ADB:Niemeyer, August Hermann
August Hermann Francke’s. Nachdem er 1764 seine Mutter und 1767 seinen Vater, der Prediger an der Marienkirche zu Halle war, verloren hatte, sorgte die Wittwe eines zu Halle verstorbenen Leibarztes Lysthenius für dessen Erziehung. Nach Absolvirung der urgroßväterlichen Anstalten, des Pädagogiums seiner Vaterstadt, widmete er sich 1771 daselbst den theologischen Studien. 1777 begann N. seine akademische Thätigkeit zu Halle mit verschiedenen Vorlesungen, besonders auch mit Erklärungen alter Classiker, von denen er zugleich zweckmäßige Schulausgaben besorgte. In Anerkennung seiner Leistungen wurde er 1784 zum ordentlichen Professor der Theologie sowie zum Inspector des königlichen Pädagogiums und 1785 zum Mitdirector der gesammten Francke’schen Stiftungen ernannt; diese waren damals in Rückgang gekommen, und N. erwarb sich durch deren Hebung, vornehmlich durch sorgfältige Wahl geschickter Lehrer um dieselben große Verdienste. 1787 wurde zu Halle ein pädagogisches Seminar gegründet, dessen Leitung N. übertragen wurde zugleich mit dem Auftrage über Theorie des Unterrichts und der Erziehung Vorlesungen zu halten, die dann auch ein zahlreiches Auditorium fanden. Als 1806 Halle von den Franzosen besetzt und die Universität wegen politischer Demonstrationen der Studenten von Napoleon aufgehoben wurde, wurde damit auch Niemeyer’s akademische Thätigkeit unterbrochen und seine Wirksamkeit war zunächst nur auf die Leitung der Francke’schen Stiftungen und seine wissenschaftlichen Arbeiten beschränkt. Im Mai 1807 wurde N. nebst vier anderen der geachtetsten Einwohner von Halle auf Befehl Napoleons als Geisel nach Frankreich geschickt; seine hier erlebten Reiseeindrücke hat er nachher in den zwei Bänden seiner „Beobachtungen auf einer Deportationsreise“ niedergelegt. Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde ihm seitens des Königs von Preußen eine Professur an der zu Berlin zu errichtenden Universität angetragen; aus Liebe zu seiner Vaterstadt, um sein Verbleiben daselbst zu ermöglichen, entschied er sich jedoch zum Eintritt in den westfälischen Staatsdienst und er wurde 1808 von dem Könige Jérôme zum Kanzler der in diesem Jahre wiederhergestellten Universität Halle und zum beständigen Rector derselben ernannt. 1813 fiel N. infolge seiner Flucht nach Leipzig und verleumderischer Denunciationen, wornach er mit der preußischen Regierung politische Beziehungen unterhalten sollte, bei Jérôme in Ungnade, ebenso erschien die Stadt und Universität Halle der französischen Regierung verdächtig, infolge dessen durch Decret Napoleons vom 15. Juli 1813 die Universität zum zweiten Male aufgehoben wurde und N. seine Aemter und Würden verlor. Nach der Schlacht bei Leipzig wurde die Universität Halle wieder eröffnet und N. trat wiederum in seine amtliche Stellung daselbst ein. 1816 empfing er einen Beweis des königlichen Wohlwollens durch die erneute Ernennung zum Oberconsistorialrath bei dem Consistorium der Provinz Sachsen. Das fünfzigjährige Jubiläum der Doctorwürde und der akademischen Wirksamkeit Niemeyer’s wurde von der Universität Halle am 18. April 1827 in ehrendster Weise begangen, dessen Feier noch erhöht wurde durch ein Glückwunschschreiben [678] an den Jubilar und durch ein Geschenk von 40,000 Thalern zum Zwecke der Errichtung eines Universitätsgebäudes als eines Lieblingswunsches Niemeyer’s. Er starb im folgenden Jahre infolge eines Schlaganfalles.
