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Artikel „Voß, Johann Heinrich“ von Franz Muncker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 334–349, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vo%C3%9F,_Johann_Heinrich&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 19:19 Uhr UTC)
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Band 40 (1896), S. 334–349 (Quelle).
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Voß: Johann Heinrich V. verdankt seine Stellung in unserer Litteratur sowol der getreuen Abspiegelung deutschen Bürger- und Bauernlebens in seinen Idyllen als auch der Meisterschaft, mit der er, der ausgezeichnete Philologe und Kenner des griechisch-römischen Alterthums, sich zuerst unter den neueren deutschen Dichtern als künstlerischer Uebersetzer poetischer Werke aus fremden Sprachen bewährte. So ward er, der bis auf den heutigen Tag unübertroffene Verdeutscher Homer’s, zugleich der Vorläufer Goethe’s auf dem Felde, dem „Hermann und Dorothea“ entkeimte, unter den Stürmern der siebziger Jahre einer der wenigen, deren persönliche Nähe und litterarische Bundesgenossenschaft Schiller und Goethe zur Zeit ihrer höchsten Reife aufrichtig wünschten. Durch die strenge Energie seines Charakters, der vor keiner Mühe, aber auch vor keiner Schroffheit in der Vertheidigung des als wahr Erkannten zurückbebte, rang er sich aus den niedrigsten und beschränktesten Verhältnissen auf eine geistige und schließlich auch sociale Stufe empor, auf der ihn die ersten Männer unseres Volkes wie einen Ebenbürtigen ehrten.

V. wurde am 20. Februar 1751 zu Sommersdorf bei Waren in Mecklenburg-Schwerin geboren, der Enkel eines freigelassenen Handwerkers, der Sohn eines Kammerdieners, der auf Reisen ziemlich weit herumgekommen war, dann in der Heimath als Pächter lebte. Im Sommer 1751 ließ er sich mit seiner zweiten Frau, der Mutter Johann Heinrich’s, als Zolleinnehmer, Bier- und Branntweinwirth in dem Städtchen Penzlin nieder, anfangs in leidlicher Wohlhabenheit, die aber während und nach dem siebenjährigen Kriege in die bitterste Armuth umschlug: zuletzt mußte er Haus und Hof verkaufen und von 1771 bis an seinen Tod (1778) sich durch das Halten einer Klippschule kümmerlich ernähren. Sein Sohn, dessen jüngere Geschwister meist frühzeitig wegstarben, als Knabe schon waghalsig und wild, auch schon unbeugsam und unduldsam, dabei nicht ohne träumerischen Ernst, besuchte 1759–65 die Penzliner Stadtschule unter dem trefflichen Rector Andreas Karl Struck, ergänzte den lateinischen Unterricht, den er hier empfing, durch das auf eigene Faust unternommene Studium der griechischen Grammatik und übte gleichzeitig an lateinischen Versen seinen metrischen Sinn, an den in Volkskreisen verbreiteten Werken der deutschen Litteratur von Luther, den Volksbüchern und Volksliedern an bis auf Gellert und Gleim seine dichterische Phantasie. Nachdem er noch einen Winter ganz und gar dem Privatstudium gewidmet hatte, trat er zu Ostern 1766 in die oberste Classe der Stadtschule zu Neubrandenburg ein, schon damals in seinem Wissen den besten Primanern ebenbürtig. Gleichwol mußte er hier, in recht ärmlichen Umständen trotz mannichfacher Unterstützung von alten und neuen Freunden, drei Jahre aushalten. Griechische Privatstudien, die er mit einigen Kameraden ebenso heimlich wie eifrig trieb, förderten ihn fast mehr als der zopfige Unterricht in der Schule. Auch versuchte er sich bereits in deutschen gereimten und reimlosen Versen sowie in der Uebersetzung Horazischer Oden. [335] Hagedorn, Haller, Uz, Geßner, besonders aber Ramler und erst beträchtlich später Klopstock waren seine Lieblingsautoren und dichterischen Vorbilder. Aber um die ihm so lieb gewordenen Studien an einer Hochschule fortsetzen zu können, dazu fehlten dem Jüngling vorerst alle Mittel. Ohne Aussicht, was er nun beginnen sollte, kehrte er im Frühling 1769 nach Penzlin zurück. Er mußte es als ein unverhofftes Glück betrachten, als ihn einige Monate darnach ein Landedelmann aus der Nachbarschaft, der Klosterhauptmann v. Oertzen auf Ankershagen, zum Hofmeister seiner drei Kinder berief. In unerquicklichen, demüthigenden Verhältnissen, die aber nur seinen demokratischen Trotz und Adelshaß steigerten, brachte er hier dritthalb Jahre zu, ohne rechte Muße und Anregung zu seinen eigenen Studien, für alle Entbehrungen und seelischen Qualen dieser Zeit einzig durch die Freundschaft zu dem Pfarrer Ernst Theodor Johann Brückner (1746–1805) in dem nahen Dorfe Groß-Vielen entschädigt. Brückner bestärkte den von Haus aus zur Aufklärung und Skepsis neigenden Freund im Rationalismus; er vor allem erweiterte Vossens Kenntnisse in der neueren Litteratur und entband sein dichterisches Talent, das sich noch immer hauptsächlich an Horaz und Ramler schulte. So bekam V. auch den Göttinger Musenalmamach für 1771 zu Gesicht. Mit den hier veröffentlichten Gedichten wetteifernd, sandte er heimlich Proben seiner eigenen Lyrik an den vermeintlichen Herausgeber Kästner, dann, besser belehrt, an Boie in Göttingen und fand an beiden nicht nur wohlwollende Berather seiner poetischen Bestrebungen, sondern hilfsbereite Freunde, die ihm den Weg zur Erfüllung seines Herzenswunsches ebneten: im April 1772 konnte er zum Studium der (nach Jahresfrist endgültig aufgegebenen) Theologie und namentlich der Philologie nach Göttingen übersiedeln.

Sein hauptsächlicher Lehrer war Heyne, dem er in den ersten Jahren begeistert anhing, bis ästhetische und schließlich auch rein persönliche Gegensätze zur schroffen Trennung der beiden führten. Aber neben dem Griechischen und Lateinischen wandte sich V. alsbald auch mehreren modernen fremden Sprachen zu, zum guten Theile hier von Boie angeleitet, der, wo er irgend konnte, mit väterlicher Treue für seinen Schützling sorgte. Wo seine Unterstützung und Vossens Ankershagener Ersparnisse nicht ausreichten, mußten Privatstunden, bezahlte Gelegenheitsgedichte und zuletzt Uebersetzungen aus dem Französischen und Englischen nachhelfen. Was er aus griechischen und römischen Dichtern damals metrisch übertrug, blieb fast durchweg vorerst ungedruckt, obgleich darin viel bedeutendere Keime einer künftigen künstlerischen Entwicklung lagen als in jenen prosaischen Lohnarbeiten. Die gedeihlichste Pflege fanden solche Keime in einem Freundschaftsbund poetisch strebender Jünglinge, der sich schon vor Vossens Ankunft in Göttingen um Boie geschart hatte. Zu ihm gehörten Bürger, nunmehr bereits seit einigen Wochen in Gelliehausen, Hölty, Miller und noch einige Genossen; ziemlich gleichzeitig mit V. oder bald nach ihm traten unter andern Johann Friedrich Hahn, Karl Friedrich Cramer, die beiden Grafen Stolberg, im Juli 1774 Leisewitz dem Verein bei. Eine strengere Verfassung erhielt dieser, nunmehr der Bund oder der Hain genannt, im September 1772. Im Sinne Klopstock’s, der ihnen als leidenschaftlich verehrtes Vorbild galt, verbanden sich die Genossen feierlich zur Pflege der Freundschaft und einer national gearteten, Vaterland, Freiheit und Tugend verherrlichenden Poesie, legten sich Bardennamen bei und veranstalteten regelmäßige Sitzungen, über die ein Bundesjournal berichtete, während die von allen Theilnehmern gebilligten Gedichte in das Bundesbuch eingetragen wurden. V. wurde durch das Loos zum Aeltesten gewählt; er führte den Bundesnamen Gottschalck, später hieß er Sangrich. Aeußerlich wurde zwar noch immer Boie als Chorführer Werdomar geehrt; in [336] der That aber wurde statt seiner nun mehr und mehr V. tonangebend. Er übertrug den strengen sittlichen Ernst seines eigenen Charakters auf den „Bund“; der Kampf gegen den französischen Geschmack und gegen Weichlichkeit und Frivolität in der Poesie, den Hahn’s Feuergeist schürte, wurde so mit dem Klopstockscult eine Haupttendenz der dichtenden Freunde. Der Göttinger Musenalmanach, bisher ein Sammelplatz der verschiedensten Schulen, zeigte nun die Bundesbrüder mit Goethe und einigen anderen Stürmern um Klopstock geschart; Wieland und wer sonst unter den deutschen Dichtern sich in antiklopstockischen Richtungen bewegte, blieb ausgeschlossen. Vossens eigene Poesie wandelte nunmehr völlig in Klopstock’s Bahnen. Neben verhältnißmäßig wenigen gereimten Liedern (darunter tändelnde Nachbildungen des altdeutschen Minnesangs) verfaßte er zahlreiche Oden und Elegien in antiken, zum Theil unmittelbar von Horaz gelernten Versmaßen, sowol in Sprache und Stil als in Gedanken und Empfindungen, dichterischen Motiven und sittlichen Tendenzen Zeugnisse seiner unbedingten Hingabe an das Muster des überschwänglich verehrten Meisters.

