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Artikel „Diez, Christian Friedrich“ von Ludwig Lemcke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 5 (1877), S. 214–217, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Diez,_Friedrich&oldid=- (Version vom 13. Oktober 2024, 02:21 Uhr UTC)
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Diez: Christian Friedrich D., einer der ausgezeichnetsten neueren Sprachforscher, der Begründer der romanischen Philologie, wurde am 15. März 1794 zu Gießen geboren. Nach gründlicher Vorbildung auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt bezog er Ostern 1811 die dortige Universität und widmete sich unter der Leitung F. G. Welcker’s und im anregenden näheren Verkehr mit demselben der classischen Philologie. Das J. 1813 rief auch ihn unter die Waffen und er machte nebst mehreren anderen patriotischen Jünglingen der Gießener Hochschule den Feldzug gegen Frankreich in dem Corps der hessischen freiwilligen [215] Jäger mit. Nach seiner Rückkehr entsagte er der classischen Philologie und wandte sich der Rechtswissenschaft zu, deren Studium ihm jedoch so wenig Befriedigung gewährte, daß er es bald wieder aufgab, um nunmehr auf der Universität Göttingen mit großem Eifer dem der neueren Sprachen und Litteraturen obzuliegen. Auf einer Reise nach Thüringen im Frühjahr 1818 lernte er Goethe kennen. Dieser machte ihn auf die damals noch ganz neuen Arbeiten Raynouard’s über die provençalische Sprache und Litteratur aufmerksam und empfahl ihm, seine Studien demselben Gebiet zu widmen. Des Altmeisters Rath ging bei dem strebsamen jungen Mann nicht verloren, vielmehr warf sich derselbe in den nächsten Jahren mit aller Energie auf diese neuen Studien, welche für seine ganze künftige wissenschaftliche Thätigkeit grundlegend werden sollten, und obgleich dieselben durch Arbeiten, die um der Sorge für das tägliche Leben willen übernommen werden mußten, sowie durch die Pflichten einer Hauslehrerstelle in Utrecht, welche D. 1819 annahm, vielfach unterbrochen wurden, konnte er doch schon im folgenden Jahre den ersten Entwurf einer „Geschichte der Sprache und Poesie der Provençalen“ im Manuscript zum großen Theile vollendet mit nach Gießen bringen, wo er nun eine Zeit lang privatisirte, um sich für ein akademisches Lehramt vorzubereiten. Mit seiner Arbeit, welche in dieser ersten Gestalt noch ausschließlich auf den bis dahin gedrucken Texten beruhte, wollte jedoch der gewissenhafte junge Gelehrte nicht eher vor das Publicum treten, als bis es ihm möglich geworden sein würde, wenigstens die zugänglichsten Handschriften selbst zu prüfen und daraus ein unmittelbares und möglichst vollständiges Bild des Gegenstandes zu gewinnen. Einstweilen übergab er eine Studie aus einem anderen Litteraturgebiete, „Altspanische Romanzen“ (Berlin 1821), mit einer litterarhistorischen Abhandlung über Ursprung und Fortbildung der altspanischen Dichtkunst, der Oeffentlichkeit und erwarb auf Grund derselben am 30. Decbr. 1821 von der Universität Gießen den Doctorgrad, nachdem er bereits kurz zuvor zum Lector der neueren Sprachen an der Bonner Hochschule ernannt worden war. Hier erhielt er 1823 eine außerordentliche Professur und widmete sodann einen Aufenthalt in Paris im Sommer 1824 der Vervollständigung seiner provençalischen Forschungen durch die eigene Einsicht der wichtigsten Handschriften und Benutzung aller litterarischen Hülfsmittel. Als erste Probe des neu Gewonnenen ließ er seine „Beiträge zur Kenntniß der romantischen Poesie“ (Berlin 1825, franz. v. Raisin u. d. T. „Essai sur les cours d’amour“ Par., 1842) erscheinen, in welcher er die Frage über die Existenz der sogenannten Liebeshöfe (cours d’amour) einer gründlichen Prüfung unterwarf. Im folgenden Jahre trat er mit seinem Hauptwerke über die provençalische Litteratur, „Die Poesie der Troubadours“ (1829, franz. v. Raisin, Paris 1845) hervor, in welchem er zuerst ein vollständiges Bild dieser Dichtung nach allen ihren verschiedenen Gattungen entwarf. Hieran schloß sich als nothwendige Ergänzung „Leben und Werke der Troubadours“ (1829), die erste kritische auf ganz neuen Untersuchungen beruhende Darstellung des Lebens und Wirkens der bedeutendsten provençalischen Dichter. Durch diese beiden Werke wurde das ebenso wichtige wie interessante provençalische Litteraturgebiet zum ersten Male in erwünschter Vollständigkeit und in streng wissenschaftlicher Darstellung, d. h. in seiner historisch-genetischen Entwicklung, erschlossen. Beide haben seitdem auch durch die sorgfältigsten Forschungen nur in Einzelheiten berichtigt und vervollständigt werden können, bilden aber noch heute die unentbehrlichsten Grundlagen für die betreffenden Studien. Im strengsten Sinne des Wortes Epoche machend wurde Diez’ „Grammatik der romanischen Sprachen“ (Bonn 1836–42, 3 Bde.), durch