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Artikel „Welcker, Friedrich Gottlieb“ von August Baumeister in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 41 (1896), S. 653–660, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Welcker,_Gottlieb&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 18:51 Uhr UTC)
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Band 41 (1896), S. 653–660 (Quelle).
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Welcker: Friedrich Gottlieb W., einer der hervorragendsten Philologen und Alterthumsforscher, wurde geboren am 4. November 1784 in Grünberg im Großherzogthum Hessen, wo sein Vater Prediger war. Er war das dritte Kind unter 13 Geschwistern; sein jüngerer Bruder Karl der bekannte Politiker. Die Kinder wuchsen aus in dem kleinen Orte Oberofleiden (nahe Homberg an der Ohm), wohin der Vater 1786 versetzt wurde, unter der einfachen, doch behaglich auskömmlichen Wirthschaft der rüstigen und frohsinnigen Mutter und in der gesunden Luft des Landlebens. Den Unterricht ertheilte der Vater selbst, später mit Hülfe von Hauslehrern, in angestrengtestem Eifer, aber ohne jegliche Anwendung von Lob oder Tadel. Bei der außerordentlichen Begabung des sehr fleißigen Knaben konnte der Vater mit ihm alle damaligen lateinischen und griechischen Schulautoren grammatisch genau und doch in rascher Folge lesen; dazu trieb man Französisch, das bei einer Einquartierung im J. 1798 zuerst gute Dienste leistete; ferner alte Geschichte und Mythologie; später bei Chr. Münch, einem jungen Hauslehrer, Mathematik und Schulphilosophie. Die deutsche Litteratur lernte der lesebegierige Knabe aus dem Bücherschrank des Vaters früh in bedeutendem Umfange kennen. Zum Rapierfechten und Tanzen gab der Verkehr mit der Familie des Amtmanns Gelegenheit. Das erste Buch Mosis hatte schon den kleinen Knaben „an frühen Wintermorgen wie in eine andre Welt versetzt“; mit 14 Jahren las er es bei Münch im Urtext, darnach einen großen Theil des alten Testaments; auch auf Syrisch und Chaldäisch ließ er sich ein, und Herder’s Geist der hebräischen Poesie übte nach eigner Aussage einen tiefen Einfluß auf seine ganze Entwicklung. Virgil’s ländliche Gedichte in der Ausgabe von J. H. Voß deckten ihm die Reize italischer Natur auf. Zu den französischen Schriften von Voltaire, Molière und Friedrich dem Großen kam dann unter Leitung des Vaters auch das Englische mit Tom Jones, Vicar of Wakefield u. s. w. Von der höheren deutschen Dichtung blieb er in Klopstock’s Messias bald stecken, während Stolberg’s Ilias ihn fortriß. Goethe’s Werther „bezauberte ihn mehr, als daß er ihn rührte“; „von der damals noch viel empfundenen Sympathie erfuhr er nichts“. Goethe’s „Faust blieb ihm dunkel, die einzige Lieblichkeit der Goethe’schen Lieder wußte er in ihrer Eigenthümlichkeit noch nicht vollkommen zu schätzen“. (Nach dem Bruchstücke einer Selbstbiographie.) Clavierspiel lernte er leicht, auch etwas singen; dazu später ein wenig Violine und Flöte. Ein Zeichenlehrer war leider nicht zu haben; drum pinselte der Knabe nur des Vaters Jugendübungen in Tusche und Carmin nach. So ging es bei den „idealischen Pfarrersleuten“, wie eine nachbarliche adelige Dame sie später genannt hat, bis zu unseres Welcker’s [654] sechszehntem Lebensjahre, wo der Vater ihn, der bereits für sich allein sich an Pindar abgemüht hatte, dem Pädagogium in Gießen übergeben wollte. Der Vorsteher desselben aber, dem Welcker’s Uebersetzung der Batrachomyomachie vorgelegt war, dem dann der junge Schüler bei der Prüfung mit Versen aus Homer und aus Kallimachos treffende Anworten gab, erklärte, daß derselbe „nach dem Stande seiner Kenntnisse und dem gegenwärtigen der Schule zweckmäßiger gleich Student werden solle“. So ward er denn Ostern 1801 in