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Artikel „Reinmar von Zweter“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 98–102, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reinmar_von_Zweter&oldid=- (Version vom 5. Dezember 2024, 18:46 Uhr UTC)
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Band 28 (1889), S. 98–102 (Quelle).
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Reinmar von Zweter. Der Zusammenhang zwischen Leben und Dichtung war gerade zur Blüthezeit der mhd. Poesie ein erschreckend loser. Walther v. d. Vogelweide ist nahezu der Einzige, der es verstanden hat, dem bewegten Leben seiner Zeit in seiner Vielheit und Tiefe annähend gerecht zu werden. Aus seinen politischen Sprüchen zumal dröhnt uns das Kampfgetöse erschütternd entgegen, das im heißen Ringen von Kaiser und Papst die Welt erfüllte, und es war ein Verlust für die staufische Sache, als der müde Streiter ums Jahr 1227 die Wahlstatt verließ. Er hat nur einen namhaften Schüler auf diesem Gebiete gehabt: während im Uebrigen der politische Spruch schnell die großen Fragen der Reichspolitik über kleinlichen localen und particularistischen Interessen vergaß, hat Reinmar von Zweter wenigstens eine Zeit lang im Geiste seines Lehrers für Kaiser und Reich zu streiten gesucht. R. ward um die Wende des Jahrhunderts am Rheine geboren: wahrscheinlich entstammt er dem niedern Adelsgeschlechte der Herren von Zeutern (bei Bruchsal). Ein guter Stern führte ihn früh nach Oesterreich, wo er am kunstfreundlichen Hofe Leopolds des Glorreichen aufgewachsen zu sein und die bedeutungsvolle Bekanntschaft Walther’s v. d. Vogelweide gemacht zu haben scheint. Beide Dichter haben ihrer persönlichen Beziehungen freundlich gedacht; auf Reinmar’s geistiges Werden war Walther’s Vorbild von entscheidendem Einfluß. Nach wenigen tastenden Versuchen entschlug er sich der modischen Minnelyrik und trat gerade in dem Augenblicke, da Walther’s Mund verstummte, in die Schranken: dem ungerechten Bannfluch von 1227 [99] galt Walther’s letzter, Reinmar’s erster Spruch. Der Haß gegen Roms weltliche Herrschsucht bleibt zunächst so ausschließlich seine Richtschnur, daß er selbst den ersehnten Frieden von San Germano nur als neuen Beweis päpstlichen Wankelsinns zu schelten weiß, obgleich er dadurch eben so sehr dem fernen Kaiser, der ihm anfangs nur als Folie gegen Rom von Bedeutung ist, wie namentlich seinem Landesherrn Anstoß geben mußte. Als auf Leopold im J. 1230 sein unähnlicher Sohn, der Wildling Friedrich II. folgte, verlor R. den Boden in Oesterreich: der nicht anspruchslose adlige Didaktiker stimmte nicht zu dem übermüthig lebenslustigen Hofe und trat nach einigen traurigen Jahren (wol um 1234) aufathmend in den Dienst König Wenzel’s von Böhmen. Hier hat er das letzte gewaltige Auftreten des staufischen Kaiserthums in Deutschland erlebt und davon nie erlöschende Eindrücke empfangen. Er sah wahrscheinlich Friedrich II. zu Mainz im vollen Glanze der legitimen Majestät, vor der eben der rebellische Sohn fast widerstandslos in sein Nichts zusammengesunken war; er fühlte Friede und Recht im Geleite des Kaisers wiederkehren und im Auftrage Wenzel’s mahnt er den kaiserlichen Arzt zu Augsburg (Juni 1236), das kranke Reich von seinem letzten Schaden, dem zügellosen Herzog von Oesterreich, zu heilen. Aber bald erlitt die Bewunderung für den Kaiser einen schweren Stoß: Papst Gregor beschuldigte im Gefolge seines Bannes von 1239 Friedrich II. der schamlosesten Ketzerei; am ultramontanten Hofe des unzuverlässigen Wenzel fand das willigen Glauben; schmerzlich enttäuscht wendet sich R. von dem verehrten Kaiser ab und bittet Gott in pathetischem Gebet, Friedrich von Staufen zu stürzen. Aber als neue