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Artikel „Kögel, Rudolf“ von Arthur Titius in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 299–310, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:K%C3%B6gel,_Rudolf&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 13:47 Uhr UTC)
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Kögel: Theodor Johannes Rudolf K. wurde am 18. Februar 1829 als einziger Sohn des Diakonus, späteren Oberpfarrers und Superintendenten, Gottfried Kögel und seiner Frau Florentine geb. Bartusch in der Kreisstadt Birnbaum, Prov. Posen, geboren. Vom Vater ererbte K. den mannhaften Sinn, die poetische Ader, die Gabe für Musik und Humor, sein liebenswürdiges Unterhaltungstalent, seine große Arbeitskraft und sein wissenschaftliches Streben; der Mutter verdankte er neben der hohen Gestalt besonders die würdevolle Haltung, die planmäßige, ruhige Entschlossenheit im Handeln, das unbestechliche selbständige Urtheil, das geschlossene, bestimmte und zugleich zurückhaltende Wesen, das oft mit Stolz und Kälte verwechselt wurde. Die tiefinnerliche Religiosität und Pietät hat der Sohn mit beiden Eltern gemeinsam. Nach seiner Confirmation kam K. 14jährig auf die Latina in Halle, deren Classen er von der Tertia ab in 4½jährigem Cursus absolvirte. Hier konnten sein Fleiß, seine rhetorische Veranlagung und sein Sprachentalent sich ungehemmt entfalten, während er für sein religiöses Leben in Tholuck’s Predigten Nahrung fand. Auch als er im Herbst 1847 sein theologisches Studium in Halle begann, war es neben Hupfeld, Rödiger, Dähne, Herzog, Thilo, Julius Müller besonders Tholuck, der ihm innerlich nahe trat, weniger durch wissenschaftliche Anregungen als durch die Macht und Eigenthümlichkeit seiner christlichen Persönlichkeit. In Tholuck’s Hause weilte er ein Jahr lang als Amanuensis und durfte eine Reise nach Südfrankreich nebst Abstecher nach Spanien mit ihm machen. Sein letztes Studiensemester (Sommer 1850) verbrachte K. in Berlin, wo er u. a. Neander’s letzte kirchengeschichtliche Vorlesung und Nitzsch’s praktische Theologie hörte. October 1850 zur Ableistung seiner Dienstpflicht ins Heer getreten, machte er die Mobilisirung gegen Oesterreich mit und begleitete dann auf einer halbjährigen Reise einen Neffen v. Kleist-Retzow’s durch Süddeutschland, Oberitalien und die Schweiz. Das Jahr 1852 brachte ihm die Absolvirung der ersten theologischen Prüfung in Halle, die Verlobung mit Marie Müller, 4. Tochter seines Lehrers Julius Müller in Halle, die er im August 1855 heimführen konnte, und eine Anstellung am Blochmann’schen Institut in Dresden. 1853 in Leipzig auf Grund einer Dissertation über die Entstehung der Lehre Augustin’s von Sünde und Gnade, einer erweiterten Examensarbeit, zum Doctor der Philosophie promovirt, erreichte er nach vorzüglich bestandenem 2. Examen in Posen am 30. November 1854 die Ordination zum Pfarrverweser in Nakel.

Werfen wir hier einen Blick auf die Anschauungen, die K. sich erworben hatte. Eine eigentlich theologische Entwicklung hat er kaum durchgemacht. Ueber den Confirmationsunterricht seines Vaters schreibt er später: „Meine christlich-konservative Art datirt aus jenen Tagen und Stunden. Wieviel Sünde und Zweifel mich später verfolgt, nie bin ich ganz von dem Glauben meiner Kindheit und meines Vaters abgewichen“. Die ganze historisch-kritische Schriftarbeit des 19. Jahrhunderts ist für ihn völlig ungethan geblieben. Zwar ließ er sich durch seinen Freund Hausmann im ersten Studiensemester die Lectüre des Strauß’schen Lebens Jesu aufdrängen. Aber weit entfernt, sich durch dieses Meisterstück der Verstandeskritik imponiren zu lassen, ohne jeden Versuch, auch vom Gegner zu lernen, liest er, sobald er das Wort „Voraussetzungslosigkeit“ antrifft, nur noch weiter mit dem Hinweis auf Marc. 16, 18: „So ihr etwas Tödtliches trinket, wird es euch nicht schaden“. Ebenso wie in historisch-kritischen Fragen versagt K. völlig in speculativ-philosophischer [300] Beziehung. Nicht nur den Abstractionen der Hegel’schen Philosophie, sondern überhaupt jeder tieferen speculativen Erfassung der Welt und des christlichen Glaubens, jeder systematischen und principiellen Bearbeitung der Glaubenswahrheit steht er, soweit sich erkennen läßt, ohne jedes tiefere Interesse gegenüber. Die Religion ist ihm zeitlebens nie zum theoretischen Problem geworden. Um so mehr gilt sie ihm von früh an als das entscheidende (praktische) Lebensproblem. Schon seiner Mutter war er sich bewußt seine „geistliche Geburt“ mitzuverdanken sowie das Vorbild einer aufopfernden, einer bis ans Ende liebenden Liebe, der Treue im Kleinen und Großen und einer seligen, innigen Jüngerschaft Christi. Zumal ihre Mahnung vor Hochmuth auf ihrem Sterbebett (1852) wurde ihm zum Leitstern für sein ganzes ferneres Leben. So hat denn K. durchaus nicht zu den Naturen gehört, die ihr Christenthum auf einen plötzlichen Wendepunkt, auf eine seelische Katastrophe zurückführen, aber er hat an seiner Heiligung während seines ganzen Lebens unablässig, mit wachsendem Ernste und unnachsichtiger Strenge gegen sich selbst gearbeitet. „Das religiöse Organ, welches im Menschen die entscheidende Instanz bildet, ist das Gewissen“, „das erschreckte Gewissen, wie es in der Erfurter Zelle des Augustinermönchs aufschreit: meine Sünde, meine Sünde, meine Sünde! bis es den Artikel von der Vergebung der Sünden glauben lernt“. „Unser Glaube ist ein Gehorsam des Evangelii, eine Lossagung von der Sünde, eine Uebergabe an Christum, ein sittlicher Akt“. Auf diesem Gebiet der Gewissensschärfung, nicht auf dem theoretischen, liegt auch Tholuck’s vornehmliche Einwirkung auf ihn. Tholuck lehrte ihn erkennen, daß noch nicht Selbstbeherrschung, sondern erst Selbstverleugnung das Ziel der Heiligung sei, die Einwilligung in den göttlichen Willen. Es fehlt in Kögel’s Jugendjahren nicht immer an religiöser Ungeduld und Treiberei, an einer über das gesunde Maß hinausgehenden Selbstkritik, aber es findet sich doch auch die treffende Erkenntniß: „Erst beklagen wir, daß unser Schuldgefühl und der Mangel an Dankbarkeit uns nicht lebendig genug sei, dann wieder, daß es eingetreten sei. Nun soll es wieder plötzlich und ohne Furcht verschwinden“ (I, 224). Den Kern der Religion und die höchste Stufe der Heiligung bildet ihm die Demuth und die aus ihr fließende Dankbarkeit (I, 27, 217, 225).

