ADB:Gellert, Christian Fürchtegott

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Artikel „Gellert, Christian Fürchtegott“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 8 (1878), S. 544–549, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gellert,_Christian_F%C3%BCrchtegott&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 09:18 Uhr UTC)
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Gellert: Christian Fürchtegott G., wurde zu Hainichen im sächsischen Erzgebirge am 4. Juli 1715 als der fünfte Sohn eines unbemittelten Predigers geboren und wuchs unter dem strengen Druck äußerer Verhältnisse heran, von dem gleich das erste Glückwunschgedicht des Knaben zeugt. Auch der unfrische Unterricht in der Fürstenschule zu Meißen 1729, wo er mit seinen litterarischen Genossen Rabener und Gärtner Freundschaft schloß, konnte seinem kränklichen Wesen keinen jugendlichen Aufschwung verleihen. Als armer Student der Theologie zu Leipzig (1734) zog er, gewiß von Gottsched angeregt, die schönen Wissenschaften in den Kreis seiner Interessen, und, während ihm seine schwache Brust den Beruf des Kanzelredners bald versagte, bildete er sich zum belehrenden und erziehenden Schriftsteller heran. 1739 Hofmeister der Söhne des Herrn von Lüttichau, hat er noch mehrere Jahre als Mentor junger Leute seinen Unterhalt gefunden. Der zweite Leipziger Aufenthalt schloß ihn dem litterarischen Kreise Gottsched’s enger an. Wir finden ihn 1741 unter den hervorragendsten Mitarbeitern der von Schwabe herausgegebenen „Belustigungen des Verstandes und Witzes“, bis die Spaltung der Partei ihn mit Gärtner, den Schlegel’s, Cramer etc. von der immer mehr in einer unproduktiven Polemik aufgehenden Clique trennte. Er ist an den „Bremischen Beiträgen“ betheiligt und damit äußerlich ein Antigottschedianer. Schnell durch seine ersten Fabeln populär geworden, habilitirte sich G. 1745, ein Jahr nach seiner Promotion zum Magister an der Leipziger Universität mit einer historischen und theoretischen Abhandlung „De poesi apologorum et eorum scriptoribus“. Von irgend einer selbständigen wissenschaftlichen Thätigkeit ist nichts zu verzeichnen; um so weiter erstreckt sich dafür sein Einfluß als Lehrer. G. läßt sich nach mancher Richtung mit dem Zittauer Rector Christian Weise vergleichen, der die jungen sächsischen Adligen zu „politischen“ Männern heranbildete. Der kränkliche, milde, gefällige Mann war nicht nur ein schlichter aufrichtiger Christ, der die bürgerlichen Zeitgenossen durch seine Schriften, die Studirenden durch leise gesprochene Worte erbaute, sondern auch ein gewandter, urbaner Weltmann, der mit redseliger sächsischer Höflichkeit und seinen Umgangsformen das Frauenzimmer und den Adel gewann. Seine Fabeln wußten alle großen und kleinen Kinder auswendig, Friedrich der Große berief ihn zu jener denkwürdigen Unterredung, die Gellert selbst uns mehrfach berichtet hat, preußische Prinzen huldigten ihm, von der Verehrung auch der bärbeißigsten Soldaten des siebenjährigen Krieges erzählen [545] der „Husarenbrief“ und andere friedliche Blätter aus unruhiger Zeit, General Loudon und der hohe österreichische Adel trug ihn in Karlsbad auf den Händen, während in Sachsen die Schönfeld’s, Bünau’s, Brühl’s etc. sich den Briefwechsel mit ihm zur Ehre schätzten. Der hagere Mann mit dem feingeschnittenen Gesicht, der Adlernase, dem klaren Blick, wie ihn Graff’s vortreffliches Porträt verewigt, war bei Hoch und Niedrig gleich beliebt, am Pult einen inhaltlosen, aber flüssigen Plauderbrief an Erdmuthe von Schönfeld oder seine bürgerliche Busenfreundin schreibend, oder auf dem berühmten zahmen Schimmel ausreitend. Zahllose