welche er für diese Idiome dasselbe leistete, was J. Grimm für die Sprachen[WS 1] germanischen Stammes geleistet hatte. Durch dieses Werk, gleich hervorragend durch den eisernen Fleiß, [216] mit welchem hier das massenhafte Material bewältigt erscheint, wie durch umfassende Gelehrsamkeit, bewundernswürdigen Scharfsinn, strenge Ordnung und musterhafte Klarheit der Darstellung, schuf D. die neue Wissenschaft der romanischen Philologie, die sich nunmehr als gleichberechtigt neben die classische stellen durfte, und wenn diese letztere auch mit der Anerkennung einer solchen Berechtigung noch einige Zeit zögerte, so sah sich der stille, bescheidene Forscher zu Bonn doch sehr bald von einer achtbaren Anzahl von Jüngern umgeben, welche dem neu eröffneten, so reiche Frucht verheißenden Felde des Wissens ihre Arbeitskraft zu widmen entschlossen waren und nach der rheinischen Hochschule eilten, um unter der Leitung des Meisters selbst ihre Studien zu machen. Ein starkes Contingent von Wißbegierigen stellten erklärlicher Weise die romanischen Nationen selbst und die meisten derjenigen, welche heutzutage in Frankreich und in Italien an der Spitze der Wissenschaft stehen, zählten einst zu Diez’ unmittelbaren Schülern. Während er so als Lehrer durch das lebendige Wort aufs erfolgreichste wirkte, war auch seine schriftstellerische Thätigkeit ganz dem weiteren Ausbau der von ihm gegründeten Wissenschaft gewidmet. In „Altromanische Sprachdenkmale“ (1846) und „Zwei altromanische Gedichte“ (1852, 2. Abdr. 1876) gab er kritisch berichtigte Texte der ältesten provençalischen und französischen Sprachdenkmäler mit werthvollen sprachlichen und litterargeschichtlichen Erläuterungen. Hierauf folgte zunächst sein hochwichtiges „Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen“ (1853, 2 Bde., 3. Aufl. 1869–70. 2 Bde.), in welchem er zuerst die in der Grammatik aufgestellten Lautgesetze für die Etymologie verwerthete und diesem bis dahin auf so unsicherem Boden stehenden Theile der Wissenschaft ein solides Fundament unterbreitete. Inzwischen entwickelte sich in Deutschland wie in Frankreich eine rege, wetteifernde Thätigkeit zunächst auf dem Gebiete der provençalischen und altfranzösischen Litteratur in der Erforschung und Veröffentlichung der älteren Litteraturdenkmäler. Denn durch die von begründete historische Grammatik war einerseits das Bedürfniß angeregt worden, immer zahlreichere Quellen für die Sprachgeschichte aufzufinden und zu erschließen, andererseits aber auch erst eine feste Grundlage und eine sichere Norm für die kritische Behandlung der Texte gegeben. So floß denn in zwei Jahrzehenten reichlich neues Material in die Werkstatt des Meisters und die zweite Ausgabe der Grammatik (1856–60, 3 Bde.) konnte in ihren beiden ersten Theilen in wesentlich neuer Gestalt erscheinen. Wenige Jahre darauf wurde die Einleitung zur Grammatik von Diez’ ehemaligem Schüler G. Paris ins Französische (Paris 1863) und das Ganze von Cayley ins Englische übersetzt (London 1863). Noch ein Mal begab sich D. auf das rein litterarhistorische Gebiet in der gehaltvollen Schrift „Ueber die erste portugiesische Kunst- und Hofpoesie“ (1863), um sodann wieder zu den ihm nunmehr vorzugsweise am Herzen liegenden Forschungen zurückzukehren. In „Altromanische Glossare“ (1865) berichtigte und erläuterte er zwei der wichtigsten unter den für die Geschichte der romanischen Sprachen so werthvollen mittellateinischen Vocabularien und arbeitete gleichzeitig unermüdlich an der Bereicherung der Grammatik, wozu sich inzwischen wieder des Stoffes genug aufgesammelt hatte. So erschien denn dieselbe 1870–72 in dritter wiederum neu bearbeiteter und vermehrter Auflage. Zahlreiche Beiträge der werthvollsten Art für verschiedene Zeitschriften, wie die Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Haupt’s Zeitschrift für deutsches Alterthum, das Jahrbuch für romanische und englische Litteratur u. a. gingen stets neben seinen größeren Werken her. Deutschlands und des Auslandes Anerkennung seiner hohen Verdienste um die Wissenschaft gab sich bei Gelegenheit seines 50jährigen Doctorjubiläums im December 1871 in den Ehrenbezeugungen kund, die dem 77jährigen Greise von den verschiedensten Seiten zu Theil wurden. [217] Noch mehrere Jahre erfreute er sich fast unveränderter körperlicher wie geistiger Frische und konnte noch die kleine Schrift „Romanische Wortschöpfung“ (Bonn 1875) und die Durchsicht der 4. Aufl. der Grammatik vollenden. Erst gegen Ende 1875 begann ein Siechthum, welches seinem Leben am 29. Mai 1876 ein Ende machte. Eine seltene Herzensgüte, eine gewinnende Liebenswürdigkeit im Umgange und eine fast übertriebene Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit bildeten hervorstechende Züge seines Charakters.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Spachen