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Artikel „Grau, Rudolf Friedrich“ von Rudolf Knopf in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 49 (1904), S. 513–515, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Grau,_Rudolf&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 03:36 Uhr UTC)
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Grau: Rudolf Friedrich G., bekannter lutherischer Theolog der positiven Richtung. Er wurde geboren am 20. April 1835 in Heringen a. Werra, einem Dorfe des alten Kurhessen, etwa 22 km östlich von Hersfeld. Sein Vater war Pfarrer in Heringen. Im Elternhause blieb er bis zum 9. Lebensjahre. Dann nahm ihn seines Vaters Bruder, Pfarrer in Richelsdorf, in sein Haus, um ihm die Anfangsgründe der Gymnasialfächer beizubringen. Von seinem 15. Jahre ab besuchte er durch vier Jahre das Gymnasium in Hersfeld, nach dessen Absolvirung er sich den Universitätsstudien zuwandte. Ein Benefiz, das ihm zugesichert worden war, bewog ihn, zunächst die Leipziger Universität aufzusuchen, wo er drei Semester blieb. Nach seiner eigenen Aussage zogen ihn in Leipzig am meisten die Vorlesungen von Liebner an, die ihn zur Beschäftigung mit Systematik und Philosophie veranlaßten. Damals befaßte er sich mit Kant und Fichte, Cartesius und Spinoza. Neben Liebner wirkte Kahnis auf ihn ein. In Leipzig schloß er sich dem theologischen Studentenverein, zeitweilig auch der Philadelphia an. Von Leipzig ging G. auf zwei Semester nach Erlangen, wo er sich unter v. Hofmann’s sehr starkem Einfluß intensiv mit Exegese beschäftigte. Zum Abschluß seiner Studien suchte er die heimische Universität Marburg auf. Dort lehrte seit 1855 Vilmar, der schroffe Lutheraner, den der Kurfürst aus Kassel hierher geschickt hatte. Er wurde neben v. Hofmann der andre Mann, der auf G. am nachhaltigsten einwirkte. Nach Ablauf seines Trienniums, das 1854–57 fiel, bestand G. das 1. theologische Examen und ging dann nach Hause, wo er seine Brüder ad studia humaniora vorbereitete. Als es sich für ihn darum handelte, das 2. theologische Examen zu bestehen, beredete ihn Vilmar, statt dessen die Licentiatenwürde anzustreben. G. folgte dem Rathe und reichte im Sommersemester 1859 seine Dissertation ein: „De Andreae Osiandri doctrina commentatio, cui dogmatum, quae Osiander tractavit, auctoris propria expositio est annexa“. Nach Annahme der Arbeit durch die Facultät und ihrer Drucklegung (IV, 88) promovirte G. im December 1859. Im nächsten Jahre wurde er Repetent an der Marburger Stipendiatenanstalt, dem Seminarium Philippinum. Seine schon zur Promotion verwendete wissenschaftliche Abhandlung über Osiander, nur um einen kleinen Zusatz vermehrt (Marburg 1860; IV, 92) eröffnete ihm den Zugang zur Privatdocentur. Wintersemester 1860/61 begann er seine Vorlesungsthätigkeit. Die Marburger Professoren lasen in ihren eigenen Häusern, wo sie sich Auditorien eingerichtet hatten. G. stand als Privatdocent auf Vilmar’s Katheder. Seine Collegien umfaßten exegetische, systematische und apologetische Gegenstände.

In seiner Marburger Zeit verband ihn Freundschaft und enger persönlicher Verkehr mit Zöckler und v. Zezschwitz im nahen Gießen. Mit Zöckler gemeinsam gab er seit Juli 1865 die apologetische Zeitschrift „Der Beweis des [514] Glaubens“ heraus, in deren Redaction er bis zu seinem Tode wirkte. Grau’s Lehrerfolge waren gut, im Wintersemester 1865/66 wurde er zum Extraordinarius ernannt. Sehr bald darauf, im Kriegsjahr, erfolgte der Abbruch seiner Marburger Wirksamkeit. Durch Kögel’s Vermittlung erhielt G. das Ordinariat für Neues Testament in Königsberg, wohin er im Laufe des Sommersemesters 1866 übersiedelte. Von da ab verfloß sein Leben in der Königsberger Wirksamkeit. Seine Lehrthätigkeit erstreckte sich auf die Fächer des Neuen Testaments, aber auch noch, seinen Anfängen getreu, auf dogmatische und apologetische Gegenstände. Mit Vorträgen, die er auf Conferenzen oder vor weiterem Publicum hielt, wandte er sich an nichtakademische Kreise. 1870 ging er die Ehe mit Martha v. Behr ein. Im selben Jahre verlieh ihm die Rostocker philosophische Facultät, 1875 die Leipziger theologische Facultät den Ehrendoctor. Für das Jahr 1888/89 wählte ihn der Königsberger Senat zum Prorector. G. war seit rund 50 Jahren der erste Theologe, der wieder dieses Amt bekleidete, ein Zeichen für die Beliebtheit, deren sich seine Persönlichkeit im Kreise der Collegen erfreute. Sein Tod erfolgte 1893. Er starb am 5. August nach einer Operation, die ein schon seit längerer Zeit vorhandenes krebsartiges Darmgeschwür nöthig gemacht hatte.

