ADB:Roß, Ludwig
Otto Jahn) wurde mit Vorliebe bestiegen, um in seinem Laube die Schulaufgaben zu lernen; einstmals diente er dem Knaben auch zum Zufluchtsort, als in der Gegend mit großem Nachdruck der Untergang der Welt auf einen bestimmten Tag prophezeit wurde; auf dem Gipfel seines Lieblingsbaumes hoffte er allen Ernstes von der Zerstörung verschont zu bleiben“. Seine hauptsächliche Neigung ging auf das Sammeln von Naturalien, von denen er ein kleines Cabinet in seiner Stube anlegte. Das Interesse für die Natur, welches ihn auch beim Beziehen der Universität zuerst dem Studium der Medicin zuführte (er ließ jedoch davon ab, nachdem er bei der ersten Section ohnmächtig geworden war), dann auch für Zoologie und namentlich Ornithologie erwärmte, sollte ihm im späteren Leben sehr zu statten kommen. Im zehnten Jahre besuchte der Knabe mit seinem Vater zuerst eine größere Stadt, Lübeck, und sah hier Schiller’s Räuber aufführen, „die ihn derart überwältigten, daß er in lautes, nicht zu stillendes Weinen ausbrach und der Vater es vorzog mit ihm fortzugehen, um die Zuschauer nicht durch dies Schauspiel im Schauspiel zu stören“. Im zwölften Jahre wurde L., da der Vater ihn für das Studium geeignet erachtete, auf die Schule nach Kiel gegeben, wobei der Mutter die Trennung sehr schwer fiel. Nach zwei Jahren eifriger Studien daselbst wurde er in Bornhöved confirmirt, kam darauf aber [247] nach Plön, dessen Gelehrtenschule durch Rector Bremer’s pädagogische Persönlichkeit sich damals eines guten Rufes erfreute. Bei der Einfachheit dortiger Verhältnisse, wo der genannte Rector sämmtliche Schüler für alle Fächer außer dem Elementarunterricht gleichzeitig zu unterrichten und zu beschäftigen hatte („von Nepos bis Horaz, von Jacobs’ erstem Cursus bis zur Ilias“) und erst von 1821 ab diese Aufgabe mit dem Conrector Trede theilen konnte, war es nur begabten Naturen möglich, gut fortzukommen, diese aber hatten auch den großen Vortheil, sich sehr bald an Selbstthätigkeit und Ergänzung des Unterrichts durch eignes Fortarbeiten zu gewöhnen, wozu das mannhafte Beispiel des Lehrers gleichartige Schüler stark herausforderte. Daneben that die strenge Zucht gute Wirkung auf den Charakter, während zugleich die kleine Hofhaltung auf dem Plöner Schlosse auch auf die Sitte und Gewöhnung der Schüler nicht ohne Einfluß blieb. Ludwig R. pflegte seine Ferien zu Fußreisen zu benutzen, besonders nach Hamburg, wo er einen Onkel besuchte; und schon damals gewöhnte er sich an sauber geführte Tagebücher, in denen er seine genauen Beobachtungen niederschrieb. Im J. 1825 bezog er die Universität Kiel, woselbst er seine, nur durch Ferienreisen ins elterliche Haus und zu Verwandten unterbrochene vierjährige Studienzeit zubrachte. „Er war kein Duckmäuser und hat die Freiheit und den Frohsinn des Studentenlebens jugendlich genossen; vor dem Uebermaß hätte ihn, wenn nicht sein ernster Sinn und wissenschaftlicher Eifer, doch schon die Einschränkung bewahrt, welche ihm seine Verhältnisse auferlegten“. Für den Landmann waren damals schwere Zeiten; der Vater scheint aber auch außerdem den Sohn mehr als nöthig und zuträglich bevormundet zu haben. Uebrigens lebte R. in Kiel im angenehmen Familienverkehr, theils bei einer Tante, theils bei den hervorragenderen Professoren. Für seine philologischen Studien hatte er außer Twesten, dem Theologen, der aber interimistisch auch das philologische Seminar leitete, und