Niemeyer: August Hermann N., evangelischer Theolog und Pädagog, geb. zu Halle am 1. September 1754, † am 7. Juli 1828, von mütterlicher Seite ein UrenkelNiemeyer’s Wirksamkeit auf pädagogischem Gebiet läßt sich am deutlichsten aus seinen während seiner ganzen amtlichen Thätigkeit zeitweise erschienenen Schriften ersehen, die er den Bedürfnissen des Unterrichts entsprechend zu dessen Förderung und zur Hebung der religiös sittlichen Erkenntniß schrieb. Seine erste von ihm noch als Lehrer der Francke’schen Stiftungen 1775 veröffentlichte Schrift: „Charakteristik der Bibel“ war übrigens theologischer Natur, lenkte aber das öffentliche Interesse auf ihn; 1831 erschien von dem Sohne des Verfassers eine neue Ausgabe derselben. Nachdem N. 1784 zum Inspector des königlichen Pädagogiums und 1785 zum Mitdirector der gesammten Francke’schen Stiftungen ernannt worden war, führte ihn die Leitung dieses Schulwesens auf das Feld der Pädagogik; er besprach nun in Schulprogrammen das Schulwesen betreffende Gegenstände, so veröffentlichte er 1787 ein Programm „Ueber den Geist des Zeitalters in pädagogischer Rücksicht“, 1. und 2. Heft, zur Klärung und Vermittlung damals herrschender extremer pädagogischer Ansichten. 1790 erschien sein „Pädagogisches Handbuch für Schulmänner und Privaterzieher“, dessen erster Theil jedoch keine Fortsetzung erfuhr. 1796 schrieb N. seine „Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Schulmänner“, das noch zu Lebzeiten des Verfassers acht Auflagen in drei Theilen erfuhr; eine neunte Auflage des heute noch in Fachkreisen geschätzten Werkes besorgte von 1834–39 sein Sohn Dr. H. A. N.; gleichzeitig ließ N. zum Gebrauche bei seinen pädagogischen Vorträgen im Seminar eine Uebersicht der in der zuletzt genannten Schrift ausgeführten Theorie der Erziehung und 1803 einen „Leitfaden der Pädagogik und Didaktik“ erscheinen, der 1804 eine zweite verbesserte Auflage erhielt. Gleichfalls für das Seminar berechnet, doch auch als Beilage zum geschichtlichen Theil seiner „Grundsätze“ sind die 1813 herausgegebenen „Originalstellen griechischer und römischer Classiker über die Theorie der Erziehung und des Unterrichts“ zu betrachten, die in ihrer Zusammenstellung einen sechshundertjährigen Zeitraum der Geschichte der Erziehung und des Unterrichts umfassen. Als christlicher Pädagog schrieb er ferner das „Handbuch für christliche Religionslehrer“, dessen zweiter Theil vor dem ersten Theil 1790 unter dem Titel „Homiletik, Pastoralanweisung und Liturgik“ erschien; der 1792 erschienene zweite Theil war betitelt: „Populäre und praktische Theologie oder Methodik und Materialien des christlichen Volksunterrichts“. Der erste Theil erfuhr 1823 und der zweite Theil 1827 die sechste Auflage. Mit diesem Handbuch hingen zusammen Niemeyer’s „Briefe an christliche Religionslehrer“, 1. und 2. Sammlung 1796–97. Zum Zwecke des Religionsunterrichts an höheren Schulen verfaßte N. 1801 ein „Lehrbuch für die oberen Religionsclassen in Gelehrtenschulen“, das 1843 die 18. Auflage erhielt. Diese auf dem Gebiete der Religionslehre sich bewegenden Schriften wurden von protestantischer Seite vielfach scharf angefochten und das oben erwähnte Handbuch für christliche Religionslehrer sogar von der Regierung für den Gebrauch verboten und der Verfasser selbst mit Absetzung bedroht, welche nur der Wille des Königs verhinderte. Zugleich mit dem erwähnten Lehrbuch für die oberen Religionsclassen erschienen die bis 1822 viermal aufgelegten „Erläuterungen, Anmerkungen und Zusätze zum Gebrauche der Lehrer“. Von Niemeyer’s Interesse