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Artikel „Griesbach, Johann Jacob“ von Carl Bertheau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 660–663, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Griesbach,_Johann_Jakob&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 13:47 Uhr UTC)
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Griesbach: Johann Jacob G., der berühmte Textkritiker des neuen Testamentes, wurde am 4. Januar 1745 zu Butzbach in Hessen-Darmstadt geboren, wo sein Vater, Konrad Kaspar G. (geb. 1705), damals als Prediger stand. Seine Mutter war Johanna Dorothea, geb. Rambach, Tochter des bekannten Gießener Theologen Johann Jacob Rambach, dessen Vornamen auf den Enkel übergingen. Wie ihr Vater einer der ausgezeichnetsten Schüler August Hermann Francke’s war, so war auch Griesbach’s Mutter eine ebenso sehr durch umfassende Kenntnisse, als durch ernste Frömmigkeit hervorragende Frau. Der Vater Griesbach’s war noch im J. 1745 nach Sachsenhausen und von hier im [661] J. 1747 nach Frankfurt a. M. versetzt, wo er im J. 1767 Consistorialrath ward und am 24. September 1777 starb. Der Kreis, in welchem der junge G. hier heranwuchs, ist aus Goethe’s „Dichtung und Wahrheit“ allgemein bekannt; Goethe gedenkt hier auch der Mutter Griesbach’s neben dem Fräulein v. Klettenberg und schildert sie als die „vorzüglichste“ Frau dieses Kreises, die aber „zu streng, zu trocken, zu gelehrt“ schien; „sie wußte, dachte, umfaßte mehr als die andern, die sich mit der Entwickelung ihres Gefühls begnügten, und war ihnen daher lästig, weil nicht jede einen so großen Apparat auf dem Wege zur Seligkeit mit sich führen konnte und wollte“. (Vgl. Goethe’s Werke, Hempel, Bd. XXI. S. 116.) Nach dem eigenen Zeugnisse des Sohnes hat die Mutter einen sehr großen Einfluß auf seine Entwickelung gehabt; vielleicht einziges Kind war er, da der Vater durch seine amtliche Thätigkeit sehr in Anspruch genommen war, ihrer gewissenhaften Sorgfalt in der Erziehung zumeist überlassen; die aufrichtige und ernste Frömmigkeit, die ein Hauptzug Griesbach’s blieb und ihn auch in der Blüthezeit des Rationalismus persönlich der kirchlichen Lehre zugethan bleiben ließ, und dabei das entschiedene Bedürfniß, bei allen Untersuchungen gründlich zu verfahren und sich nicht an halben Resultaten genügen zu lassen, mögen bei ihm ein mütterliches Erbtheil sein, während er die Anlage für praktische Dinge und Neigung und Geschick zu Verwaltungen wol mehr vom Vater erhalten hat. Unter seinen Lehrern hat besonders der gleichfalls aus „Dichtung und Wahrheit“ bekannte Frankfurter Rector Johann Georg Albrecht (geb. im September 1684, nach anderer Angabe 1694, seit 1728 Conrector, seit 1747 zugleich Rector adjunctus und seit 1758 Rector des Gymnasiums bis 1766, † 1770) sich um ihn verdient gemacht; neben diesem Johann Georg Purmann (seit Michaelis 1759 Conrector, später dann Albrecht’s Nachfolger im Rectorat, † 1813). Im Frühjahr 1762 bezog G. die Universität Tübingen, um Theologie zu studiren; er hörte hier zunächst philosophische Vorlesungen, dann aber auch die Theologen Reuß, Cotta und Sartorius, welche sämmtlich Gegner der beginnenden Aufklärung waren. Erst um Michaelis 1764 verließ er Tübingen und wandte sich nun zunächst nach Halle, wo er zwei Jahre blieb und außer dem älteren Knapp und Nösselt besonders schon Semler hörte; dieser, mit welchem G. hernach näher befreundet ward, wurde die Veranlassung, daß er sich überhaupt kritischen und dann namentlich Studien über die Textgeschichte des Neuen Testamentes zuwandte. Wahrscheinlich hauptsächlich um Johann August Ernesti zu hören, aber auch um bei Johann Jacob Reiske Orientalia zu studiren, ging G. darauf im Oktober 1766 nach Leipzig, wo er mit Gellert bekannt wurde und mit Goethe verkehrte (vgl. Goethe’s Werke, Hempel, Bd. XXI. S. 339); nach einem Jahre kehrte er dann wieder nach Halle zurück. Hier setzte er seine neutestamentlichen Studien unter Semler’s Anleitung fort und bereitete sich weiter auf eine akademische Thätigkeit