Dahlmann, dem Historiker, der z. B. über Aristophanes’ Vögel las, vorzugsweise den seit 1827 von der Schule an die Universität versetzten G. W. Nitzsch, der sich, wie er selbst kein Hehl hatte, erst in seine Aufgabe hineinarbeiten mußte. An die tüchtige Persönlichkeit dieses eifrigen und gediegenen Mannes schloß sich R. vornehmlich an und wurde an strenge und methodische Forschung nach Wahrheit gewöhnt, ebenso wie durch des Lehrers Beispiel wieder die eigne Kraft zur Bethätigung geweckt ward. Am Schlusse seiner Studienzeit promovirte R. am 16. Mai 1829 auf eine Abhandlung de Aristophanis Vespis und ging dann als Hauslehrer zu dem Kaufmann Gottschalck in Kopenhagen. Hier lernte er außer dem Getreibe der großen Seestadt auch zuerst bedeutende Kunstwerke in der Gemäldegalerie kennen; doch blieb nach der ersten Bewunderung hier, wie später überhaupt, das eigentliche künstlerische Moment in der Betrachtung ihm verschlossen. Sein wichtigster Erfolg war die Erlangung eines der von der dänischen Regierung mit Freigebigkeit ausgetheilten Reisestipendien „im Belaufe einiger hundert Thaler“, welches ihm seiner guten Zeugnisse und Empfehlungen halber bewilligt wurde. Mit diesem versehen, beendigte er zunächst in Kiel während des Sommers 1831 eine schon früher begonnene kurzgefaßte „Geschichte der Herzogthümer Schleswig und Holstein“ (Kiel 1831) und ging für den Winter nach Leipzig, um dort unter Gottfried Hermann’s Leitung Vorstudien für eine Reise nach Griechenland zu machen. Außer mit diesem Meister pflegte er in Leipzig engen Freundschaftsverkehr mit Herm. Sauppe, Funkhänel, Neukirch, Westermann, denen er „durch sein fertiges, gemessenes Wesen imponirte“ und in thätigem Eifer für die Wissenschaft nahe trat. Am 23. Mai 1832 trat er die geplante Reise nach Griechenland an; er ging theils zu Fuß theils mit der Post über München durch Salzburg nach Triest, welches er am 17. Juni erreichte und am 11. Juli an Bord eines griechischen Segelschiffes verließ. Nach [248] günstiger 10tägiger Fahrt landete er auf der Insel Hydra und betrat nach kurzem Aufenthalte am 26. Juli das griechische Festland in Nauplia. – Die interessanten Erlebnisse der ersten Jahre in Griechenland, wo er eine zweite Heimath finden sollte, hat N. in Briefen an seinen Freund Funkhänel beschrieben, welche in den „Blättern für litterarische Unterhaltung“ 1833 erschienen; ferner in den 1853–1855 in „Prutz’ deutschem Museum“ niedergelegten Aufsätzen. Beide sind zusammen nach seinem Tode als: „Erinnerungen und Mittheilungen aus Griechenland von Ludwig R.,“ Berlin 1863, wieder abgedruckt worden. Die Abenteuerlichkeit aller Verhältnisse und der bunte Wirrwarr des Parteigetriebes in dem ganz verwüsteten und jeder europäischen Bequemlichkeit entbehrenden Lande, die nothwendige Orientirung in Sprache und Sitte, die ersten gefahrvollen Ausflüge mit seinen Freunden Forchhammer, Ulrichs u. a., die Ankunft des neugewählten Königs Otto mit der Regentschaft und den Truppen aus Baiern, das Durcheinander der Einheimischen und Fremden aus allen Nationen wird von R. mit gewandter Feder geschildert. Die gediegene Persönlichkeit des Reisenden, der insbesondere auch durch seine Sprachgewandtheit sich höchst brauchbar erwies, gewann ihm rasch solches Vertrauen, daß er, im Begriff nach Jahresfrist heimzukehren, von der Regentschaft zum Unterconservator der Alterthümer im Peloponnes mit dem Sitze bei der Regierung in Nauplia