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Artikel „Semler, Johann Salomo“ von Paul Tschackert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 698–704, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Semler,_Johann_Salomo&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 16:20 Uhr UTC)
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Semler: Johann Salomo S., † 1791. S. ist der Hauptrepräsentant der theologischen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts; unfähig, die Theologie positiv zu fördern, hat er sich dennoch durch seine destructive Lebensarbeit große Verdienste um die theologische Wissenschaft erworben. Man wird dieselben nur würdigen können, wenn man sich die geschichtlichen Verhältnisse vergegenwärtigt, unter welchen S. arbeitete. Im religiösen Leben des deutschen Protestantismus hatte zwar eben der Pietismus die Herrschaft der Orthodoxie wankend gemacht; aber da dieser auf wissenschaftlichem Gebiete unfruchtbar geblieben war, so beschäftigte man sich innerhalb der theologischen Gelehrtenwelt noch immer fast ausschließlich mit demjenigen Apparat von Gelehrsamkeit, welchen man dem staunenswerthen Sammlerfleiße und Ordnungsgeiste der orthodoxen Theologen verdankte. Deren Wissenschaft aber war eine ausschließlich dogmatische; sie ermangelte noch gänzlich der historischen Kritik; man tradirte hier, was man von den Vätern überkommen hatte, und suchte diesen fertigen Erkenntnißbestand schulmäßig möglichst scharfsinnig auseinanderzulegen und so zu beherrschen. Dogmatismus, Traditionalismus und Scholasticismus kennzeichnen die damals im allgemeinen noch herrschende Theologie. Auf dem Gebiete der Glaubens- und Sittenlehre war allerdings durch die Philosophie Wolf’s bereits eine aufgeklärtc Lehrweise in die Theologie eingedrungen; Jacob Sigismund Baumgarten in Halle hatte sie bereits mit Erfolg angewandt; aber in der exegetischen und historischen Theologie hatte damals für wissenschaftliche Arbeit noch niemand die Bahn frei gemacht. An dieser Stelle setzte S. ein; und heute ist unter historisch gebildeten Theologen kein Zweifel darüber, daß mit seiner Lebensarbeit die neuere Theologie beginnt; sie gilt als epochemachend für Bibelwissenschaft und Dogmengeschichte. Der Ertrag dieser Arbeit läßt sich mit wenig Worten dahin bestimmen, daß, während die Orthodoxie die Bibel und das Dogma als fertige Größen ansah, denen wandellose göttliche Autorität zukomme, S. alles aus seiner Zeit heraus verstehen lehrte. Der Inhalt der biblischen Bücher solle „lokalisirt“ und „temporalisirt“, d. h. aus örtlichen und zeitlichen Verhältnissen heraus erklärt, von diesen localen und temporalen Bestandtheilen befreit und so in seinem moralischen Gehalt, zur moralischen Aufbesserung der Menschheit gebraucht werden. Dadurch schuf S. die historisch-kritische Exegese der Aufklärungstheologie. Das Dogma aber sollte man, so forderte er, auffassen als die jeweilige Form der begrifflichen Erkenntniß des Christenthums, also als eine fluctuirende Größe, die als solche eine Geschichte erlebe; dadurch legte S. den Grund zu einer wissenschaftlichen Dogmengeschichte; auch sie ist ein Product der Aufklärungstheologie und zwar hauptsächlich Semler’s. Da er als unermüdlich fleißiger Lehrer und Schriftsteller [699] bis in sein hohes Alter hinein durch Vorlesungen und Schriften seine Anschauungen verbreiten konnte, so hat wesentlich er der theologischen Aufklärung zum Siege über die Orthodoxie verholfen und ihr die Herrschaft gesichert, bis sie von dem entschiedener kritischen „Rationalismus“ abgelöst wurde. Man mag heute über den positiven Gehalt der Semler’schen Wissenschaft gering denken, mag auch wol darüber spotten, daß von seinen 171 Schriften kaum die eine und die andere eine zweite Auflage erlebte, und daß heute überhaupt keine von ihnen mehr gelesen wird; trotzdem sind alle wissenschaftlichen Richtungen in der Theologie darüber einig, daß, formell