Auch der „künftigen Geliebten“ galten mehrere Gesänge. Seit dem Mai 1773 wechselte V. mit Boie’s jüngster Schwester Marie Christine Ernestine (geboren zu Meldorf in Dithmarschen am 31. Januar 1756, seit ihrem zweiten Lebensjahre in Flensburg aufgewachsen, wohin ihr Vater als Geistlicher versetzt wurde) zuerst scherzhaft spielende, bald aber wärmer und ernster gehaltene Briefe. Klopstock und sie von Angesicht kennen zu lernen, reiste er im Frühling 1774 nach Hamburg und Flensburg. So hoch seine Erwartung gespannt war, er fand doch noch mehr, als er hoffte. In Hamburg, wo er auch mit Philipp Emanuel Bach, Bode, Dusch, Claudius, Ebeling bekannt und in die Freimaurerloge aufgenommen wurde, kam ihm auf der Hin- und Rückreise Klopstock mit bestrickender Liebenswürdigkeit und ehrendem Vertrauen entgegen. Bei ihm und mit ihm verbrachte V. die meisten Stunden des Tages; auch wurde schon der Gedanke ernstlich erwogen, den jüngeren Dichter dauernd in der Nähe des älteren zu fesseln. In Flensburg aber, wo der heftige, gefährliche Ausbruch eines Brustleidens V. auf das Krankenlager warf und wider Vermuthen lang in der Pflege der Familie Boie zurückhielt, erstarkte die Liebe zwischen ihm und Ernestine bald so sehr, daß beide auch ohne förmliche Verlobung sich an einander gebunden fühlten. Als V. nach dreimonatlicher Abwesenheit nach Göttingen zurückkehrte, durch seine langsame Reconvalescenz zur äußersten Schonung gezwungen, seit dem Herbste, da verschiedene Bundesbrüder die Universität verließen, mehr und mehr in der ihm nun verleideten Musenstadt vereinsamend, waren seine weiteren Studien wie überhaupt sein und seiner nächsten Freunde Streben vornehmlich darauf gerichtet, daß der bis dahin ganz Mittellose schleunigst eine Stellung finde, die nicht nur ihm selbst den nöthigen Lebensunterhalt verschaffe, sondern ihm auch bald die Begründung eines eigenen Hausstandes ermögliche. Den ersten Grund zu einer solchen gesicherten Existenz legte Boie, indem er dem Freunde den Musenalmanach, den er bis zum Jahrgang 1775 herausgegeben hatte, großmüthig überließ. Um mehr damit zu verdienen, wollte V. ihn im Selbstverlag erscheinen lassen, und zwar von Wandsbeck aus, wohin ihn unter anderm die Nachbarschaft von Claudius und die Nähe Klopstock’s lockte, dessen zweimaliger Besuch Göttingens (im September 1774 und im April 1775) die Begeisterung der Bundesbrüder zur hellsten Flamme entloht hatte. Noch im April 1775 folgte ihm V. in die neue Heimath, wo neben ihm noch einige Wochen lang auch Miller und das Stolbergische Brüderpaar die Göttinger Bundestage erneuerten. Als sie geschieden waren, bildete der in der Hauptsache vom vorigen Jahre ihm schon bekannte Hamburger Kreis, besonders aber das trauliche Haus des „Wandsbecker Boten“ seine Freundeswelt. Auch Hölty und [337] andere Studienfreunde kehrten gelegentlich darin ein. Er selbst verließ Wandsbeck zu verschiedenen kleinen Reisen; namentlich suchte er im Sommer 1775 die Eltern und Brückner in Mecklenburg auf, wo er sich – doch vergeblich – um das erledigte Schulrectorat von Neubrandenburg bewarb, und verweilte wiederholt, besonders im Frühling 1776, längere Zeit in Flensburg bei Ernestine. Bis er die Geliebte heimführen konnte, vergingen noch manche, zum Theil traurige und aufregende Monate. Vater Boie starb am 11. April 1776, Vossens Bemühungen um eine feste Anstellung in einem Lehramte schlugen alle fehl, und von seiner Absicht, auf den allerdings von Jahr zu Jahr steigenden Ertrag des Musenalmanachs zu heirathen, wollte trotz allem Zureden der Freunde Ernestinens Mutter lange nichts wissen. Endlich schien seine Zukunft genügend gesichert zu sein, zumal, nachdem er Goeckingk, der bisher einen Concurrenzalmanach leitete, in die Redaction seines Almanachs gezogen hatte und überdies von Fritz Stolberg mit dem Honorar, das dessen Uebersetzung der „Ilias“ abwarf, beschenkt worden war. Mit harter Consequenz rang er nun der Mutter seiner Braut ihre Einwilligung ab: am 15. Juli 1777 fand zu Flensburg die Hochzeit statt. Das junge Paar reiste bald darauf über Kiel nach Wandsbeck, um sich hier gemüthlich einzuleben, kehrte aber noch im Spätsommer bei den Eltern und Freunden in Mecklenburg auf mehrere Wochen ein.

Glücklich in aller Einfachheit wie eine ländliche Idylle begann Vossens eheliches Leben in Wandsbeck; strenge Arbeit wechselte mit bescheidenen Genüssen, die ein Gang in die freie Natur und der Verkehr mit den nachbarlichen Freunden bot. Das reichste Glück fühlten die beiden Gatten aber jetzt und ihr Leben lang in ihrer gegenseitigen Liebe und im Kreise der Kinder, die Ernestine ihrem Mann schenkte, fünf Söhne, von denen ihnen der älteste jedoch schon im Alter von vier Jahren wieder entrissen wurde. Desto besser gediehen die andern und lohnten die Sorgen und Mühen der Eltern. Arbeit und Sorgen aber gab es namentlich in den ersten Jahren die Fülle. Neben den Redactionsgeschäften für den Almanach ging die schon in Göttingen begonnene Uebersetzerthätigkeit rüstig einher. Im „Deutschen Museum“ veröffentlichte V. 1776 Platon’s „Apologie des Sokrates“, 1777 Pindar’s erste pythische Ode in deutscher Wiedergabe, beides mit kritisch-polemischen Anmerkungen, die sich zum Theil – doch in würdiger Form – gegen Heyne richteten; 1778 folgte in derselben Zeitschrift ein Aufsatz über einen Chorgesang des „Oedipus auf Kolonos“. Namentlich aber gehörten die Jahre 1777–79 der Arbeit an der deutschen „Odyssee“. Klopstock’s Rath, Bürger’s und Stolberg’s Vorgang mit der Uebersetzung der „Ilias“ reiften in V., der schon 1775 bei der Uebertragung von Blackwell’s „Untersuchung über Homer’s Leben und Schriften“ aus dem Englischen die eingestreuten griechischen Verse in Hexametern wiedergegeben hatte, den Gedanken, trotz aller Schwierigkeiten und Bedenken, die selbst Stolberg dagegen geltend machte, die ganze „Odyssee“ getreu im Sinn, Ton, Wort und Vers zu verdeutschen. Mit gewissenhaftester Gründlichkeit griff er seine Aufgabe an; philologisch genau nach allen Seiten hin und bis in die kleinsten Einzelheiten hinein suchte er sich des Stoffes zu bemächtigen, an dem er seine künstlerischen Kräfte maß. Die wissenschaftlichen Hülfsmittel freilich, die ihm zu Gebote standen, waren dürftig genug; dennoch trug er unermüdlich Sach- und Worterklärungen, auch ausführliche Excurse über Homerische Geographie, über Alterthümer des religiösen, politischen und privaten Lebens der Griechen zu einem allumfassenden, bald populär gehaltenen, bald gelehrte Specialforschung bekundenden Commentar zur „Odyssee“ zusammen. Doch stellten sich nicht genug Subscribenten ein, um die Druckkosten des theuern, umfangreichen Werkes zu decken, und so wurden [338] nur einzelne Proben aus dem Commentar in Zeitschriften mitgetheilt. Hand in Hand mit solcher eindringenden wissenschaftlichen Erkenntniß ging die innige Liebe zu dem ewigen Gedichte mit seinem traulich-natürlichen Tone und seinen idyllischen Scenen einfacher Häuslichkeit, deren Zauber V. gerade in diesen ersten Jahren seines eigenen häuslichen Glückes doppelt und dreifach empfand, und die an Klopstock’s Metrik und Dichtersprache geschulte künstlerische Kraft des Uebersetzers, dessen ernstem Ringen und beständigem Feilen es zuletzt herrlich gelang, im engen Anschluß an den sprachlichen und rhythmischen Ausdruck des Originals und doch ohne jeden pedantischen Zwang die ganze Schlichtheit, Herzlichkeit und natürliche Schönheit des alten Griechen deutsch wiederzugeben. So allen früheren Verdeutschungen, aber auch den gleichzeitigen rivalisirenden Versuchen von Bodmer, Bürger, Stolberg weit überlegen und als Ganzes von keiner späteren Uebertragung Homer’s erreicht oder gar übertroffen, erschien das Meisterstück der Vossischen Uebersetzungskunst, nachdem seit 1777 das „Deutsche Museum“, der Musenalmanach und Wieland’s „Deutscher Mercur“ vielversprechende Proben davon gebracht hatten, endlich im December 1781 zu Hamburg auf Subscription, sogleich und immer wieder hernach von den berufensten Kennern mit hellem Lobe begrüßt. Nur seine schrullenhafte Schreibung griechischer Eigennamen (Odüssee, Athänä u. dgl.) rief den lauten Widerspruch Heyne’s und Lichtenberg’s heraus. In dem unerquicklichen Streite gegen die beiden ihm früher wohlgesinnten Männer vergaß V., der sich auch in andern kritischen Kämpfen jener Jahre durch plumpe Grobheit hervorthat, leider völlig den Dank, den er Heyne für manche persönliche und litterarische Förderung schuldete; seine und Lichtenberg’s Maßlosigkeit zerstörte das ehemalige Verhältniß für immer.