bestellt wurde, September 1833. Kaum hatte aber R. begonnen, in dieser Stellung die zur Orientirung nöthigen Reisen zu machen, als die beschlossene Verlegung des Königssitzes nach Athen der Anlaß wurde, ihn dorthin zu versetzen (Sommer 1834) und zwar zunächst um als Mitglied, dann als Vorsitzender der Baucommission zu fungiren. Bei diesem mühsamen und wenig dankbaren Geschäfte schmerzte ihn sehr, daß es nicht mehr möglich war, den früher von ihm geplanten Ankauf des alten Stadtbodens (nördlich von der Akropolis) seitens des Staates zum Zwecke umfassender Nachgrabungen durchzusetzen: die günstige Zeit war eben versäumt, und durch die nun folgende rasche Bebauung des ganzen Terrains sind die kostbaren Ueberreste aus der classischen Periode mehrere Klafter tief vielleicht für immer begraben geblieben. Daneben hatte R. den König auf der ersten größeren Reise durch Nordgriechenland zu begleiten und gewann kaum Zeit, den Druck des ersten Heftes neu gefundener Inschriften zu besorgen (Inscriptiones Graecae ineditae, Fsc. I Naupliae 1834), welches Otfr. Müller freudig als Erstlingsgabe des wiedergeborenen Griechenlands begrüßte. Als die Verlegung der Residenz nach Athen vollzogen war (December 1834), wurde R. zum Oberconservator der Alterthümer ernannt und erhielt damit die Oberleitung der schon geplanten Ausgrabungen auf der Akropolis, wobei die Architekten Schaubert aus Breslau und Chr. Hansen aus Dänemark ihm zur Seite standen. Zunächst mußte freilich noch die Militärbesatzung nebst ihren Apparaten aus Parthenon und Propyläen entfernt werden, was R. nur mit kräftigster Energie zu Stande brachte; dann aber wurde sogleich beim Abbruch der byzantinisch-fränkisch-türkischen Befestigungen der herrliche Fund des Tempels der Nike Apteros gemacht, den es gelang in wenig Monaten aus seinen Trümmern fast vollständig wieder aufzurichten. (Siehe: Roß, Schaubert und Hansen, „Der Tempel der Nike Apteros“, Berlin 1839). Die türkische Moschee, welche mitten im Parthenon stand, wurde abgebrochen, und die ganze Akropolis von ungeheueren Mengen Schutt der vielen nachgriechischen Bauwerke gesäubert. Allein die vielversprechende Fortführung dieser grundlegenden Thätigkeit sollte nur zu bald ihr jähes Ende finden. Während R. die Ehre genoß, in den hohen Kreisen des kleinen Hofes, der Regentschaft und unter den Gesandten täglich zu verkehren, dazu den König Otto selbst und seinen zu Besuch anwesenden Vater, Ludwig I. von Baiern als archäologischet Führer in Athen und auf manchen Ausflügen zu begleiten, ebenso andere Reisende, wie den Fürsten [249] Pückler-Muskau, während er zu gleicher Zeit von den Ergebnissen der Grabungen in deutschen Blättern berichtete, und dazu zahlreiche neugefundene Inschriften, insbesondere die im Piräus gefundenen Urkunden über das attische Seewesen mit unermüdlichem Eifer abschrieb und an Böckh in Berlin sandte, – brachte es der Neid einiger griechischer Intriganten und Halbwisser dahin, daß das Cultusministerium ihm aufgab, er solle über die wissenschaftlichen Ergebnisse der Ausgrabungen nichts bekannt machen oder Anderen mittheilen, sondern seine Beobachtungen dem Cultusministerium mittheilen, dessen Eigenthum sie seien. Dieser unter damaligen Verhältnissen unerträglichen Zumuthung begegnete R. in kräftiger aber etwas unvorsichtiger Weise, indem er entweder um Zurücknahme der Verfügung oder um seine Entlassung bat. Die letztere erhielt er im September 