betrachtet, die Semler’schen wissenschaftlichen Grundsätze Wahrheitsbestandtheile enthalten, welche nicht verloren gehen dürfen. Daß man an den biblischen Büchern den religiös-sittlichen Gehalt und dessen geschichtliche Form zwar sachlich nicht zu scheiden, aber doch theoretisch zu unterscheiden habe, wird heute von der modern-confessionellen Theologie geradeso anerkannt, wie von der modern-rationalistischen; daß ferner im Dogma das lehrhafte Christenthum stets in einer durch die wissenschaftlichen Mittel der jeweiligen Zeitbildung begrifflich ausgearbeiteten Gestalt vorliegt, so daß Christenthum und Dogma nicht identificirt werden dürfen (wenn sie auch, wie ich meine, nicht von einander zu trennen sind), darüber ist innerhalb der wissenschaftlichen Kreise des gesammten Protestantismus heute ebenfalls kein Zweifel mehr. Diese beiden Bestandtheile unserer Erkenntniß müssen in letzter Linie auf S. als Urheber zurückgeführt werden. Gehen wir nach dieser allgemeinen Orientirung über seine geschichtliche Bedeutung auf sein Leben und Wirken näher ein.

S. wurde zu Saalfeld in Thüringen am 18. December 1725 geboren, wo sein Vater Archidiakonus war (derselbe starb als Superintendent daselbst im Jahre 1755). Nachdem S. in der städtischen Schule seiner Heimath und zugleich im Elternhause die nöthige Vorbildung erhalten hatte, bezog er im Jahre 1744 die Universität Halle. Es unterliegt keinem Zweifel, daß pietistische Einflüsse, unter denen er aufgewachsen war, den Ausschlag zur Wahl gerade dieser Hochschule gegeben hatten; denn nicht der Ruf des Philosophen Wolf oder des Theologen Baumgarten, sondern der des Halleschen Waisenhauses und seines Pädagogiums lenkten in den damaligen christlichen Kreisen Deutschlands den Blick auf Halle. So fand denn auch der junge S. zuerst Wohnung auf dem Waisenhause und begann theologische Vorlesungen zu hören und sich mit dem Studium orientalischer Sprachen zu beschäftigen. Bald aber schloß er sich hauptsächlich an den Professor Baumgarten an, welcher die Wolf’sche Aufklärungsphilosophie auf die theologische Glaubenslehre anwandte, und Baumgarten gewann an S. solches Gefallen, daß er diesen strebsamen Jüngling in sein Haus aufnahm. Durch den näheren Umgang mit diesem seinem Lehrer wurde S. ganz für dessen Lehrweise gewonnen, nahm aber mehr die Gelehrsamkeit desselben als dessen logische Schärfe in sich auf. Schon als Student lieferte er Proben einer staunenswerthen Belesenheit und Vielwisserei und einer dem entsprechenden Schreiblust. Am Ende seiner Studienzeit, im Jahre 1750, disputirte er unter Baumgarten’s Vorsitz über die vornehmsten Lesarten des Neuen Testaments mit großer Auszeichnung, worauf er zum Magister der Philosophie promovirt wurde. (Die Dissertation hat den Titel „Vindiciae plurium praecipuarum lectionum Codicis graeci Novi Testamenti adversus Guil. Whistonum“. Halae 1750, 4.) Noch in demselben Jahre erhielt S. seine erste amtliche Anstellung zu Koburg unter dem Titel eines außerordentlichen Professors an dem Gymnasium zu Koburg, thatsächlich war er aber dort mit der Redaction der Koburger Zeitung betraut. Schon im nächsten Jahre gelang es ihm indeß durch Empfehlung gelehrter Gönner, eine Professur der Geschichte und der Poesie in Altdorf zu erhalten; 1752 aber zog ihn sein Lehrer und väterlicher Freund Baumgarten nach Halle. [700] Hier übernahm er eine theologische Professur, in welcher er bald seine Meisterschaft als Gelehrter bewies, nachdem er sich noch 1753 in Altdorf die theologische Doctorwürde erworben hatte. In der späteren Erinnerung erschien ihm das dort verlebte Jahr als ein paradiesisches. Vom October des Jahres 1752 bis zu seinem Tode 1791 gehörte S. ununterbrochen der Hallischen Hochschule an. Bei dem noch recht jungen Lebensalter, in welchem er zur theologischen Professur berufen war, wird es nicht Wunder nehmen, daß er zunächst ganz in den Bahnen des von ihm fast grenzenlos bewunderten