vor. Am 22. October 1768 wurde er Magister der Philosophie. Doch wollte er, ehe er sich habilitirte, noch eine größere Reise machen, zumal um auf auswärtigen Bibliotheken Forschungen für Geschichte und Kritik des neutestamentlichen Textes anzustellen. Im Winter 1768 auf 69 traf er in Frankfurt a. M. die näheren Vorbereitungen zu dieser Reise; im April 1769 verließ er Frankfurt und ging, nachdem er mehrere deutsche Städte besucht hatte, nach Holland und sodann nach England, wo er im September 1769 eintraf und 10 Monate verweilte. Hier arbeitete er im brittischen Museum, in Oxford und Cambridge an der Vergleichung von Handschriften des Neuen Testaments und der Kirchenväter und legte sich die großen Sammlungen an, die er später für seine Ausgaben des Neuen Testamentes verwerthete. Im Juni 1770 ging er nach Paris, wo er vier Monate denselben Studien widmete. Am 6. October [662] 1770 traf er dann wieder nach 1½jähriger Abwesenheit in Frankfurt ein. Zunächst blieb er hier, um seine Collectaneen durchzuarbeiten und sich nun noch näher auf seine Habilitation vorzubereiten. Ende März 1771 ging er darauf wieder nach Halle, wo er zunächst bei Semler wohnte, und habilitirte sich nun alsbald mit einer Dissertation, „De codicibus quatuor evangeliorum Origenianis“. Noch im Sommer 1771 eröffnete er seine Vorlesungen und zwar mit großem Erfolge. Am 25. Februar 1773 schon ward er zum außerordentlichen Professor der Theologie ernannt; vom 1. Mai 1774 datirt die Vorrede der ersten Abtheilung seiner ersten Ausgabe des griechischen Neuen Testamentes, durch deren Herausgabe er seinen Beruf zur neutestamentlichen Kritik über allen Zweifel erhob. Nachdem er sich noch in Halle am 16. April 1775 mit Friederike Juliane Schütz verheirathet hatte, erhielt er am 17. Juni 1775 einen Ruf als (dritter) ordentlicher Professor der Theologie nach Jena; am 2. December wurde er in dieses Amt eingeführt, in welchem er dann mehr als 36 Jahre bis zu seinem Tode verblieb; Berufungen an andere Universitäten lehnte er mehrfach ab. In Jena wurde er am 7. Februar 1777 Dr. theol. und erhielt nach und nach ein akademisches Ehrenamt nach dem andern; im J. 1780 schon ward er zum ersten Male und hernach öfter Prorector. Seit 1782 war er Prälat und Deputirter der jenaischen Landschaft auf dem Landtage, auf welchem er bis zum J. 1811 ein angesehenes Mitglied war; er zeichnete sich hier durch seine Theilnahme an den Berathungen über das Steuerwesen aus, wie er denn überhaupt sich gern an den öffentlichen Angelegenheiten betheiligte und wegen seiner besonderen Befähigung hierfür vielfach dazu veranlaßt wurde. Anfangs hielt er täglich drei Vorlesungen, hernach zwei; außer über neutestamentliche Exegese las er gewöhnlich ein kirchenhistorisches Colleg und außerdem etwa Einleitung ins Neue Testament, biblische Hermeneutik oder auch populäre Dogmatik. Im Frühjahr 1810 unternahm er eine größere Reise nach Frankfurt a/M., Süddeutschland und der Schweiz. Im Sommer 1811 fiel er in eine ernste Krankheit; er machte zwar noch im Oktober einen Versuch zur Wiederaufnahme seiner Vorlesungen, mußte dieselben aber im Januar 1812 ganz aufgeben. Am 24. März 1812, dem Dienstag in der stillen Woche, starb er; am Charfreitag wurde er begraben. – Griesbach’s Verdienste um die neutestamentliche Textkritik sind allgemein anerkannt und werden in der Geschichte der biblischen Wissenschaft nie vergessen werden, obschon weder seine Methode noch seine Resultate den heutigen Ansprüchen genügen und durch die Arbeiten Lachmann’s und vor allem Tischendorf’s und neuerdings einiger englischer Theologen längst überholt sind. G. war der erste, welcher den neutestamentlichen Text selbst auf Grund des Zeugnisses der Handschriften an vielen Stellen anders drucken zu lassen wagte, als es in der damals allein verbreiteten Textesgestalt, dem sogenannten „Textus receptus“, der, obwol an sich völlig werthlos, ein fast canonisches Ansehen genoß, herkömmlich war, – ein Verfahren, welches Joh. Albr. Bengel (vgl. Bd. II. S. 331), der einzige