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Artikel „Sydow, Adolf“ von Marie Sydow in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 275–279, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sydow,_Adolf&oldid=- (Version vom 7. Dezember 2024, 01:17 Uhr UTC)
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Sydow: Karl Leopold Adolf S., geboren am 23. November 1800 in Berlin, kam gleich nach erfolgter Taufe ins elterliche Haus nach Charlottenburg, wo sein Vater Bürgermeister war. Als eines von sieben Kindern, verlebte er seine Jugend unter dem Druck der Kriegsjahre in den kümmerlichsten häuslichen Verhältnissen. Den ersten Unterricht genoß er in der Dorfschule des Ortes; vom 9. bis 12. Lebensjahre durfte er an dem Privatunterricht theilnehmen, den einige wohlhabende Familien ihren Kindern gewährten. Die Ereignisse der Kriegsjahre, besonders die sich in der Nähe Charlottenburgs abspielenden, wie die Belagerung von Spandau, die Explosion des Juliusthurms daselbst, der Donner der Schlacht von Großbeeren, der Durchzug Napoleon’s mit seinen Scharen, was alles wiederholt persönliche Gefahren mit sich brachte, blieben trotz der Jugend des Knaben von nachhaltigem Eindruck für sein Leben. Ostern 1812 bezog S. das Gymnasium zum „grauen Kloster“ oder, wie es damals hieß, das „berlinisch köllnische [276] Gymnasium in der Klosterstraße“ unter dem Director Professor Joh. Joachim Bellermann. Täglich mußte der Knabe den eine Meile weiten Weg durch den damals völlig unwegsamen Thiergarten, der beide Städte trennt, machen. Der Unterricht war ihm freigegeben, für seinen Unterhalt konnte ihm der Vater aber nur 15 Pfennige täglich mitgeben, so daß er von Untersecunda an schon begann, Nachhülfestunden zu geben, infolge der Anstrengung und schlechter Ernährung aber körperlich zurückblieb. 1815 wurde er vom Propst Pappelbaum confirmirt, und 1819 von Marheineke bei der Berliner Universität immatriculirt, nachdem er als primus omnium die Abiturientenprüfung glänzend bestanden hatte. Da verlor er im Winter 1819 den Vater, und mußte nun neben seinem Studium, das ihm überhaupt nur durch Stipendien ermöglicht worden war, durch weiteren Privatunterricht seiner Mutter, die mit den sechs andern Kindern nach Berlin gezogen war, einen großen Theil des Haushaltes bestreiten helfen. Schon im zweiten Semester hörte er Schleiermacher, der zum ersten Mal „Das Leben Jesu“ als eigene Disciplin einführte, dessen begeisterter, treuester Schüler er wurde, und bei der Herausgabe von dessen Werken er sich später auch betheiligte. Bis an sein Lebensende blieb er sich des tiefgreifenden Einflusses dieses Lehrers auf seinen ganzen Bildungsgang bewußt. Eine weitere bedeutende Einwirkung verdankte er dem tiefsinnigen Menken, welcher ihn aus engen pietistischen Banden, in die er kurze Zeit zu gerathen drohte, endgültig befreite, und dem Kirchenhistoriker Neander, der ihn zu sich heranzog, seinen Studiengang regelte und ihn von da ab in väterlicher Freundschaft überwachte. Als Turner wurde er auch in die „demagogische Untersuchung“ verwickelt, hatte sich aber nur einer Vernehmung vor dem Universitätsgericht zu unterziehen, die ohne weitere Folgen blieb. Als er sich 1822 zum ersten theologischen Examen rüstete, wurde ihm auf Verwendung seiner Lehrer, die ihn nicht aus den Augen verloren hatten, die Stelle als „Repetent“ oder „Civilgouverneur“ am Berliner Cadettencorps angeboten, die er auch annahm. Sein Examen mußte er nun hinausschieben, da seine Thätigkeit einen großen Theil seiner Zeit absorbirte, und ihn die wachsenden Ansprüche seiner Geschwister zu angestrengtem Privatunterricht und Nebenverdienst nöthigten. Dazu bedurfte sein Körperzustand in jener Zeit Schonung, wo er während