ADB:Kahnis, Karl Friedrich August

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Artikel „Kahnis, Karl Friedrich August“ von Johannes Kunze in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 749–751, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kahnis,_Karl_Friedrich_August&oldid=- (Version vom 19. April 2024, 02:01 Uhr UTC)
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Kahnis: Karl Friedrich August K., lutherischer Theologe, Professor in Leipzig, wurde am 22. December 1814 zu Greiz als Sohn des Schneiders Joh. Friedr. Kanes (so laut Kirchenbuch) geboren. Ueber seinen Familiennamen bemerkt er gelegentlich: „ein geborener Voigtländer trage ich einen alten voigtländischen Familiennamen. Eine voigtländische Familie meines Namens, die Familie Kanis, hat nach dem pirnaischen Mönch (Mencken, Script. rer. germ. II, 1595) und urkundlichen Nachrichten (Limmer [WS 1], Vogtland I, 401) im Jahre 1226 das Dominikanerkloster in Plauen hauptsächlich gegründet. Der Name ist sorbischen Ursprungs und wohl in dem böhmischen Kanecz (Kancze: Eber) erhalten, woher innerhalb derselben Familie die Formen Kanes und Kanz sich erklären“ (Zeugniß S. 7 f.). Bis zum 17. Jahre besuchte er die Schulen seiner Vaterstadt, 1835 noch ein halbes Jahr die Lateinschule der Francke’schen Stiftungen in Halle, wo er die Reifeprüfung ablegte. Im Herbste desselben Jahres bezog er die dortige Universität, zunächst um Philologie zu studiren. Mit Eifer wandte er sich der antiken Philosophie, besonders Plato, zu. Zugleich aber ließ er sich durch die Hegel’sche Philosophie, die Erdmann in anziehender Weise vertrat, imponiren. „Frühe mit dem Kirchenglauben zerfallen, ja nicht ohne schwere Zweifel an der Wahrheit aller Religion überhaupt, hoffte er von jener Philosophie die Lösung des großen Weltzwiespaltes zwischen Sein und Wissen.“ „Aber im dritten Jahr meiner Universitätsstudien“, so erzählt er, „ging mir die klare Erkenntniß auf, daß diese Schule das Recht des unmittelbaren Lebens, der Persönlichkeit, der geschichtlichen Mächte, des christlichen Glaubens verkümmere“. Dazu verhalfen ihm der naturwüchsige Historiker Heinrich Leo und der Theologe Tholuck. Seine Wandlung documentirte der 24jährige Student durch seine temperamentvolle Erstlingsschrift „Dr. Ruge und Hegel. Ein Beitrag zur Würdigung Hegel’scher Tendenzen“, Quedlinburg 1838, in der er gegen die Junghegelsche Richtung protestirt, vor allem im Namen der deutschen Jugend. Im Zusammenhang damit steht die Wendung zur Theologie. In einem geheimnißvollen Erlebnisse kam das neue Glaubensleben des Jünglings entscheidend zum Durchbruch. 1840 siedelte K. nach Berlin über, wo er Neander, Marheineke, Twesten und den Naturphilosophen Steffens hörte, besonders aber bei Hengstenberg vielseitige Förderung fand. Zugleich empfing er Anregungen in dem Kreise Jüngerer, der sich um Ludwig v. Gerlach scharte. 1842 habilitirte er sich für die historische Theologie mit einer Schrift über die Entwickelung der griechischen Philosophie in ihrem Verhältniß zum Christenthum. 1844 erhielt er einen Ruf als außerordentlicher Professor nach Breslau, um zugleich mit anderen neu Berufenen gegen den dort herrschenden Rationalismus anzukämpfen. Er trat seine Professur mit einer Disputation De spiritus sancti persona capp. II an (Breslau 1845), die wegen mancher kritischen Ansichten als Vorspiel seiner Aufsehen erregenden „Dogmatik“ angesehen werden kann. Am 27. September 1845 führte er Elisabeth v. Schenkendorf, die Tochter des Landrathes auf Wulkow, eines Verwandten des gleichnamigen Dichters, als seine Gattin heim und gewann in ihr die geistig ebenbürtige, treue Gefährtin, die ihn noch länger überlebte. War seine akademische Wirksamkeit schon an sich durch die herrschenden Verhältnisse gehemmt, so sah er sie völlig lahmgelegt, als er im November 1848 nach längerem Bedenken sich Gewissens halber entschloß, mit seiner Gattin aus der unirten Kirche zu den separirten Lutheranern, deren Mittelpunkt Breslau war, überzutreten. K. that diesen Schritt unter den Eindrücken der Revolution von dem Gesichtspunkte aus, daß dem kirchlichen Bekenntnisse in der Union der klare Rechtstitel fehle, und mit der vollen Erkenntniß, daß er seine akademische Zukunft in Preußen als Opfer [750] einsetze. Aber unbegreiflich wird sein Charakter und seine spätere Entwicklung, wenn man ihn für einen beschränkten, engherzigen Vertreter lutherischer Orthodoxie hält. Das war er nie. Das eigentlich lutherische Bekenntniß war ihm jederzeit nur die Confessio Augustana. Und mehr gedrängt durch die Gegner als aus eigenstem Antriebe hat er 1853/54 gegen die Union und ihre Vertreter, besonders K. I. Nitzsch, die Feder ergriffen, wenngleich er zeitlebens principiell sich gegen diese kirchliche Neubildung erklärte, weil sie entgegen den Grundsätzen der evangelischen Kirche die Einheit nicht im Bekenntnisse, sondern in der Verfassung suche.