die theologische Facultät inscribirt und hörte in Gießen theologische Vorlesungen, hielt auch im folgenden Jahre mehrere Predigten in seines Vaters Filialdörfern „über allgemeine Menschenliebe“, die aber inhaltlich mehr Betrachtungen und Empfindungen über die Natur und das Göttliche in ihr waren. Er selbst fühlte zum Geistlichen keinen Beruf, schlug später selbst eine der besten Pfarreien aus; die dogmatischen Streitigkeiten widerstrebten seiner Natur. Philologische Vorlesungen gab es damals in Gießen nicht; W. hörte aber Geschichte, Mathematik, Chemie und Arabisch. Als Student gehörte er einem soliden „Kränzchen“ an, hatte auch zwei Duelle und ward unbedeutend verwundet. Dabei dauerte der Trieb alles mögliche zu lesen fort; mannichfache Spaziergänge erhielten den kräftigen Körper frisch. Da der Vater noch vier andere Söhne studiren zu lassen hatte, verzichtete W. auf den Besuch der Universität Halle, wo er F. A. Wolf hören wollte, und nahm eine Lehrstelle am Gießener Pädagogium an, April 1803, nachdem er ein kleines Examen gut bestanden hatte. Neben vier täglichen Unterrichtsstunden wünschte er nun auch an der Universität zu dociren und schrieb eine Dissertation: „Exercitatio philologica imaginem Ulyssis quae in Iliade exstat adumbrans“, für welche er Weihnacht 1803 das Diplom erhielt. Er las dann über den Propheten Hosea, über die Apostelgeschichte, das Evangelium des Lucas und über das platonische Symposion; übersetzte die Klagelieder Jeremiä in elegischen Distichen in einer theologischen Zeitschrift und schrieb Recensionen. Ein Schulprogramm über Pindar’s erste olympische Ode (1806) wurde später von Böckh freundlich erwähnt; ferner übersetzte er nach Vossens Beispiel eifrig aus dem Griechischen; so die Orphischen Argonautica und das erste Buch von Apollonios Argonautica, auch Stücke aus Aeschylos und Sophokles. In den Herbstferien 1805 besuchte er zu Fuß reisend Voß in Jena und F. A. Wolf in Halle, darauf Goethe und Wieland in Weimar. Noch im Sommer 1806 las er über den Korintherbrief und über Aeschylos’ Prometheus und machte die ersten Zusammenstellungen über die Trilogie. Bei dem Mangel an eigentlichen Lehrern gewann sein Autodidactenthum erst allmählich eine entschiedene Richtung. Neben jenen Besuchen scheint die Bekanntschaft mit Goethe’s: Winckelmann und sein Jahrhundert starke Wirkung geübt zu haben; er las Lessing’s und Herder’s Schriften und anderes über griechische Kunst und faßte den Plan zu einer italienischen Reise, während ihm bis dahin alte Bildwerke fast gänzlich fern und fremd geblieben waren. Auf seine Bitte erhielt er Urlaub, indeß sein Bruder August ihn am Pädagogium vertrat, und wanderte am 1. August 1806, meist zu Fuß, durch den Schwarzwald und die Schweiz, die er mehrmals durchkreuzte, nach Italien, wobei er überall ohne Hast sich dem Naturgenuß hingab und, wie auch später, in Briefen und Tagebüchern seine feinen Empfindungen und Stimmungen ausschüttete. Schon in Darmstadt, Stuttgart, Basel betrachtete er eifrigst die Kunstwerke aller Art, mehr noch auf der Strecke von Mailand bis Venedig, wo ihn das südliche Leben zuerst anzog. In Bologna besuchte er u. a. Mezzofanti und ergötzte sich an der Oper, dann aber eilte er auf Rom zu, wo er am 1. November 1806 eintraf. Zu dem mächtigen Eindrucke der ewigen Stadt und ihrer Kunstschätze, wie auch ihrer Umgebung kam sogleich die Bekanntschaft mit Wilh. v. Humboldt, [655] damaligem preußischen Gesandten, welche bald zu einer innigeren Verbindung führte, indem W. für den abgehenden Hauslehrer der Kinder eintrat. Die aufrichtige Hochschätzung, welche Humboldt und seine Frau für W. bald gewannen, veranlaßte nicht bloß die Verlängerung von dessen römischem Aufenthalt bis zum Frühjahr 1808, sondern gestaltete sich auch zu einem dauernden