In einem inneren Zusammenhang mit der Verdeutschung der „Odyssee“ stand neben der kritischen Arbeit an dem neu entdeckten Homerischen Hymnos an Demeter, durch die er sich den Dank und das ehrende Lob Ruhnken’s erwarb, die Idyllendichtung, die V. schon in der letzten Göttinger Zeit und besonders während des folgenden Jahrzehntes pflegte. Von den verwandten Versuchen Brückner’s und deren Vorbild Klopstock, auch von Geßner und Ossian ging er dabei zuerst aus; aber weit entfernt, eine nur poetische, unwirkliche Welt zu schildern, verwerthete er von Anfang an Züge aus seinem eigenen Leben und aus der norddeutsch-bäuerlichen Welt, in der er von Kind auf heimisch war. Dieses realistische Bestreben trat von Idylle zu Idylle stärker hervor; sogar die plattdeutsche Mundart, die V. freilich mit einer gewissen Freiheit behandelte, fand Eingang in einige charakteristische, farbenreiche Genrebilder aus dem Vierländer Bauernleben. Damit mehrte sich auch zusehends der Einfluß Theokrit’s und zuletzt Homer’s und drängte die frühere Klopstockisch-Geßner’sche Strömung allmählich ganz beiseite. Doch auch satirische Tendenzen des Dichters griffen immer mehr und bisweilen über Gebühr um sich. V. rückte namentlich in den späteren Idyllen sowie in späteren Umgestaltungen der früheren Versuche seine demokratisch-rationalistische Gesinnung mehr in den Mittelpunkt der Dichtung; sein Eifern gegen kirchliche Unduldsamkeit, Aberglauben, Geldgier, üppige Schwelgerei, junkerlichen Uebermuth wurde absichtlicher und richtete sich selbst gegen bestimmte Persönlichkeiten wie den Teufelsbanner Gaßner und schließlich gegen Einrichtungen und Anschauungen des Katholicismus überhaupt. Durch lebensvolle Charakteristik und sorgfältig-treue Detailmalerei zeichnen sich ziemlich alle Idyllen von V. aus; den meisten fehlt es auch nicht an munterer Bewegung, an einer Art von äußerer oder innerer Handlung, und in den besten ist mit besonderer Meisterschaft der Ausdruck der jeweiligen Stimmung getroffen. Im allgemeinen liebt V. die dialogische Form sowie die gelegentliche Unterbrechung der Hexameter – nur eine Idylle ist in reimlosen Jamben abgefaßt – [339] durch ein gereimtes Lied, das eine der plaudernden Personen der andern vorsingt. Nur in den Idyllen, die den höchsten Gipfel Vossischer Poesie bezeichnen, waltet die reine epische Form, so namentlich im „Siebzigsten Geburtstag“ (1780) und in den drei Idyllen, die zuerst einzeln 1783 und 1784 im „Musenalmanach“ und im „Deutschen Mercur“, dann 1795 auf Gleim’s Rath vereinigt und zum ländlich-bürgerlichen Epos erweitert unter dem Titel „Luise“ erschienen. V. malte hier mit Homerischer Breite, wobei auch das Kleinste nicht als unwichtig galt, zugleich mit dem behaglichen Pathos des Dichters der Odyssee mehrere unter einander lose zusammenhängende Scenen aus dem Familienleben eines norddeutschen Dorfpfarrers, darin lauter fertige Verhältnisse und Charaktere, die mehr typisch als individuell gehalten waren und eine weitere Entwicklung kaum mehr zuließen. Das demgemäß handlungsarme, überdies durch den doctrinären Vortrag rationalistischer Tendenzen unpoetisch beschwerte, allerlei Aufklärung und religiöse Toleranz lehrende Halbepos verdankte seinen unleugbaren Reiz der gemüthvollen, realistisch getreuen und dennoch die gemeine Wirklichkeit liebevoll verklärenden Einzelschilderung, die vielfach an eigne Erlebnisse des Dichters anknüpfte, sowie der glücklichen Wahl des Locals, des ländlichen Pfarrhauses, welches nach Sitten und Bildung seiner Bewohner in schöner Mitte zwischen Dorf und Stadt steht, bei hoher Geistescultur doch auch stets in nächster Berührung mit der bäuerlich einfachen Natur. Die ursprüngliche Absicht, noch mehr Scenen aus Luisens Leben zu besonderen Idyllen auszugestalten, gab V. auf, zog aber dafür in den späteren Ausgaben seines Gedichtes (besonders 1795, 1802, 1807, 1811, 1823) die Darstellung immer mehr in die Breite, sparte auch tendenziöse Einschiebsel nicht und suchte eifrig Ton und Charakter des Werkes dem der Homerischen Epen in zahlreichen Aeußerlichkeiten zu nähern – nicht zum Vortheil der bescheiden angelegten Dichtung, die dabei das einfache Gepräge des Idylls allmählich einbüßte.

Doch all dies reicht nur mit seinen ersten Anfängen in die Wandsbecker Jahre zurück. Im October 1778 war V. als neu erwählter Rector in das Städtchen Otterndorf im Lande Hadeln (bei Cuxhaven) eingezogen. In einfach beschränkten Lebensverhältnissen bei geringen Einkünften, die aber trotz der sich mehrenden Familie – auch seine Mutter wohnte bis zu ihrem Tode (1798) bei ihm – eben ausreichten, fühlte V. sich hier wohl im Kreise seiner biedern, Freiheit und Gemeinsinn liebenden Mitbürger, von denen ihn auch ein Ruf an das Gymnasium zu Hannover nicht wegzulocken vermochte. Freilich lagen klimatische Unannehmlichkeiten und die geistige Dürftigkeit des Umgangs schwer auf seiner Seele, und kleine alljährliche Ausflüge, besonders nach Hamburg, konnten ihn für diese Entbehrungen nur schwach entschädigen. Aber wirkliche Freude gewährte ihm seine hingebungsvolle, erfolgreiche Thätigkeit für die Schule, in der er erst den echten philologischen Geist erweckte und pflegte; von ihr trennte er sich schwer, als 1782 Fritz Stolberg seine Berufung an das Rectorat der Eutiner Schule veranlaßte. Seit dem September 1781 war V. nebst den Seinen wiederholt vom Marschfieber heimgesucht worden; so gab er dem Drängen des Freundes bald nach und wandte sich im Juli 1782 voll fröhlicher Hoffnung der neuen holsteinischen Heimath zu.