Baumgarten wandelte. Hatte S. schon als Jüngling eine ungezügelte Lesesucht entfaltet und als Student neben der Theologie in den ungleichartigsten Arbeiten, philologischen, historischen, ästhetischen, archäologischen und anderen mehr, gleichzeitig sich versucht, so wurde die Berufung des noch nicht ausgereiften jungen Mannes in das verantwortungsvolle Lehramt für ihn eine große Gefahr, zumal er, seiner Vielleserei entsprechend, seine litterarischen Productionen am liebsten schnell fertig zu sehen wünschte, ohne sie inhaltlich ausreifen zu lassen und formell zu vollenden. S. hat diese Gefahr nicht überwunden; darum sind seine Werke so schnell vergessen worden, die meisten schon bei Lebzeiten ihres Verfassers. – Es war ein Glück für S., daß Baumgarten ihn bei seiner Ankunft in Halle zunächst auf das Gebiet der historischen Theologie wies, für welches er ohne Zweifel die meiste Vorbereitung besaß. Dadurch geschah es, daß seine theologischen Studien eine historische Richtung erhielten; diesem Umstande aber verdankte er seine ganze Fruchtbarkeit sowohl auf dem Gebiete der Exegese als auch auf dem der Dogmatik, auf welchen beiden er bald als epochemachender Aufklärer sich hervorthat. Zwar solange Baumgarten lebte, überstrahlte ihn der Name dieses seines gefeierten und auch von ihm bewunderten Lehrers. Aber wenige Jahre nach dem Tode desselben (er starb 1757), etwa um 1760, galt er für den gelehrtesten Theologen Deutschlands und für den bahnbrechenden Aufklärer, bis etwa nach 1780 die öffentliche Meinung umschlug, und S. selbst erleben mußte, daß er von radicalen Geistern, von Ultras der Aufklärung, überholt und bei dem aufgeklärten Publicum in Schatten gestellt wurde. Doch verweilen wir zunächst bei der Arbeit seiner Mannesjahre! Seine historisch-theologischen Studien führten ihn zur Grundlage aller Theologie, zu einem genauen Studium der neutestamentlichen Schriften, und hierbei kam er durch Selbststudium je länger desto entschiedener zu der Erkenntniß, welche vor ihm kein Exeget gehabt, daß nämlich zu einem möglichst authentischen Verständniß der neutestamentlichen Autoren keine andere als nur die historische Interpretation hinzuführen geeignet sei. Was ihm so als Ahnung aufgegangen war, entwickelte er zur Theorie und wandte es praktisch an; aber eine systematische Darstellung dieser seiner Erkenntniß hat er nirgends gegeben. (Proben davon finden sich in seinem Apparatus ad liberalem N. T. interpretationem 1767; in seinen hermeneutischen Vorbereitungen u. s. w. (vgl. Eichhorn [s. u.] S. 27). Auch verstand er noch nicht mit der historischen die grammatische Exegese zu verbinden; denn zu der langsamen Arbeit des Silben und Worte wiegenden Grammatikers fehlte ihm die nöthige Geduld, während er doch die Schriftsprachen der Bibel in außergewöhnlicher Weise beherrschte. Er liebte die Paraphrasen mehr als die genauen Wort-Interpretationen, und zwar wählte er diese Form der Schrifterklärung, weil er in ihr seine eigene Auffassung des Schriftsinnes breit auseinanderlegen und durch hinzugefügte historische und dogmatische Reflexionen seine Ansichten bequem in Umlauf setzen konnte. Leider wählte er dazu die lateinische Sprache, – wozu mit Recht J. G. Eichhorn (s. u.) S. 32 daran erinnert, daß, wenn schon ein Erasmus mit seiner formvollendeten Latinität das Ideal einer Paraphrase nicht erreicht hatte, der formlose S. noch weit weniger dazu im Stande [701] sein konnte. Die Paraphrasen erschienen nach Eichhorn’s Aufzählung (S. 31) in folgender Ordnung: „Paraphrasis epistolae ad Romanos, cum notis, translatione vetusta etc. 1769“; „Paraphrasis in primam Pauli ad Corinthios epistolam“ 1770; in secundam 1776; „Paraphrasis evangelii Joannis“ P. I 1771; II 1772; „Paraphrasis epistolae ad Galatas“ 1779; „Paraphrasis epistolae Jacobi“ 1781; „Paraphrasis in epistolam I Petri“ 1783; in epist. II Petri et ep. Judae“ 1784. „Paraphrasis in I. Joannis epistolam“. Rigae 1792.