Anekdoten zeugen von dieser allgemeinen Hochachtung. Kleine und große, vielfach anonyme Geschenke erleichterten ihm das Leben, das er von seinem kargen Professorengehalt (seit 1751) nicht hätte fristen können. Sein Tod am 13. December 1769 rief eine beispiellose Menge unbedeutender poetischer und prosaischer Nekrologe ans Licht. Frischere, auffliegende Geister konnten nie mit ihm fühlen. Lessing, obwol in seiner ersten Periode unverkennbar von Gellert beeinflußt, blieb ihm fern, Klopstock rühmt seine Sittlichkeit und Milde, um später mit den Göttingern die marklose Schwäche seiner Gedanken und Sprache zu verpönen, und der junge Goethe lehnte bei aller Pietät Gellert’s ganze Richtung ab. Die ängstliche gedrückte Stimmung war allmählig immer weinerlicher und unsympathischer geworden. Immer schon hatte selbst sein Scherz und Frohsinn etwas Wehmüthiges an sich, dann raubte ihm die stete Kränklichkeit die letzte Lebensfrische. Man halte seine „Trostgründe wider ein sieches Leben“ gegen die herrliche Rede Grimm’s „Ueber das Alter“; nichts als mattherzige, religiöse Zusprüche, moralische Mahnungen. Das „Tagebuch“ aus dem Jahre 1761 ist ein geradezu widerlicher Beweis, wie der arme Leidende sich auch seelisch zermarterte und sein Gemüth durch die übertriebensten grundlosesten Scrupel über Unglauben, Härte, Verstocktheit, Sinnlichkeit und die zerknirschtesten Gebete, ein trauriger Heautontimorumenos, kasteite. Dieses ungesunde Fühlen, diese kleinen Ziele, diese ängstlich abgezirkelten Wege konnten einen innerlichen Fortschritt in unserem geistigen Leben nicht erzeugen. Aber Gellert’s erste Periode zeigt nur die Keime des späteren unleidlichen Trübsinnes. Immer still in schwunglosen Betrachtungen webend, schließt er doch aus seinen Fabeln und Komödien einen frischen, schnippischen, ja einen galant frivolen Ton nicht ganz aus. Er ist damals nicht nur der gute Christ, der kluge Lehrer, sondern eben so sehr der „polite“ Kleinpariser, der mit einem seinen Lächeln um sich schaut; freilich nicht eben weit. Daß er sogar Bayle’s Dictionnaire historique et critique als Diener Gottsched’s übersetzen half, dürfen wir nur als eine durchaus äußerliche Fronarbeit betrachten. – Gellert’s erste Fabeln bedeuten einen seltenen, durchschlagenden Erfolg. Nach den Proben in den „Belustigungen“ schreitet er überraschend schnell vor, 1746 die erste, 1748 die zweite Sammlung der Fabeln und Erzählungen. Die Zahl der Auflagen und Uebersetzungen ist dann Legion. Die elenden Reimer vom Schlage der Triller und Stoppe verschwanden mit einem Schlage; Gleim, auch Lichtwer und Pfeffel, müssen nach ihm weit zurückstehen. Er hat nicht die knappe Weise der Alten, die sich Lessing nach gellertisirenden Versuchen wählte, sondern die blumigeren Pfade Lafontaine’s gesucht. Die Vereinigung französischer causerie mit der einheimischen Umständlichkeit und einem deutschbürgerlichen Gedankeninhalt erlaubten ihm sich Friedrich II. gegenüber als „Original“ zu bezeichnen. Seine Stoffe sind den verschiedensten Quellen entlehnt. G. hat auch ältere deutsche Fabulisten gekannt. Mehrfach gab dieselbe Vorlage sowohl ein gestrecktes Lustspiel, als eine Fabel her (Betschwester, kranke Frau). Die eigentliche Thierfabel trat zurück. Die Gattung war vor Lessing’s Kritik mit vielen fremden, schäferlichen und [546] anakreontischen Elementen vermischt und der poetischen Erzählung zugesellt. Vieles an Motiven und Stimmungen ist bei Gellert lediglich poetische Observanz. Wo er mit Laune einfache Züge des gewöhnlichen Welttreibens aufgreift, ist er trotz der langathmigen Moral so glücklich wie Keiner. Sein grüner Esel oder kranker Hund, sein „Die Brücke