Die theologische Anschauung Kögel’s wird sich am ehesten durch die Namen Tholuck und Julius Müller, Neander und Nitzsch bezeichnen lassen. Die geistige Freiheit, die diese Theologen als Erbtheil von Schleiermacher sich doch in erheblichem Maße bewahrt hatten, ist auf K. nur insoweit übergegangen, als er gegenüber dem confessionellen Ansturm auf die Union an dieser festhält und dem gemäß die confessionellen Differenzen hinter dem gemeinsamen Grundgedanken beider Confessionen zurückstellt. Aber auch hier dürfte die ihm im Blute liegende Pietät gegen ein vom Königshause ausgegangenes Werk nicht minder ins Gewicht gefallen sein als specifisch theologische und religiöse Gründe. Die grundsätzliche Motivirung seiner Unionstendenz trifft mit der seines Schwiegervaters in der Schrift „Die evangelische Union und ihr göttliches Recht“ (1854) völlig zusammen: die confessionellen Unterschiede sind nur Zweige Eines reformatorischen Stammes und Princips, nur Gestaltungen Eines Christusbildes. Daß wir gemeinsam zur Substanz der reformatorischen Wahrheit zurückgehen und auf diesem Rückwege die Erneuerung der Kirche fördern, ist gemeinsame Aufgabe; in ihrer Erfüllung besteht die Entwicklung der Union. Man muß das Praktische und Theoretische, das Leben der Kirche und die Wissenschaft der Theologen, den rechten Glauben und die Rechtgläubigkeit unterscheiden. Auf die theologische Fundamentirung dieser Unterscheidung und auf ihre Tragweite hat K. ein tiefergehendes [301] Nachdenken nie verwendet. Diejenige Theologie, welche für die Zusammengehörigkeit der beiden protestantischen Confessionen zum ersten Male einen strengen historischen und systematischen Beweis zu geben versuchte, die Ritschl’sche, hat er später rundweg abgelehnt. Er nannte sie „die Dogmatik der Glückseligen, die einen guten Vater im Himmel haben“; besonders machte er ihr Unterschätzung der Macht der Sünde und der sittlichen Ohnmacht des Menschen zum Vorwurf; eine auf eignen eindringenden Studien beruhende Kenntniß dieser Theologie hat er indeß schwerlich besessen. Er selbst begnügte sich z. B. hinsichtlich des confessionellen Streites über die Abendmahlslehre mit der wenig besagenden Bemerkung, daß „die Einen mehr das Geheimniß der Gabe, die Anderen mehr die Wirkung des Glaubens betonen, mithin einander nicht ausschließen, sondern ergänzen und stärken sollen“ (II, 239). Mehr zum Ziel trifft die gelegentliche Aeußerung: „Union wird nicht durch Subtraktion der Extreme gefunden, sondern durch die Rückkehr zur Schrift, welche der Fortschritt in Erkenntniß und Liebe ist“. So hat denn auch K. sich je länger desto mehr und tiefer zum Schrifttheologen herausgebildet und hat sich besonders gern an Bengel’s Gnomon und die altwürttembergischen Pietisten angeschlossen.

Kögel’s Ansichten über Staat und Kirche wurden wesentlich beeinflußt von Stahl, den er in Berlin gehört hatte und in dessen Schriften er sich mit Ernst und Eifer vertiefte. Der Biograph geht sogar so weit, ihn „im großen Ganzen einen Anhänger der Stahl’schen Richtung“ zu nennen. Indeß auch abgesehen von der grundsätzlichen Gegnerschaft Stahl’s gegen die Union bedarf dies Urtheil starker Einschränkungen. Auf Grund späterer Erfahrungen schreibt K.: „Ueberhaupt kommt man von dem Glauben an eine allein seligmachende Verfassung bald zurück, wenn man sich überzeugt, daß geschichtliches Werden und neue Geistesausgießung die neuen Schläuche geben für den neuen Most. Die Verfassung gehört auch nur zum täglichen Brot, und alle Egalisirungen sind ἐκ τοῦ πονηροῦ, d. h. nicht vom Uebel, sondern vom Argen“ (II, 96). Mit Energie betont K. das Gemeindeprincip: die Gemeinde muß zu den „Weltaufgaben christlicher Liebesthätigkeit“ gesammelt werden. „Was Pastorenkirche geschimpft worden ist, muß aufhören, die getauften Massen müssen christliche Gemeinden werden, Subjekte mit Rechten und Pflichten“ (II, 296). Ebenso tritt er für die Stärkung des synodalen gegenüber dem kirchenregimentlichen Element in der Kirchenleitung ein. Schließlich gibt er sich auch der Hoffnung hin, „daß es, wenn nicht alle Zeichen trügen, zu einer deutschen evangelischen Volkskirche kommen werde“ (III, 34). Wird mit alledem auf kirchlichem Gebiet Stahl’s Gedankenkreis durchaus überboten, so ist auch auf politischem Gebiet K. nichts weniger als conservativ im altpreußischen Sinn. In den politischen Zeitwirren stieß ihn zwar alles Aufrührerische und Antimonarchische je länger je mehr ab, aber zeitweilig wenigstens hatte er für die „Gagern’schen Altliberalen oder Konstitutionellen Sympathie“ (I, 66) und dauernd ließ er sich durch den deutsch-patriotischen Zug der Bewegung, sowie die im preußischen Sinne aufgefaßte Kaiseridee begeistern. Ein der deutschen Flotte gewidmeter poetischer „Gruß aus einem deutschen Studentenherzen“ scheint ihn zum Verfasser zu haben. Demgemäß war und blieb er ein treuer Anhänger einer deutsch-national gerichteten antiösterreichischen Politik, ja einer Politik des Schwertes für die deutsche Sache (I, 137). Erwägt man alle diese Beziehungen, so bleibt als Verwandtschaft Kögel’s mit Stahl nicht viel mehr als die gemeinsame conservative Grundstimmung zurück.