Throncandiaten auftreten, da weist er den vom Papst vorgeschlagenen Dogen Venedigs als bloßen Krämer mit dem Stolze des deutschen Edelmanns höhnisch zurück, tritt unzweideutig für die Wahl eines deutschen Fürsten ein und nimmt an den Unterhandlungen mit Prinz Erich von Dänemark thätigen Antheil: ungefähr in Uebereinstimmung mit Wenzel’s politischen Anschauungen. Der König war seine einzige Stütze am Prager Hof: der ultramontanen und czechischen Partei war R. ein Dorn im Auge, und als böse Einflüsse, vielleicht auch politische Differenzen das Verhältniß zum König unsicher gestalten, da sieht sich R. gezwungen, den Stab weiter zu setzen (um 1241). Es beginnt ein unstätes Wanderleben, entsagungsvoll gewiß für den adligen Herrn, der bis dahin eine Art gesellschaftlicher Stellung noch gehabt haben wird. Wir finden ihn an den Höfen von Meißen, von Thüringen, von Sayn; im Auftrage Erzbischof Siegfried’s von Mainz, des Führers der antistaufischen Partei, drängt er den unentschlossenen Heinrich Raspe zur Annahme des Gegenkönigthums; aber gerade jetzt, als er im Dienste der rheinischen Pfaffenfürsten das egoistische Intriguenspiel der päpstlichen Partei kennen lernt, gerade jetzt regt sich die alte Liebe zum Kaiser: „Den Adler kann doch keine Mücke verjagen“. So endet er als Feind der Curie, wenn auch nur als verschämter Ghibelline, seine politische Laufbahn: er starb, wahrscheinlich nach 1252, in dem kleinen Dorfe Eßfeld bei Ochsenfurt.

Von der gewaltig erregenden und hinreißenden Wirkung Waltherscher Sprüche hat Reinmar’s Dichtung sicherlich wenig gehabt: dazu fehlt ihm die rücksichtslose Leidenschaftlichkeit, die sich nicht scheut, auch einmal ungerecht, selbst würdelos zu werden, wo’s Noth thut; R. hat wohl Pathos und Nachdruck, aber zündende Zornesglut lodert nur selten einmal durch seine Verse, am schönsten und heißesten durch die Strophen, in denen er seine böhmischen Gegner angreift. Als Walther zur Spruchdichtung und zum Vagantenthum überging, da trat ihm sein adliges Standesgefühl ganz in den Hintergrund: R. fühlt sich als Edler auch dann noch, als er gehrend von Hof zu Hofe zieht; er hat Sinn [100] für Würde und Haltung, ist von keuscher, empfindlich reservirter Art, voll Maß und Selbstbeherrschung, ob das auch seiner Existenz und seiner Dichtung nicht immer gut that. Es gibt das seinen Weisen eine gewisse Blässe trotz des bunten und reichen Inhalts seiner Sprüche, die kaum ein Thema unberührt lassen. Selbst das obligate Minnethema hat er, kühl und unselbständig, in Spruchform gezwängt; aber schnell zog er es vor, über Liebe zu lehren, statt sie als selbstgefühlt zu singen; eine lange Reihe von Dichtungen, die wol nach Oesterreich gehören, behandeln das Benehmen der Damen und Herren; sie zeigen uns R. noch im Mittelpunkt höfischen Lebens. Dieser Atmosphäre entstammt auch seine berühmteste Schöpfung, die reich ausgeführte Gestalt der Frau Ehre, der einst mächtigen, jetzt vertriebenen, müde irrenden Dame: sie hat weit reichenden litterarischen Einfluß gewonnen und ihm bedeutenden Ruhm geschafft. Sehnsucht nach entschwundenen schöneren Zeiten, da das Ritterthum blühte, klingt durch diese älteren Sprüche hindurch; in ihnen besonders ist Walther’s Einfluß auf Schritt und Tritt fühlbar. Schon die Uebersiedlung an den böhmischen Hof bringt ein gewisses bürgerliches Element in seine Dichtung. Der dort mißachtete niedere Adlige lernt den Gedanken schätzen, daß Tugend adlig mache und nicht Geburt. In allerlei Sprüche über die Ehe drängt sich Parodie des höfischen Minnegesangs, zumal Ulrich’s von Liechtenstein; ich weiß nicht, ob auf Grund eigener übler Erfahrung, beneidet er den Hahn, der mit zwölf Frauen fertig werde, während es dem Manne so schwer ist, nur