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Artikel „Diestel, Ludwig“ von Emil Kautzsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 685–687, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Diestel,_Ludwig&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 22:20 Uhr UTC)
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Diestel: Ludwig D., evangelischer Theolog, wurde am 28. September 1825 als der Sohn des Intendantursecretärs Ludwig Ferdinand D. zu Königsberg i. Pr. geboren und nach dem frühen Tode seines Vaters (1831) mit seinen vier Geschwistern im Hause seines mütterlichen Oheims, des Pfarrers Weiß in Königsberg, unter den Augen seiner streng-christlichen Mutter erzogen. Als Schüler des Collegium Fridericianum (seit 1833) wurde er besonders von dem Philologen Lehrs († 1878) angeregt. Ostern 1844 bezog er zum Studium der Theologie die Universität Königsberg und hatte hier namentlich Rosenkranz; Lobeck und Drumann, unter den Theologen dem Alttestamentler Hävernick, dem Dogmatiker Dorner und dem Kirchenhistoriker Lehnerdt[WS 1] vielfache Anregung zu danken. Seine innere Entwicklung, die Herausbildung einer eigenen theologischen Ueberzeugung, nahm dabei einen ruhigen und stetigen Verlauf.

[686] Nachdem er am 22. October 1847 die erste theologische Prüfung mit Auszeichnung bestanden hatte, hörte er im Wintersemester 1847 auf 1848 in Berlin Vorlesungen bei Nitzsch, Neander und Hengstenberg, siedelte aber bereits Ostern 1848 nach Bonn über, wohin unterdeß Dorner vorausgegangen war. Außer ihm hörte D. auch Rothe, Staib, Kling, Bleek und Hasse, bestand nach Absolvirung des zweimonatlichen pädagogischen Cursus am 13. April 1850 zu Bonn die zweite theologische Prüfung und habilitirte sich am 7. Februar 1851 ebendaselbst als theologischer Privatdocent durch die öffentliche Vertheidigung von zwölf lateinischen Thesen, in denen er u. a. eine streng historische Methode der theologischen Forschung, sowie die Befreiung der Bibelauslegung von den Banden der Dogmatik fordert.

Während seiner Laufbahn als Privatdocent schloß sich D. insbesondere mit dem (seit 1846 in Bonn habilitirten) Theologen Albrecht Ritschl, dem nachmals gefeierten Haupt einer neuen theologischen Schule, zusammen. 1854 zum Inspector des theologischen Stifts, 1858 zum außerordentlichen Professor ernannt, übernahm D. Ostern 1862 die ordentliche Professur der alttestamentlichen Exegese zu Greifswald und verheirathete sich im Herbst desselben Jahres mit Emmy Delius aus Versmold in Westfalen, welcher Ehe drei Söhne und drei Töchter entsprangen. 1867 siedelte er als Nachfolger Köhler’s nach Jena, 1872 als Nachfolger Oehler’s nach Tübingen über. Neben der Professur bekleidete er hier seit 1877 auch das Amt eines vierten, 1879 eines dritten Frühpredigers an der Stiftskirche. Im gleichen Jahre wurde ihm mit dem Orden der Württembergischen Krone der persönliche Adel verliehen. Aber schon am 15. Mai 1879 wurde er, kaum von den Sitzungen der Commission für die Revision der Lutherbibel, der er seit 1871 angehörte, aus Halle zurückgekehrt, durch eine acute Krankheit hinweggerafft. Als Charaktereigenschaften Diestel’s rühmt sein Leichenredner „wohlwollendes, freundliches und bei aller Entschiedenheit mildes Wesen; ungemeine Leichtigkeit der Aneignung weit über den Kreis der Fachbildung hinaus, Feinheit des Urtheils, Gabe oft überraschender Combination, gewandter, hier und da glänzender Darstellung; eigenes beständiges Lernen und Streben in der Begeisterung für seine Wissenschaft; Vereinigung des vollen Glaubens an die Wahrheit des Christenthums mit dem freien Denken; unbefangenes Forschen nach dem geschichtlichen Werden auch der alttestamentlichen Religion in der festen Ueberzeugung von der Wahrheit des Grundes und entschiedenes Festhalten des Gefundenen“. Mit gleichem Rechte macht der Verfasser des Nekrologs in Nr 21 der Protest. Kirchenzeitung von 1879 geltend, daß der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Thätigkeit Diestel’s als eines „durch und durch theologischen Charakters mit edlem Pathos und echt religiöser Gemüthstiefe“ mehr auf der theologischen (insbesondere der biblisch-theologischen und religionsgeschichtlichen) als der sprachwissenschaftlichen Seite des Alten Testaments gelegen habe.

