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Artikel „Semmelweis, Ignaz Philipp“ von Franz von Winckel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 704–706, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Semmelweis,_Ignaz&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 13:25 Uhr UTC)
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Band 33 (1891), S. 704–706 (Quelle).
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Semmelweis: Ignaz Philipp S. wurde geboren am 1. Juli 1818 zu Ofen; aus einer wohlhabenden Familie stammend, besuchte er zuerst die Normalschule und das Gymnasium zu Ofen und ging mit 19 Jahren auf die Universität Wien, in der Absicht, Jurisprudenz zu studiren. Diese Absicht gab er jedoch auf, nachdem er mit Freunden den anatomischen Vorlesungen in Wien beigewohnt hatte und trat zur Medicin über, indem er theils in Pest, theils in Wien studirte und 1844 auf Grund eines Examens und der Dissertation „de vita plantarum“ in Wien promovirte. Nach beendeten Studien bewarb er sich um eine Assistentenstelle an der ersten Gebärklinik des Wiener allgemeinen Krankenhauses, welche ihm provisorisch für die Sommermonate des Jahres 1846 übertragen wurde. Die enorme Sterblichkeit der Wöchnerinnen, welche damals auf jener Abtheilung 15% betrug, machte einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Gemüth und er constatirte eine Reihe von Thatsachen bei derselben, welche gegen miasmatisch-epidemische Einflüsse, also gegen die zu jener Zeit gültigen ätiologischen Anschauungen sprachen und ihn bereits zu der Ansicht brachten, daß eine vorzugsweise auf die erste Abtheilung beschränkte, also eine Art endemischer Ursache vorhanden sein müsse. Im Begriff, nachdem er jene Stelle verlassen, eine wissenschaftliche Reise nach Dublin zu machen, erhielt er durch die plötzliche Berufung von Breit nach Tübingen, eine definitive Anstellung als Assistent derselben Abtheilung für das Frühjahr 1847 und ging zunächst zu seiner Erholung auf kurze Zeit nach Venedig. Als er kaum sein neues Amt angetreten hatte, starb der pathologische Anatom Kolletschka in Wien an einer Leichenvergiftung. Die Ergebnisse der Section desselben, welche vollständig mit denjenigen im Puerperium verstorbener Wöchnerinnen übereinstimmten, waren es, welche S. zuerst zu der Ueberzeugung brachten, daß das Puerperalfieber auch eine Art von Leichenvergiftung sei. Er führte infolge dessen, um die fauligen Stoffe an den Händen der Aerzte zu zerstören, Waschungen mit Chlorwasser oder Chlorkalk ein, wodurch die Sterblichkeit der Wöchnerinnen sehr erheblich sank. Schon im Herbste 1847 machte er dann die Beobachtung, daß eine größere Anzahl Gebärender tötlich inficirt worden war, weil man sie gleich nach der Exploration einer mit Medullarkrebs des Uterus behafteten Parturiens, ohne vorher die Hände gehörig mit Chlorwasser gereinigt zu haben, untersucht hatte. Er kam ferner zu der Ueberzeugung, daß auch durch die Luft eine Infection stattfinden könnte und daß sogar eine Art von Selbstinfection vorkomme; beide jedoch, wie er ausdrücklich betonte, sehr selten. Es ist also durchaus unrichtig, wenn auch [705] in neueren Biographien von S. behauptet wird, (s. Gurlt-Hirsch, Biograph. Lexikon Bd. V, 359), daß er in etwas einseitiger Weise die puerperale Sepsis auf Uebertragung des sogenannten Leichengiftes zurückgeführt habe. Rokitansky, Skoda und Hebra traten für die Lehre von S. ein und letzterer verglich sie bereits mit der Erfindung Jenner’s. Skoda hielt einen Vortrag über dieselbe in der Wiener Akademie der Wissenschaften und diese beauftragte Brücke mit S. zusammen, durch weitere Thierexperimente, welche letzterer bereits mit dem Uterussecret puerperalkranker Frauen und jauchiger Flüssigkeiten bei Kaninchen mit positiven Resultaten ausgeführt hatte, diese Frage nochmals zu prüfen. Während nun Routh die Lehre von S. von Wien nach England importirte und 1848 und 1849 mündlich und schriftlich verbreitete, während G. A. Michaelis und Arneth entschieden von der Richtigkeit derselben überzeugt waren und letzterer mit Helm, Chiari und Rokitansky bei Gelegenheit eines Vortrages von S. über dieses Thema in der Gesellschaft der Aerzte zu Wien im