eine zu zügeln. Er schilt auf das rohe tolle Turnieren, das die Hausehre vergessen läßt, tadelt Trunkenheit und Spiel, rühmt die vernünftige milte, die ihre Gaben an Würdige gibt, und baut sich aus allerlei Thiersymbolen, die er überhaupt gerne anbringt, einen wunderlichen Idealmann zurecht mit Straußenaugen, Schweinsohren, Adlersklauen und Löwenherz. Aber in seine religiösen Sprüche dringt, so farblos sie sind, ein Abglanz von höfisch minniglichem Colorit, versetzt mit derb bürgerlichem Realismus: Maria ist seine Herzensherrin; er fleht sie an, ihm Bettdecke und Matratze zu sein. Einen starken Umschwung erfährt Reinmar’s Dichtart, als er hinaustritt in das wechselreiche Leben des fahrenden bittenden Sängers. Publicum und Concurrenz nöthigten zu Concessionen. Er darf nicht nur auf höfische Hörer rechnen, muß sich vordringlicher Nebenbuhler erwehren: daß es ihm schwer wird, zu betteln, in traditionellen Lobesphrasen den ersten Besten anzusingen, muß er durch manch bittere Erfahrung büßen. Die bürgerlichen Meister zumal, die auf eingebildete Gelehrsamkeit große Ansprüche gründeten, sahen scheel auf den ungelehrten Adligen, der ihnen ihr Brod kürzte: R. ist von dem Marner maß- und grundlos angegriffen worden, ohne selbst je zu erwidern; ein Schüler, der Meißner, focht seine Fehde aus. Reinmar’s Repertoir wird in dieser seiner mitteldeutschen Vagantenzeit reicher; der Kampf ums Dasein löst ihm die Zunge und lockert die Fesseln der Tradition. Fabeln und Erzählung, Sprüchwörter und namentlich Räthsel kleiden die Lehre, sie dem stoffhungrigen Publicum schmackhafter zu machen, in ein derbstoffliches lockendes Gewand, und auch bloß amüsante Themata, Lügenreihen und Vexierspäße, hat R. nicht grundsätzlich verschmäht, so wenig er sich in der Harlekinsjacke behaglich fühlt: seine Lügen stehn an der Spitze der mhd. Lügendichtung in deutscher Sprache; Räthsel vom Jahr, von der Schreibfeder, der Eisbrücke waren bei ihm nicht originell, sind aber noch jetzt lebendig. Vor allem lernt ers in dieser Zeit, brennende Tagesfragen des umgebenden Lebens keck anzugreifen, eine gesunde Gelegenheitsdichtung zu pflegen: Kirchenrecht und Sachsenspiegel werden erörtert, vor der Sodomie wird mit Nachdruck gewarnt, der ritterliche Ehrencodex geprüft, thörichte Moderedensarten verhöhnt: Todesgedanken wurzeln in lebendigem subjectivem Empfinden, und ein wehmüthig [101] heiterer, lehrhafter Gruß des alternden Dichters aus dem bleichen Abendsonnenschein seines Lebens heraus an das glühende Morgenroth der Jugend strömt eine lyrische Kraft, ein wahres und warmes Gefühl aus, wie es der in den Banden der höfischen Tradition befangene Jüngling nicht gekannt hatte. In Reinmar’s schlichter, wenig pointenreicher Sprache drängt sich das Streben nach Deutlichkeit oft fast pedantisch in den Vordergrund. Die gemeine Neigung der Zeit zu anaphorischen Worthäufungen trat da helfend hinzu; doch wahrt R. auch darin das Maß. Kurze abgeschlossene Sätze liebt er besonders; trotzdem führt ihn Neigung zur parallelen Häufung ins Breite. Bildlicher Rede ist er, da ihm anschauende Sinnlichkeit wenig gegeben ist, oft nicht Herr: neben abscheulich hinkenden Gleichnissen steht aber doch manch wohl gelungenes, gut ausgeführtes Bild, und die Personification hat er sicher und reich gehandhabt, wie kaum ein zweiter Lyriker. Im politischen Spruch ist es weniger Walther’s bewährtes Kunstmittel, die Apostrophe, durch das er Wirkungen sucht, als eine gehaltene Ironie. Der Stolz des Lehrers und Dichters drängt sich nie störend bewußt hervor: der Standesstolz des Adligen stand ihm doch höher. Neben Frau Ehre aber, der adligen Dame, ist es der bürgerliche Meister Ernst, der zumal in späterer Epoche sein Wirken beherrscht.

