hause zu bleiben und seinen einfachen Tisch zu theilen … Drei Wochen blieb er in diesem Emmaus und während dieser Zeit erfolgte seine Wiedergeburt … Er sah nun vom Morgen bis zum Abende, wie der Sabbath, den der Jünger erwählte, nur der war, den Gott feiert, aus dessen seliger Ruhe unaufhörlich die Ströme der Liebe fließen und in diesem Ausströmen ruhet er. Da wechselten hülflose Kinder, denen Schule und Kost verliehen wurde, gebrechliche Greise, denen Unterkommen in Krankenhäusern ausgewirkt wurde, Kranke und Sieche, denen Arzenei und nährende Speisen verliehen wurden, brotlose [769] Handwerker, welche ein Unterkommen brauchten, arme Studierende, welche Freitische und Stunden wünschten, um ihr Seelenheil Bekümmerte, welche Rath und Trost heischten, freudige Gläubige, welche sich zu stärken kamen, nie sah Otto die Thür sich öffnen, ohne zu wissen: Wer da kommt, der bringt nicht, er will gesättigt sein, leiblich oder geistig. Und nie ermüdet und nie unzufrieden war er, der es längst aufgegeben hatte, für sich selber zu leben, bei einem Jeglichen mit gleichem Antheil und mit gleicher Wärme – sein Wort war Liebe, Liebe floß vom Saume seines Kleides. Otto erinnerte sich der Worte der hl. Schrift, von einem Verklärtwerden ins Bild Christi“.

In der That, die Klarheit Christi spiegelte sich in Kottwitz’ Leben. Er hielt der Sonne still. In der Einfalt, welche er gerne mit einem Liede Spangenberg’s pries, ergriff er das Eine, das noth ist und in dem einen Nothwendigen verloren ihm die vielen vergänglichen Dinge ihren Werth. Adelichen Geschlechts hielt er sich am liebsten zu den Niedrigen; weltkundig ging er schlicht mit den Schlichten um; zu hohem Greisenalter aufsteigend, ward er immer kindlicher vor seinem Gott. Die Gotteskindschaft war ihm der höchste Stand, die größte Weisheit, die tiefste Seligkeit. Glaube war ihm kindliche Annahme des göttlichen Wortes und kindlicher Gehorsam gegen Gottes Gebot. Alles Unheil seines Geschlechtes leitete er aus dem Unglauben her. Von der Wiedererweckung des Glaubens erwartete er das Heil. Die protestantische Kirche seiner Zeit, die von dem Rationalismus beherrscht war, schien ihm kaum noch Kirche. „Wäre ein Leben des Glaubens und des Gehorsams in der protestantischen Kirche, so würde ihr wissenschaftliches Forschen und Prüfen mit Erkenntniß der Wahrheit gesegnet gewesen sein; anstatt sie bis jetzt, bei allem Vorgeben freier Geistesbewegung, in einer unfreien Grübelei befangen, seit 300 Jahren nicht zum Ziele gelangen konnte und fortwährend also bauet, wie es uns in der hl. Schrift, für alle Zeiten, durch den Bau des Thurmes zu Babel dargestellt worden ist“. (Etwas aus meinem Glaubensbekenntnisse S. 4.) Aber der Schmerz über die Kirche, der er von der Taufe her angehörte, machte ihn nicht blind gegen die katholische. Er war nüchterner, gerechter, einfältiger als F. L. Stolberg. Wäre die katholische Kirche gläubig und gehorsam: „sie würde nicht länger die Zwangsgebete, den Altardienst in fremder Sprache und so viele gehaltlose Predigten dulden“. Bei diesem Zustande der großen christlichen Confessionen fühlte er sich am warmen Herde der Brüdergemeinde wohl. Ohne ihr eigentlich anzugehören und mit einem weiteren Blicke in die Gesammtzustände des Volkes als ihr eigen zu sein pflegt, lebte und webte er doch