Freundschaftsverhältniß, von dem der Briefwechsel Zeugniß ablegt. (W. von Humboldt’s Briefe an F. G. Welcker, herausg. von R. Haym, Berlin 1859, und Welcker’s Briefe bei Kekulé, Leben Welcker’s.) Zunächst trat W. durch dieses Verhältniß sofort in den Mittelpunkt des großen Kreises von ausgezeichneten Fremden, Künstlern und Gelehrten jeder Nation in Rom und sog in vollen Zügen die Anregungen ein, welche dieser geistesglänzenden Gesellschaft entströmten. Abgesehen von vielen andern verkehrte er mit Thorwaldsen und Rauch; am meisten jedoch mit dem Alterthumsforscher G. Zoega, einem deutsch-gebildeten Dänen, der, Winckelmann nachstrebend, seit 25 Jahren in Rom eingebürgert war und eben jetzt seine Bassirilievi antichi drucken ließ. Mit ihm verkehrte er täglich und lernte von dem erfahrenen Kenner die Scheidung des Echten und Unechten, die subtile Auslegung der künstlerischen Form und die Versenkung in den poetischen Geist des Künstlers. In dem Umgange mit diesen Männern ging dem enthusiastischen Autodidacten W. rasch die volle Ahnung seines innersten Berufes auf; damals hat er unzweifelhaft zuerst den Gedanken gefaßt zu einem umfassenden „Werke über die Religion, Poesie und Kunst der Hellenen von den Ursprüngen an bis zur Höhe ihrer Entwicklung“. War er bisher wesentlich Philologe gewesen, so verband er von jetzt ab damit die Archäologie nicht bloß als Studium in äußerlichem Sinne, sondern erfaßte die alte Kunst im ganzen Umfange und in ihren höchsten Schöpfungen als eine eigenthümliche und den Schriftwerken ebenbürtige Offenbarung des griechischen Geistes. Wenn ferner bislang bei den Forschern die Mythologie entweder als ein Conglomerat von willkürlich erdachten Dichterfabeln oder gar als ein fein gesponnener Priestertrug gegolten hatte oder andrerseits ein Extract der Religionen des Orients und Aegyptens sein sollte (Creuzer), so stand für W. längst fest und trat stets deutlicher hervor, daß im griechischen Götterwesen die Urentwicklung des griechischen Geistes enthalten sei und daß erst in der gemeinsamen Darstellung der Trias von Religion, Kunst und Dichtung und in dem Nachweise ihres inneren Zusammenhanges die volle Blüthe des Hellenismus erschöpft und als Ganzes anschaulich werde. Dem großartigen Unternehmen eines solch umfassenden Aufbaues von jetzt ab sein Leben widmend, ging er unverdrossen an die Aufmauerung einzelner gewaltiger Pfeiler, die er im Trümmerhaufen des antiken Nachlasses umgestürzt fand, rüstig und nichtachtend der Kürze des Menschenlebens, mit wahrhafter Begeisterung und Heldenkraft, mit Seherblick und Seelenruhe schaffend. – Nachdem Humboldt ihm verlängerten Urlaub verschafft, theilte er mit dessen Familie die Sommerfrische in Albano 1807 und besuchte im Herbst Neapel. Die Campagna durchstrich er meist zu Pferde, das Gebirg zu Fuß. Ende April 1808 löste er sich schwer von den Freunden, gönnte sich in Florenz wenige Tage und eilte rasch heim. Der Großherzog von Hessen zeigte sich ihm nach Humboldt’s Verwendung sehr gewogen. W. erhielt im Herbst 1809 neben seinem Lehramt am Gymnasium, wo er während seiner Abwesenheit in die zweite Stelle aufgerückt war, eine ordentliche Professur „für griechische Litteratur und Archäologie“ an der Universität Gießen, wie es hier zum ersten Male auf einer deutschen Hochschule hieß. In der Gießener Stille arbeitete er nun anhaltend in verschiedenen Richtungen. Er übersetzte Aristophanes Wolken (gleichzeitig mit F. A. Wolf) und Frösche, ferner seines 1809 gestorbenen Freundes Zoega Antike Basreliefe von Rom; er recensirte vielerlei [656] archäologische Werke. Im Herbst 1811 besuchte er Humboldts in Wien, wo er außer den Kunstschätzen Fr. Schlegel, daneben Theod. Körner und Gentz kennen lernte. An der Universität las er griechische Kunstgeschichte und Religionsgeschichte, Aeschylos und mehrmals Aesthetik. 