Aus den drückend gewordenen Verhältnissen, die nur häusliches Glück und wissenschaftliche Arbeit erträglich machten, befreite ihn 1850 ein Ruf nach Leipzig. Als Harleß’ Nachfolger sollte er Dogmatik und zugleich für Niedner Kirchengeschichte lesen. 1851 erhielt er von Erlangen die Würde eines D. theol. Hier in Leipzig fand er den Boden, auf dem sein Leben und Wirken sich zu reicher Frucht entfalten sollte, zumal seit E. Luthardt [WS 2] (von 1856) und Franz Delitzsch (von 1867 an) neben und mit ihm zusammen wirkten. Einen weitreichenden Einfluß gewann er dadurch, daß er nicht bloß fesselnde und belehrende Vorlesungen hielt, sondern auch dem kirchlichen Leben zunächst Sachsens seine rege und thätige Theilnahme zuwandte durch Predigten, Vorträge, Zeitungsredaction (Sächs. Kirchen- und Schulblatt 1853–57), Besuch von Conferenzen u. s. w. In der Facultät rückte er allmählich zum Senior auf, 1860 wurde er Domherr des Hochstiftes Meißen, 1864/65 Rector der Universität. Einen bedeutsamen Markstein in seinem Leben bezeichnet das Erscheinen des ersten Bandes seiner „Dogmatik“ 1861. Seine Absicht war, das Dogma aus seinem geschichtlichen Werdeproceß heraus zu reconstruiren. Das konnte aber für ihn keine bloße Wiederholung des Alten sein. Zum mindesten bedurfte auch das Alte gemäß den Fortschritten der Wissenschaft neuer theologischer Begründung. So wich denn K. in der Lehre von der Trinität und vom Abendmahl von der altorthodoxen Form ab, besonders aber bekannte er sich offen, im ganzen wie im einzelnen, zu der neueren geschichtlichen Betrachtungsweise der Bibel. Es war durchaus verkehrt, wenn frühere Gesinnungsgenossen K. des Abfalls bezichtigten (so besonders Hengstenberg und Dieckhoff). Es trat nur unter veränderten Gegensätzen eine Seite von ihm stärker hervor, die er schon in früheren Schriften zeigt, nämlich die verständige Reflexion, der Sinn für das Natürliche und Einfache, zugleich aber auch die historisirende, unsystematische Weise seines Denkens. Seine kritischen Sätze sind nicht mit einer wirklichen Neugestaltung des Dogmas verknüpft. So kraftvoll er daher in seinem „Zeugniß von den Grundwahrheiten des Protestantismus“ 1862 das Schwert protestantischen Geistes gegen D. Hengstenberg geschwungen hat, so hat die Fehde doch weniger geschichtliche als persönliche Bedeutung, und man hat nicht Ursache es zu beklagen, daß K., wenn er auch seine „Dogmatik“ vollendete, doch seit jener Zeit der Kirchengeschichte als seinem eigentlichen Fache sich fast ausschließlich zuwandte. Hier erstrahlte seine besondere Begabung, nämlich die Fähigkeit, aufzufassen, zu combiniren und darzustellen. Ging er auch auf die Quellen zurück, so war er doch kein Bahnbrecher historischer Forschung. Sein Streben war vielmehr, sich mit liebevoller Hingabe in Zeiten und Personen zu versenken, um sie in ihrem eigenthümlichen Wesen und im Zusammenhange der gesammtkirchlichen Entwicklung zu erfassen. Für diese aber bot ihm seine kirchlich-dogmatische Ansicht ein gewisses Schema, mittelst dessen die Masse lichtvoll gegliedert wurde. Seine lebensvolle Anschauung endlich, gepaart mit poetischem Empfinden, ermöglichte ihm eine geschmackvolle