in ihrem Geist und in ihrer Art. Wie sie betonte er die Grundlehren des Evangeliums mit energischer Ausschließlichkeit: die Sünde und die Gnade, den Glauben und den Dienst. Das Brüdergesangbuch war seine zweite Sprache. In seinen Briefen geht seine eigene Rede unmittelbar in den Gebrauch jener Liederverse über, die oftmals trocken, fast epigrammatisch, doch die reife Frucht eines warmen Glaubenslebens sind. Aus der Stille eines solchen Lebens der Gotteskindschaft und Brüderlichkeit schaute er aus, betete er, wirkte er, damit die Kirche sich erneuere: „Unsere Confessionen zu verlassen“? Das sei ferne! Vielmehr sei es unser Streben, unser Heil durch den Glauben an die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist, zu suchen und durch Gehorsam die Lehre Christi in allen Stücken mit Fleiß wahrzunehmen“. Die Keime neuen Lebens pflegt er mit Sorgfalt. Wo er einen Menschen findet, in welchem die Klarheit Christi sich zu spiegeln beginnt, dem reicht er brüderlich, väterlich die Hand. Sein Haus ward eine Pflanzschule glaubensinniger und liebesthätiger Laien wie Theologen. Jünglinge fanden bei ihm Unterstützung für des Leibes und Geistes Nothdurft. Zahn war bereits Advokat, zum lebendigen Christenthum und von diesem zur [770] Theologie getrieben und in Berlin an K. gewiesen worden. „Ich fand da“, erzählt er, „eine große Gesellschaft, Herren und Damen, Theologen und Juristen, hohe Militärs und arme Studenten. Im Betsaale ward von einem der anwesenden Theologen eine Bibelstunde gehalten und dann sammelte man sich wieder in den Zimmern und es erging sich alles in Zwiegesprächen. Hier eine Gruppe, dort eine Gruppe. Und mitten durch bewegte sich die edle Gestalt des stillen, anspruchlosen Greises, der mehr einer der Gäste, als der Wirth zu sein schien, er herrschte durch seinen Allen dienenden Sinn. Bald sagte er diesem ein freundlich Wort, ein anderer erhielt einen Händedruck oder einen vielsagenden Blick und in allem schien ein stiller Dank zu liegen, dafür, daß man zu ihm gekommen. Endlich kam er auch zu mir, nahm den verwundernd in solchen Kreis hineinblickenden Neuling bei Seite und sprach: „Mein Geliebter! Dieses Zimmer, worin wir hier versammelt sind, werden Sie mit noch einem lieben jungen Freunde künftig bewohnen, wenn Sie es annehmen wollen; ich werde morgen auf längere Zeit nach Schlesien verreisen und werde mich freuen, wenn ich Ihnen einen kleinen Dienst damit erweisen kann, denn ich höre, Sie haben noch kein Quartier“. Immer neue Geschlechter von Studenten begrüßte er in seinem Hause. Seiner Klage über die falsche Theologie entsprach die Freude über eine erneuerte. Wie hoch er den theologischen Lehrstand hält, beweist das Wort an Tholuck: „Seliger ist geben als Nehmen. – Wie sind daher die christlichen Doctoren zu beneiden, die so vielen zu geben berufen sind, wenn dem Christen Neid ziemte. – Aber freuen dürfen wir uns, daß solcher Segen und solche Macht den lieben Doctoren dargeboten ist. – Und unter welcher Bedingung dargeboten, da so viele so Schädliches geben. Leer dich aus, Er wird dich füllen, setze dich, Er wird dich stillen, schweig, so lernst du seinen Willen, wisse nichts, so weißt du Ihn! – Wie schwer hält es aber, Armuth, Schnödigkeit und Blöße sich selbst einzugestehen, wie viel schwerer mags daher den lieben