Die ersten Monate in der kleinen, anmuthig gelegenen Ackerstadt, die mit ihrem ländlich-einfachen Charakter zeitweise den höfischen Glanz einer halb geistlichen, halb weltlichen Residenz vereinigte, brachten für V. und seine Familie manche Unbehaglichkeit, ja selbst häusliche Noth, Krankheit und den Tod seines ältesten Kindes. Recht wohl wurde es ihm in Eutin erst, als ihm 1784 ein Rectorshaus nach seinem Geschmack eingerichtet wurde. Nun bereute er es nicht mehr, 1782 einen Ruf an die Universität Halle abgelehnt zu haben, und ließ [340] sich auch in den folgenden Jahren durch lockendere Anerbietungen von Rectoratsstellen oder Professuren zu Halberstadt, Altona, Breslau, Kiel nicht von Eutin wegziehen. 1786 erhielt er den Hofrathstitel; bald darnach bewilligte ihm die Regierung auch einige Erleichterungen im Schulamt, in dem er seine philologische Gediegenheit, seine innige, fast einseitige Liebe zu den antik-classischen Studien bewährte und sich zugleich liebevoll-vertraulich ohne alle Pedanterie in die geistige und gemüthliche Eigenart seiner Schüler einzuleben verstand. Kleine Reisen in die Nähe unterbrachen öfters den Eutiner Aufenthalt. Weiter in die Ferne wagte er sich erst wieder im Frühling 1794, als er mit seinem Sohne Heinrich Braunschweig, Halberstadt, Weimar und Halle besuchte; er knüpfte dabei mit Gleim, Goethe und Friedrich August Wolf dauernde, mit Wieland und Herder bald wieder gelöste Bande persönlicher Freundschaft. Wieder suchte er im Frühling 1796 Halberstadt und Halle auf, jetzt in Ernestinens Begleitung. Dann, nachdem ihn im December eine Gehirnentzündung an den Rand des Grabes gebracht hatte, unternahm der Frohgenesene mit seiner getreuen Pflegerin vom Mai bis August 1797 eine längere Reise zu den alten Freunden in Mecklenburg, Berlin, Halle und Halberstadt; dieselben Orte suchte er auch im Sommer 1799 wieder auf. Mehr freilich war V., zumal in dem ersten Eutiner Jahrzehnt, darauf angewiesen, daß die auswärtigen Freunde als Gäste bei ihm einkehrten. So besuchten ihn wiederholt Klopstock und Claudius, obgleich die alte Herzlichkeit und Verehrung für sie in Vossens Seele allmählich erlosch, Boie, der Capellmeister Abraham Schulz, der zahlreiche Lieder von V. zur vollsten Zufriedenheit des Dichters in Musik setzte und auch menschlich ihm bald näher trat als alle seine früheren Freunde, Jens Baggesen, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Heinrich Jacobi, der 1797 für mehrere Jahre vollständig nach Eutin übersiedelte, und andere. Am längsten lebte Fritz Stolberg mit ihm in Eutin zusammen, zuerst in der alten brüderlichen Innigkeit und Eintracht, die besonders durch Stolberg’s erste Gemahlin Agnes in liebevollster, anmuthigster Weise erhalten und gefestigt wurde. Religiöse und ästhetische Gegensätze der beiden grundverschiedenen Naturen führten zwar dann und wann zu persönlichen Verstimmungen; doch drangen Agnes sowol als ihr Gatte stets wieder auf baldige Versöhnung, die Vossens unnachgiebige Schroffheit nicht immer leicht machte. Nach Agnesens Tode jedoch (1789) und Stolberg’s zweiter Heirath entfremdeten sich die beiden ehemaligen Freunde immer mehr. Hatte sich früher hauptsächlich nur Vossens gewissenhaftes Bilden und sorgfältiges Feilen an poetischen Arbeiten nicht mit Stolberg’s improvisatorischem, formal sorglosem Schaffen vertragen – ein Gegensatz, der namentlich bei ihren wetteifernden Versuchen einer Iliasübersetzung bedenklich zu Tage trat, so stieß jetzt noch mehr Stolberg’s leidenschaftliche Verurtheilung der französischen Revolution und seine zunehmende Hinneigung zum Katholicismus den Freund ab. Sein öffentlicher Uebertritt zur römischen Kirche (Pfingsten 1800), dem bald sein endgültiger Abschied von Eutin folgte, trennte ihn für immer von V., der den Convertiten nicht mehr sehen und sprechen wollte. Aber auch ihm war nun die Stätte langjähriger Erinnerungen verödet, die Freude an Haus und Amt in Eutin verleidet. 1802 erbat und erhielt er nach mancherlei Bedenken vom Fürstbischof seine Entlassung mit 600 Thalern Pension, die er in einer wohlfeilen sächsischen Stadt verzehren wollte. Im September 1802 zog er mit den Seinen nach schwerem Abschied über Braunschweig und Halberstadt, wo er bei dem alten, bereits erblindeten Gleim zum letzten Male gastliche Aufnahme fand, nach Jena zu seinen beiden ältesten Söhnen, die hier seit Jahresfrist studirten.

Fast gleichzeitig mit seiner Wirksamkeit im Lehramte ging auch seine dichterische [341] Thätigkeit zu Ende, die er gerade in Eutin emsig und ergiebig betrieben hatte. Abgesehen von dem Hauptwerke „Luise“, das sich auch durch seine Localfärbung als richtiges Eutiner Gewächs erwies, hatte er namentlich für seinen Musenalmanach, den er, zuweilen unter schwerer Mühe, bis 1788 gemeinsam mit Goeckingk, dann bis 1800 allein herausgab und zu einem friedlichen Sammelplatze vieler Dichter (freilich fast nur zweiten oder dritten Ranges) machte, Jahr für Jahr manches Gedicht verfaßt. Schon 1785 gab er auch den mit allgemeinem Beifall begrüßten ersten Band einer Sammlung seiner Gedichte heraus, die älteren Versuche darin stark verändert, metrisch verbessert, aber oft auch über Gebühr in die Breite gezogen; ein zweiter Band, dessen Aufnahme viel lauer war, erschien erst 1795. In neuer, gründlicher Ueberarbeitung, wobei V. es auch an sprachlichen und sachlichen Anmerkungen nicht fehlen ließ, stellte er 1802 seine sämmtlichen Gedichte in sechs Bänden ans Licht; 1825 folgte in vier Bänden eine „Auswahl letzter Hand“. Neben den Idyllen und den im Inhalt ihnen verwandten, nur durch den subjectiv-lyrischen Ton von ihnen unterschiedenen Elegien enthielten diese Sammlungen vorwiegend antikisirende Oden, deren künstliches Pathos deutlich den bis auf Vossens späteste Versuche sich erstreckenden formalen Einfluß Klopstock’s und Ramler’s bekundete, und gereimte Lieder, deren Anzahl gerade während der letzten Eutiner Jahre um des Musenalmanachs willen rasch zunahm. Wirkliche Ergüsse eigener Empfindung waren darunter, zumal in der späteren Eutiner Periode, selten. Häufiger verfaßte V. schildernde Lieder aus fremden Rollen heraus, an allerlei häusliche oder ländliche Situationen anknüpfend, und besang so mit lebhafter Frische und Unmittelbarkeit die wechselnden Arbeiten der Bauern und Bäuerinnen, Essen und Trinken, Tanz und Freundesgeplauder, Morgen und Abend und was in der Familie und im einfachsten Berufsleben zwischen Morgen und Abend und zwischen Frühling und Winter vorgeht. In gewissem Sinne bot er auch hier kleine lyrische Idyllen, realistische Bilder aus der liebevoll im Einzelnen gemalten ländlichen Natur und aus dem Leben in und mit ihr. Dabei schlug er möglichst kräftige, volksthümlich derbe Töne an und wählte mit Vorliebe mundartliche Specialausdrücke für die mannichfachen Geschäfte des Landmanns, eigenartige bildliche Wendungen und sprichwörtliche Redensarten aus dem Sprachschatze der mittleren und niederen Stände. Seine Poesie nahm sehr oft einen hausbacken-nüchternen Charakter an, mit dem sich ja eine etwas steife Lustigkeit und plumper Humor unter Umständen recht wohl vertrug. Einen höheren idealistischen Flug verschmähte sie fast durchweg, obgleich die philosophischen, religiösen und allgemein sittlichen Betrachtungen, die V. liebte, mitunter dazu hätten reizen können. Allein er drängte den Lesern stets gar zu lehrhaft seine aufklärerisch gegen Pfaffentrug, Heuchelei und Schwärmerei gerichteten Tendenzen auf; bis zum Ueberdruß doctrinär predigte er einfachen Gottesglauben ohne dogmatische Verkünstelung, Toleranz und reine Humanität, vertheidigte Wahrheit, Recht und Freiheit, feierte namentlich aber die Vernunft als „Heiligthum der Ewigkeit“. Meistens einfach in der Form dieser gereimten Lieder, probirte V. doch bisweilen auch hier sprachliche und metrische Kunststücke, die seinen Gedichten nur schaden konnten, mochten sie auch äußerlich noch so überraschend gelingen. Unbedeutender, wenn gleich manchmal durch scharfen, schlagfertigen Witz ausgezeichnet, reihten sich den Oden und Liedern von V. einige längere satirische Gedichte (gegen das übermüthige Landjunkerthum, gegen unduldsames, lichtscheues Priesterwesen, später namentlich gegen die Formenspielerei und den Neukatholicismus der Romantiker), eine lustige Schelmenromanze nach dem Französischen, freie Nachbildungen von Milton’s „Allegro“ und „Penseroso“ und zahlreiche, oft von [342] älteren Mustern abhängige Epigramme, bald in Reimen, bald in Hexametern und Pentametern, an.