Darstellung, und das kräftige Mitklingen [751] persönlicher Accente verleiht seinen historischen Arbeiten eine erquickende Frische. Unter ihnen sind hervorzuheben sein „Innerer Gang des deutschen Protestantismus seit Mitte des vorigen (= 18.) Jahrhunderts“, 1854, 2. Aufl. 1860, 3. Aufl., bis zur Reformation rückwärts erweitert, daher im Titel ohne die zeitliche Näherbestimmung; ferner: „Die deutsche Reformation“ (1. u. einziger Band), 1872, „Der Gang der Kirche in Lebensbildern“, 1887. Wenn er aber selbst urtheilt: „unsere besten Bücher sind die, welche wir in die Seelen unserer Zuhörer schreiben“, so entspricht dem, daß stärker als seine Schriften die Vorlesungen von K. auf zahlreiche Generationen von Hörern eingewirkt haben, einerseits durch das, was er bot und wie er es bot – in netten zugespitzten und leicht einzuprägenden Formeln –, andererseits durch die Persönlichkeit, die hinter dem Gebotenen stand oder vielmehr sich selbst in alles hineinlegte. K. war ein echt christlicher und weil aus dem Grunde erneuert, darum ein lauterer, demüthiger und wahrhaft natürlicher Charakter. Zugleich besaß er einen reichen, für alles Schöne und Gute auch in der natürlichen Welt empfänglichen Geist, ein tiefes Gemüth und einen tapferen Mannesmuth, in dem zugleich jederzeit etwas von dem Feuer jugendlicher Begeisterung glühte. Seine Lieblingsgestalt aus der Kirchengeschichte war Luther, und nicht zum wenigsten auch deshalb, weil er von ihm schreiben konnte: „wie in keinem Kirchenlehrer vor und nach ihm hat sich in Luther der evangelische und der deutsche Geist vereint“. Als deutsche Eigenart aber bezeichnete er das im Gemüthe wurzelnde Personleben, den Individualismus, der freilich nach ihm nur dann nicht auflösend wirkt, wenn er in der persönlichen Gemeinschaft mit Gott Halt und Gehalt erlangt. Sein echter Patriotismus verleugnete sich nie und fand gelegentlich einen sehr wirkungsvollen Ausdruck, wie in der 1870 nach der Schlacht bei Wörth gehaltenen Predigt (2. Sammlung Nr. 18).

In der letzten Zeit seines Wirkens gingen seine Kräfte sehr zurück, schon kündete sich das Gehirnleiden an, das ihn 1885 nöthigte, seine Lehrthätigkeit aufzugeben. Nach schweren Jahren mit viel inneren Anfechtungen erlöste ihn der Tod am 20. Juni 1888. Von Schriften sind außer den oben angeführten noch zu nennen bezw. genauer anzugeben: „Die Lehre vom heiligen Geist“, Theil 1 (nicht mehr erschienen), Halle 1847; „Die Lehre vom Abendmahle“, Leipzig 1851; „Die lutherische Dogmatik, historisch-genetisch dargestellt“, 3 Bde., Leipzig 1861–68; 2., umgearb. Ausgabe in 2 Bdn. 1874. 75; „Christenthum und Lutherthum“, 1871; „Die Sache der lutherischen Kirche gegenüber der Union“, Leipzig 1855; „Ueber das Verhältniß der alten Philosophie zum Christenthum“, Leipzig 1875. 1883; „Predigten“, drei Sammlungen, Leipzig 1866. 1871. 1877.

Vgl. Fr. Jul. Winter, D. K. Fr. Aug. Kahnis, Leipzig 1896. – Der Unterzeichnete in Herzog-Hauck’s Realencyklopädie IX, 692–98.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Karl August Limmer (1767–1853), Pfarrer und historischer Schriftsteller.
  2. Christoph Ernst Luthardt (1823–1902), evangelischer Theologe.