Doctoren von statten gehen, die noch außerdem sich durch so vielen Ballast zu streiten und zu zermühen haben“. Außer den genannten gibt der Briefwechsel eine Menge mehr oder weniger bekannter Namen von solchen, die mit K. Gemeinschaft hatten: Laien, wie die Gebrüder v. Gerlach, v. Röder, Westphal, v. Bethmann-Hollweg, v. Lancizolle, v. Lecoq, v. Senfft, v. Below, Focke; Theologen, wie Neander, Stier, Rothe, Wichern, Lindel, Goßner, Seegemund, Bernhardi, Gründler. Darf man im allgemeinen sagen, daß die Frömmigkeit aus der Erweckung in dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts, was das Werk betrifft, mehr auf die Erbauung durch Schrift und Versammlung, als auf die Linderung der äußerlichen Noth gerichtet war, so gab auch in dieser Richtung K. ein leuchtendes Vorbild. Er erkannte klar die sociale Aufgabe des Christenthums: beides, seine Person, die mit allen Ständen bis in die untersten brüderlich verkehrte, und sein Gut, das er mit vollen Händen den Armen spendete, stellte er in den Dienst der Barmherzigkeit – in der klaren Erkenntniß, daß jeder Besitz eine Verpflichtung in sich schließe. Seine Wohlthätigkeit liefert den Beweis, wie heilsam die kräftige Initiative des Einzelnen das Gewissen der öffentlichen Organe erregen kann. Und nicht blos der städtischen Armuth, sondern auch der Noth der ländlichen Bevölkerung war seine Liebe zugewendet. Die alte Liebe zu den Armen des schlesischen Gebirges ist auch in dem hochbetagten Greis nicht verrostet. Nach Schlesien trieb ihn zu längerem oder kürzerem Aufenthalt nicht blos die Gemahlin, die mit einem besonderer Pflege bedürftigen Sohne dort wohnte, sondern auch die Noth des Volkes. Im November 1829 schreibt er aus Grüssau an Tholuck: „Die Lage unserer Gebirgsbewohner übertrifft jede Vorstellung. – Der Herr sehe drein und wahre dem fortschreitenden Treiben und Wirken der Unvernunft und frevelhaften Leichtsinns. – Ich gedenke, [771] wenn Gott mein Leben fristet – bis zum Frühjahr in der Mitte mir sehr theurer – wenngleich von der Intelligenz der Zeit so fast zertretener – Menschen zu verbleiben. – Wer die Ergebung dieser Menschen und ihre redliche Drangebung, um nur den Kindern das bethränte Brod zu reichen, von nahem beobachtet, der ist ein Stein, wenn ihm die Leiden dieser edlen Dulder nicht zu Herzen dringen, während für eitle Träumereien, die elendesten Gelüste, technische Spielereien, Summen von vielen Tausenden ausgegeben werden“. Die gleiche Entrüstung hat er auch in seinem „Bekenntniß“ in Bezug auf die Vernachlässigung der Schulen ausgesprochen. Er klagt zuerst, daß in den meisten höheren Schulen fast nur noch Griechisch, Lateinisch und Mathematik, nicht aber christlicher Unterricht und christliche Gesinnung gelten, daß in Folge falschen Verfahrens in den niederen Schulen Anmaßlichkeit, Frechheit und Verwilderung der gemeinen Volksclasse überhand nimmt und fährt dann fort: „dazu kommt noch, daß für Kirche, Schulen und Seminarien nicht einmal das Nothdürftigste geschiehet, während für sehr fernliegende Zwecke die unverantwortlichste Verschwendung Statt findet“. Auf Anregung Neander’s hat K. nach Hegel’s Tod beim König und dem Minister Altenstein große, aber vergebliche Anstrengungen gemacht, daß nicht der Hegelianer Gabler auf den erledigten Lehrstuhl berufen würde.