Neben der selbständigen dichterischen Production ging die Uebersetzerthätigkeit und die wissenschaftlich-philologische Arbeit rüstig einher. Auf die deutsche Odyssee folgte eine schon in Otterndorf begonnene, ziemlich freie Uebertragung der Märchen von tausend und einer Nacht aus dem Französischen des Anton Galland (1781–85, 6 Bde.). Ernster nahm es V. mit Virgil’s Lehrgedicht vom Landbau. Die Arbeit, lateinische Textausgabe, Uebersetzung und Commentar, zog sich durch volle neun Jahre; Proben daraus brachte besonders das „Deutsche Museum“ seit 1783. Als endlich 1789 das fertige Werk erschien, zeigte die Verdeutschung bereits die metrisch-sprachliche Virtuosität des Uebersetzers, unter deren äußerlicher Künstlichkeit die lebensvolle künstlerische Anmuth und Leichtigkeit der Darstellung fast erstickt wurde. Die pedantische Strenge im Bau des deutschen Hexameters, die V. nunmehr zum Princip erhob und in der für seine metrischen Grundsätze überhaupt wichtigen Vorrede vertheidigte, und die Genauigkeit in der sprachlichen Nachbildung des Originals machte schon hier, noch mehr in seinen spätern ähnlichen Versuchen, seine Uebertragung sehr oft steif und stellenweise undeutsch. Der Commentar, theils populär, theils fachmännisch gelehrt gehalten, ausgezeichnet durch die Selbständigkeit und sachliche Gründlichkeit, mit der V. besonders die verschiedenartigen Realien in dem römischen Gedichte erläuterte, wurde bei der letzten Umarbeitung noch mit allerlei Spitzen gegen Heyne versehen und fand darum bei der Kritik eine ziemlich kühle Aufnahme, gegen die sich der gekränkte Verfasser 1791 in der scharfen Streitschrift „Ueber des Virgilischen Landgedichts Ton und Auslegung“ mit der ganzen rücksichtslos derben Entschiedenheit seiner Natur verwahrte.

Die hier zuerst erprobte Strenge des Versbaus überhaupt und der metrisch-sprachlichen Nachbildung des Originals im einzelnen ließ V. nunmehr in allen seinen Uebersetzungen, und zwar von Jahr zu Jahr nachdrücklicher und pedantischer, walten. So erschien 1793 nach langjähriger gewissenhaftester Arbeit der ganze Homer in deutschem Gewande, die Ilias zum ersten Mal, die Odyssee durchweg verändert und mehrfach überarbeitet – nicht zur vollen Befriedigung des künstlerisch urtheilenden deutschen Publicums, dessen berufenste Vertreter, wie Wieland, Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm v. Humboldt, A. W. Schlegel, Gottfried Hermann, sämmtlich den Text von 1781 der neuen Fassung vorzogen, ohne jedoch V. zum Stillstand oder gar zur Umkehr auf dem einmal betretenen Wege zu vermögen: die folgenden, regelmäßig aufs neue verbesserten Gesammtausgaben des Homer von 1801, 1806, 1814 und 1821 wurden immer genauer dem griechischen Wortlaut angeschlossen, immer correcter im Versmaß. Ebenso ging es bei der Umarbeitung der „Georgica“, mit der sich die schon 1790 begonnene, zuerst langsam fortschreitende Uebersetzung der übrigen Werke Virgil’s verband (1799 im Druck vollendet, dabei der Commentar ungemein vermehrt und auch auf die „Eklogen“ ausgedehnt), ferner bei Ovid’s „Verwandlungen“ (1798 in zwei Bänden abgeschlossen) und andern Uebertragungsproben aus Theokrit, Tibull, Hesiod und besonders Horaz, die zunächst in Zeitschriften mitgetheilt wurden; vollständig erschienen die Oden und Epoden, Satiren und Episteln des Horaz (die letzteren gar zu fabrikmäßig-schnell übersetzt) in deutscher Sprache erst 1806, im nämlichen Jahre Hesiod und Orpheus der Argonaut, 1808 Theokrit, Bion und Moschos, 1810 Tibull und Lygdamus mit erklärenden und textkritischen Anmerkungen, die den Uebersetzer 1811 auch zu zwei nach Handschriften berichtigten Ausgaben des lateinischen Originals führten.

Im engen Zusammenhange mit diesen Uebersetzungen standen Vossens größere wissenschaftliche Werke. So erwuchsen ihm aus seinen Homerischen Studien [343] einzelne historisch-kritische, für die künftige Forschung grundlegende Untersuchungen über die geographischen Anschauungen des Alterthums und besonders die „Mythologischen Briefe“ (1794 in 2 Bänden), im vergröberten Stil der „Antiquarischen Briefe“ Lessing’s gegen Heyne und dessen Schüler Martin Gottfried Herrmann gerichtet. Im einzelnen sehr kenntnißreich, gründlich und gewissenhaft ausgearbeitet, durch gelegentliche Abschweifungen auf das Gebiet der griechischen Privat- und Sacralalterthümer unterbrochen, brachte das Werk zwar keineswegs durchaus fehlerfreie oder abschließende Ergebnisse, förderte aber die mythologische Forschung ungemein durch die kritische Nüchternheit, mit der V. sein Thema behandelte, immer auf scharfe Sonderung der verschiedenen Zeiten und Entwicklungsperioden bedacht. Den auch in den folgenden Jahren von beiden Seiten gelegentlich weitergeführten Krieg mit Heyne schloß im Mai 1783 die Riesenrecension der Heyne’schen „Ilias“ in der „Allgemeinen Litteraturzeitung“, die V. gemeinsam mit F. A. Wolf und Eichhorn verfaßte, doch so, daß er den größten Beitrag lieferte und am rückhaltlosesten zum Vernichtungsschlage gegen das wissenschaftliche Ansehen seines ehemaligen Lehrers ausholte.

Die Arbeit fiel in die ersten Monate seines Aufenthaltes zu Jena, wo es ihm trotz der Anmuth der Gegend und trotz der Freundschaft des rationalistischen Theologen Griesbach und anderer (namentlich philologischer) Professoren der Hochschule nicht recht behaglich werden wollte. Auch war er in seiner geistigen Entwicklung schon allzu sehr abgeschlossen, um von dem persönlich herzlichen Verkehr mit Schiller und besonders mit Goethe den rechten Gewinn zu ziehen. So kräftig sich daher auch Goethe bemühte, ihn in seiner Nähe zu halten – er bot ihm das Directorium des Weimarer Gymnasiums, dann die Leitung des gesammten höheren Schulwesens im Lande an, nahm sich in jeder Weise seines ältesten Sohnes an und ehrte endlich auch den Dichter V. durch eine große, liebevoll eindringende Besprechung seiner gesammelten lyrischen Versuche –, doch strebte V. von Jena weg. Zwar folgte er einem dreimaligen Rufe, durch den man ihn und seinen Sohn Heinrich unter glänzenden Bedingungen für die neu zu organisirende Universität Würzburg gewinnen wollte, schließlich doch nicht, obgleich er sich im August 1804 auf einer Reise nach Ulm zu dem ehemaligen Bundesbruder Miller schon bereit erklärt hatte, die Oberleitung des philologischen Seminars in Würzburg anzunehmen. Auf der Rückreise im October, nachdem er Württemberg und Baden besucht und namentlich Heidelberg mit entzückten Augen gesehen hatte, nahm er seine Zusage wieder zurück. Aber als ihm im Frühling darauf die badische Regierung 1000 Gulden Jahresgehalt bot, wenn er seinen Wohnsitz nach Heidelberg verlege, widerstand er zu Goethe’s bitterem Schmerze der Lockung nicht. Im Juli 1805 verließ er Jena und siedelte zu dauerndem Aufenthalte an die badische Hochschule über, an der er zwar keine Vorlesungen hielt, in deren von Grund aus sich neu gestaltende Verhältnisse er aber durch gelegentlichen Rath und durch persönlichen Verkehr mit den Lehrern und Beamten der Universität eingriff. Doch raubte ihm seine principielle, maßlos heftige Befehdung der Romantik, deren Geist gerade in Heidelberg damals wehte und auch die dortige akademische Welt nicht unberührt ließ, bald allen Einfluß, ja fast alle näheren Beziehungen zur Hochschule. In mündlichen und brieflichen Aeußerungen, satirischen Gedichten, Zeitungsaufsätzen drückte er möglichst schroff und oft persönlich gehässig seinen Widerwillen gegen die dichterischen Formen und namentlich gegen die katholisirenden Tendenzen der Romantiker aus, die es von ihrer Seite auch nicht an verletzenden Angriffen auf den älteren Dichter fehlen ließen. Wachsende Verstimmung und Abgeschlossenheit des letzteren in seiner idyllisch angelegten und gepflegten Häuslichkeit war die Folge. Sein Verkehr mit den Studenten, die großentheils in die neue Richtung einlenkten, [344] ermattete nach und nach; von den Professoren in Heidelberg standen dem Alternden nur mehr wenige, darunter der Historiker Schlosser und vor allen der rationalistische Theologe Paulus, freundschaftlich nahe. Verhältnißmäßig spät ergriff auch ihn der freiheitlich-patriotische Drang der deutschen Jugend zum Kampf gegen Napoleon; dagegen hielt er nach der Neugestaltung der deutschen Verhältnisse wacker zu der Partei des badischen Liberalismus, erwärmte sich auch noch in seinen letzten Jahren lebhaft für die griechischen Freiheitskämpfer. Zahlreiche Gäste kehrten Jahr für Jahr in seinem Hause ein, nicht immer um befriedigt als Freunde daraus zu scheiden. Unter vielen andern besuchte Goethe, dessen Sohn in den Jahren 1808 und 1809 in Heidelberg studirt hatte, 1814 und 1815 V., der ihm freilich seit seinem Abschied von Jena geistig fremder und fremder geworden war, während Schiller’s Wittwe noch ganz in der ehemaligen Herzlichkeit 1810 bei V. weilte. Auch Baggesen, Griesbach, Jean Paul, Zelter, Barthold Niebuhr, auf dessen wissenschaftliche Entwicklung schon der Otterndorfer und Eutiner Rector bedeutenden Einfluß gewonnen hatte, und andere ältere oder jüngere Freunde stellten sich ein. Auch unternahm das Vossische Ehepaar noch gar manche Reise in die Nähe, nach Freiburg i. B., Colmar, Stuttgart zum Besuche Johann Georg Jacobi’s, Pfeffel’s, Cotta’s, nach Baden-Baden zum Curgebrauche, in die Rheinpfalz zur Weinlese. 1811 wurde der jüngste Sohn Abraham in Rudolstadt, wo er Gymnasiallehrer war, und bei dieser Gelegenheit auch Jena und Gotha wieder aufgesucht. 1817 reisten die Eltern über Göttingen, Braunschweig und Hamburg nach Eutin zu ihrem Sohne Wilhelm, der hier als Arzt wirkte, dann nach Lübeck zu dem alten Freunde Overbeck; hier wurden sie durch eine Erkrankung Ernestinens fünf Wochen lang festgehalten, dann kehrten sie über Braunschweig, Halle, Leipzig, Jena und Rudolstadt zurück. Noch einmal kehrten sie bei ihrem nunmehr an das Gymnasium von Kreuznach berufenen Sohn Abraham 1820 ein. Auch diesen Reisen verdankte V. manche unmittelbare Anregung zu litterarischen Arbeiten, die er, heimgekehrt in seine stille Gelehrtenstube, alsbald ausführte.