deutsche Theologe, den man Griesbach’s Vorläufer nennen kann, nur an einigen ganz wenigen Stellen (abgesehen von der Apokalypse) und auch an diesen nur in dem Falle, wenn die betreffende neue Lesart schon einmal in einer angesehenen Ausgabe gedruckt worden war, einzuschlagen den Muth gehabt hatte, und welches Wetstein anzuwenden durch seine Gegner sich hatte verhindern lassen. Hierin ward Griesbach’s Verfahren bahnbrechend, und es ist nur zu bedauern, daß er überhaupt noch auf den Textus receptus Rücksicht nahm und die zweifelsohne besseren Lesarten der Handschriften oder Kirchenväter, soweit er sie kannte, als Emendationen an diesem Texte anbrachte. Durch eigene Vergleichung von Handschriften auf seinen Reisen und Untersuchung aller neutestamentlichen Citate in den Schriften [663] des Clemens von Alexandrien und des Origenes bereicherte und verbesserte er den kritischen Apparat seiner Vorgänger. Nach den Lesarten theilte er sowol die vorhandenen Handschriften als die Textgestaltungen, welche den Kirchenvätern vorgelegen hatten, in drei Familien, die er Recensionen nannte, die occidentalische, die orientalische und die byzantinische, und legte hierdurch den Grund zu einer Textgeschichte; es ist dieses das Griesbach’sche Recensionensystem, in welchem er schon von Bengel geäußerte Gedanken (Bengel unterschied zwei Familien), welche dann Semler weiter ausgebildet hatte, in eine festere Gestalt brachte und zu einer vollständigen Theorie ausarbeitete; und wenn diese sich dann auch nicht vor der weiteren Forschung als unanfechtbar erwiesen hat, vielmehr jetzt selbst der Geschichte angehört, so ist es Griesbach’s Ruhm, der Begründer dieser wichtigen Wissenschaft zu sein, durch welche der biblischen Textkritik, die vorher eigentlich nur Varianten zu sammeln und zu zählen verstand, eine feste Grundlage gegeben ist. Er stellte dann auch als Folge seines Recensionensystems bestimmte kritische Grundsätze auf, die sich ihm in der weiteren Anwendung zu eigentlichen normativen Bestimmungen, die er in kurze Sätze zusammenfaßte, ausbildeten, nach welchen dann jedesmal die Entscheidung für eine Lesart mit größerer oder geringerer Sicherheit zu treffen war. Das Resultat dieser Arbeiten liegt in seinen verschiedenen Ausgaben des Neuen Testamentes vor, deren erste zuerst 1774 und 75 in 3 Abtheilungen erschien; eine zweite Hauptausgabe erschien 1796 und 1806 in zwei Bänden; eine dritte Bearbeitung kam in einer Prachtausgabe in vier Folianten 1803–7 zu Leipzig bei Goeschen heraus; der Text dieser letzten Ausgabe wurde dann vielfach in Handausgaben wieder gedruckt und wird in England und Amerika noch als Griesbach’sche Ausgabe verbreitet. Vom ersten Bande der zweiten Ausgabe lieferte David Schulz 1827 eine neue Auflage. Seine kritischen Grundsätze hat G. in mehreren besonderen Schriften und Abhandlungen, hauptsächlich dann aber in der Vorrede zum ersten Theil der zweiten Hauptausgabe (1796) veröffentlicht. Von seinen übrigen Schriften ist besonders zu nennen seine „Anleitung zur gelehrten Kenntniß der Dogmatik“, hernach „Anleitung zum Studium der populären Dogmatik“ genannt, welche in den Jahren 1779–89 in 4 Auflagen erschien und zur Beurtheilung seines theologischen Standpunktes, der etwa der einer milden Orthodoxie ist, von Interesse bleibt. Seine kleineren Schriften, meistens Programme, gab Gabler nach seinem Tode in zwei Bänden heraus.

Henr. Car. Abr. Eichstadii opuscula oratoria, Ed. II, Jenae 1850. J. Hasemann in Ersch und Gruber I, Bd. 91, S. 28–35 (1871). Heinrich Döring, Die gelehrten Theologen Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. I, Neustadt a. d. O. 1831, S. 531–42, wo ein Verzeichniß seiner Schriften. Ueber Griesbach’s Verdienste um die neutestamentliche Textkritik sind die Prolegomena Tischendorf’s zu den Ausgaben des N. T., außerdem der Artikel „Bibeltext des Neuen Testaments“ in der Real-Encyklopädie für prot. Theol. und Kirche von Herzog und Plitt, 2. Aufl., Bd. II, S. 423 f. zu vergleichen; ferner jede Einleitung ins Neue Testament.