Bis an sein Ende hat K. nicht aufgehört zu wirken. Er blieb der persönliche Mittelpunkt der gläubigen Kreise. Sie kamen zu ihm. Er besuchte sie, so lang die Kraft reichte, an ihren Orten. Kein christliches Interesse war ihm fremd. Am hellsten leuchtet er als Mann der innersten Mission, der Einwirkung auf die geistliche Erweckung namentlich der studirenden Jugend und der inneren Mission, des Erbarmens mit den Elenden im Volk. Die körperliche Schwachheit und die Abnahme der geistigen Frische banden ihn im hohen Greisenalter mehr als seine Selbstlosigkeit wünschte an die Hülfe Anderer. Mochte dann und wann einer seiner Helfer des edlen Mannes und seiner guten Sache sich wenig würdig erweisen: im Ganzen war er von treuen Mitarbeitern und von ehrfürchtigen Jüngern umgeben. Aus geistlichen Anfechtungen, die ihm so wenig als anderen begnadigten Gottesmännern erspart wurden, stieg er an der Hand seines Heilandes allemal siegreich hervor. Friedlich ging er in Folge einer grippenartigen Erkältung am 13. Mai 1843 heim. Sein Leichenbegängniß zeigte, daß er, wie verborgen er auch gelebt, unvergessen war. Auf dem alten St. Georgenkirchhofe vor dem Königsthor hat Pastor Rolle seine Leiche eingesegnet. Auf dem einfachen Grabmal, einem eisernen Kreuze, stehen die Worte 1. Cor. 15, 42–43, Name, Geburts- und Todestag. Was er an Wohlthaten geistiger und leiblicher Art eine gewisse Zeit lang, an bestimmten Orten, einzelnen Personen gespendet, das ist nicht die eigentliche Kraft, das ist nur die äußerliche Erscheinung seiner Wirksamkeit: die wirkende Kraft war seine in Christo gereifte Persönlichkeit, die vorbildlich, weil urbildlich, man möchte sagen: elementarisch darstellt, was Christenthum ist. Wie die Familiengestalt der ersten Christengemeinde zerfallen mußte, ihr Geistesgehalt aber für alle Zeiten der Kirche unverlierbar ist, so konnte jenes Kottwitz’sche Familienleben in der Kaserne nicht bestehen: daß es aber einst bestanden, ist zunächst eine Mahnung für künftige Geschlechter, die sociale Aufgabe des Christenthums nicht aus der Hand zu legen und seine volle Geistlichkeit auch durch Linderung der leiblichen Noth zu erweisen, sodann eine Verheißung, daß der Geist wehet, wo er will, und er auch aus Laienkreisen dem Stande der Geistlichkeit Belebung bringen kann. Wie Pestalozzi und Falck weit über den Bestand ihrer Anstalten hinaus fortwirken, so steht, nachdem Kottwitz’ Werk in städtischen Einrichtungen verschwunden, der Mann selbst im Gedächtniß der Gemeinde wie die persönliche Erscheinung des [772] Christenthums, die unmittelbare Einheit des Ergriffenseins von Christus und des Greifens nach dem Kleinode, der Demuth vor Gott und der Selbstlosigkeit vor den Menschen, des Gottesfriedens und der Weltüberwindung, der Seligkeit des Glaubens und des Werkes der Liebe, des Himmelsbürgerthums und des Erbarmens mit dem Volk auf Erden.

Aus meinem Glaubensbekenntnisse für meine Freunde von Kottwitz, gedruckt bei K. Tauchnitz in Leipzig. – Briefe. – (Tholuck) Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder die wahre Weihe des Zweiflers, Hamburg 1823. – Zur Erinnerung an Baron v. Kottwitz, Abdruck aus der Dorfchronik von Zahn, Jahrg. 1850, N. 21–23. – Die kirchlichen Zustände in Berlin nach Beendigung der Befreiungskriege, von Dr. Büchsel, Berlin 1870. – Erinnerungen aus dem Leben des Predigers Rolle und des Barons v. Kottwitz. Herausgegeben von Th. Ritter, Berlin. – Geschichte der v. Kottwitz’schen Armen-Beschäftigungs-Anstalt. Von Krebs. I. Gemeindeverordneter. – Erinnerungen an den Baron Ernst v. Kottwitz von Dr. J. L. Jacobi, o. Professor der Theol. an der Universität Halle, Halle 1882. – Baron Kottwitz, vom Verf. dieses Artikels im Jahrg. 1882 der Neuen Christoterpe von R. Kögel, W. Baur u. Em. Frommel.