Ein Zug, der Kögel’s Frömmigkeit wie seinen patriotischen Sinn gleichmäßig beeinflußt, aber auch für sich stark hervortritt, ist seine Romantik. [302] Seine Begeisterung für das deutsche Kaiserthum erhält Nahrung durch die historischen Erinnerungen an die alten sächsischen Kaiser in Memleben, das er von Halle aus in den Ferien mehrfach besuchte. In seiner Frömmigkeit und Theologie zeigt sich Kögel’s Zusammenhang mit der Romantik in seinem elementaren Unverständniß für die historisch-kritische Arbeit, in seiner Hinneigung zu Pietismus und Mystik, in einer wenn nicht bedenklichen, so doch eigenartigen Vorliebe für Ahnungen, Träume und Weissagungen (vgl. I, 203, 206 u. ö.). In Abhängigkeit von der romantischen Dichtung hat K. von Jugend an gestanden. Schon im Elternhause mit Tieck bekannt geworden, ließ er sich in Halle durch diesen sowie durch Platen, Chamisso, Eichendorff, Rückert, Gaudy, Justinus Kerner beeinflussen. Auch zu Amadeus Hoffmann, dessen phantastisches Haupt über seinem Pulte hing und mit seinen wildirrenden und rollenden Blicken auf ihn niederstarrte, fühlte er vorübergehend eine starke Hinneigung. Sein Lieblingsdichter aber wurde schon damals Geibel, mit dem er später auch in persönliche Beziehungen trat, und gleichzeitig fühlte sich seine humoristische Ader von Jean Paul angezogen. Gelegenheit zur Entfaltung seiner eigenen nicht unbedeutenden Dichtergabe bot ein poetisches Schülerkränzchen. Auch auf der Universität trieb K. germanistische und litterarische Studien mit solchem Eifer, daß Tholuck glaubte, diese Vorliebe werde ihn mit der Zeit für moderne Litteratur bestimmen. In Berlin hörte er Jacob Grimm über deutsche Grammatik; ein Wort von diesem über die Schönheit unserer Muttersprache, die ebenso groß wie unbeachtet und unverstanden sei, blieb tief in K. haften. Seine Reisen trugen ihm die persönliche Bekanntschaft mit Kerner und mit Otto Roquette ein, mit dem er auch in künstlerischen Austausch trat. In Dresden verkehrte er in dem Kreise von Ludwig Richter, Schnorr von Carolsfeld, dem Bildhauer Ernst Rietschel u. A. Noch in den späteren Jahren seines Amtes war für K. neben dem „Ethischen“ das „Aesthetische“ Lebensbedingung (vgl. Ethisches und Aesthetisches. Vorträge und Betrachtungen. Bremen 1888); Freundschaft gab es für ihn nur auf der Grundlage gemeinsamer ästhetischer Interessen. Sein Lieblingsgebiet war neben der Musik die schöne Litteratur; hier die neuesten Erscheinungen kennen zu lernen, blieb ihm Herzensbedürfniß. „Wäre ich nicht Pastor“, schrieb er einmal, „so wäre ich Litterat geworden“, und in der ersten Hitze des Culturkampfes konnte er ausrufen: „Wenn sie mich morgen wegjagen, so werde ich Professor der Litteraturgeschichte“. Bekanntlich hat K. sich auch selbst als Dichter versucht (Gedichte, Bremen 1891, 2. Aufl. 1900). Allerdings leiden die meisten seiner Gedichte an stark hervortretender Lehrhaftigkeit und sind theilweise nicht viel mehr als gereimte Predigtextracte, aber es gibt auch wahrhafte Perlen unter ihnen, die die ganze Innigkeit, ja Weichheit seines Gemüths zum Ausdruck bringen. Gemeinsam ist allen eine erstaunliche Begabung für kunstvolle Handhabung der Sprache.

Durch seine Berufung nach Nakel wurde K. anscheinend für immer aus seinem ästhetisch-litterarischen Interessenkreise herausgerissen. Nichtsdestoweniger entschloß er sich zur Annahme dieser Stelle, obwol ihn gleichzeitig eine Berufung nach Rom lockte. Er hat in reiferen Jahren geurtheilt, daß bei seinem Hange zur Kunst Rom für ihn geradezu Gift gewesen wäre, und dies Gefühl leitete schon damals seine Entscheidung, „die sanguinische Phantasie war für Rom, das Gewissen für Nakel“. K. kam in schwierige Verhältnisse; er war vom Posener Consistorium entgegen dem Willen der Gemeinde als Pfarrverweser eingesetzt, und diese kam ihm mit tiefem Mißtrauen entgegen, nicht einmal thätliche Angriffe gegen seine Person blieben ihm erspart. Die Gemeinde umfaßte etwa 7000 Seelen mit mehreren Filialen. Der Kirchenbesuch [303] war ein äußerst geringer, die Gemeinde stark verwahrlost. Dennoch gelang es der ungewöhnlichen Begabung, der Willenskraft und unermüdlichen Thätigkeit des jungen Predigers, in überraschend kurzer Zeit die Gemeinde umzustimmen und eine wirksame religiöse Bewegung in ihr hervorzurufen. Bei der Neuwahl fielen alle abgegebenen Stimmen auf ihn (15. August 1855) und bei seinem Abgange hatte er sich die innige Liebe und Verehrung weiter Kreise erworben. K. selbst aber hat stets gerühmt, daß ihm seine dreijährige Amtsthätigkeit in Nakel mit ihren Erfahrungen, Schwierigkeiten und Kämpfen eine unersetzliche Schule gewesen sei.