Nicht mit Unrecht wird man S. auch auf dem Gebiete der neutestamentlichen Textkritik ein Verdienst zusprechen; nur hatte er es hier leicht, da Albrecht Bengel ihm in der Herstellung des originalen griechischen Textes des Neuen Testamentes meisterhaft vorgearbeitet hatte; aber S. war es, der im Gegensatz zu der Mehrzahl der wissenschaftlichen Zeitgenossen Bengel’s Leistung aufnahm und weiter führte. Da es hierbei ohne Auseinandersetzung mit Wetstein (der Lesarten mehr aufreihte als abwog) nicht abging, so begegnet uns der Name dieses Gelehrten in den hauptsächlichsten der hierher gehörigen Schriften Semler’s. Die Titel derselben lauten: „Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik“ 1–4. Stück. 1760–1770; „J. J. Wetstenii prolegomena in Novum Testamentum cum notis et appendice“. Halae 1764. „J. J. Wetstenii libelli ad crisin atque interpretationem N. T.“ Halae 1766. Fragen der höheren Kritik über Echtheit oder Unechtheit einzelner Theile des Neuen Testamentes, über die Originalität des vorliegenden Textes u. s. w., hat S. daneben in zahlreichen Programmen behandelt, in nicht wenigen derselben mit Glück und Scharfsinn. Sein Kritiker Eichhorn bezeichnet als solche (a. a. O. S. 56): „Dissertatio, quod Paulus epistolam ad Hebraeos graece scripserit“. 1762 (4°); „Dissertatio de tempore, quo epistola ad Galatas scripta fuerit.“ 1767 (4°); „Dissertatio de duplici appendice epistolae ad Romanos cap. 15 et 16.“ 1767 (4°).