1812 ward auf sein Betreiben ein philologisches Seminar eingerichtet. Aus Liebhaberei ertheilte er auch italienischen Unterricht, an dem Fr. Diez theilnahm; treue Schüler im Pädagogium waren besonders K. Schwenck, Thudichum, A. Follenius, die ihm für ihr ganzes Leben anhingen. Vom Werthe des Jugendunterrichts hatte W. eine hohe Vorstellung, die sich auch in Gelegenheitsschriften kundgab. Namentlich regte er die begabteren Schüler zu poetischen Versuchen und Uebersetzungen an; hatte er doch selbst eine in Albano begonnene Tragödie „Hekabe“ in Gießen vollendet und plante das Gegenstück einer christlichen „Thekla“, obwol er selbst sich keinen Beruf zur tragischen Dichtung zuschrieb. Schon dachte er daran, sich von der Schule zu lösen, um nochmals Rom zu sehen und dort Kunstwerke zeichnen zu lassen; als aber der Jubel der Erhebung Deutschlands im Beginn des Jahres 1813 herantönte, da riß es auch ihn, der den Jammer der Knechtschaft längst tief beklagt und auf das Rauschen der Freiheitsbewegung gelauscht hatte, aus der Stille der Studirstube; er trat sofort nach dem Aufruf des Großherzogs (28. December 1813) als freiwilliger Jäger unter die Waffen und beklagte nur, als er endlich am 28. März 1814 als Lieutenant mit ausrücken durfte, daß zu Waffenthaten keine Gelegenheit mehr war. Eingerückt in Lyon wandte er seine Muße der Beobachtung des Volkes und den dortigen Kunstwerken zu. Im Sommer zurückgekehrt sah er Goethe in Wiesbaden, und reiste dann über Kassel, wo er die Brüder Grimm, und über Hamburg, wo er Perthes besuchte, nach Kopenhagen, offenbar durch Thorwaldsen und Zoega (dessen Leben er schrieb und mit dem Nachlaß herausgab) begierig gemacht. Nachdem ihn eine Erkrankung dort mehrere Monate gefesselt gehalten, wäre er auf der Rückreise beinahe als Adjutant des Generals v. Gall wieder gegen Napoleon gezogen, Sommer 1815. Zurückgetreten in sein Schulamt hatte er von heimlichen Neidern allerlei Aerger zu erfahren; im Gefühl seines Werthes ward er empfindlich und nahm kurzweg seine Entlassung aus hessischem Dienst, September 1816. Die Vorgesetzten fühlten Bedenken wegen seiner Vorträge über deutsche Geschichte, nachdem W. schon im Januar 1814 eine Flugschrift: „Warum muß die französische Sprache weichen und wo zuerst? Zum Besten unbemittelter Freiwilliger“ hatte drucken lassen, in welcher er seiner patriotischen Begeisterung Luft machte. Nun brachten ihn seine Aufsätze „Von ständischer Verfassung“ und „Ueber die Zukunft Deutschlands“ in Luden’s Nemesis und in den Kieler Blättern vollends in Verdacht. – Der Entlassung folgte aber ebenso rasch wie unerwartet ein ehrenvoller Ruf an die Universität Göttingen, in welche er October 1816 einzog. Hier umschloß den Freundschaftsbedürftigen bald ein Band inniger Zuneigung mit L. Dissen, seinem Fachgenossen; im übrigen fand er die Welt kälter als er gewohnt war, und als der Antrag für die neue rheinische Universität Bonn an ihn kam, entschloß er sich 1819, in diese ihm zusagendere Atmosphäre zurückzukehren, um so mehr, als auch sein Bruder Karl als Jurist ebenfalls berufen war. Kaum aber fühlte er sich in Bonn heimisch und stand in traulichem Verkehr mit den philologischen Collegen Heinrich und Naeke, mit Arndt und A. W. v. Schlegel, als am 5. Juli 1819 eine Untersuchung wegen demagogischer Umtriebe gegen W., seinen Bruder Karl und Arndt mit der Beschlagnahme ihrer sämmtlichen Papiere begann. Die Derbheit und Schablonenhaftigkeit des Verfahrens mußte den feinfühligen Mann beim Bewußtsein seiner Schuldlosigkeit tief verstimmen, zwar wurde er nicht wie Arndt vom Amte suspendirt, aber sehr ärgerlich war doch die mehrere Jahre lang [657] andauernde Hinschleppung in Verhören und Verhandlungen, gegen deren