für die Hebung des damals vielfach in unfruchtbarer Weise ertheilten Religionsunterrichts zeugt auch das 1798 herausgegebene Programm: „Ideen über den Plan eines Lehrbuchs für die oberen Religionsklassen“. Auch als Dichter, besonders auf dem Felde der religiösen Dichtung, hat sich N. versucht und zwar in Liedern, Hymnen und Oratorien; [679] außer mehreren früh verfaßten religiösen Dramen ließ er 1778 Gedichte und Oden, 1785 ein Gesangbuch für höhere Schulen und Erziehungsanstalten erscheinen, dann schrieb er auch einige Erbauungsschriften, wie „Philotas“ 1779 bis 1808, 3 Theile, „Timotheus“ 1784–90, 3 Abtheilungen, sowie „Feierstunden während des Kriegs“. – Ein vollständiges Verzeichniß von Niemeyer’s Schriften und sonstigen litterarischen Arbeiten in chronologischer Ordnung findet sich in seinem von Jacobs und Gruber verfaßten Nekrolog S. 432 ff. Seine pädagogischen Bestrebungen gaben N. auch Anlaß zum Studium der Philosophie, wo er jedoch keinem bestimmten System anhing, sowie zur Beschäftigung mit Psychologie und Geschichte; auf letzterem Gebiete zogen ihn besonders Biographien, Selbstgeständnisse und unbefangen geschriebene Briefe als treues Abbild des menschlichen Gemüthes an. N. verfaßte selbst verschiedene Lebens- und Charakterschilderungen; schon 1792 hatte er eine solche Arbeit dem Andenken seines Vaters gewidmet, sodann ist die Persönlichkeit Francke’s, Wesley’s und Nösselt’s von ihm biograpbisch behandelt worden; auch seine „Beobachtungen auf Reisen in und außer Deutschland“, 4 Bde., 1826, 2. Auflage, seinerzeit ein Lieblingsbuch der gebildeten Welt, enthalten eine Menge biographischer Notizen von bedeutenden Menschen, mit denen N. hier in Berührung kam; Jacobs hat in seinem „Leben und Wirken Niemeyer’s“ eine interessante Uebersicht der Niemeyer’schen Reisen gegeben. – N. besaß bei vielseitiger Gelehrsamkeit ein tiefreligiöses Gemüth, eine feine Beobachtungsgabe und genaue Vertrautheit mit der Natur des menschlichen Herzens, welche Eigenschaften ihn ganz besonders zum Erzieher befähigten; außerdem stand ihm zur unbefangenen Würdigung fremder Meinungen und Bestrebungen eine natürliche Ruhe und Besonnenheit zu Gebot, die ihn inmitten ganz widerstrebender Bewegung eine unparteiische Stellung nehmen ließ. Durch die Vertrautheit mit den alten Classikern war ihm eine großartige und doch zugleich heitere Lebensansicht eigen geworden, die ihn als Theologen und Pädagogen vor extremen Ansichten bewahrte. In seinem Wirken als Schulmann zeigte N. neben außerordentlicher Thätigkeit und Pünktlichkeit eine seltene mündliche wie schriftliche Darstellungsgabe. Erfinder neuer bahnbrechender pädagogischer Systeme war er nicht, aber durch verständige Prüfung, gründliche Erörterung und vorsichtige Benützung des Vorhandenen hat N. sich große Verdienste auf diesem Gebiet erworben. Auf seinen häufigen Reisen suchte er durch Berührung mit ausgezeichneten Männern des In- und Auslands Erfahrung zu sammeln, wobei ihn ein gewisses Talent für fremde Sprachen sehr unterstützte. Zu dem ihn umgebenden Lehrpersonal stand er im Verhältniß eines älteren erfahrenen Freundes; in den Conferenzen zeigte er milde Ruhe und Besonnenheit; Widerspruch ertrug er nicht gern; kaltsinnige oder zur Ironie neigende Naturen waren seinem warmen Gemüthe nicht zusagend.
- Heindl, Biographien d. ber. u. verdienstv. Pädagogen u. Schulmänner. – Jacobs u. Gruber, A. H. Niemeyer, Halle 1831. – A. H. Rein, Erinnerungen an A. H. N., Crefeld 1841. – Föhlisch, Erinnerungen an Dr. A. H. N. etc. als Pädagog in Allg. Litteraturzeit. 1835, Nr. 82.