eines einzigen Studienjahres von einem kleinen Jüngling zu der imposanten Höhe von 6 Fuß 3 Zoll herangewachsen war, und zwei böse Lungenentzündungen überstanden hatte. So blieb er fünf Jahre in der Repetentenstellung, ehe er seine Prüfungsarbeiten abgab. Am 9. März 1827 war der Termin des mündlichen Examens, nach dessen Beendigung ihm „in allen Fächern“ das Prädicat „vorzüglich gut“ ausgestellt wurde, zugleich mit der Bemerkung, daß er von dem zweiten Examen überhaupt zu entbinden sei. Wenige Monate darauf erhielt er die Stelle als Geistlicher am Cadettencorps, worauf er im Mai 1828 Rosalie Ziegler, die Tochter eines Polizeirathes und Vorstehers des Fremdenbüreaus, heimführte, mit der er in zwölfjähriger, glücklichster Ehe lebte, bis sie nach schwerem Krankenlager erlöst wurde und ihn mit sieben kleinen Kindern zurückließ. Bis zum Jahre 1836 wirkte S. noch am Berliner Cadettencorps, als Friedrich Wilhelm III., der häufig sein Zuhörer in der Garnisonkirche gewesen war, ihn als seinen Hof- und Gardedivisionsprediger nach Potsdam berief. Nicht ganz vier Jahre wirkte er noch dort unter den Augen seines ihm sehr wohlwollenden Patrons, als durch die Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s IV. an Stelle der bis dahin fast stillen Atmosphäre des Hofes und öffentlichen Lebens eine ganz andere Strömung trat. Kaum ein Jahr war vergangen, als S. von demselben den Auftrag erhielt, als Mitglied einer Commission nach England zu gehen, um die kirchlichen Zustände dort zu studiren, in erster Linie darüber zu berichten, mit welchen Mitteln dort, dem rapiden Anwachs der [277] Bevölkerung gegenüber, den kirchlichen Mängeln abgeholfen würde, da in Berlin schon damals, ähnlich wie in London seit einem Jahrhundert, die kirchlichen Versorgungsmittel hinter den neu erwachten Bedürfnissen lebendiger Religiosität zurückgeblieben waren. S. speciell hatte noch den Auftrag, über das von England und Preußen gegründete „Bisthum von Jerusalem“ ein Gutachten abzugeben, eine Sache, an der der König seit seiner Jugend hing, und zu deren Anbahnung er bereits Bunsen als Gesandten hinübergeschickt hatte. Mit diesem gemeinsam sollte auch S. die liturgischen Arbeiten, Gesang, Gebetbuch, Liturgie und Agende für die Gemeinde ausarbeiten, – eine Aufgabe, der sich derselbe mit allen Kräften unterzog, erschwert dadurch, daß er drüben erst die Sprache erlernen mußte. Kurz vor seine beabsichtigte Heimkehr fällt der Höhepunkt des Kampfes für die Befreiung der presbyterianischen Kirche aus den Banden staatlichen Patronats. Zur Austragung dieses Conflictes tagte in Edinburgh die „general assembly“, der mit einem vollständigen Bruch, mit der Loslösung von 200 Geistlichen von der established church endigte, welche in feierlichem Zuge die Kirche verließen, um eine „freie Gemeindekirche“ zu gründen. S., der diesem Act beigewohnt hatte, erhielt bei seiner Rückkehr nach London in der Abschiedsaudienz, die er bei der Königin Victoria hatte, von dieser und dem Prinz Gemahl den Auftrag, „für ihre Regierung ein kirchenrechtliches und kirchenpolitisches Gutachten“ über diesen Vorgang auszuarbeiten. Der Urlaub dazu wurde von Preußen bewilligt, sein Aufenthalt drüben dehnte sich aber bis zu 2½ Jahr aus. Dies Gutachten, welches er englisch schrieb und in welchem er sich für „die freie Kirche“ entschied, übersetzte er später ins Deutsche unter dem Titel: „Die schottische Kirchenfrage zu Nutz und Frommen unsrer vaterländischen Verhältnisse“. Ostern 1844 kehrte S. nach Potsdam zurück, und mußte einsehen, daß seine Anschauungen mit denen seines königlichen Auftraggebers mehr und mehr auseinander gingen. Es hatte sich eigentlich bei seiner Mission darum gehandelt, ob auch in Preußen presbyteriale oder bischöfliche