Führung durch eine außergesetzliche Commission überhaupt der Senat der Universität vergeblich Protest einlegte. Auch Humboldt konnte nicht helfen und rieth nur zu besonnener Ruhe und Offenheit. Welcker’s Anschuldigung, die sich auf eine von Gießen nach Berlin getragene Gehässigkeit zurückführen ließ, konnte, da seiner beschaulichen Natur ein wirkliches Eingreifen in politische Parteikämpfe fern lag, lediglich auf die oben genannten Aufsätze gegründet werden, deren allgemein patriotischen und ref1ectirenden Inhalt als weit entfernt von demagogischer Wühlerei hinzustellen für die von Mackeldey abgefaßte Vertheidigungsschrift auch damals nicht allzu schwer sein mußte. W. war mit vielen Tausenden der besten Bürger gekränkt und erzürnt, daß nach dem Kriege für Deutschlands Einheit so wenig geschehen war; er hielt ferner landständische Verfassungen für die nächste Hülfe. Dies hatte er maßvoll vorgetragen, an politischen Gesellschaften aber nie theilgenommen. Eine ihm in Göttingen zugesandte Adresse wegen Erfüllung des Art. 13 der Bundesacte, welcher ständische Verfassungen versprach, hatte er nicht unterschrieben. Aber erst am 3. November 1825 erhielt er das durchaus freisprechende Schreiben der Commission und dazu den ehrenvoll auszeichnenden Glückwunsch des Ministers. – Unterdessen hatte W. neben seinem Lehramte besonders in seiner Eigenschaft als Oberbibliothekar der neugegründeten Bibliothek der Universität viel Zeit und Sorge gewidmet. Er brachte zu dem vorhandenen Bestande von 30 000 Bänden in 18 Monaten über 14 000 Bände, zur Hälfte aus Auctionen; dazu die Aufstellung, Ordnung und Katalogisirung. Bis zum Jahre 1854, wo er das Amt an Ritschl abtrat, machte der Bestand an 115 000 Bände aus. Zu gleicher Zeit gab er durch die Schöpfung eines „Kunstmuseums“ aus Gipsabgüssen antiker Bildwerke, welches nach seinem Plane allmählich erstand, ein Vorbild, welches später bei den meisten anderen Universitäten Nachahmung fand, sowie auch sein erklärendes Verzeichniß dazu mustergültig wurde. In den Vorlesungen umspannte er einen weiten Kreis; griechische Litteraturgeschichte, Mythologie und antike Kunst, dann die Tragiker, Aristophanes, Pindar kehrten am häufigsten wieder. Dazu kamen von römischen Dichtern Horaz, Tibull, Properz, auch Juvenal und Lucrez; von Prosaikern Tacitus’ Germania, Plato und Aristoteles’ Poetik. Des philologischen Seminars Mitleiter war er von 1838–1861. In den Vorträgen zeigte er eine gewinnende Persönlichkeit; seine freie Rede, obwol nicht leicht hinfließend, zuweilen stockend, machte den Eindruck einer von warmer Theilnahme getragenen Geistesarbeit. Seine Stärke lag weniger in kritischer Exegese, als in den großen, systematisch und zusammenhängend vorgeführten Stoffen, die er durch eine überströmende Fülle von Ideen zu beleben wußte. – Sein erstes Hauptwerk, betitelt: „Die Aeschylische Trilogie Prometheus und die Kabirenweihe auf Lemnos nebst Winken über die Trilogie des Aeschylus überhaupt“ (1824), beleuchtete die Kunstform der Aeschyleischen Tragödien aus einem ganz neuen Gesichtspunkte, indem er nachwies, daß der Dichter meistens einen mythischen Stoff in drei Stücke wie einzelne Acte gegliedert und zu einem dramatischen Dreiverein verbunden als Ganzes zur Aufführung gebracht habe. Sind nun auch die von W. versuchten Reconstructionen der einzelnen Trilogien theilweise falsch, vielfach sehr zweifelhaft, so wurde doch das Hauptergebniß der höchst subtilen Untersuchung, obwol von Gottfr. Hermann zuerst aufs schärfste angegriffen, bald allgemein anerkannt, zuletzt auch von dem genannten Gegner, gegen welchen W. noch einen umfassenden „Nachtrag“ (1826) richtete, worin auch das Satyrspiel nach seiner Entstehung und seinem Charakter zuerst die gebührende ästhetische Würdigung fand. Dieselbe