In der Heidelberger Hs. Nr. 350 liegt uns eine werthvolle, theils sachlich, theils chronologisch geordnete Sammlung Reinmar’scher Gedichte vor, die ich für Abschrift eines eigenen, um 1240/41 angelegten Spruchbuches halte. Alle Sprüche desselben sind im Fraun-Ehren-Ton verfaßt, einer in Anlehnung an Walther’sche Weisen glücklich gefundenen Form, die R. in mehr als 200 Gedichten und so ausschließlich benutzt hat, daß es selbst fraglich ist, ob er überhaupt noch in andern Lied- und Spruchtönen dichtete: welch Gegensatz zwischen Reichthum des Inhalts und Armut der Form! Ein großer religiöser Leich zeigt in dem strophischen Aufbau, wie in der theilweise erhaltenen Melodie größeres formelles Können, als man bei Reinmar’s strophischer Einförmigkeit erwarten sollte: er zerfällt nach dem Muster lateinischer Kirchenleiche in zwei variirte Haupttheile, und erreicht namentlich in den einleitenden Partien einen melodischen Reiz, der noch heute nicht ganz verschwunden ist. Aber der Ruhm des Dichters knüpft sich an seine Sprüche im Fraun-Ehren-Ton; in der meisterlichen Tradition spaltet sich bald ein besonderer Sänger, der Ehrenbote vom Rhein, aus Reinmar’s Persönlichkeit ab. Noch Hans Sachs hat in dem verkünstelten Ehrenton gesungen, und einem Gedichte Ulrichs v. Hutten, dem vir bonus, liegt Reinmar’s wunderliche Strophe vom Idealmann zu Grunde. Im Meißner erwuchs R. ein treuer, freilich wenig selbständiger Schüler; Fürst Wizlav von Rügen hat seine Sprüche plagiirt; Herman Damen hält dem jungen Frauenlob ein Reinmar’sches Wort mahnend entgegen, und Regenbogen beruft sich mit auf ihn, als er die Herrlichkeit der alten Dichtung rühmen will. In den Wartburgkrieg wird R. gegen alle Chronologie eingeschmuggelt und als Römer von Zwickau prangt er in der Zahl der zwölf alten Meister des Meistergesangs. Ein redlich und sittlich strebender Geist, nicht reich an Formen, aber auch nicht formell verwahrlost, nicht tief in der Auffassung, aber stets gewissenhaft und tüchtig, hat er ohne ausgeprägte Individualität doch die Fülle und den Wechsel der Interessen von Ort und Zeit rein auf sich wirken lassen und in reinlichem, wenn auch blaß gehaltenem Bilde wiedergespiegelt. Es kam bald eine Periode, die seiner braven, das Philiströse streifenden Sittlichkeit besseres Verständniß entgegenbrachte, als Walther’s genialerem Schwunge: als Leopold Hornburg von Rotenburg um 1320 die beiden Männer vergleicht, da urtheilt er: Reinmâr, dîn sin der beste was; her Walthêr dœnet baz.

Die Gedichte Reinmars von Zweter, herausg. von Gustav Roethe, [102] Leipzig 1887; auch in v. d. Hagens Minnesingern II, 175 fg.; III, 332, 468 g. – K. Meyer, Untersuchungen über das Leben Reinmars v. Zweter und Bruder Wernhers, Basel 1866. – Wilmanns in Haupt’s Zeitschrift f. deutsches Alterthum XIII, 434–463.