In seinen Vorlesungen behandelte D. außer den Stoffen, die im Bereiche seiner Fachprofessur lagen (Einleitung, biblische Theologie und Archäologie, Geschichte Israels, Genesis, Psalmen, Jesaja, Hiob), gelegentlich auch Geschichte der neueren Theologie, Pädagogik, den Hebräerbrief und christliche Symbolik.

Unter den sehr mannichfaltigen schriftstellerischen Erzeugnissen Diestel’s steht als Hauptwerk obenan die „Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche“ (Jena 1869). Laut Vorrede bezweckt es „eine umfassende Darstellung der Art und Weise, wie das A. T. innerhalb der christlichen Kirche, von Beginn an bis auf die Gegenwart wissenschaftlich behandelt, theologisch aufgefaßt und praktisch verwerthet worden ist.“ Gegen dieses Werk ist nicht [687] ohne Grund eingewendet worden, daß es weniger eine Geschichte des A. T., resp. einen Nachweis des Einflusses des A. T. auf die Gestaltung von Cultus und Leben in der christlichen Kirche, biete, als vielmehr eine Geschichte der alttestamentlichen Studien innerhalb der christlichen Kirche. Trotz alledem bleibt es ein höchst nützliches Repertorium zur Geschichte der Exegese und Hermeneutik des Alten Testamentes. Insbesondere zeichnen sich die zusammenfassenden Uebersichten durch Klarheit, fesselnde Darstellung und vor allem durch maßvolles, streng objectives und gerechtes Urtheil aus.

Von separat erschienenen Werken Diestel’s ist außerdem nur „Der Segen Jakobs in Genesis XLIX historisch erläutert“ (Braunschweig 1853), die akademische Rede „über die Theokratie Israels“ (Greifswald 1864) und vor allem die sorgfältig revidirte und ergänzte 4. Auflage von August Knobel’s „Commentar zum Jesaja“ (Leipzig 1872) zu erwähnen. Von den zahlreichen übrigen Arbeiten Diestel’s, die insgesammt als Abhandlungen in Zeitschriften und Sammelwerken erschienen und großentheils religionsgeschichtlichen Inhalts sind, seien hervorgehoben: „Der Monotheismus des ältesten Heidenthums, vorzüglich bei den Semiten“ (Jahrbücher f. Deutsche Theologie, 1860, S. 669 ff.); „Die Sintflut und die Flutsagen des Altertums“ (Sammlung gemeinverständl. wissenschaftlicher Vorträge, 1871); „Die Idee der Gerechtigkeit, vorzüglich im Alten Testament“ (Jahrb. f. Deutsche Theol., 1860, S. 173 ff.); „Die religiösen Delikte im israelit. Strafrecht“ (Jahrbb. f. protest. Theol., 1879, S. 246 ff.); auf dem Gebiete der kirchl. Kunst: „Die biblischen Parallelbilder in den Kirchen des Mittelalters“ (Theol. Studien u. Kritiken, 1870, S. 613 ff.) und der Vortrag „Das Alte Testament im Lichte der älteren christlichen Kunst“ (Gelzer’s protest. Monatsblätter, Juni 1870, S. 350 ff.). Dazu kommen zahlreiche (anonyme) Abhandlungen theologischen, kirchenpolitischen und pädagogischen Inhalts in der Augsburger (jetzt Münchener) Allgem. Zeitung und der protestantischen Kirchenzeitung, sowie zahlreiche Artikel in der 1. Aufl. von Herzog’s Protest. Realencyklopädie (Hamburg 1854–66) und in Schenkel’s „Bibellexikon“ (Leipzig 1869–75).

Eine Selbstbiographie Diestel’s im Besitze der Familie; der obenerwähnte Nekrolog in der Protest. Kirchenzeitung, 1879, Nr. 21, und besonders der ausführliche Artikel „Diestel“ in der 2. und 3. Auflage der Protest. Realencyklopädie vom Unterzeichneten.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johannes Karl Ludwig Lehnerdt (1803–1866), evangelischer Theologe, Generalsuperintendent der Kirchenprovinz Sachsen.