geistvolle Combinationsgabe, welche hier einen [658] wahren Triumph feierte, bewährte sich weiter in zahlreichen Untersuchungen über die griechischen Lyriker, aus deren winzigen, zufällig erhaltnen Bruchstücken er gewissermaßen nachdichtend die einzelnen so verschiedenen Persönlichkeiten inmitten ihrer Landschaft und Stammeseigenthümlichkeit, in Zeit und Staat, Religion und Sitte zu skizziren verstand, mit dem seltenen, aber auch von Goethe geforderten „Gefühl für ein ästhetisches Ganze“. So rechtfertigte er namentlich die Sappho gegen die schmutzige Verleumdung der attischen Komiker, und zeichnete mit seiner Beobachtung nach den erhaltenen Gedichten des Theognis, die er als Excerpte und Bruchstücke nachwies, den socialen und politischen Hintergrund, auf welchem dieser Dichter fußte. Weiter durchdrang der unermüdliche Forscher das Epos mit seinem Seherblick; in dem „Epischen Cyklus oder über die homerischen Dichter“ (1835) untersuchte er die Reste der altgriechischen Epopöen, welche seiner Annahme nach durch den alexandrinischen Grammatiker Zenodot in einem großen Sammelwerke (Cyklus) vereinigt worden waren. Die kleinen volksmäßigen Lieder aus der Heldensage, die abgerissenen Gesänge, in welche mancher auch Ilias und Odyssee zerlegen will, gelten ihm nur als Vorstufe des großangelegten Kunstepos des Homer, dessen Namen er als „Zusammenfüger“ etymologisirte, und diesem Musterdichter läßt er dann allmählich die ganze Reihe der übrigen, nachhomerischen Epen, insbesondere des troischen und thebanischen Sagenkreises sich anschließen. Mit größter Feinheit erschließt W. in dem zweiten erst 1849 erschienenen Bande aus den dürftigen Inhaltsangaben und unscheinbaren Bruchstücken den Zusammenhang der einzelnen Gedichte, spürt den verwendeten Motiven nach und weiß aus geringen Trümmern mit wunderbarem Geschick und unerschöpflicher Phantasie ganze Partien wieder aufzubauen; ein Verdienst, dem zahlreiche Irrthümer im einzelnen keinen Abbruch thun. Als eine Fortsetzung sowol dieser wie der in der „Trilogie“ niedergelegten Untersuchungen veröffentlichte er endlich „Die Griechischen Tragödien, mit Rücksicht auf den epischen Cyklus geordnet“ (3 Bde., 1839–41), worin er mit glänzendster Stoffbeherrschung und erstaunlicher Combinationsgabe eine Wiederherstellung des Inhalts und dramatischen Verlaufes aller verlorenen Stücke der Tragiker und ihrer römischen Nachbildungen aus vereinzelten Andeutungen und halbverloschenen Spuren zu geben versuchte. – In Bonn fühlte W. sich bald heimisch und pflegte, seiner Natur gemäß, traute Geselligkeit, besonders mit dem Reiterobersten Grafen Dohna und seiner Gemahlin Julie, der Tochter Scharnhorst’s, für welche er eine poetische Verehrung hegte. Leider starb sie schon 1827. Seit 1828 verkehrte er bis an sein Lebensende am intimsten in der Familie des Professors Moriz Naumann, dessen hochgebildete Gattin und Kinder ihn als Hausgenossen zu den Ihrigen zählten. Zur Eingehung einer Ehe fühlte er nie ernste Neigung. Im J. 1829 verlor er beide Eltern und Frau v. Humboldt, mit welcher er im Briefwechsel gestanden hatte. In dieser Zeit war er auch häufig augenleidend, mehrmals der Erblindung nahe. Als nach der Julirevolution die Politik ihn wiederum mit Interesse füllte und er, obwol von Parteikämpfen weit entfernt, doch durch den Verkehr mit seinem Bruder Karl (damals Professor in Freiburg und badischer Landtagsabgeordneter) veranlaßt, seine alten politischen Aufsätze über ständische Verfassung und Deutschlands Zukunft wieder abdrucken ließ, ward er vom Amte suspendirt und wiederum ins Verhör genommen, indessen auf das für ihn warm eintretende Gutachten von Rector und Senat nach Jahresfrist wieder eingesetzt und das Verfahren niedergeschlagen. Größere Reisen machte er 1827 nach Paris, 1837 