Das meiste Aufsehen erregte S. aber durch die mit seiner Verbalkritik verbundene kühne Sachkritik. Hier war es, wo er einen geschichtlichen Blick zeigte, wie ihn vor ihm kein Interpret besaß. Zwar verfiel er hierbei in die subjectivsten Hypothesen, aber Anregungen gingen von ihm so mächtig aus, daß Freund und Feind von ihm sich berührt wußte. Der Grundgedanke der modernen kritischen Tübinger Schule von der Entwickelung der christlichen Kirche aus den Gegensätzen des Ebionitismus und des Paulinismus zum Katholicismus, begegnet uns in elementarer Form bereits bei S. Durch alle seine historisch-kritischen Arbeiten zieht sich die grundlegende Hypothese, daß es in der Christenheit des ersten Jahrhunderts zwei Parteien gegeben, eine jüdisch-ängstliche und eine geistig freiere, jene z. B. durch Petrus, diese durch Paulus repräsentirt; aus der Vereinigung beider sei schließlich gegen Ende des zweiten Jahrhunderts die katholische Kirche erwachsen. Nur führte S. die Zweiheit dieser Richtungen auf eine doppelte Lehrweise Jesu selbst zurück, der sich vor strengen Juden einer jüdisch-ängstlichen Denkweise accommodirt, vor hellenistisch-gebildeten Hörern aber als über alle jüdischen Vorurtheile erhaben gezeigt habe. Aus dem Neuen Testamente schrieb S. die Evangelien der jüdisch-christlichen, die paulinischen Schriften der ihr entgegenstehenden freieren Partei und die katholischen Briefe der Vereinigung beider zu. Alle diese Schriften aber sah er als für Zeitgenossen geschrieben an, als Schriften von localer und temporeller Bestimmung, die deshalb so wie sie lauten weder für alle Völker noch für alle Zeiten geschrieben seien, folglich streng genommen auch von uns entbehrt werden könnten. Erwächst daraus dem Interpreten die Aufgabe, den Inhalt der betreffenden Schriften local und temporal zu verstehen, so bringt es dennoch der historisch-kritische Aufklärer fertig, den für die damaligen Leser geschriebenen Inhalt in unsere Denkweise und in unsere Vorstellungen umzuwandeln und so dasselbe Neue [702] Testament, welches vorhin theoretisch als nicht mehr nothwendig beurtheilt war, nicht bloß als die erste, sondern als die unveränderliche Quelle des christlichen Glaubens hinzustellen. S. hatte sich so die Möglichkeit geschaffen, liberale und positive Theologie zugleich zu betreiben; er hat so einerseits vor seinen theologischen Zeitgenossen und dem breiten gebildeten Publicum eine ungezügelte Hypothesensucht entfaltet, und dadurch sich den Ruf des aufgeklärtesten theologischen Gelehrten erworben, andrerseits vor dem Radikalismus der Aufklärung sich gehütet, welcher dem geschichtlichen Urchristenthum jeden Werth für die Gegenwart absprach. Das Alte Testament hat S. bei seinen Studien nur gestreift, aber im Anschluß an Richard Simon auch hier Winke gegeben, welche von der wissenschaftlichen Kritik nicht ignorirt werden konnten. (Vgl. Semler’s Apparatus ad liberalem interpretationem Vet. Test. 1773; Hermeneutische Vorbereitungen Stück 1 und 2, Eichhorn a. a. O. S. 86).

Dieselben Grundsätze, durch deren Befolgung S. die neutestamentliche Forschung in ein neues Stadium geleitet hatte, wandte er mit der gleichen Entschiedenheit auf die gesammte folgende Geschichte der Kirche an. „Wie ein Heros schritt er allgewaltig und gebietend über die unermeßlichen Felder der Kirchengeschichte einher bis an die Grenzen des achtzehnten Säculums; über diese wagte er sich nie hinaus.“ (Eichhorn a. a. O. S. 97.) Dabei erwarb er sich das Verdienst, daß er seine Hörer und Leser in die Quellen einführte; aber über die Aufhäufung eines kritisch gesichteten Materials ist er nicht hinaus gekommen. Es war ihm nämlich eine Lust, aus unbekannten Quellen Mittheilungen zu machen oder längst bekannte in ein neues Licht zu rücken; wie er z. B. im Jahre 1775 das Schreiben des Pelagius an die Demetrias herausgab, um den britischen Mönch als einen mit den griechischen Kirchenvätern übereinstimmenden Lehrer und Augustin’s Lehre von der Erbsünde als eine irrige zu erweisen; aber zu einer irgendwie vollendeten Darstellung der Kirchengeschichte fehlte ihm wieder Sammlung und Geschmack. Auch hat er in der damals gangbaren Methode der eigentlichen Kirchengeschichte nichts wesentlich geändert; denn von dem Schema der „Centurien“, der Eintheilung der Geschichte in Jahrhunderte, hat auch er sich nicht losgemacht. Als kirchengeschichtliche Hauptwerke Semlers sind zu nennen: „Selecta capita historiae ecclesiasticae“. 1767–69. 3 Bände. „Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchen-Geschichte“. 3 Bände. „Commentarii historici de antiquo Christianorum statu“. „Versuch christlicher Jahrbücher“. 1783. „Novae observationes ad h. e.“ u. a. m.