Ganz andere Verhältnisse erwarteten ihn in der deutschen Gemeinde im Haag. Die junge Gemeinde im Haag, deren erster Pastor er war, befand sich in einem durchaus unfertigen Zustande; sie war nur schwach und vorläufig organisirt, ihr Anschluß an die preußische Landeskirche als Grundlage gesicherter Rechtsverhältnisse war noch nicht vollzogen; es fehlten Kirche, Schule, Pfarrhaus, selbst würdige Abendmahlsgeräthe. Getragen wurde, wie K. selbst erzählt, die Gemeinde im wesentlichen durch „holländische Freunde, die lebendig gläubig sind und an unsern Gottesdiensten theilnehmen“; seine Zuhörerschaft war eine „äußerlich und innerlich sehr bunte durch alle Grade von geistiger und geistlicher Vornehmheit und Zerlumptheit“. Ebenso war die sociale Stellung der Gemeindeglieder sehr verschieden, „hinan bis an die Spitzen, hinab in die Armuth und Verkommenheit der Fabriken“. Bei Kögel’s Gottesdiensten freilich „fuhr eine Menge eleganter Equipagen vor, und der Saal füllte sich bis zum letzten Platz mit zum größten Theil vornehmen Zuhörern aus den ersten Kreisen und Familien der holländischen Residenzstadt“. K. wurde hier, wie er selbst ausgesprochen hat, für seine Stellung als Hofprediger bereits einigermaßen geschult. Unter seiner treuen Fürsorge sammelte und festigte sich die Gemeinde, erwarb in der Zeit seiner Wirksamkeit (bis Mai 1863) Kirche, Schule und Pfarrhaus und fand bis weit in die holländischen Kreise hinein Beachtung und Einfluß. Einen treuen Freund und Helfer besaß K. in dem Grafen Ernst v. Bylandt, dem unermüdlichen Begründer der Gemeinde. Einem Bibelkränzchen, in dem K. mannichfache Anregung empfing, gehörten außer ihnen „Niederlands antirevolutionärer Historiker“ Groen van Prinsterer, der Vorsitzende des Staatsraths Baron Mackay, der Präsident des Tribunals Elout van Sveterwoude, das Parlamentsmitglied van Lynden, der Arzt Abraham Capadose und Isaak da Costa, der Dichter, beide portugiesisch-jüdischen Ursprungs, bisweilen auch Heldring, „Hollands Wichern“, u. A. m. an. Wie K. nach Heldring’s Zeugniß in einer Zeit der Krisis den Frieden bewahren half, indem er „ebenso fest stand wie die Unsrigen und doch mildere Anschauungen“ hegte und pflegte, so wuchs er seinerseits in die Art dieses pietistischen Kreises, in sein Heiligungsleben und seine Schriftauffassung hinein. Zugleich bestätigte sich ihm durch die Erfahrungen, die er hier machte, das Recht und die Nothwendigkeit der Union; die religionslose Schule in Holland mit ihren traurigen Folgen lehrte ihn den Werth der christlichen Volksschule schätzen; an seiner eigenen Gemeinde machte er die Erfahrung, daß auch eine demokratische Gemeindeverfassung segensreich wirken könne.

Am 6. December 1863 wurde K. am Dom in Berlin eingeführt. Durch eine langwierige Halserkrankung hatte sich seine Amtsübernahme um ein halbes Jahr verzögert. Seine Berufung hatte er, soweit nicht höhere Einflüsse in Betracht kommen, dem Cultusminister v. Mühler zu verdanken, der ihm schon längere Zeit großes Vertrauen schenkte und seine Anstellung – das Gehalt war noch nicht frei – dadurch ermöglichte, daß er ihn zugleich zum Hülfsarbeiter in seinem Ministerium machte. Im November 1864 wurde K. zum [304] Vortragenden Rathe ernannt, nachdem er schon zuvor Mitglied des Brandenburgischen Consistoriums geworden war. Mit Falk’s Uebernahme des Ministeriums hörte zwar jede Mitwirkung Kögel’s auf, doch wurde er von seinem Amte als Vortragender Rath erst bei seinem Eintritt in den Oberkirchenrath formell entbunden (2. Jan. 1879). Das Hofpredigercollegium bestand, als K. kurz nach dem Tode von Strauß eingeführt wurde, aus Snethlage, Hoffmann und v. Hengstenberg. Stufe um Stufe rückte er mit dem Tode seiner Amtsgenossen auf, bis er am 13. December 1880 zum „Oberhofprediger mit dem Range eines Rathes erster Classe und der Befugniß, den seidenen Talar zu tragen“ ernannt wurde. Schon 1873 war er nach Hoffmann’s Tod Schloßpfarrer und Ephorus des Domcandidatenstiftes geworden, 1879 wurde er zum Generalsuperintendenten der Kurmark ernannt, schon 1868 war er von der Bonner theologischen Facultät zum Doctor der Theologie h. c. promovirt worden. So hat er mehr als ein Jahrzehnt in leitender Stellung als der unbestritten erste Geistliche in Preußen eine hervorragende Wirksamkeit geübt.