zum Universitätsjubiläum nach Göttingen, wo er seinen alten Freund Dissen sterben sah, 1839 nach Berlin, 1840 nach Holland und München zur Besichtigung der neu erstandenen Kunstsammlungen. Diese Anregungen bestimmten ihn, im Herbst 1841 Urlaub [659] zu einem längeren Besuche in Italien und Griechenland zu nehmen, der besonders den Studien der alten Kunst gewidmet sein sollte, und in der That den 57jährigen Mann aufs neue mit Jugendfrische belebte. Er ging, auf das ihm übertragene Präsidium der Philologenversammlung in Bonn verzichtend, zunächst über Trier und Metz nach Paris zu den Schätzen des Louvre, dann über Lyon, Nîmes, Arles, Marseille, Genua, Bologna nach Florenz und Rom, überall Tagebücher führend und den Freunden die Eindrücke mittheilend. Im Januar 1842 machte er sich mit Wilh. Henzen aus Bremen, seinem früheren Schüler, dem später langjährigen Secretär des archäologischen Instituts, auf die Fahrt nach Athen, wo er Monate lang verweilte und die freundlichste Aufnahme fand. Vorläufigen kleineren Ausflügen folgten längere Reisen in den Peloponnes, dann nach Nordgriechenland, endlich nach Kleinasien, vorzüglich um Sardes und Trojas Stätten zu sehen. Die Rückreise im Herbst führte ihn nach Neapel und rund um Sicilien an die Tempelstätten; dann verlebte er den Winter still schaffend und die gewonnenen Eindrücke verarbeitend in Rom. Die Rückkehr erfolgte über Venedig und Zürich im Mai 1843 nach Bonn, wo den Heimkehrenden Freunde und Schüler herzlichst begrüßten. – Gleich darauf hat er noch London 1844 besucht und den Winter 1845 auf 46 sowie den Herbst 1847 und Winter 1852/53 in Rom zugebracht, wo er insbesondere mit seinem Lieblingsschüler Heinrich Brunn verkehrte. Im Sturmjahre 1848 blieb der alte Liberale besonnen, doch ebenso entschieden verurtheilte er die später folgende politische und kirchliche Reaction in Preußen. Auch in den folgenden Jahren führte ihn die Reiselust nach Paris, nach Berlin, Wien und in die Schweiz, als hohen Sechziger. Zahlreiche archäologische Abhandlungen, die er in dieser Zeit schrieb, konnten nur durch Autopsie reifen. Die Sammlung der „Alten Denkmäler“ in 5 Bänden zeigte staunenswerthen Fleiß und bewundernswürdige Beobachtungsgabe; in der feinsinnigen Erläuterung der Kunstwerke, im liebevollen Sichversenken in den Gedanken des schaffenden Künstlers ward W. das unerreichte Vorbild für eine ganze jüngere Generation. Die Giebelgruppe der griechischen Tempel, insbesondere des Parthenon wurde von ihm zuerst in ihren künstlerisch-religiösen Bezügen gewürdigt, Polygnot’s große Fresken zuerst von ihm in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Kunst überhaupt erkannt. Die vorzüglichsten pompejanischen Wandgemälde und fast zahllose Vasenbilder beschrieb und deutete er aus. Endlich reifte in dieser zweiten Hälfte des Lebens auch das von ihm seit der Jugend geplante große Werk über die „Griechische Götterlehre“ zum Druck heran. Der erste Band, 1857 erschienen, nimmt den Standpunkt „am Anfang der Entwicklungen“, er schildert den Götterglauben der homerischen und hesiodischen Zeit: Das „Urwesen“ ist Zeus, der „Gott im Himmel“, dessen Alles überragende Stellung er auf einen ursprünglichen Monotheismus zurückführt; dann die andern „Naturgötter“, welche jenem genealogisch untergeordnet werden. Creuzer’s Synkretismus wird ebenso wie Otfr. Müller’s historische Fassung der Heroenmythologie bei Seite gelassen; Max Müller’s Forschungen über vergleichende Mythologie dienen gelegentlich zur nachträglichen Bestätigung. Im zweiten Bande (1860) wird die „Höhe der Entwicklung“, das perikleische Zeitalter, eingeleitet mit Bemerkungen über die bewegenden Momente: Orakel, Staatsreligion, Poesie und Kunst; in der Darstellung der durchweg zu ethischen Persönlichkeiten umgewandelten