In Jena waren germanistische Studien ihm besonders nahe getreten, deren erste Anfänge freilich oft weit zurück in frühere Tage reichten. Er begann mit allem Eifer ausgedehnte Vorarbeiten für ein wissenschaftliches deutsches Wörterbuch; aus ihnen erwuchs zunächst die umfangreiche, allzu harte Kritik der zweiten Auflage von Adelung’s hochdeutschem Wörterbuch, die, verbunden mit der ehrenvollen Beurtheilung der „Grammatischen Gespräche“ Klopstock’s, 1804 in der Jenaer Litteraturzeitung mehrere Nummern füllte. Schneller als diese lexikalischen Forschungen veralteten die metrischen Untersuchungen, die V. 1802 in der „Zeitmessung der deutschen Sprache“ niederlegte (zweite, vermehrte Auflage 1831 mit dem Briefwechsel zwischen V. und Klopstock. Das sehr fleißig und gründlich ausgearbeitete, für seine Zeit vielfach werthvolle Buch ging von der namentlich auch durch Klopstock vertretenen falschen Voraussetzung aus, daß sich die Länge oder Kürze der Silben im Deutschen eben so genau bestimmen und metrisch verwerthen lasse wie in den antiken Sprachen. Daraus ergab sich im einzelnen eine fast beständige Verwechselung von Quantität und Qualität, von Zeitmaß und Tonmaß der deutschen Silben und im ganzen der Irrthum, daß die deutsche Sprache allein unter allen gebildeten neueren Sprachen durch bestimmtes Zeitmaß und mannigfaltige Bewegung die rhythmischen Künste der Alten in Rede und Poesie wieder aufwecken könne und solle: ein Irrthum, dessen nächste Folge, der formale Wettstreit deutscher Dichter mit den antiken Meistern, unserer Sprache nur heilsam war, sie zu stärken und geschmeidiger zu machen diente.

Dergleichen deutsche Sprach- und Versstudien standen in Heidelberg bald wieder still. Desto eifriger wandte sich V. zu seinen Uebersetzungen zurück. So [345] übertrug er bis 1812 als Nebenbuhler seines einstigen Bundesgenossen F. A. Wolf, dem ihn nunmehr allerlei ärgerliche, oft recht persönliche Reibereien entfremdeten und endlich verfeindeten, die in den nächsten Jahren noch einmal durchgefeilten und erst 1821 mit erläuternden Anmerkungen seines Sohnes Heinrich in drei Bänden gedruckten Lustspiele des Aristophanes, eine in sprachlicher und metrischer Hinsicht virtuose Leistung, die jedoch den eigenthümlichen künstlerischen Charakter des griechischen Dichters mit seinem genialisch-tollen Wechsel von Tönen und Farben nicht wiedergab. Noch vor dem Aristophanes verdeutschte V. 1811 den Properz (erst nach seinem Tode 1830 gedruckt); daran schlossen sich Uebersetzungen des Aratos und des Hymnus an Demeter, letztere schon 1815 vollendet, beide mit erläuterndem Commentar erst 1824 und 1826 veröffentlicht, und namentlich die Uebertragung von „Shakespeare’s Schauspielen“, die Vossens Söhne Heinrich und Abraham längst planten, zunächst als Ergänzung der Schlegel’schen Uebersetzung, die aber erst rechte Gestalt gewann, als sie 1814 ihren Vater zum Beitritt und zur Uebernahme gerade der Dramen bestimmt hatten, die bereits in Schlegel’s meisterlicher Nachdichtung vorlagen. Mit heftigem Eifer arbeitete sich V. in das seit Jahrzehnten ihm fremd gewordene Litteraturgebiet ein; sprachgrübelnd und buchstabengetreu, wie wenn er es mit einem altclassischen Epiker oder Lehrdichter zu thun hätte, aber unendlich schwerfällig und pedantisch-leblos, durch archaistische Wendungen und geschraubte Stellungen überall gehemmt, verdeutschte V. in dem 1818–1829 erscheinenden, neunbändigen Werke dreizehn Stücke, darunter einzelne jener Shakespearischen Lust- und Trauerspiele, die an den Uebersetzer die denkbar größten Ansprüche stellen. Künstlerisch unterlag dabei V. fast durchweg, wo er mit Schlegel um die Palme rang; auch beim deutschen Publicum konnte seine Uebertragung, für die keinerlei Bedürfniß vorlag, nur geringen Erfolg erlangen.

Zahlreiche, vorwiegend polemische Schriften gesellten sich zu diesen poetischen Arbeiten. Unter anderen griff er 1807 Wilhelm Körte, gegen den sich aus demselben Grunde schon F. H. Jacobi erklärt hatte, wegen seiner Ausgabe von Briefen aus Gleim’s Nachlaß in einer Broschüre, auf die Körte alsbald erwiderte, heftig an. Maßvoller in freundschaftlich-höflichem Tone kämpfte er 1809 mit Knebel, der sich über Ramler’s Verstümmelungen der Gedichte von Joh. Nik. Götz bitter beklagt hatte. Wie Ramler mit Götz, so war V. mit Hölty verfahren; auch er hatte 1783 zusammen mit Fritz Stolberg und noch mehr in der neuen Auflage von 1804, die er allein besorgte, sich viele angebliche Verbesserungen in den Gedichten seines verstorbenen Freundes erlaubt. Er vertheidigte daher zugleich sich selbst, wenn er Ramler in Schutz nahm. Seine Rettung des Allerweltscorrectors schoß freilich beträchtlich über das richtige Ziel hinaus, da er nicht nur Ramler’s Berechtigung zu der von Götz ihm selbst übertragenen Aufgabe erwies, sondern auch seine Veränderungen an den Versen des Pfälzer Anakreontikers großentheils beifällig aufnahm. Die Forderungen vollends, die er von diesem Standpunkt aus an die künftige Textkritik der Götzischen Gedichte stellte, konnten, so genau er auch auf Grund der Handschriften überall ins einzelne ging, doch litterargeschichtlich keinerlei Bedeutung erlangen.

Friedsamere Arbeiten gediehen inmitten der mannigfachen kriegerischen Plänkeleien nicht. So kam die 1814 begonnene Selbstbiographie nicht über die Darstellung der ersten Jugendjahre hinaus; diese aber war in ihrer klaren Einfachheit und lebensvollen Frische zu einem kleinen Meisterstück erzählender Prosa geworden. Im Druck erschien sie erst nach Vossens Tode 1826 in seinem letzten polemischen Werke.