Verfassung, zu welcher letzteren der König neigte, zur Geltung kommen sollte. Die kirchliche Bewegung war aber inzwischen in Preußen auch in Fluß gekommen, und S. wurde unmittelbar nach seiner Rückkehr als zweiter Vorsitzender in die Provinzialsynode und 1846 in die Generalsynode berufen, wo er auch hier, besonders in der Commission, die über das Ordinationsgelübde berieth, mit Nitzsch den freien, das Binden an die alten Formeln ablehnenden Standpunkt vertrat, und „Bekenntnißfreiheit“ verlangte. So gingen seine Ueberzeugungen mit denen des Königs allmählich immer weiter auseinander, und S., der nicht anders konnte, als sich selbst treu bleiben, folgte im J. 1846 einem Rufe des Berliner Magistrats, und vertauschte die Hofpredigerstelle mit der Stelle eines Geistlichen an der „Neuen Kirche“ zu Berlin, an der er dann 30 Jahre bis zu seiner Emeritirung in Segen gewirkt hat. Das zweite Jahr in der neuen Stellung brachte die Umwälzung der politischen Verhältnisse und die Märzrevolution 1848. Die auf den Barrikaden und im Straßenkampf Gefallenen wurden, da die Neue Kirche im Centrum der Stadt liegt, zur Recognoscirung für die Ihrigen dort aufgebahrt, und von einer Estrade, die auf der großen Freitreppe der Kirche errichtet war, wurden die 183 Särge in feierlichem Zuge zu der Gruft, die man im Friedrichshain für sie bereitet hatte, getragen. S. war von der Stadt als Sprecher für die evangelischen Angehörigen der Gefallenen ernannt. Gleich darauf trug ihm die Stadt auch das Mandat eines Berliner Wahlkreises für die neu einberufene Nationalversammlung an. Maßvoll und besonnen, aber furchtlos und frei, trotz vieler Anfeindungen, ja sogar trotz zweier Attentate, verfocht er auch in den aufgeregtesten Zeiten politischen Wogens seine Ueberzeugung, und erst als er einsah, daß seine milde versöhnliche Art keinen Raum fand in der [278] Kluft, die sich zwischen Radicalismus und Reaction aufgethan, legte er sein Mandat nieder und zog sich aus dem politischen Leben ausschließlich auf sein Amt zurück. Er war eine durchaus friedfertige Natur, und sein ganz auf das Bauende und Erbauende gerichteter religiöser Charakter fand sich nur schwer in die ihm von den Verhältnissen aufgedrungene Aufgabe und in die Kämpfe, in die er durch seine Wahrheitsliebe gedrängt wurde. Deshalb wurde sein Kampf nie ein negativer, radicaler, und wurde von ihm nur mit den Mitteln des Rechts und der tiefsten Ueberzeugung geführt. Jahrzehnte hindurch, wo er auf der Höhe seiner Kraft stand, scharte sich eine der größten Personalgemeinden um ihn, die sich aus den Gebildeten der Stadt zusammensetzte, welche bei ihm Gemüth und Verstand befriedigt fühlte und die bei ihm Versöhnung zwischen Glauben und Denken fand, wenn er auch oft ziemlich hohe Anforderung an die Kraft des Denkens seiner Hörer stellte. Mit einer Apostelerscheinung verband sich bei ihm ein Zauber des Organs, eine Ruhe des Wesens und völlige Abwesenheit jeglichen Kanzeltons. Er sprach immer frei. Eine Reihe seiner Casualreden, welche auf besonderen Wunsch gedruckt erschienen, mußte er unmittelbar, nachdem sie gehalten, aus dem Gedächtniß herstellen, wie z. B. die Grabreden beim General Brause, Ludwig Tieck, Dr. Jonas, Dr. Krause, die Rede bei der Grundsteinlegung des Schillerdenkmals etc. etc. Mit seinen Freunden Jonas, Eltester[WS 1], Krause u. A. rief er die „Zeitschrift für die unirte Kirche“ ins Leben, an deren Stelle später unter seiner Mitwirkung die „Protestantische Kirchenzeitung“ trat. Dem Gustav-Adolf-Verein, diesem Werk des Friedens, weihte er einen hervorragenden Theil seiner Kraft und Zeit, trat Jahr auf Jahr für ihn sowie für den Unionsverein, sowie auch später für den „Protestantenverein“, zu dessen Begründern er gehörte, durch