Götter, für deren Wandlungen und Wirkungen hauptsächlich die Tragiker Quelle sind, nehmen den breitesten Raum ein Demeter und Dionysos als die neu entwickelten geistigen Potenzen, welche Ahnungen besserer Hoffnungen im Tode gewähren. Der dritte Band (1862) behandelt noch die Dämonen und dienenden Gottheiten, endlich Heroen und Vergötterung. Wenn Welcker’s geistvolles Werk, in welchem mit Fernhaltung [660] platter Erklärungsversuche die religiöse Seite der Mythologie vorzugsweise betont wird, während die Heroensage fast ausgeschlossen ist; übrigens im ganzen nicht so aufregend und durchschlagend wirkte, wie etwa die Trilogie, so lag es daran, daß es zu spät erschien und die von dem Verfasser in der Jugend geschöpften Ideen, da sie sozusagen in der Luft lagen, zum Theil schon von Andern dargelegt und entwickelt worden waren. Dazu kommt, daß der Stil Welcker’s, obwol feurig und lebendig, bei aller Fülle und Gewandtheit dennoch keineswegs mustergültig zu nennen ist, sondern vielfach an Unklarheit und Schwerverständlichkeit leidet, was selbst aufmerksame Leser zu Wiederholungen zwingt, um den mannichfachen Windungen des Gedankenganges folgen zu können und in den verschlungenen Satzgefügen bei oftmals verzwickter Wortstellung den Faden festzuhalten. – Welcker’s selbstgestecktes Ziel in der classischen Alterthumskunde war das höchste: er strebte nach Erkenntniß der Bildungsgeschichte des griechischen Volkes; er suchte, wie er selbst sagt, dessen „Charakter und Seele“ in den Schriften und Kunstwerken, und läßt die Verfolgung dieses Zieles in den mehr als 20 stattlichen Bänden, welche er binnen 40 Jahren schrieb, fast auf jeder Seite sichtbar werden. Sicher ist, daß unter seinen Zeitgenossen kein Forscher tieferen Einblick als er in den Geist des Griechenvolkes gewonnen hat. Seit 1839 war an Stelle Naeke’s Fr. Ritschl Welcker’s College geworden. Die bei aller Verschiedenheit ihrer Naturen dennoch bestandene Freundschaft ward durch die Mißverständnisse getrübt, welche sich an die 1855 ohne Mitwissen Welcker’s erfolgte Berufung Oto Jahn’s knüpften. Mit letzterem verband ihn jedoch bald ein schönes und inniges Verhältniß, fast das des Lehrers zum Schüler. Als am 16. October 1859 Welcker’s Feier des 50jährigen Professorenjubiläums mit allem Glanze von Adressen und Ehrenbezeugungen, Festschriften und Glückwünschen von Seiten der Universität und der Schüler begangen wurde, gab Jahn in tiefen und warmen Worten eine kurze, kernige Darstellung des Wesens des Jubilars, welcher hier Fülle der Dankbarkeit für die ausgestreute Saat erntete. – Seit 1862 meldeten sich die Schwächen hohen Alters und mehrten sich rasch; zuerst versagten die Augen den Dienst; ein treuer Schüler Otto Lüders las und schrieb für ihn und besorgte die Ausgabe der letzten Sammelbände. Der rastlos thätige Greis dictirte noch Aufsätze, wie den „über die Schönheit und Heiterkeit der griechischen Religion“, bis er, zuletzt völlig erblindet, 84jährig am 17. December 1868 entschlief. – W. war von mittelgroßer Statur und starkknochig, der Schädelumfang auffällig groß; die Haare blond, die Augen blau und von schönem Ausdruck. Sein Gesicht war in den unteren Theilen eigentlich häßlich; in der Unterlippe sprach sich Festigkeit bis zum Trotz aus; doch ließ die geistige Belebung das wenig empfinden. Im wissenschaftlichen und politischen Gespräch war er leicht erregbar und zuweilen leidenschaftlich ausfahrend; im Weltverkehr eine kindliche Natur und in fast jungfräulichen Illusionen befangen. Idealität war der Grundzug seines Wesens; seine innerliche Religiosität wurzelte in den Tiefen des Herzens.

Reinh. Kekulé, Das Leben Fr. G. Welcker’s, nach seinen eigenen Aufzeichnungen und Briefen, Leipzig 1880; dazu O. Lüders, Im neuen Reich, 1881, S. 661 ff., 711 ff.