1836 vom Grafen Armansperg, der sich bei den Griechen beliebt machen und dadurch seine Stellung sichern wollte, während der R. wohlwollende König sich eben zum Behufe seiner Vermählung in Deutschland befand. Nach der Rückkehr des Letzteren konnte zwar der neue Minister v. Rudhart aus allgemeinen Gründen R. auf den allzu rasch geräumten Platz nicht wieder zurückbringen, allein man gab ihm an der neugegründeten und schon im Mai 1837 in einem engen Hause eingeweihten Otto-Universität eine Anstellung als Professor der Archäologie. Er las schon im ersten Semester über Aristophanes’ Acharner und Ritter vor etwa 30 Zuhörern. Den Anforderungen seines Amtes gemäß trug er in den folgenden Jahren vornehmlich die Geschichte der alten Kunst und Epigraphik, daneben auch Geschichte und Topographie Griechenlands vor. Die Jugend folgte mit Begeisterung den anregenden Vorträgen, in denen er das Neugriechische völlig wie seine Muttersprache handhabte. Für diese Vorlesungen verfaßte er in neugriechischer Sprache ein Handbuch der KunstarchäOlogie Ἐγχειρίδιον τῆς ἀρχαιολογίας τῶν τεχνῶν, Ἀθήνησι 1841), welches in dem erschienenen ersten Theile sich zwar im allgemeinen an Otfr. Müller anschloß, aber doch schon einen tiefgehenden Unterschied deutlich hervortreten ließ, indem R. im Gegensatze zu dem genannten Forscher die orientalischen Völker, Aegypter, Babylonier und Phöniker, Lydier und Phrygier, Meder und Perser den Griechen vorangehen und diesen den Weg weisen ließ. – Neben solcher Lehrthätigkeit setzte R. auch in den folgenden Jahren seine archäologischen Reisen in alle Theile des Königreiches fort, ganz besonders aber auf den Inseln des ägäischen Meeres, deren Beschreibung er in frisch und anziehend geschriebenen Tagebüchern, zum Theil in Fachzeitschriften, zum Theil in drei Bänden: „Reisen auf den griechischen Inseln“ (Stuttgart, Cotta 1840, 43, 45) niedergelegt hat. Die im Gefolge des Königspaares gemachten Reisen publicirte er später als: „Reisen des Königs Otto und der Königin Amalia von Griechenland“ (in 2 Bänden, Halle 1848 und in neuer wohlfeiler Ausgabe: „Wanderungen des Königs Otto u. s. w.“, Halle 1851). Ferner: „Reisen und Reiserouten durch Griechenland. Erster Theil, Reisen im Peloponnes“, Berlin 1841. Jene Inselfahrten machte er zum Theil in Gesellschaft des Frhrn. v. Prokesch-Osten und des Geographen Karl Ritter; die Kapitäne der fremden Kriegsschiffe nahmen den ortskundigen Führer sehr gern zur Beförderung auf. Der beständige Verkehr mit dem Hofe und in den Kreisen der Diplomaten erleichterte ihm, auch abgesehen von der Munificenz des Königs, das Reisen durch seine vielseitigen Bekanntschaften, und der „Mann im einfachen weißen Leinenanzuge“ (wie er selbst sagt) zählte im ganzen Königreiche zu den bekanntesten und angesehensten Persönlichkeiten. Die Schilderungen aller dieser Reisen aber zeichnen sich ebenso sehr durch Schärfe und Genauigkeit der Beobachtung, als durch unbedingte Zuverlässigkeit in der Berichterstattung aus und haben daher für die Kenntniß der natürlichen Verhältnisse des Landes, der socialen Zustände, Sitten und sprachlichen Eigenthümlichkeit seiner Bewohner, insbesondere [250] aber des Denkmälerzustandes einen bleibenden Werth. R. war im schönsten Zuge an seiner eigentlichen Lebensaufgabe; da traf ihn plötzlich auf der Insel Rhodos die Nachricht von der Revolution des 15. September 1843 in Athen, durch welche König Otto gezwungen wurde