Besonders seit dem Tode Hoffmann’s, der indeß schon längere Zeit nicht mehr auf seiner Höhe stand, war K. der bedeutendste und wirkungsvollste unter seinen Amtsgenossen. Seine Predigten übten weit über die Domgemeinde hinaus eine große Anziehungskraft, so daß regelmäßig der Zuhörerraum, der etwa 1000 Sitzplätze und 1500 bis 2000 Stehplätze faßte, auf den Bänken ganz und in den Gängen stark gefüllt war, ja nicht selten viele, die nicht frühzeitig genug kamen, überhaupt keinen Platz mehr fanden, Thatsachen, die bis zur letzten Predigt Kögel’s (im September 1890) unverändert geblieben sind. Noch im Haag zeigte er sich bei der Predigt vor allem „ungemein lebhaft, oft bis zu Thränen gerührt, zuweilen innerlich und äußerlich derart bewegt, daß die Kanzel unter ihm förmlich zu zittern schien“, auch pflegte seine Predigt länger als eine Stunde zu dauern. Erst in Berlin eignete er sich jene Kürze und Prägnanz der Form, jene classische Ruhe des Auftretens an, die sich der Erinnerung seiner Zuhörer eingeprägt hat. Zugleich haftet der Erinnerung etwas von dem Schimmer an, der über der großen Zeit des ersten deutschen Kaisers liegt. War es doch K. gegeben, mit seinen Predigten alle bedeutenden Ereignisse dieser einzigartigen Zeit rednerisch zu begleiten und sie aus den Tiefen des göttlichen Wortes und seines patriotischen Empfindens den Zeitgenossen zu deuten. (Vgl. Vaterländische und kirchliche Gedenktage. Bremen 1892. Kirchliche Gedenkblätter an die Kriegszeit.) Daß er dafür mit ganz hervorragenden Gaben ausgestattet war, ist unbestritten. Er hat zwar selbst sich dem Genie Spurgeon’s gegenüber als bloßes Talent gefühlt (II, 243), aber sicher ist, daß er ein Meister in Form und Stil war, ein Sprachgenie wie kaum ein zweiter deutscher Prediger. „Die Feile der Durcharbeitung ist so sorgsam wie die eines Gedichts; man vermöchte ohne den Rhythmus oder die Euphonie zu beeinträchtigen, kaum ein Wort zu versetzen. Alles ist gleich den Kanten eines Edelsteins geschliffen.“ Die Sätze sind meist kurz, sententiös, der Ausdruck scharf zugespitzt, oft allzu pointirt. Eine umfassende Bildung, zumal litterarischer und historischer Art, unterstützt durch ein phänomenales Gedächtniß steht dem Redner zu Gebote. Doch stellt er seine poetische, plastische Gestaltungskraft, seine virtuose Behandlung der Sprache, sein reiches Wissen geflissentlich in den Dienst des ethischen Pathos. Eine vom Inhalt unabhängige Ausschmückung der Form galt ihm nur als Beweis eines Mangels an Kunst. An die Phantasie appelliren seine Predigten im Dienste des Gewissens; mit psychologischer Feinheit und erlesenem Geschmack verbinden sie demüthigen Gewissensernst. Seine Predigt hat etwas Monumentales; sie entwickelt nicht, sondern berührt oft sprunghaft die verschiedensten [305] Dinge. Nie verfährt K. dialektisch, sondern stellt alles in individuellster, anschaulichster Wirklichkeit vor Augen; er denkt überhaupt nur in concreten Bildern, in geistreichen Gegensätzen und scharf pointirten Aperçus. Persönlichkeit und Stil sind bei ihm aufs engste verknüpft; eben deshalb darf er nicht nachgeahmt werden. Vorbildlich ist nur das energische Streben nach Individualisirung des Textes, zu dem er sich schon durch Nitzsch anregen ließ und das ihn zu dem Versuch, zusammenhängende Stücke des neuen Testaments in Predigten zu behandeln, führte. Am hervorragendsten wirkt daher K., wo diese Gabe, das Individuelle plastisch zu gestalten, sich frei entfalten kann, in der Gelegenheitsrede. Seinen Kasualreden läßt sich nichts an die Seite stellen; in ihrer unnachahmlichen Weihe und Schönheit, in ihrer Fülle und kunstvollen Einfachheit übten sie eine ungemeine Wirkung aus, in der Ethisches und Aesthetisches untrennbar verschmolzen. Auch an den gedruckten Predigten kann man das, wenngleich in abgeschwächtem Maße, beobachten. Meisterhaft sind z. B. die Reden bei der goldenen Hochzeit des Kaiserpaares, bei der Beerdigung Kaiser Wilhelm’s, bei der 100jährigen Gedächtnißfeier Friedrich’s des Großen, ebenso die Weiherede bei der Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes u. s. w. Von den zahlreichen Predigtsammlungen Kögel’s hebe ich hervor: „Der erste Brief Petri in 20 Predigten ausgelegt“, „Das Vaterunser“, „Der Brief an die Römer“, „Die Seligpreisungen der Bergpredigt“, „Der Brief des Jakobus“, „Das Ev. Johannes“; ferner: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“, 3 Bde.; „Pro domo“, „Aus dem Vorhof ins Heiligthum“ (über das alte Testament), 2 Bde.; „Wach auf, du Stadt Jerusalem!“; „Geläut und Geleit zum Kirchenjahr“ (ein Jahrgang Predigten).

Auch als Seelsorger hat K. eine weitgehende Wirkung ausgeübt und hat nicht selten in der Entlarvung unlauterer Personen einen außerordentlichen psychologischen Scharfsinn und feine Beobachtungsgabe gezeigt; für manche Leute war er ein „wandelndes böses Gewissen“. Sein Confirmandenunterricht, getragen von dem unerschütterlichen Ernst seiner geschlossenen Persönlichkeit, hat gewiß vielfach einen dauernden Eindruck gemacht. Die Erkenntniß zu mehren, hielt er für gut, das Gewissen zu schärfen für besser. Auf fromme Gefühle gab er nichts. Als Ephorus trat er zu seinen Candidaten in ein Verhältniß persönlichen Wohlwollens. Kirchenpolitische und principielle Fragen wurden in den von ihm geleiteten Conferenzen nicht berührt; bei aller Festigkeit der eignen Ueberzeugung zeigte er Weitherzigkeit und Gerechtigkeit gegen alle, daher auch die jungen Theologen aller Richtungen mit gleicher Hochachtung und Verehrung zu ihm aufblickten. Auf seine Anregung hin entstand in Berlin der Kirchbauverein; zu den alle einzelnen Gemeinden einer Diöcese umfassenden Generalkirchenvisitationen gab er den ersten Anstoß; sie traten zuerst in Schlesien ins Leben, wurden dann in der Kurmark von K. selbst ausgebildet und sind jetzt überall in den preußischen Provinzialkirchen in Uebung. K. entfaltete dabei seine außerordentliche Arbeitskraft wie seine eminente katechetische Begabung in vollem Maße und übte auf Pastoren und Gemeinden einen großen Einfluß.