kömmt“ oder das köstliche „Ja, Bauer, das ist ganz was anders“ sind unvergänglich. G. war viel weltklüger und pfiffiger, als man wol denkt. Er konnte viel mehr abmalen, was sein Blick fest hielt, aber er traute sich nicht. Ein vortrefflicher Beobachter kleiner Verhältnisse weiß er alltägliche Geschichten, Ehescenen, die kleinen Schwächen der sonst von ihm so verehrten Damen, Dummheiten der Bauern oder Plackereien durch Junker und Vögte u. dgl. realistisch mit einer leicht ironischen Färbung abzubilden, aber ja recht behutsam, discret und mit viel Devotion gegen Hof, Adel und Religion. Der angenehme Fabulist und Erzähler, wie ihn Goethe genannt hat, will nicht den Gelehrten dienen, sondern „den vernünftigen, klugen Frauenzimmern von gesundem Verstande“, und noch tiefer steigt der lehreifrige Anhänger einer nützlichen Dichtung, welche ridendo castigat mores, für ihn gilt es, „dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“. Die Leser begriffen ohne viel geistige Anstrengung seine hübsch auf ebener Erde gehende Manier. Gerade das Gemisch von harmloser Ironie, Mutterwitz, Spießbürgerlichkeit und Sittenlehre war ihnen ein willkommenes Schau um dich, schau in dich. Man wollte damals „bemoralisirt“ sein. Die absolute Gemeinverständlichkeit, ein fragliches poetisches Ideal, machte Gellert’s Fabeln zum Volksbuch, das fortan statt der Banise etc. neben Bibel und Postille stand. – Sich selbst und seine guten Bekannten fand das mittlere Publicum auch in den Comödien. Die ersten dramatischen Versuche sind Schäferspiele für die „Belustigungen“, „Sylvia“ und „Das Band“, in den Motiven traditionell, ohne Beweglichkeit, aber sprachlich und metrisch der Gottsched’schen Art überlegen; gewandt ist auch das singspielmäßige „Orakel“ nach St. Foix gearbeitet. Gellert’s Lustspiel ist eminent bürgerlich, im litterarhistorischen Zusammenhange und culturhistorisch als Abspiegelung deutschen Lebens von großer Bedeutung, aber so undramatisch, wie selbst bei den Zeitgenossen weniges. Die Grundlage ist gegeben durch die eigenen und angeeigneten Vorarbeiten der Gottschedin, die französischen Originale und ein paar Holbergsche Scenen. Obenan stehen die Graffigny und Nivelle de la Chaussée, dessen comédie larmoyante der gerührte G. begierig erfaßte und in der akademischen Antrittsrede Pro comoedia commovente (1751) vertrat. Vgl. Lessing 4, 117 ff. G. ist deutscher, als die meisten gleichzeitigen Lustspieldichter. In seinem Bürgerhause fehlen, nicht zum Vortheile des dramatischen Lebens, zwei französische Typen: der kecke valet und die vorwitzige intrigante Zofe Lisette. „Eher mitleidige Thränen, als freudige Gelächter“ erregt zu haben, war für ihn „ein schöner Vorwurf“. Also Rührung und Belehrung das wesentliche; deshalb fallen manche sonst stereotype Factoren, obgleich sich des Typischen noch übergenug findet. Die Personen sind sehr über einen Leisten geschlagen: die Mädchen jung, hübsch, nicht ohne Vermögen, fromm, häuslich, tugendhaft, doch „ein paar Mäulchen“ nicht abgeneigt. Ihre kleinen Fertigkeiten auf Clavier und Laute, in Küche und Tanzsaal, ein bischen Französisch, natürlich ein guter Brief, ihre Lectüre (Bibel, Gesangbuch, Pamela, Zuschauer, Jüngling, Bremer Beiträge) zeigen das Niveau mittlerer Bildung. Viel höher steckt G. seine Ideale auch in der Bücherschau für Erdmuthe nicht. Die jungen Männer entweder ehrsame, langweilige Gesellen, die auf ihr Erbe oder Amt hin ohne viel Hitze in die Ehe treten wollen, oder Heuchler und Stutzer, nach geläufigen Vorbildern. Die Alten pedantische Biedermänner, die Gatten Pantoffelhelden, die Väter unbedeutende dupes. Die Frauen gutmüthige Hausmütter, oder gemäß [547] den Fabeln putzsüchtig, kokett, bigott. Gruppen und Contraste sind beliebt; übereinstimmend mit dem Roman ein sinniges, ernstes, ein munteres, loses Mädchen. Die Charaktere entweder trostlos gewöhnlich und langweilig, wie Lottchen, Frau Damon, der Magister, die süßen Amanten, oder ohne jedes komische Vermögen carikirt, wie der phlegmatische Orgon und seine kokette Frau, der französirte Geck Simon (vgl. Jean de France, Die Hausfranzösin), der als Freidenker gewisse Häuser besucht, oder die an einer Andrienne erkrankte Frau. Gellert’s beste Figur bleibt die verlogene filzige Betschwester Frau Richardinn. Diese in die übliche Verlobungsgeschichte mit einem sehr leidenschaftslosen Brauttausch übers Kreuz eingewickelte Charakterstudie entbehrt sogar einzelner kühnerer Züge nicht: die sechzigjährige Frau bittet noch täglich um Keuschheit. Uebrigens hat schon Lessing auf die leisen Frivolitäten der Gellert’schen Lustspiele, ich erinnere an das „Loos“, hingewiesen. Das Streben nach Neuem mißglückt zumeist kläglich; man sehe Julchen, die „bezähmte Widerspenstige“ Gellert’s. Mit der Satire gegen Laster und Schwächen verbindet sich die rührende Verherrlichung einfacher Tugend. Viel Anstand und Edelmuth, aber möglichst wenig Leidenschaft; man heirathet und erbt. Wer durch einen Betrüger, der auch auf uns anfangs einen höchst ehrenwerthen Eindruck macht, enttäuscht wird, behält seine Fassung und sucht sich verständig einen Ersatz. Einige Hauptmotive der „Zärtlichen Schwestern“ möchte ich auf den Ingrat des Destouches zurückführen. Den Vorzug der Gellert’schen Lustspiele als „wahrer Familiengemälde“, die „das meiste ursprünglich deutsche“ haben, hat schon Lessing (Hamb. Dram. W. 7, 93 ff.) durch seinen schneidigen Tadel der flachen Manier eingeschränkt, welche platte Narren in ihrer schmutzigen, nachlässigen Alltagskleidung auf die Bühne bringt; „sie müssen nichts von der engen Sphäre kümmerlicher Zustände verrathen, aus der sich jeder herausarbeiten will.“ Gellert wollte sein Publicum nie aus der öden Jämmerlichkeit des sächsischen Philisterthums herausziehen. Die schöne Naivetät der Stubenmädchen zu Leipzig, die witzige Einfalt sagt in ihrer alten Prosa, was sie denkt und gedacht, auch was der Leser sich denkt (Schiller, „Jeremiade“). Das war die Gottsched-Gellert-Weißische Wasserfluth (Goethe). Nichts ist im Hinblick auf die lebendige Bühne gedacht, alles leblose Stubenarbeit; Exposition, Motivirung, Entwickelung immer verfehlt oder ganz vergessen, das Nebensächliche stets am breitesten, manche Figur oder Scene völlig überflüssig, jeden Augenblick ein Stillstand der Handlung durch endlose geschwätzige Erörterungen. Die Technik mehr als kindlich, und jede Spur von Spannung, Bewegung, drastischen Wirkungen, komischen Situationen wird vermißt. Der Dialog schleicht correct, aber lahm einher. Redselige Personen gehen ab und zu. Die Einheit des Ortes festzuhalten, fällt dem ungelenken Dramatiker offenbar sehr schwer; er sucht sich in der lächerlichsten Unbehülflichkeit durch ein beständiges Warten, Abrufen (z. B. zum Kaffee), Vorausgehen u. dgl. zu retten, damit die Leute nur zu oder aus einander kommen. Der falsche moralisirende und realistische Zug erhielt diese auch an Nachfolgern nicht armen Stücke lang auf dem Repertoire. „Die Betschwester“ ist zuerst in den Bremer Beiträgen, die erste Gesammtausgabe der Lustspiele 1748 erschienen, während die Schriften erst 1757, und weiter von 1769 an häufig zusammengefaßt worden sind. Die Wendung zum Bürgerthum vollzog sich auch im Romane. G. schwärmte für Samuel Richardson. Von vielen Belegen sei nur der wunderlich aufgeregte Brief an Brühl (8, 