ihn, wie alle anderen Fremden aus dem Staatsdienste zu entlassen. Indessen währte es nicht lange bis zum Ersatz. Durch die Vermittlung Alex. v. Humboldt’s wurde auf einen Bericht von Chr. A. Brandis (der vorher zwei Jahre bei König Otto war, damals Professor in Bonn) über die erfolgreiche Thätigkeit von R., diesem eine Professur in Halle unter Bedingungen, welche ihn wenigstens äußerlich schadlos halten konnten, übertragen. Zugleich gewährte ihm König Friedrich Wilhelm IV. „großmüthig auf zwei Jahre eine freie Stellung, um die begonnenen Reiseunternehmungen weiter zu verfolgen und, so weit dies bei der Unerschöpflichkeit des Gegenstandes möglich, zum Abschluß zu bringen“. So konnte er denn noch die „Reisen nach Kos, Halikarnassos, Rhodos und der Insel Cypern“ (herausgegeben Halle 1852) und einen Abstecher in Lykien machen, letzteren beschrieben in dem Buche: „Kleinasien und Deutschland. Reisebriefe und Aufsätze mit Bezugnahme auf die Möglichkeit deutscher Niederlassungen in Kleinasien“, Halle 1850, worin er, wie der Titel besagt, auf den fruchtbaren, aber meist brachliegenden Gefilden Kleinasiens Deutsche planmäßig anzusiedeln allen Ernstes vorschlägt und vorahnend mit der Gewandtheit des vielgereisten Mannes die Bedingungen der Colonisation im Zusammenhange mit der Entwicklung deutscher Schifffahrt und Seewehr im patriotischen Sinne bespricht. Auch ließ er dem zweiten Hefte der Inscriptiones Graecae ineditae (Athen 1842) noch ein drittes folgen (Berlin 1845); Arbeiten, worin er zuerst in größerem Maßstabe allen Jüngeren den Weg zur genauen und sorgfältigen Abnahme von Inschriften-Copien wies. – Im Sommer 1845 kehrte R. nach Deutschland, das er schon 1839 und 1842 auf kurze Zeit besucht hatte, zu dauerndem Aufenthalte zurück und trat dann sein akademisches Lehramt in Halle an. In Gemeinschaft mit seinem Specialcollegen M. H. E. Meier daselbst veröffentlichte er zum Antritt eine Schrift „über die Demen von Attika“, Halle 1846. In dem Universitätskörper fand er eine ehrenvolle Aufnahme, und seine Vorlesungen über Kunstgeschichte, Paläographie und Epigraphik, Topographie von Attika u. dgl. sammelten einen „zwar nicht großen, aber desto anhänglicheren Kreis von Schülern“, die von seiner geistvollen Beredsamkeit angezogen wurden. Im Frühjahr 1847 schloß er die Ehe mit Emma Schwetschke, Tochter des bekannten Verlagsbuchhändlers. – Aus dem Wanderleben und freien Weltverkehr in die Enge der Studirstube verbannt, mußte aber R. bald gewahren, daß er sich mit seinen wissenschaftlichen Anschauungen über die älteste Geschichte Griechenlands und dessen Verhältniß zum Orient in einem seltsamen Widerspruche zu der ganzen herrschenden Zeitrichtung befand. Während in Deutschland damals seit zwei Jahrzehnten Otfried Müller und seine Jünger das reine Griechenthum der Dorier und Jonier mit ihrer Sprache, Dichtung und Kunst aus sich selbst sich entwickeln ließen und die classische Schönheit nicht als Pfropfreis auf den uralten Stamm aus dem Orient gepflanzt wissen wollten, sondern immer mehr die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Hellenen betonten, hatte R. aus der Anschauung des griechischen Landes und der erhaltenen Reste des Alterthums die Ueberzeugung gewonnen, daß der Verkehr des Orients mit Griechenland viel umfangreicher und sein Einfluß auf dasselbe viel tiefer eingreifend gewesen sei, daß überhaupt die Cultur der alten Völker viel älter sei, als man