Frühjahr 1850 für S. eintrat, mißlangen leider die von letzterem und Brücke angestellten Thierexperimente und eine Reihe sehr hervorragender Gynaekologen, voran Kiwisch, Scanzoni und Seyfert, sprachen sich gegen seine Theorie aus. Man beschuldigte S. sogar, durch die Erhebung und Veröffentlichung seiner statistischen Daten Denunciationen begangen zu haben; er mußte 1849 seine Assistentenstelle aufgeben und kehrte 1850 nach Pest zurück. Hier wurde er zunächst Primararzt der geburtshülflichen Abtheilung des St. Rochusspitales und im J. 1855 Professor ordinarius und Director der geburtshülflichen Klinik. Inzwischen fanden von Zeit zu Zeit Discussionen über seine Theorie in wissenschaftlichen Gesellschaften statt: so 1851 und 1868 in der Académie de médécine de Paris, ferner in Kiel und Kopenhagen, bei denen sich wiederum hervorragende Geburtshelfer wie Dubois, Litzmann, Levy, C. Braun ganz gegen, oder nur sehr bedingt für dieselbe aussprachen; S. publicirte darauf seine Ansichten in ungarischer Sprache im Orvosi hetilap 1858–60 ausführlich und gab endlich im J. 1861 sein größtes Werk: „Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers“ in deutscher Sprache heraus. Während aber zahlreiche Autoren wie Virchow, Spiegelberg, Hecker, Schwarz sich sofort gegen diese Anschauungen aussprachen, begannen andere Forscher die Sache ernstlich zu prüfen und mancher wurde bereits durch eine Reihe auffälliger Beobachtungen ein stiller Anhänger von S.; aber es dauerte doch recht lange, bis die Semmelweis’sche Theorie durchdrang und leider hat S. selbst den Sieg seiner Lehre nicht mehr erlebt. S. war durch die vielen Gegner, die er fand, aufs höchste erregt und machte dieser Erregung durch mehrere offene Briefe an v. Siebold, Scanzoni, Späth und sämmtliche Professoren der Geburtshülfe Luft, in welchem sich seine beginnende geistige Umnachtung schon nicht mehr verkennen ließ (1861/1862); gleichwohl blieb er noch bis zum Sommer 1865 im Amt, dann wurde er jedoch in die Irrenanstalt nach Doebling bei Wien verbracht, wo er am 13. August 1865 an Blutvergiftung starb, welche er durch eine Operation bei einem Neugeborenen sich zugezogen hatte.

Das größte Verdienst dieses Mannes besteht darin, daß er nicht nur die Art der Uebertragung des Giftes auf die Kreissenden durch Finger, Geräthschaften, Instrumente u. a. nachwies, und daß die Infection durch die Luft und die Selbstinfection und Praedisposition von untergeordneter Bedeutung seien, sondern daß er auch genaue Vorschriften über die Vermeidung der Infection und die Zerstörung des Giftes gab. So wird man ihn zu allen Zeiten zu den größten Wohlthätern der Menschheit rechnen und stets das traurige Schicksal beklagen müssen, welches ihm beschieden war. Seit dem Jahre 1857 war S. mit der Tochter eines angesehenen Kaufmanns verheirathet, die durch Herzensgüte [706] und heiteres Temperament ausgezeichnet, ihm ein glückliches Familienleben schuf und drei Kinder schenkte. S. selbst war wegen seiner persönlichen Eigenschaften bei seinen Lehrern und Studiengenossen sehr beliebt, seine Bescheidenheit, sein anspruchsloses Wesen und kindlich naive Denkungsweise, seine Anhänglichkeit an seine Freunde, sein uneigennütziges Streben und freimüthiges Auftreten war bekannt, und wenn irgend einer so hätte er wohl ein glücklicheres Loos in der Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen und großartigen Entdeckung verdient, während die Mehrzahl seiner Fachgenossen doch erst durch die Pasteur’schen Entdeckungen und die darauf gegründeten Lister’schen Lehren endlich auch zur vollen Anerkennung seiner Verdienste gelangt sind. Aber wie Hegar, dem wir diese Lebensskizze größtentheils entlehnt haben, mit Recht sagt, ist „der Werth und das Verdienst einer jeden neuen Wahrheit um so größer, je weiter sie über das Niveau der zur Zeit ihrer Entdeckung herrschenden Ansichten und Lehren hinausgeht“. Das that nun die Lehre von S. in hohem Grade und die Zeit ist hoffentlich nicht mehr fern, wo auch diesem Märtyrer der Wissenschaft einmal ein ehernes Denkmal gesetzt wird.

A. Hegar, I. P. Semmelweis: Sein Leben und seine Lehre. Freiburg i. B. 1882. – Bruck, Jakob Ignaz Philipp Semmelweis. Wien und Teschen 1887.