Hatte V. bisher die Romantik wiederholt in ihren einzelnen zur Mystik und zum Neukatholicismus neigenden Erscheinungen angegriffen, so holte er 1819 [346] zu einem Vernichtungsschlage gegen den vermeintlichen Beginner und Begründer aller solchen reactionären Bestrebungen aus. Stolberg’s Uebertritt zur katholischen Kirche erschien ihm jetzt überzeugender denn je als das Signal zum allgemeinen Kriege gegen Vernunft und protestantische Geistesfreiheit; Stolberg persönlich wähnte er deshalb mit aller Kraft der Polemik treffen und für immer unschädlich machen zu müssen. Er fühlte sich verpflichtet, als Zeuge ewiger Wahrheiten zu reden, ohne Rücksicht darauf, daß seine Worte den ehemaligen Freund und Wohlthäter, der ihm auch nach der Trennung die alte Liebe bewahrt und neuerdings nicht den geringsten Anlaß zum Kampf gegeben hatte, tödlich verwunden mußten. So veröffentlichte er zu allgemeiner, großentheils höchst unangenehmer Ueberraschung 1819 in dem „Sophronizon“ seines Gesinnungsgenossen Paulus den umfangreichen und doch an sachlichen Erwägungen und allgemeinen Gesichtspunkten sehr armen Essay „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“, ein häßliches Zeugniß seiner maßlosen Unduldsamkeit. Nüchtern und schroff bis zur Gemüthsrohheit, zergliederte er Stolberg’s innere und äußere Entwicklung und den allmählichen Verfall seiner Freundschaft mit ihm bis zum schließlichen Confessionswechsel des einstigen Freiheitsschwärmers, auch im einzelnen keineswegs frei von Irrthümern und psychologischen Mißverständnissen. Eine Fluth von Gegenschriften, Protesten, heftigen Anklagen, aber auch von zustimmenden Erklärungen folgte auf den rücksichtslos einseitig das Vergangene aufdeckenden, reichlich aus alten Briefen schöpfenden Essay. Stolberg bekam die Streitschrift erst wenige Tage vor seinem Tode zu Gesicht; tief gekränkt und leidenschaftlich erregt, begann er die Irrthümer des Gegners in einer „kurzen Abfertigung“ nachzuweisen. Er starb über der Arbeit, die sein Bruder vollendete und in den Druck gab. V. aber, nicht zufrieden, die letzten Stunden des einstigen Freundes verbittert zu haben, wiederholte seine Vorwürfe noch breiter 1820 über dem kaum geschlossenen Grabe in der „Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe“. Sachlich brachte er nichts Neues bei; vorurtheilsfreie Leser konnte er auch jetzt nicht überzeugen trotz seinem Eifer, auch in allen Nebendingen, deren Unrichtigkeit Stolberg nachgewiesen hatte, Recht zu behalten; höchstens beleuchtete er noch deutlicher und umständlicher als zuvor die persönlichen Beziehungen zwischen ihm und Stolberg seit den Göttinger Studienjahren. Der unerfreuliche Kampf hatte noch andere, geringfügigere Händel zum Nachspiel, so besonders 1822 mit dem Buchhändler Friedrich Perthes, dem Schwiegersohne des gleichfalls von V. angegriffenen Claudius.

Verwandten romantischen und, wie er meinte, neukatholischen Bestrebungen galt auch der letzte litterarische Kampf, den der alte V. gegen den Heidelberger Philologen Gg. Friedr. Creuzer und sein seit 1810 veröffentlichtes Hauptwerk „Symbolik und Mythologie der alten Völker“ eröffnete. Mit rücksichtsloser Schärfe, die ohne Unterschied alles verurtheilte, was der Gegner behauptete, und nur allzu gern diesen persönlich angriff, die sittliche Reinheit seines Charakters antastete, ihn selbst sammt seinem Werke kritisch zu vernichten strebte, sprach sich V. in mehreren Recensionen gegen die zwar in der Beweisführung oft unmethodische und phantastische, auch durch philologische Fehler mannichfach entstellte, in der Hauptsache aber etwas Richtiges ahnende und zum Theil schon mittelst eines reichhaltigen Quellenmaterials erläuternde Darlegung Creuzer’s aus. Die Annahme eines ursprünglichen Zusammenhanges zwischen orientalischen und occidentalischen Religionsanschauungen, besonders die Herleitung altgriechischer mythologischer Vorstellungen aus einer Urreligion, deren Heimath in Indien zu suchen sei, durch Vermittlung der Aegypter, Phönikier, Phrygier und Thrakier dünkte V. nur eine schlimmen Fortsetzung der Irrthümer Heyne’s, die er in den „Mythologischen Briefen“ siegreich bekämpft hatte. Wie in ihnen, wollte er auch jetzt [347] noch allzu einseitig alle sichere Kenntniß der althellenischen Mythologie nur auf Homer gegründet wissen. Als Creuzer sich gegen diese einzelnen groben und theilweise schmutzigen Angriffe, die aber auch seine wirklichen Schwächen sehr empfindlich trafen, zu keiner würdigen, mannhaften Abwehr aufschwang, sammelte V. diese Recensionen, vermehrt durch verschiedene alte und neue Aufsätze, zu zwei Bänden „Antisymbolik“ (1824–1826), worin er nicht nur die alten Streitigkeiten mit Heyne wieder aufwärmte, sondern gelegentlich auch die stets persönliche Polemik auf Görres, Stark und viele andere Romantiker ausdehnte. Noch entschiedener als vorher verwarf er jetzt Creuzer’s Lehre im ganzen und im einzelnen, das Richtige an ihr wie das Verfehlte. Auf Lessing, dessen polemischer Stil ihm noch immer Vorbild war, berief er sich wiederholt, auch auf Luther; aber zum Unterschiede von diesen beiden blieb seine Kritik hier fast ausschließlich negativ, ohne auch positiv die Wissenschaft merklich zu fördern. Mehr Lob verdienten in letzterer Hinsicht die „Mythologischen Forschungen“, die seit 1827 der zweiten Ausgabe der „Mythologischen Briefe“ angehängt wurden, auch sie aus schon gedruckten älteren und handschriftlichen neueren Aufsätzen zusammengestellt und nach Inhalt und Tendenz sich vielfach mit den antisymbolischen Schriften berührend. Maßvoller gehalten, fanden sie auch in der Kritik der Zeitgenossen keinen so kräftigen Widerhall wie die „Antisymbolik“, die sogleich streitbare Gegner und Freunde des alten rationalistischen Kämpen ins Feld rief.