gewöhnlich annehme. Die herrschend gewordene Behandlung der Quellen schien ihm willkürlich, die zerstörende Hyperkritik von F. A. Wolf und B. G. Niebuhr höchst verderblich. Zu diesen Anschauungen mochte schon der Einfluß seines Lehrers Nitzsch, der ja Wolf’s Homerische Hypothese bekämpfte, mit beigetragen [251] haben; vorzugsweise aber hatte die Entfernung vom großen Gelehrtenverkehr und die Gewöhnung an selbständige Beobachtung eigenartige Ideen in R. gezeitigt. Er hielt namentlich mit Röth u. A. die Pelasger nicht für unentwickelte Urgriechen, sondern für phönicische Semiten; er glaubte an die persönliche Einwanderung von Kekrops, Danaos, Kadmos und Pelops aus Aegypten, Phönicien und Phrygien. Der überzeugungsfeste und gewandte Mann scheute nun nicht davor zurück, gegen die wissenschaftliche Richtung seines ganzen Zeitalters Front zu machen, sondern ging in seinen „Hellenika“, einer periodischen Sammlung historischer und archäologischer Aufsätze (nur 2 Hefte erschienen, Halle 1846), schon in dem als Programm gehaltenen Vorwort zur Bezeichnung des Standpunktes gegen die „fanatische Ueberschätzung der Griechen“ und ihre vermeintliche Originalität in allen Culturgebieten energisch vor, indem er besonders betonte, daß man damit doch die gepriesenen Historiker des Alterthums selber, namentlich Herodot, stark herabwürdige. R. rief die Pyramiden Aegyptens, die Trümmer der Paläste von Ninive, die Schatzhäuser des Atreus und des Minyas, die Tumuli Etruriens zu Zeugen auf für die älteste Cultur, welche aus dem Osten nach Griechenland getragen sei. „Angesichts der Hunderte ältester griechischer Inschriften, welche Wolf’s geschworene Anhänger sich die undankbare Mühe gaben, zwischen Olymp. 40 und 60 zusammendrängen zu wollen“, sucht er die Schriftübung in Griechenland den vorhomerischen Zeiten zu vindiciren: er leitet die dorische Bauordnung aus Aegypten her und indem er vor allem bestreitet, daß Aegypten bis auf Psammetich ein verschlossenes Land gewesen sei, dagegen auf die Leichtigkeit des Verkehrs im ägäischen Meere hinweist, nimmt er für Aegypten und Phönicien den bedeutendsten Einfluß auf die Entwicklung Griechenlands in Religion, Kunst und allen Thätigkeiten des civilisirten Lebens, in Anspruch. Der unermüdliche Streiter hat mit seinen Anschauungen, die er damals gegen den Widerspruch der namhaftesten Gelehrten zu vertheidigen hatte, durch die neueren Entdeckungen bei der jüngeren Generation wenigstens die Genugthuung erfahren, daß der untrennbare Zusammenhang griechischer Cultur mit dem Orient gegenwärtig durchweg anerkannt wird. Allein der conservative Zug, welcher R. trieb, an dem überlieferten geschriebenen Worte festzuhalten, lag so tief in seinem Charakter, daß er auf dem Felde der Epigraphik, welchem er selbst so reiches Material zugeführt hatte, selbst die Inschriftenfälschungen eines Fourmont nicht anerkannte und die Schwindeleien Pasch van Krienens gläubig hinzunehmen sich nicht weigerte. Mit allen diesen Dingen nahm er es aber durchaus ernst und während er ein Jahrzehnt lang aus seinen umfassenden Sammlungen zahlreiche Aufsätze topographischen, epigraphischen und kunstarchäologischen Inhalts in verschiedenen Zeitschriften publicirte, setzte er die Polemik über jene Fragen mit stetiger und allseitiger Verstärkung des wissenschaftlichen Beweismaterials fort. Diese Schriften sind meist gesammelt in: „Archäologische Aufsätze“; erste Sammlung Leipzig 