Trotz des bunten Vielerleis seiner Mittheilungen verfolgte S. letztlich doch ein dogmatisches Ziel von größter Wichtigkeit: auf geschichtlichem Wege wollte er den Nachweis liefern, daß das herrschende Dogma nicht mit dem Christenthum identificirt werden dürfe, daß kirchliche Theologie und christliche Religion sich zu einander verhalten wie die Lehre von einer Sache zur Sache selbst. S. traf damit den Hauptfehler der Orthodoxie, welche die Religion mit dem Dogma verwechselte. Im Gegensatze dazu lehrte S., daß das Dogma selbst jederzeit eine allmähliche Geschichte durchlebt habe, eine Geschichte mit menschlichen Schwächen, Fehlern und Einseitigkeiten, wie denn z. B. die Lehre von der Erbsünde bloß durch den zufälligen Sieg Augustin’s über den Freidenker Pelagius in das kirchliche Lehrsystem eingedrungen sei. Durch diese Art, das kirchliche Dogma nicht als eine fertige und starre, sondern als eine im Flusse befindliche Größe zu betrachten, wurde S. der „Vater der Dogmengeschichte“ und wird als solcher in der Geschichte dieser Disciplin stets einen geachteten Namen behalten. (Seine grundlegenden Gedanken darüber hat S. in der historischen Einleitung zu „J. S. Baumgartens evangelischer Glaubenslehre“ [3 Theile, 1759–1760] ausgesprochen.) Leider schoß er in seinem aufgeklärten [703] Eifer dadurch über das Ziel hinaus, daß er in der Geschichte der Dogmen lediglich den Zufall als wirkende Ursache gelten ließ und von der Nothwendigkeit des Dogmas für die Religion keine Ahnung hatte. Daß die christliche Frömmigkeit selbst eine gemeinsame begriffliche Erkenntniß ihrer selbst innerhalb der Christenheit erzeugen muß, um über sich klar zu werden, um die Gewähr der inneren Wahrheit zu erhalten und vor Irrthum sich zu schützen, diese innere Nothwendigkeit des Dogmas für die christliche Religion und damit den inneren Grund seiner Geschichte hat S. nicht erkannt.

In der Folgerichtigkeit der Semler’schen Beurtheilung des Dogmas hätte die Negation desselben gelegen. Nichtsdestoweniger hat S. einen Weg gefunden, auf welchem er dem Dogma Autorität zusprach. Seit dem Jahre 1779, wo er seine „Antwort auf das Bahrdtsche Glaubensbekenntniß“ veröffentlichte, bis zu seinem Tode, wie sein „Letztes Glaubensbekenntniß“ (herausgegeben von Schütz, Königsberg 1792) beweist, lehrte er die Nothwendigkeit einer öffentlich gültigen Religion im Unterschiede von der moralischen Privatreligion. Durch das Auftreten des frivolen Aufklärers Dr. Bahrdt, welcher als Docent in Halle einen ungeheuren Zulauf erhielt, als er aus dem Christenthum in schamlosem Cynismus den gemeinsten Naturalismus machte, fürchtete S. nämlich, daß in der öffentlichen Meinung „alles in Verwirrung gerathen“ könne. Um der vielen guten Seelen willen, welche einmal am hergebrachten Worte kleben, wünschte S. daher, in Volksunterricht, in Katechismen und Andachtsbüchern, keine Abweichung von der lutherischen Kirchenlehre vorgenommen zu sehen. Um Einigkeit und Ordnung unter den Christen eines Landes aufrecht zu erhalten, bedürfe man einer öffentlichen Religion; in dieser finde der große Haufe seine geistliche Wohlfahrt und begnüge sich damit; für diejenigen Christen aber, welche höhere