119) seines fieberhaften Enthusiasmus wegen genannt. Zwischen Pamela und Clarissa fällt „Das Leben der schwedischen Gräfin G***“, 1746. Die Nachahmung Richardson’s ist unverkennbar, Christlichkeit und Moral faustdick aufgetragen, aber das verworrene Getriebe der Ereignisse durch Gellert’s Scheu vor energischen Lösungen so unsittlich und peinlich geworden, daß Blutschande und Doppelheirathen [548] als weise Fügung der Vorsehung erscheinen. Herausgerissene Stellen können leicht einem Ehebruchsroman entnommen scheinen, die Handlung ist stark überladen, die Charakteristik schablonenhaft oder abgeschmackt: leidende Tugend, bekehrte Ausschweifung, viel Redlichkeit, ein idealer Schacherjude, eine sibirische Naive, verfehlter Humor. Und alles so harmlos und ehrlich gemeint! Der Beifall blieb nicht aus, denn das Publicum war ebenso naiv, wie der Moralist. „Dich soll der schönsten Mutter geliebteste und schönste Tochter lesen“ (Klopstock). Wenn hier viele Stellen über Religion, Lebensauffassung, Vergehen merkwürdig untheologisch klingen, so ist zu bedenken, daß G. überhaupt kein starrer Orthodoxer war, daß auch seine religiösen Anschauungen einen rationalistischen Beigeschmack haben. Beweis sind gleich seine „Geistlichen Oden und Lieder“ 1757, welche gar nichts von gereimter Dogmatik, sondern höchstens teleologische Betrachtungen bieten, im übrigen einfache Gebete eines gläubigen Gemüthes, welche außer der großen Gemeinde auch der aufgeklärtere Gebildete gern nachsprach. „Gott deine Güte reicht so weit“, „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank“, „Wie groß ist des Allmächtgen Güte“ werden immer unter den besten protestantischen Kirchenliedern genannt werden, und Beethovens Töne sichern manchen, wie „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ eine mächtige Wirkung. G., lange Jahre der populärste Schriftsteller, hat Friedrich dem Großen ein gnädiges Wort entlockt, er hat vor Wieland den Adel herangerufen und Oesterreich gewonnen, er hat das ganze Bürgerthum mit geistiger Speise versorgt, aber nicht mit der Kraftbrühe, die der verkümmerte Mittelstand so nöthig hatte. Er so wenig wie der, immerhin viel frischere, Rabener, wagten es einen Ton anzuschlagen, dem man nicht den dämpfenden Druck des Brühlschen Regimentes, die kläglichen Preßzustände, kurz die ganze heulmeierliche Misère des damaligen Sachsens anmerkte. Das ist das matte Tempo der Leipziger Magister zu der Zeit, wo mit dem Steigen Preußens eine neue jugendfrische Litteratur ihre Schwingen zu regen begann. Gleichwol nennen wir G. einen Lehrer und fassen darin vieles zusammen. Lehrer war er schon äußerlich, anfangs Hofmeister, dann Professor. Er las über Moral, über Rhetorik und Litteratur. Seine „Moralischen Vorlesungen“ (1. Ausgabe 1770) wirkten entschieden mehr durch die weiche, freundliche Persönlichkeit dieses Seelsorgers auf dem Katheder, als durch ihre Originalität, denn sie geben im Grunde nur seichte religiöse Betrachtungen und Anmahnungen. Gelegentlich läuft eine Art Hodegetik des akademischen Lebens und Studiums mit unter. Es war Ton, bei dem guten, berühmten Manne zu hören. Prinzen saßen mit im Colleg oder hörten ein Privatissimum. Die Rhetorik und die stilistischen Uebungen waren ebenso ideenlos und beruhten auf einem unwandelbaren, daher schnell veralteten Standpunkt der Correctheit. Cicero, Quintilian, Pope, Boileau liegen zu Grunde. Auch die Schlußrede (5, 116) „Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie erstrecke“ verrathen bei aller Polemik gegen die Recepte und die reguläre Trauerspielmache den alten Gottschedianer, dem, mag er auch anderes, wie Milton, heranziehen, die Alten und „die guten französischen Schriftsteller aus dem Ludwigischen Zeitalter“ als Führer gelten, und der in Deutschland nicht über Mosheim, Hagedorn und Schlegel hinausgekommen ist. So war es im Wesentlichen richtig, wenn zwei Unberufene, Mauvillon und Unzer, ihn in den „Briefen über den Werth einiger deutscher Dichter“ einen „mittelmäßigen Dichter ohne einen Funken von Genie“ nannten und Goethe’s berühmte Recension in den Frankf. gel. Anzeigen (Hempel 29, 13 ff.; vgl. Dichtung und Wahrheit 21, 32 ff.) konnte ihm auch nur den Ruhm eines brauchbaren Bel-esprit lassen, der von wahrer Poesie keine Ahnung hatte und in seinen Vorlesungen Alles, was seit 1748 in Deutschland errungen war, ignorirte, weil er es nicht zu fassen vermochte. Ein Lehrer war G. auf dem Gebiete der Sprache durch directe [549] Anleitung (Vorträge, Uebungen, Abhandlungen) und seine ganze Schriftstellerei. Gellert’s Briefe sind dafür höchst bedeutsam. Seine gewiß herzlich unbedeutende Correspondenz mit Demoiselle Lucius ist litterarhistorisch ein Seitenstück zu den Briefen der Sévigné. Man drängte sich an ihn heran. Sein Brief war zugleich Mittheilung und Muster; ein Brief damals überhaupt ein ganz ander Ding als heute, ein Gradmesser der Bildung, des feinen Ausdrucks. So langweilig uns diese weitschweifigen Höflichkeiten, Scherze, Galanterien und Reflexionen vorkommen und so wenig uns heute die halbpoetischen französirenden Episteln locken könnten, damals streuten sie Keime einer verfeinerten Schrift- und Umgangssprache über das Land. Schon 1742 schrieb G. seine „Gedanken von einem guten deutschen Briefe“, um 1751 theoretisch und paradigmatisch durch seine „Briefe nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ den elenden Talander, Junker, Neukirch den Garaus zu machen. – Aber viel allgemeiner: die Hagedorn und G. haben wieder Natürlichkeit und Leichtigkeit in unsere Sprache gebracht. Gellert’s emsiges Bemühen, seinen Stil auszufeilen, blieb nicht ohne Erfolg. Man lese doch die großentheils verworfenen Beiträge in den „Belustigungen“. Die polirte gebildete Verkehrssprache, das „Ungezwungene“, „Muntere“ „schöne Dialogische“ sollte auch im Dichtwerk zur Geltung kommen. Diese wortreiche, gern abschweifende Conversationsmanier ist kein stilistisches Ideal und in anderer Hinsicht Gottsched’s lehrhafter Kathederton nur durch einen lehrhaften Plauderton ersetzt, aber es führt von Gellert und seinem Anhang eine Linie zu Wieland etc. – G. war anerkannt als Rathgeber in den wichtigsten Fragen der Lebensführung, der Erziehung, der Berufswahl. Ein Lehrer und Vorbereiter, indem er das litterarische Interesse in Deutschland zwar keineswegs vertieft, aber ungemein ausgebreitet hat. Diese, man darf sagen, große pädagogische Thätigkeit kam den Folgenden zu Gute. Eine vorurtheilsfreie Monographie über Gellert ist ein dringendes Bedürfniß.

Ueber die älteren Ausgaben der Werke und Briefwechsel s. Jördens 2, 69 ff., Goedeke 578. Die Gesammtausgabe durch Klee 1839 (und öfter) 10 Bde., ist leidlich vollständig, enthält auch die meisten Briefe und Cramer’s Biographie. Gellert’s Leben von Döring, 1833, Fabrikarbeit. Ritter, Gellert’s Leben und Wirken 1870. Wenig in Naumann’s Gellertbuch 1854. Briefe an Frl. Erdmuthe von Schönfeld, 1758–1768. (Dahlener Antiquarius I) 1861. Gellert’s Tagebuch aus dem Jahr 1761, Leipzig 1862. Ueber Gellert’s Stil vgl. Erich Schmidt im Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur, 2, 38–79.[1]

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 549. Z. 17. v. u.: Neues über Chr. F. Gellert enthält die Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte VI, 448 ff. von Distel. [Bd. 45, S. 667]