1855. Zweite Sammlung, besorgt von K. Keil, Leipzig 1861. Unterstützung ward ihm dabei in Deutschland selten zu theil, nur das Auftreten des gleichgesinnten Julius Braun, des frühverstorbenen Kunsthistorikers, erfreute ihn. Unter den Fremden aber hatte er namentlich einen Mitkämpfer an Raoul-Rochette in Paris, der ihm mehrmals zurief: „croyez m’en, l’avenir est à nous“. Allmählich steigerte sich der anfangs nur lebhafte Ton bei R. aber bis zur Gereiztheit und Bitterkeit, woran indeß Krankheit schuld war. Denn schon bald nach der Verheirathung (1847) zeigten sich bei dem vorher so kräftigen und stets gesunden Mann die ersten Spuren eines Rückenmarkleidens, welches langsame, aber beharrliche Fortschritte machte und trotz mehrfach angewandter Curen und Badereisen seinem Körper immer schwerere Fesseln anlegte. Dennoch ließ der muthige Kämpfer nicht nach, sondern begab sich noch dazu auf ein neues, ihm nicht so [252] bekanntes Feld. Mit Staunen hatte er bei seiner Rückkehr aus Griechenland von den allgemeinen indogermanischen Sprachstudien vernommen; die Verwandtschaft des Griechischen mit dem Indischen, die Herleitung aus dem Sanskrit wollte ihm durchaus nicht in den Kopf. Er schrieb daher: „Italiker und Gräken. Sprachen die Römer Sanskrit oder Griechisch?“ (Halle 1858) und versuchte nachzuweisen, daß „das Lateinische aus einer ähnlichen Um- und Fortbildung und einer ähnlichen Corruptel des Griechischen hervorgegangen sei, wie die romanischen Tochtersprachen aus dem Lateinischen“. Nach ihm sind die Italiker in der Mehrzahl eingewanderte Hellenen, die ein verdorbenes Griechisch sprachen, wie er durch massenhafte, aber durchaus dilettantische Zusammenstellungen der Wörter beider Sprachen zu erhärten sich abmüht. Und als ihm von den berufensten Vertretern der jungen Wissenschaft sofort derbe und sarkastische Abfertigungen zu theil wurden, gab der streitbare Mann seine Schrift mit dem Nebentitel: „Lateinisch ist Griechisch“ in zweiter erweiterter Bearbeitung (Halle 1859) kurz vor seinem Ende nochmals heraus, wobei er mit echt holsteinischer Zähigkeit die letzte Arbeitskraft an eine verfehlte Idee nutzlos einsetzte und seinen Fleiß ebenso wie den reichlichen Witz und Humor verschwendete. Die Herausgabe dieser ganz unwissenschaftlichen Combinationen und zum Theil absurden Einfälle wird nur begreiflich, wenn wir hören, daß der Verfasser vor Jahren schon, wenn er in Griechenland einsam über Berg und Thal ritt oder in der Barke segelte oder am Heerde der Bauern saß und die lebendigen Klänge des Neugriechischen hörte, dem Etymologisiren nachhing; – weshalb er denn auch die neugriechische Aussprache für die ächte alte hielt –; und diese Beschäftigung in schlaflosen Nächten, an schmerzerfüllten Tagen fortsetzte. Denn unterdessen hatte die Krankheit ihn fast völlig gelähmt; dennoch benutzte er jeden freien Augenblick zu wissenschaftlicher Thätigkeit. „Mit seltener Geduld und großartiger Resignation (schreibt sein Freund K. Keil) fügte er sich in das traurige Schicksal, welches ihm die liebevollste Pflege und aufopferndste Theilnahme seiner Lebensgefährtin wie der Zuspruch treu ausharrender Freunde, namentlich Prof. Herm. Ulrici’s, kaum in etwas zu erleichtern vermochte; mit klarem Auge und voller Einsicht in das Wesen der unheilbaren Krankheit und in ihre lange Dauer ertrug er die anhaltenden, oft furchtbaren Schmerzen. Endlich erlag die physische Kraft dem jahrelangen