religiöse Bedürfnisse haben, werde diese Form der Religion das Vehikel zur Ausbildung einer privaten Religion, welche jeder sich nach seiner Eigenart bilde. (Semler’s abschließende Gedanken darüber stehen in seinem posthumen Werke „Letztes Glaubensbekenntniß“ 1792, S. 371 ff.) In arger Selbsttäuschung (vgl. H. Schmid, Die Theologie Semler’s 1858, S. 176 ff.) glaubte S. troß dieses seines Dualismus auf dem Boden der lutherischen Kirche zu stehen. „Ich bin weder ein Rationalist noch ein Socinianer oder Arianer“, schrieb er 1779 in der oben citirten „Antwort auf das Bahrdt’sche Glaubensbekenntniß,“ „sondern ein ehrlicher, treuer lutherischer Professor, der seinen Eid zu bereuen oder zu brechen gar keine Ursache hat.“ So nahm er keinen Anstand, selbst das Wöllner’sche Religionsedict vom 9. Juli 1788 zu vertheidigen. (Vgl. Semler’s „Vertheidigung des königl. Religionsedicts etc.“ Halle 1788.) Erstaunt bedauerten Semler’s aufgeklärte Zeitgenossen den Abfall ihres litterärischen Führers zur Orthodoxie (vgl. Eichhorn a. a. O. S. 160 ff.); die Orthodoxen aber, denen er dreißig Jahre entgegengearbeitet hatte, wollten jetzt trotz seiner Bekenntnisse dennoch nichts von ihm wissen. So stand er wissenschaftlich vereinsamt und beschäftigte sich schließlich sogar mit alchimistischen Studien, unbetheiligt an dem Kampfe der Principien, in welchem der Kantische Rationalismus über die theologische Aufklärung den Sieg errang.

Die wichtigsten Schriften Semler’s sind von uns oben an den betreffenden Stellen seiner litterarischen Wirksamkeit aufgeführt; ein vollständiges Verzeichniß aller seiner Publicationen nach chronologischer Ordnung findet sich in J. G. Eichhorn, Johann Salomo Semler. Einige Bemerkungen über seinen litterarischen Charakter. 1793. S. 184–201.

Ueber Semler’s Leben orientirt zunächst seine für seine Freunde in behaglicher Breite geschriebene Selbstbiographie „Lebensbeschreibung, von ihm selbst abgefaßt in zwei Bänden, I. 1781; II. 1782. Dazu kommen: Fr. Aug. Wolf, Ueber Herrn D. Semler’s letzte Lebenstage für seinen künftigen [704] Biographen. Halle 1791. – Niemeyer, Semler’s letzte Aeußerungen über religiöse Gegenstände zwey Tage vor seinem Tode. Halle 1791. – D. J. A. Nösselt, De Semleri maxime ut interpretis N. T. laudibus narratio, vor Semler’s Paraphrasis in primam Joannis epistolam. Rig. 1792; deutsch in Nösselt’s Leben von Niemeyer II, 194; Schlichtegroll, Necrolog a. d. J. 1791. Jahrg. II, Band II, (1793), S. 1. – C. G. Schütz in seiner Vorrede zu dem von ihm herausgegebenen Werke Semler’s letztes Glaubensbekenntniß“. Königsberg 1792. – Zur Beurtheilung der geschichtlichen Bedeutung Semler’s ist zu vergleichen Tholuck, Vermischte Schriften 2. Theil 1839, S. 39 und in Herzogs Real-Encyklopädie, 2. Aufl. 14. Bd. (1884) S. 111 bis 119. –. Zeller in Theol. Jahrb. 1842, S. 17. – Diestel in Jahrbücher f. Deutsche Theol. 1867, S. 475. – H. Schmid, Die Theologie Semler’s. Nördlingen 1858. – Gaß, Gesch. d. prot. Dogmatik, 4. Bd. 1867, S. 26. – Dorner, Gesch. d. prot. Theol. 1867, S. 703. – Frank, Gesch. d. prot. Theol. 3. Theil. 1875, S. 61 ff. – M. A. Landerer, neueste Dogmengeschichte, hrsg. v. Zeller 1881, S. 6–18.