War Kögel’s öffentliche Wirksamkeit bis in die siebziger Jahre hinein durch sein Eintreten für die Union gegenüber der confessionell-lutherischen Partei bestimmt worden, so änderte sich mit dem Ausbruch des Culturkampfes seine Frontstellung. Unter Mühler hatte er erheblichen Einfluß gehabt und bei der Berufung der Professoren Christlieb, Cremer, Kähler, Grau, Zöckler, Hundeshagen, des Propstes Brückner u. A. entscheidend mitgewirkt, von Falk wurde er alsbald kaltgestellt und in die Opposition gedrängt. Die evangelische [306] Kirche war durch die Culturkampfgesetzgebung völlig unvorbereitet getroffen und aufs tiefste erschüttert. Ihre Lage gab zu den schwersten Bedenken Anlaß. Kein Wunder daß ein Mann wie K. in hochgradige Erregung gerieth. Alles kam ihm licht- und rathloser vor denn je, er selbst wie in einen Block gespannt: er schwankte zwischen Austritt aus dem Ministerium und Austritt aus der Landeskirche. Mit seinem Freunde und Schwager Leopold Schultze, Generalsuperintendent in Magdeburg, vereint, begründete er daher die Gruppe der Freunde der positiven Union, die zuerst auf der außerordentlichen Generalsynode von 1875 in Action trat, im folgenden Jahre formell sich constituirte und fortan zur ausschlaggebenden Partei im kirchlichen Leben und in den Synoden wurde. Zu der Generalsynodalordnung, die unter dem Ministerium Falk jener Synode vorgelegt wurde, waren „Schlußbestimmungen“ beigefügt, welche die Zusammensetzung der Provinzial- und Kreissynoden zu Gunsten der an Seelenzahl stärkeren Gemeinden durch Hinzufügung des sog. Intelligenzdrittheils verändern wollten. K. hielt diese Schlußbestimmungen, die übrigens späterhin gerade zur Stärkung des conservativen Elements in den Synoden beigetragen haben, für verhängnißvoll; er wies jede Vertretung der Kirche zurück, die als eine Vertretung der Köpfe, der steuerzahlenden Geldbeutel, irgendwelcher weltlichen Intelligenz, eines vorgeblichen allgemeinen Priesterthums ohne priesterliche Gesinnung gedeutet werden konnte. Mit der vielbemerkten Ablehnung der „Schlußbestimmungen“ durch die „Gruppe Kögel“ wurde der entschiedene Bruch mit dem Kirchenregiment öffentlich bekundet.

Verschärft wurde dieser Gegensatz durch die beginnenden Lehrstreitigkeiten. Gegen den Prediger Sydow war in Anlaß eines Vortrages über das Apostolische Glaubensbekenntniß vom Brandenburger Consistorium die Suspension vom Amte ausgesprochen, die indeß vom Oberkirchenrath in einen bloßen Verweis umgewandelt wurde. Die Angriffe, die auf der Kreissynode Berlin-Cölln 1877 gegen das apostolische Bekenntniß und seinen liturgischen Gebrauch von seiten der Vertreter des Protestantenvereins erfolgten, steigerten die Gegensätze. Kögel’s Stellung in diesem Streite war durch seine Ueberzeugung von vornherein gegeben. Historisch-kritische Bedenken hatte es für ihn nie gegeben. Ihm fiel einfach das Bekenntniß mit Luther’s Erklärung zusammen. Die Geburt Jesu aus der Jungfrau ist ihm nur der Thatsachenbeweis dafür, daß die Menschheit „wohl das Göttliche empfangen, aber nicht aus sich erzeugen“ kann. Der Sinn der Höllenfahrt Christi ist auch ihm dunkel, aber das Bekenntniß durch die Schrift gedeckt (so die Predigt über 1. Petri 3, 19 ff.), den Hinweis auf die Auferstehung des „Fleisches“ begründet er durch 1. Cor. 15; 42–49! Kurz, über die Einzelheiten des Bekenntnisses als solchen gleitet er leicht hinweg. Was ihn so entschieden machte, war, daß er in allen Angriffen darauf Beseitigung des biblischen Offenbarungsstandpunktes durch den Deismus sah, Bekämpfung des biblischen supranaturalen Christenthums, das ihm eben die Religion, das Christenthum bedeutete. Demgemäß hat er sich auch privatim dahin ausgesprochen, daß die Abschaffung oder auch bloße Freistellung des Apostolicums ihn und Viele des Gewissens wegen zum sofortigen Austritt aus der Landeskirche zwingen würde.

An diesem Punkte fand K. beim Kaiser ungetheilte Zustimmung. Gerade jetzt bildete sich nach Kögel’s Ernennung zum Schloßpfarrer ein engeres Verhältniß des Kaisers zu seinem Seelsorger heraus. Hatte sich im Unterschied von seiner Gemahlin der Kaiser früher von K. ferngehalten und ihn selbst seine Ungnade befürchten lassen, so wurde er jetzt durch seinen Gegensatz zum kirchlichen Liberalismus, von dem er das Aergste befürchtete, veranlaßt, sich K. zu nähern. Gerade die wirksame Agitation gegen die Bestreiter des [307] Apostolicums scheint K. sein besonderes Vertrauen eingetragen zu haben. Erklärte er doch 1874 in Ems seinem Seelsorger: „Ich stehe auf dem alten Glauben, Christus ist Gottes Sohn. Beugen wir uns seiner Autorität nicht, so wird jeder zum infallibeln Papste“. Mit großer Antheilnahme ließ er sich von K. über den Verlauf der kirchlichen Wirren berichten und verlangte von ihm fortgehenden Bericht. Umgekehrt hatte Herrmann, der Präsident des Oberkirchenraths, durch sein Verhalten in der Affaire Sydow das Vertrauen des Monarchen völlig eingebüßt, so daß keine Ernennung von kirchlicher Bedeutung vollzogen wurde, ehe K. gehört war, und aus dem königlichen Cabinet meist ganz andere Namen hervorgingen, als in den Listen des Oberkirchenraths und des Ministeriums gestanden hatten. So vermochte K. gegen Falk’s und selbst gegen Bismarck’s Votum das Verbleiben Hegel’s an der Spitze des Brandenburgischen Consistoriums durchzusetzen, dagegen Herrmann’s und Falk’s Stellung gründlich zu untergraben, bis schließlich die Situation endgültig geklärt wurde, der K. genehme Hermes das Präsidium des Oberkirchenraths erhielt, K. und Baur Mitglieder desselben wurden und schließlich auch Falk seine Entlassung nahm.