Drucke, mit eigener Hand löste er die Fessel, welche er nicht mehr zu tragen vermochte“. Am 6. August 1859 öffnete er sich die Adern in einem warmen Bade. Seinem Wunsche gemäß ward er in heimathlicher Erde auf dem Friedhofe von Bornhöved bestattet. – Neben den schon hervorgehobenen Zügen des wissenschaftlichen Charakters von R. ist seiner Treue und Anhänglichkeit an die Freunde zu gedenken, die er um entgegenstehender Ansichten willen nicht geringschätzte noch empfindlich von sich stieß. Sein Speciallandsmann O. Jahn sah in ihm den Typus eines echten Holsteiners, der an Joh. Heinr. Voß erinnerte „durch sein zähes Festhalten, sein derbes Dreinschlagen, die Unbarmherzigkeit, mit welcher er immer wieder auf denselben wunden Fleck des Gegners schlug, und durch die Verblendung“ – dabei aber mit dem Gegner streng ehrlich verfuhr und ihm nichts unterschob. Auch ein tiefes und in der Tiefe weiches Gemüth rühmt er an ihm. In religiöser Beziehung war R. duldsam nach allen Richtungen; er selbst hielt „bei strenger Pflichterfüllung, bei gewissenhaftem Streben nach Selbsterkenntniß, bei einem ehrlichen Ringen nach hohen vorgesetzten Zielen, die innere Vervollkommnung und Vollendung des Menschen bei allen Glaubensbekenntnissen für gleich erreichbar“. Aus seinem Verkehre mit den verschiedenartigsten Nationen hatte er eine freie Weltanschauung geschöpft; dennoch aber war er ein Patriot im edelsten Sinne. Wie die meisten Deutschen, welche längere Zeit im Auslande weilten, empfand er schmerzlich das [253] geringe Ansehen seines Vaterlandes und hoffte mit begeistertem Herzen auf das Ende „der kaiserlosen, schrecklichen Zeit“. Noch wenige Wochen vor seinem Tode schrieb er: „Hätten nur alle Deutschen, wie ich, dreizehn Jahre im Auslande gelebt, sie würden den Partikularismus längst überwunden haben“.
Roß: Ludwig R., classischer Philologe und Alterthumsforscher. Seine Familie stammte aus dem nördlichen Schottland, der Großvater war noch Arzt bei der damals exterritorialen englischen Factorei in Hamburg und hinterließ eine starke Familie, die sich im Holsteinischen ausbreitete. Ludwig’s Vater, Colin Roß, bewirthschaftete als Landmann das kleine, anmuthig gelegene Gütchen Altekoppel im Kirchspiel Bornhöved. Aus glücklicher Ehe mit Juliane Auguste Remin erwuchs ihm eine zahlreiche Kinderschaar, welche bei mäßigen Vermögensverhältnissen in Einfachheit erzogen ward. Liebe und strenger Gehorsam wurde den Kindern eingewöhnt, plattdeutsche Sprüchwörter als Erziehungsregeln verwandt. Eine große Anhänglichkeit an Vaterhaus und Vaterland bewahrte sich auch Ludwig, geboren am 22. Juli 1806 „noch im alten deutschen Kaiserreich“, wie er später oft gern betonte. In seinem Wesen zeigte sich früh ein stiller Ernst; schon im vierten Jahre konnte er fertig lesen, er fiel über alles Gedruckte her und als man ihm die Bücher entzog, griff er im Pferdestall zu dem Gesangbuche eines der Knechte. Den ersten, sehr mangelhaften Unterricht erhielt er in der ziemlich entfernten Dorfschule; später wurde eine tüchtige Gouvernante ins Haus genommen, deren verständige Art den ersten Grund zu seiner gelehrten Bildung legte. „Ein großer Kirschbaum auf dem Hofe (erzählt- Vgl. Karl Keil in dem Vorwort zu: Archäologische Aufsätze von L. Roß, Zweite Sammlung. Leipzig 1861 (wo auch die kleineren Schriften verzeichnet. stehen). – O. Jahn im Vorwort zu L. Roß, Erinnerungen und Mittheilungen aus Griechenland. Berlin 1863.