G. war ein positiver Theologe des Luther’schen Bekenntnisses, doch von persönlicher Milde und von Weltaufgeschlossenheit. Seine Bedeutung als theologischer Schriftsteller ist, wie auch von seinen Freunden anerkannt wird, nicht so groß wie seine Bedeutung als akademischer Lehrer. Ein gut Theil seiner lttterarischen Thätigkeit steckt in Aufsätzen der schon erwähnten Zeitschrift „Der Beweis des Glaubens“, deren Mitherausgeber er war. Im 26. Bande dieser Zeitschrift (1890) befindet sich ein Inhaltsverzeichniß der in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens darin erschienenen Aufsätze; das Verzeichniß der Grau’schen Beiträge steht S. 241, 39 Titel umfassend, unter ihnen die Gedenkrede auf J. G. Hamann, 1888 bei der 100jährigen Wiederkehr seines Todestages gehalten (Beweis des Glaubens Bd. 24, S. 283 ff.) und die Rectoratsrede Grau’s: „Einem unbekannten Gott“ (ebd. Bd. 26, 201 ff.). Auch die folgenden Bände der Zeitschrift bis zum 31. (1895) enthalten Beiträge, zum Theil posthume, von G. Von den abgesondert, in Buchform, erschienenen Publicationen Grau’s kommen folgende in Betracht (in chronologischer Reihenfolge). Noch in seiner Marburger Zeit erschien die apologetische, gegen Renan und Strauß gerichtete Schrift: „Semiten und Indogermanen in ihrer Beziehung zu Religion und Wissenschaft. Eine Apologie des Christenthums vom Standpunkte der Völkerpsychologie“ (Stuttgart, 1. Aufl. 1864, VIII, 244; 2. Aufl. 1867, XII, 261). Eine reiche Anwendung von Phantasie charakterisirt dies Erstlingsbuch. G. versucht den Nachweis zu führen, daß Renan die semitische Rasse, der er nur monotheistischen Instinct beilegt, zu schlecht beurtheilt habe, und daß von ihm und Strauß die Bedeutung der israelitischen Heilsgeschichte und die Bedeutung Jesu zu gering eingeschätzt werde gegenüber dem „Evangelium der heidnischen Völker“, der Wissenschaft. – 1871 erschien die „Entwicklungsgeschichte des neutestamentlichen Schriftthums“ (Gütersloh, 2 Bände, XVIII, 344, 532). Dies Werk behandelt, wie schon der Titel andeutet, die neutestamentliche Einleitung. In drei Stufen bringt G. die Schriften des Neuen Testaments unter: der kerygmatischen (Synoptiker), der epistolischen (katholische und paulinische Briefe), der prophetischen (Hebräerbrief, Apokalypse, Johannesevangelium). Diese drei Stufen sollen dem Epos, der Lyrik und dem Drama der classischen Völker entsprechen, sowie auch drei Stufen der alttestamentlichen Religion: Geschichtsbüchern, poetischen, prophetischen Schriften. – Das Jahr 1875 brachte eine zweite [515] apologetische Schrift Grau’s: „Ursprünge und Ziele unserer Kulturentwicklung“ (Gütersloh, VIII, 280). G. geht in diesem Buche, wieder vom völkerpsychologischen Standpunkt aus, an der Hand der Geschichte den alten Culturen der Hamiten, Semiten, Japhetiten nach, faßt Ursprung und Entwicklung dieser Culturen ins Auge, um in einem Schlußcapitel („Gegenwart und Zukunft“) auf Gefahren der modernen Geistesentwicklung hinzuweisen. – Noch in den 70er Jahren gab G., von Mitarbeitern (Kübel, Behrmann, Röntsch, Füller) unterstützt ein „Bibelwerk für die Gemeinde“ heraus (Bielefeld und Leipzig, 2 Bände, 1877–1880; 2. Aufl. 1889–1890). Er selbst legte darin Matth., Joh., I. u. II. Kor., Apok. aus. – 1883 bot er in Zöckler’s Handbuch der theologischen Wissenschaften (Bd. I, S. 549–630; in der 3. Aufl. Bd. II, S. 275 ff., Nördlingen) eine kurze, zusammengedrängte Darstellung über die Biblische Theologie des Neuen Testaments. In seiner auch anderswo zu beobachtenden geistreichen und fesselnden, aber von Einseitigkeit nicht freien Weise behandelt er hier unter dem Gesichtspunkte, daß das Neue Testament der Same sei, aus dem das Reich Gottes wächst, die drei Wachsthumsstufen dieses Samens: 1. die Lehre Jesu (synoptisches Schriftthum); 2. die paulinische Theologie (Paulusbriefe); 3. die johanneische Theologie (Hebr., Apok., Ev. und Briefe des Joh.). – 1887 erschien: „Das Selbstbewußtsein Jesu“ XVI, 393, Nördlingen), wieder das Gebiet der biblischen Theologie behandelnd. Das zur Discussion kommende Problem ist die Frage: wie hat Jesus über sich, seinen Beruf, die Bedeutung seiner Person gedacht? G. wendet sich gegen die Auffassung der kritisch-historischen Schule, aber auch gegen die Ritschl’s und seiner Anhänger. Immerhin merkt man (vergl. besonders Cap. 5: Vom Reiche Gottes) den Einfluß des Gegners, und Widerspruch von streng conservativer Seite ist nicht ausgeblieben. – An letzter Stelle sei die kurze Glaubenslehre erwähnt, die 1891 unter dem Titel erschien: „Luther’s Katechismus, erklärt aus biblischer Theologie. Eine kurze Glaubenslehre“ (VIII, 112, Gütersloh).

C. W. von Kügelgen, Rudolf Grau, ein akademischer Zeuge der lutherischen Kirche. München 1894. – O. Zöckler, Rudolf Friedrich Grau (Beweis des Glaubens, Bd. 29, 1893, S. 357 ff.); – Ders., Rudolf Friedrich Grau (Realencykl. f. prot. Theol. u. Kirche, Bd. 7, 1899, S. 66 ff.).