Auch für die Entwicklung der „Freunde der positiven Union“ war der Bekenntnißstreit von weittragenden, günstigen Folgen begleitet. Gab er ihnen doch ein in kirchlich interessirten Laienkreisen zündendes Programm und den Grund ihrer Daseinsberechtigung. Im Kampfe gegen die Geister, „welche die Union der Konfession zu entleeren und die Verfassung ihrer Schutzwehren gegen glaubenslose Majoritäten zu entkleiden trachteten“, erklärte K. in der Mittelpartei mit ihrer ersichtlichen Rücksichtnahme auf die liberal-kirchlichen Kreise zuverlässige Bundesgenossen nicht mehr sehen zu können. Demgemäß stellte sich das Programm auf den Boden der reformatorischen Bekenntnisse wie der landeskirchlichen Union und erstrebte eine Sammlung aller, die im Glauben „an Jesum Christum, den Sohn des lebendigen Gottes, den Gekreuzigten und Auferstandenen, und mit kirchlich unabhängigem Sinn auf der Grundlage der Verfassung den Ausbau der Kirche fördern wollen“. Es fordert ernstliche Geltendmachung der kirchlichen Qualification für alle kirchlichen Aemter, Kirchenzucht gegen die Verächter der kirchlichen Lehre, Sitte und Ordnung, konfessionelle Volksschule, Mitwirkung des Generalsynodalvorstandes bei der Besetzung der höheren kirchenregimentlichen Aemter und wirksame Theilnahme der „kirchenregimentlichen Organe“ an der Besetzung der theologischen Professuren. Das landesherrliche Kirchenregiment soll erhalten bleiben, aber der Staatshoheit gegenüber eine solche Gestaltung erfahren, „welche die der Kirche gebührende Selbständigkeit verbürgt“. Gegenüber den Anklagen des Oberkirchenraths über die kirchliche Agitation der „Hofpredigerpartei“ und gegen einige Punkte ihres Programms gelang es K., den König völlig zu captiviren; er erklärte nicht zu verstehen, wie das Eintreten für das apostolische Bekenntniß als kirchliche Agitation aufgefaßt werden könne; auch das Programm fand in so hohem Maße seine Zustimmung, daß er sich selbst (wol nicht zufällig) als Vertreter der „positiven Union“ bezeichnete.

Am delikatesten blieb natürlich für eine „Hofpredigerpartei“ der die Staatshoheit betreffende Programmpunkt. In seiner Immediateingabe stellte K. den Sinn dieses Punktes dahin fest, daß man in ehrfurchtsvoller Wahrung der Kronprärogative hinter Niemand zurückzustehn sich bewußt sei; aber der Gefahr, daß der von der Kammermehrheit abhängige Cultusminister sich durch außerkirchliche Gesichtspunkte präjudiciren lasse, müsse durch Verstärkung der kirchlichen Instanzen begegnet werden, um so dem „obersten Bischof“ eine sachgemäße Entscheidung zu erleichtern. Am principiellsten hat K. das Problem [308] in folgender Aufzeichnung aus dem Jahre 1882 durchdacht: „In des Kaisers und Königs erhabener Majestät einen sich zwei Aemter: das des Staatsoberhauptes, das des Summepiscopats. Das Amt des summus episcopus ist durch die constitutionelle Verfassung um vieles erschwert, ja gefährdet. Den Cultusminister, der Acte des summus episcopus zu contrasigniren hat, bestimmen – falls er nicht von strengster Objectivität – in seinem kirchenregimentlichen Handeln leicht Momente, die dem Kirchenwesen absolut fremd sind, beispielsweise die Sorge um das Budget, Berechnung der Majorität, Berücksichtigung der Popularität u. s. w. Statt zu beachten, welche Maßnahmen, Besetzungen, Versetzungen dem Evangelischen Oberkirchenrath, der evangelischen Landeskirche am meisten förderlich sind, ist ein Cultusminister in der Versuchung, auszurechnen, welche kirchlichen Schritte ihm staatlich für den Augenblick am wenigsten unbequem sein möchten angesichts der Complikation der Kammerparteien, die aus Christen, Namenchristen, kirchlichen Liberalen, unkirchlichen und jüdischen Fortschrittsleuten bestehen. So beeinflußt gibt er seinen Rath, seine vota und sentiments. Umsomehr fallen in allen rein kirchlichen Dingen die Urtheile, Rathschläge und Anträge des Evangelischen Oberkirchenraths und seines Präsidenten ins Gewicht. Geschähe dies nicht, so würde unter dem Gravitationsgesetz des Constitutionalismus der summus episcopus aus seinem Wächter- und Beschirmeramt der kirchlichen Freiheit und Selbständigkeit verdrängt, und die Kammermajorität durch das Medium des Cultusministers tyrannisirte die evangelische Kirche. Bleibt im evangelischen Oberkirchenrath die Mittelpartei im Alleinbesitz und Gebrauch der Herrschaft, werden die wenigen Vertreter der positiven Union in dieser Behörde müde gemacht, vergewaltigt, herausgedrängt, dann ist infolge der damit zusammenhängenden Unsicherheit der Lehre die Separation in unserer Kirche gewiß: eine der gußeisernen Constitution Roms gegenüber auch für den Staat bedenkliche Situation. Unter den hier angedeuteten Verhältnissen hat der Cultusminister alle Ursache, zu einer Stärkung der positiven Elemente im Schoße des Evangelischen Oberkirchenraths seine Mitzeichnung nicht mit genauer Noth, sondern willig und voraussichtsvoll zu geben …“ (III, 148 f.).

Bald zeigte sich aber, daß hinsichtlich dieser Frage in der neuen Fraction divergirende Tendenzen vorhanden waren. Am 28. März 1887 schrieb K. an Schultze: „Ich habe von Anfang an den sogenannten Hammerstein’schen Antrag in der Stimmung für berechtigt, in der Technik für konfus gehalten. Dann habe ich am 15. Dezember in der Debatte mit Stöcker gesehn, wie unsere Auffassungen über das landesherrliche Kirchenregiment von einander abweichen, wie vielleicht auch unsere Partei mit einer Spaltung bedroht ist … Ich habe nun einmal, mit Ausnahme des Punktes der Professorenernennung, abweichende Auffassungen von dem eigentlichen kirchenpolitischen Theil des Programms, halte es z. B. für völlig indifferent, ob der Cultusminister oder das Staatsministerium das placet ertheilt“.