zahlreiche Vorträge für die Sache der protestantischen Freiheit ein. Einer dieser Vorträge über „den persönlichen Teufel“, den er in den fünfziger Jahren im Unionsverein hielt, hatte ihm bereits eine Verwarnung des königlichen Consistoriums eingetragen. – Die Werke des freisinnigen, milden Unitariers William Ellery Channing übersetzte er mit seinem Freunde, dem Stadtschulrath Schultze, aus dem Englischen. – In Anerkennung all dieses seines segensreichen Wirkens ernannte ihn die theologische Facultät von Jena im J. 1858 zum Ehrendoctor. So hatte er unter Ehren und Anerkennung einerseits und Anfechtung allerlei Art andererseits sein 72. Jahr erreicht und glaubte die Zeit seiner Hauptkämpfe wohl vorüber, da traf ihn durch Conferenzbeschluß das Loos, unter den von Seiten der Zuhörer zur Besprechung gewünschten Themata im Unionsverein über „die wunderbare Geburt Jesu“ zu reden. Er hatte darin aus der Schrift nachzuweisen gesucht, daß die jüdische Vorstellung von der Gottessohnschaft oder Messianität eine völlig andre gewesen sei, als die später aufgekommene christliche Lehre, und daß im Neuen Testament selbst an den entscheidenden Stellen Jesus als Joseph’s Sohn bezeichnet sei. Infolge eines kurzen Zeitungsreferates forderte das Consistorium S. zunächst zur Einreichung des Manuscripts auf und am 4. März 1872 zu vorläufiger mündlicher Vernehmung vor, der am 27. Mai die Eröffnung der Disciplinaruntersuchung folgte. In diese Zeit fiel das 50jährige Amtsjubiläum Sydow’s, von dem selbstverständlich die Behörde keine Notiz nahm, dagegen Magistrat, Stadtverordnete, Gemeinde etc. ihn in ungeahntester Weise ehrten. Zwei Stiftungen für „evangelische Wittwen und Waisen“ und für „niedre Kirchenbeamte“, die seinen Namen trugen, wurden unter andern gegründet. Erst am 2. Januar 1873 fällte die Behörde das Urtheil und erkannte auf Amtsentsetzung Sydow’s und sofortige Herabsetzung des Gehalts auf die Hälfte. Dieser Spruch entfesselte einen Sturm der Geister über Deutschland und über seine Grenzen hinaus. Zu Hunderten zählten die Adressen und zustimmenden Kundgebungen, die ihm zugeschickt wurden, und entgegengesetzter [279] Art an die betreffende Behörde gingen. Zwölf Berliner Geistliche erklärten sich in diesem Spruch als mitverurtheilt, die Jenenser theologische Facultät trat für ihn ein, Universitäten schickten Deputationen an den Magistrat als Patron, achtzig Familienväter erlangten durch ihr energisches Auftreten, daß der Confirmandenunterricht wenigstens nicht unterbrochen wurde, sondern die Einsegnung zum Schluß auch noch von ihm erfolgen dürfe, ebenso wie Amtshandlungen freigegeben wurden und das Urtheil schließlich nur die Kanzel und das Gehalt traf. Eine wunderbare Fügung war es, daß an dem Tage, an dem S. seinen Vortrag gehalten hatte, Dr. Falk als Nachfolger des Cultusministers v. Mühler ernannt worden war, und dieser an Stelle des erkrankten Oberkirchenrathspräsidenten Matthis den Präsidenten Hermann aus Heidelberg berufen hatte. so reichte S. seine Recursschrift ein, als die Physiognomie der äußeren kirchlichen Zustände eine wesentlich andere geworden war, und am 25. Juni 1873 cassirte der Oberkirchenrath als oberste Instanz das absetzende Urtheil des Consistoriums und gab S. seiner Gemeinde wieder. Noch einmal begann er, getragen von der Liebe und Verehrung derselben, seine Wirksamkeit, bis ihn drei Jahre später körperliche Gebrechlichkeit nöthigte, den Abschied zu nehmen. Noch sechs Jahre konnte er sich in geistiger Frische seines friedlichen Lebensabends erfreuen, und ging am 23. October 1882 nach kurzem Krankenlager heim.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Heinrich Eltester (1812–1869), Prediger an der Heiligengeistkirche in Potsdam.