Während dieser Arbeiten und polemischen Bestrebungen traf V. der schwerste Schlag, der auf sein sonst so glückliches Familienleben fallen konnte: sein zweitgeborener, nunmehr ältester Sohn Johann Heinrich, seinem Geist und Herzen der nächste unter allen, starb am 20. October 1822 zu Heidelberg nach längerem Leiden an der Wassersucht. Er war ein Otterndorfer Kind, am 29. October 1779 geboren. Vom Vater wurde er seit dem Mai 1787 in der Eutiner Rectorsclasse unterrichtet, schon hier ein Musterschüler mit offenem, verehrungsvollem Sinn für die pädagogische und litterarische Thätigkeit des Vaters, der ihn 1794 als Reisemarschall auf die Fahrt nach Halberstadt, Weimar und Halle mitnahm. Im April 1799 bezog er die Universität Halle, um Theologie und bei F. A. Wolf Philologie zu studiren; im Herbst 1801 siedelte er an die jenaische Hochschule über, wo er sich allmählich ausschließlich der Philologie zuwandte. – Als ihn nach Beendigung seiner Studien Kränklichkeit an der Uebernahme einer Hofmeisterstelle in Berlin hinderte und der Versuch seines Vaters, ihm sein eigenes früheres Rectorat in Eutin zu verschaffen, fehlschlug, griff Goethe, der seit einem Besuche Heinrich’s in Weimar um Weihnachten 1800 seine Theilnahme dem pflichteifrigen Jüngling zuwandte, hilfreich ein und veranlaßte 1804 Heinrich’s Ernennung zum Professor am Weimarer Gymnasium. Wiederholt wohnte der junge V. selbst mehrere Tage in Goethe’s Haus; an Goethe’s Recension der Gedichte seines Vaters hatte er thätigen Antheil: die Abschnitte über die höheren Stände, über Sprache, Rhythmik und Mythologie stammten aus seiner Feder. Anhänglichkeit an den innig verehrten Weimarer Dichterfürsten bestimmte ihn darum auch in erster Linie, 1804 den lockenden Ruf an eine philologische Professur der Universität Würzburg abzulehnen, noch ehe sein Vater endgültig auf den Eintritt in bairische Dienste verzichtete. Ihn belohnte das wachsende Vertrauen Goethe’s, der ihm 1805 unter anderm „Hermann und Dorothea“ zur metrischen Ausbesserung übergab. Aber bald darauf nöthigte ihn ein hartnäckiges Leiden, den Gymnasialunterricht, den er mit hingebendem Eifer und sichtlichem Erfolg ertheilt hatte, Monate lang auszusetzen, und so konnte Goethe auch seine einstige Zusage, daß Heinrich Director des Weimarer Gymnasiums werden solle, nicht erfüllen. In Jena nach einer langwierigen Cur nur halb genesen, über das Scheitern seiner Hoffnungen grollend, besuchte Heinrich im August 1806 die [348] Eltern in Heidelberg, fand hier die Aussichten günstig und kehrte, nachdem er noch im October die Kriegsunruhen in Weimar durchgemacht hatte, im November 1806 zu dauerndem Aufenthalt nach Heidelberg zurück. Im Februar darauf wurde er hier als außerordentlicher Professor des Griechischen am philologischen Seminar angestellt, 1809 zum Ordinarius befördert. Nur selten verließ er jetzt mehr Heidelberg zu einer kurzen Reise, so wiederholt nach Stuttgart, 1811 mit den Eltern nach Thüringen, 1819 nach Baireuth zu dem schwärmerisch verehrten Jean Paul. Als Docent entfaltete er keine große Thätigkeit; auch hatte er keine bedeutenden litterarischen Erfolge zu verzeichnen. Ihm fehlte eine selbständige, energisch auf das Ziel losdringende Natur. Die kindliche Liebe und Verehrung, die er für seinen Vater hegte, raubte ihm schließlich jede geistige Unabhängigkeit. Wie sein Vater ihm als höchstes Vorbild galt, so fügte er sich widerspruchslos seinen Anschauungen und war zufrieden, wenn er nur mit matterer Stimme die Meinungen des Alten nachsprechen, ihm die Beantwortung eines Briefes abnehmen oder bei seinen Studien dienend helfen konnte. So betheiligte er sich schon in Jena an den Vorarbeiten seines Vaters zu einem deutschen Wörterbuche, ebenso später an seinen Forschungen über antike Geographie. Im Kriege gegen das Sonett unterstützte er den Eifernden durch die Beiträge, die er 1809 zu Baggesen’s „Klingklingelalmanach“ lieferte; im Kampfe gegen F. A. Wolf und dessen Verdeutschung des Aristophanes secundirte er dem Vater durch absprechende Kritiken namentlich über Wolf’s „Aftersenare“ in den Heidelberger Jahrbüchern. Ja selbst seine anfängliche Schwärmerei für Stolberg, Fouqué und andere Romantiker gab er auf, so bald der Vater den Ansichten der bewunderten Freunde die Billigung versagte; in dem letzten lieblosen Kampfe Vossens gegen Stolberg stellte er sich schließlich so unbedingt auf die Seite des Angreifenden, daß für ihn die Stimmung des erbarmungslosen Streiters ein „religiöser Genuß“ wurde. Sein ohnehin nicht großes schriftstellerisches Vermögen verzettelte er zum Theil in Recensionen; auch redigirte er mehrere Jahre lang den philologischen und schönwissenschaftlichen Theil der Heidelberger Jahrbücher; größere Arbeiten rückten daneben nur sehr langsam fort. So verwandte er fast ein Jahrzehnt auf den Commentar, mit dem er die Aristophanesübertragung seines Vaters 1821 begleitete. Selbst als poetischer Uebersetzer versuchte er sich schon 1805, noch unter Schiller’s Augen, an Shakespeare’s „Othello“, dann an „Lear“, bald auch zusammen mit seinem Bruder Abraham an „Macbeth“, dem „Wintermärchen“ und andern Dramen des großen Britten, von dem sie sieben Stücke seit 1810 verdeutscht herausgaben. Auch an der Uebertragung des ganzen Shakespeare, die die Brüder hernach mit dem Vater unternahmen, hatte Heinrich einen hervorragenden Antheil besonderes insofern, als seine Leistungen an künstlerischem Werthe fast durchaus hoch über den schwerfälligen Versuchen seiner beiden Genossen standen. Als sein wichtigstes Lebenswerk aber betrachtete er selbst die Uebersetzung des Aeschylos; siebzehn Jahre arbeitete er an ihr, und doch blieb ihre Vollendung seinem Vater aufbehalten, der nach Heinrich’s Tode namentlich am „Prometheus“ und „Agamemnon“ noch allerlei zu bessern fand. Erst 1826 erschien das Werk im Druck, ohne den beabsichtigten lateinischen Commentar, den Heinrich, im Lateinschreiben gleich seinem Vater wenig geübt, schließlich doch nicht zu Ende geführt hatte. Die Uebersetzung zeigte die ganze sprachlich-metrische Virtuosität der Vossischen Schule; möglichst getreu war der kühne Rhythmus der Chorgesänge und der „langaushaltende, schweranstrebende Senar“ der Dialogpartien wiedergegeben, die grandiose Kraft und pathetische Feierlichkeit der Sprache troß ihrer außerordentlichen Schwierigkeiten nachgebildet. Aber freilich verursachte auch hier die gewissenhafte Strenge, mit der der Uebersetzer den eigenthümlichen Charakter des Originals nachahmte, manche allzu griechische und darum undeutsche oder mindestens [349] im Deutschen schwerfällige Wendung; der Stempel gekünstelter Arbeit war diesem Werke wie allen späteren Vossischen Uebertragungen aufgeprägt.

Das Erscheinen des von ihm vollendeten deutschen Aeschylos erlebte der alte V. nicht mehr. Am 29. März 1826 erlag er den Folgen eines Schlaganfalls, thätig und kampfbereit im antisymbolischen Streite bis fast in seine letzten Tage hinein. Am 1. April wurde er in Heidelberg neben seinem Sohne feierlich beerdigt. Seine Wittwe Ernestine folgte ihm ebenda am 10. Mai 1834 im Tode nach. Sie setzte dem Gatten das schönste Denkmal, indem sie sein Leben – von der Zeit an, da er sie heimgeführt (1777), bis zur Uebersiedlung nach Heidelberg (1805) in einfacher, gemüthvoll gewinnender Weise darstellte, treu nach der Wirklichkeit ohne äußerlichen Schmuck und verschönernde Zuthaten, aber anschaulich, natürlich, voll herzlicher Wärme und echter Poesie. Zusammen mit einigen, gleichfalls von ihr verfaßten Aufsätzen über Vossens Charakter, sein Verhältniß zu Schiller und Goethe, seine letzten Lebenstage erschienen diese biographischen Bilder in der von ihrem Sohne Abraham 1829–33 herausgegebenen dreibändigen Sammlung „Briefe von J. H. Voß“, ein Meisterstück anmuthig-idyllischer Schilderung in deutscher Prosa. Nach Ernestinens Mittheilungen wurde ferner auch die kurze Biographie ihres Sohnes Heinrich ausgearbeitet, die den dritten Band der von Abraham V. herausgegebenen Briefe Heinrich’s (Heidelberg 1833–38) eröffnete. Außerdem stammten aus ihrer Feder verschiedene kurze, meist idyllisch plaudernde Aufsätze mit moralisirendem Grundcharakter und einige hexametrische Gelegenheitsgedichte ähnlicher Art, die in mehr als einer Hinsicht die Schule ihres Gatten bekundeten (beides nebst mehreren ihrer Briefe 1837 von ihrem Enkel Hermann gesammelt).

Der im Obigen wiederholt genannte Abraham V. war am 12. Febr. 1785 zu Eutin als fünfter Sohn seiner Eltern geboren. Er ward 1810 Gymnasialprofessor in Rudolstadt, 1821 Oberlehrer am Gymnasium zu Kreuznach und starb als Director daselbst am 13. November 1847 (vgl. N. Nekrol. d. D. XXV, S. 869).

Vgl. Wilhelm Herbst, Joh. Heinr. Voß, 2 Bde. in 3 Theilen, Leipzig 1872–76. – Michael Bernays, Homers Odyssee von Joh. Heinr. Voß. Abdruck der ersten Ausgabe vom Jahre 1781 mit einer Einleitung. Stuttgart 1881. – August Sauer, Der Göttinger Dichterbund, Theil 1, Berlin und Stuttgart (Joseph Kürschners Deutsche Nationallitteratur, Bd. 49). Hier S. LXVIII f. und ebenso bei Herbst ist die übrige wichtigere Litteratur verzeichnet; hervorzuheben ist daraus noch: Briefe von Heinr. Voß an Christian v. Truchseß, hrsg. von Abrah. Voß, Heidelberg 1834. – Briefe von Heinr. Voß an Karl Solger, hrsg. von Karoline Solger (Arch. f. Litteraturgesch. XI, 94–141). – Briefe von Ernestine Voß an Rudolf Abeken, hrsg. von Friedrich Polle (Progr. d. Vitzthum’schen Gymnas. in Dresden 1882 u. 1883). – Georg Berlit, Goethe u. Schiller in persönl. Verkehr nach briefl. Mittheilungen v. Heinr. Voß, neu hrsg. Mit Biogr. v. Heinr. Voß. Stuttgart 1895.