Wie in diesem Punkte, so wich auch in seinen socialpolitischen Anschauungen K. beträchtlich von Stöcker ab. Seine Stellung zur socialen Frage setzte er in dem Vortrag „Der evangelische Geistliche und seine Aufgabe an der sozialen Frage“ (1878) auseinander. Auf Stöcker wandte er, ohne ihn zu nennen, das Wort an: „Wär’ ich besonnen, hieß ich nicht der Tell“ und führte im übrigen aus, daß der Geistliche social im besten und reinsten Sinne dann wirke, wenn er sich auf sein eigentliches Amt beschränke und diesem seine volle Kraft und Treue widme. Aber der Geistliche ist kein Nationalökonom. „Man beschäftige sich nur mit einem größeren nationalökonomischen Werke, [309] und man wird den Dilettantismus in diesen Dingen verwerflich finden.“ Bekehrung des Herzens durch Gottes Wort, das ist und bleibt die Aufgabe des Geistlichen. Dagegen sei die Lösung der einzelnen Wirthschaftsfragen den berufenen Technikern zu überlassen. Vor Stöcker’s persönlichem Muth und seinem Auftreten bei den Demokraten hatte K. Hochachtung, das technische Programm der christlich-socialen Partei konnte er sich nicht aneignen. Trotz dieser Differenzen setzte er 1885, als der bekannte Richterspruch im Stöcker-Becker’schen Beleidigungsproceß Stöcker’s Verbleiben am Dome unmöglich zu machen schien, seinen ganzen persönlichen Einfluß in Bewegung, um ihn dem Dome zu erhalten und erreichte das auch in persönlicher Unterredung mit dem Kaiser, obwol dieser die Sache schon ziemlich weit getrieben hatte.

Hier wie sonst zeigte K. auch dem Monarchen gegenüber den Muth und die Treue eigener Ueberzeugung, und das muß auch seine Gegner in der Sache mit seinem persönlichen Verhalten aussöhnen. Ueberhaupt kann der intime Eindruck, den man aus dem in der Biographie eingehend und an der Hand zahlreicher Kaiserbriefe beleuchteten Verhältnisse beider Männer gewinnt, beiden nur Ehre machen. „Liebe, Treue und Ehrerbietung und Hingabe, rückhaltlose Offenheit und tiefste Verschwiegenheit, Opfer der Zeit und der Kraft, Opfer vor allem des Gebetes“ brachte K. seinem Königshause entgegen. Es ist bekannt, in wie mustergültiger Weise er mit einer Aufbietung seiner Kraft, die den Grund zu schweren Leiden legte, in der Sterbestunde des Kaisers wie der Kaiserin Augusta seines Amtes gewaltet hat (vgl. Am Sterbebett und Sarge seiner Majestät des Kaisers Wilhelm). Der Kaiser vergalt diese treue Hingabe an seinen Dienst mit persönlicher Theilnahme und Hochschätzung, ja mit herzlichem Liebhaben. Er wußte, was er an seinem Seelsorger hatte: schon 1877 schrieb er an diesen unter anderm: „Ihre Begabung zu einer so wahrhaften Erbauung ist für mich und mein Haus eine wahre Gabe Gottes“. Seine Billets an K. sind voll zarter Rücksichtnahme, voller Hochschätzung und Vertrauen. Und K. wiederum sagte aus genauer Kenntniß heraus von ihm: „Jeder Zoll an ihm ein Mann, König und Christ“. Von der Kaiserin sagte er nicht lange vor ihrem Tode: „Von meinen Audienzen bei der Kaiserin Augusta komme ich nie anders zurück als durch ihren Glauben in meinem Glauben gestärkt. Sie ist eine herrliche fromme Frau geworden“.

Auch Kögel’s Wirksamkeit neigte sich ihrem Ende zu. Die übermäßige Anstrengung seiner Kräfte hatte in ihm den Grund zu unheilbarer Krankheit gelegt, die im October 1890 zum Ausbruch kam. Erst allmählich erfuhr er die furchtbare Wahrheit, daß er an paralysis agitans litt und daß ihm zunehmende Lähmung an Händen und Füßen bevorstand. Nur noch einmal, als im alten Dom der letzte Gottesdienst gehalten wurde, konnte er wenigstens den letzten Segen von der leichter zugänglichen Kanzel aus über seine Gemeinde sprechen. Der Verfall seiner Kräfte machte ihn immer abhängiger von der hingebenden Pflege durch die Seinen, besonders durch seine zweite Frau Lina geb. v. Bodelschwingh. Wie ein Held trug er sein schweres Geschick. Eine Klage oder die Frage nach dem Warum hat in den sechs Leidensjahren auch von seinen nächsten Angehörigen Niemand gehört. Wer dem Kranken in dieser Zeit nahetreten durfte, wird von seiner Leidensfreudigkeit einen tiefen Eindruck mitgenommen haben. Bis an sein Ende geistig rege und unermüdlich beschäftigt, hat er nicht nur seine Thätigkeit als Ephorus mit besonderer Hingebung fortgesetzt, sondern auch sein letztes Werk dictirt: „Deine Rechte sind mein Lied. Geschichten und Aussprüche zu den Psalmen“ (1895). Nach seinem Tode erschienen auch 66 Andachten, die vom Herbst 1894 bis 12 Tage vor seinem Tode allwöchentlich durch einen Domcandidaten, [310] dem er sie dictirte, vorgelesen wurden als Ersatz für die unmöglich gewordene persönliche Ansprache. In der Frühe des 2. Juli 1896 schlug für ihn die Stunde der Erlösung.

Vgl. über ihn Emil Frommel, Zur Erinnerung an R. Kögel im Daheim 1896, S. 698 ff.; Georg Rietschel, Kögel, in der Realencyklopädie f. protest. Theol. u. Kirche, 3. Aufl., Bd. 10, S. 610–615, vornehmlich aber die oben als I, II, III citirte umfassende dreibändige Biographie von seinem ältesten Sohne Gottfried, R. Kögel. Sein Werden und Wirken. Berlin, Mittler & Sohn 1899–1904. Daselbst werden noch weitere Aufsätze über Kögel angeführt.