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Artikel „Seydelmann, Karl“ von Paul Schlenther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 86–92, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Seydelmann,_Karl&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 05:26 Uhr UTC)
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Seydelmann: Karl S., Schauspieler, wurde am 24. April 1793 zu Glatz in Oberschlesien als Sohn eine bemittelten Kaufmanns geboren, † am 17. März 1843 nach längerem Siechthum in Berlin, wo er auf dem katholischen Friedhofe vor dem Oranienburger Thor begraben liegt. Sein Leben währte, wie das Ludwig Devrient’s, nur 50 Jahre, aber sein Name bezeichnet der Nachwelt einen der bedeutendsten Schauspieler aller Zeiten. Der Berliner Hofbühne gehörte er nur die letzten 5 Jahre an, die durch Krankheit und Familienzwist schwer verkümmert [87] wurden; dennoch bezeichnet er in der Geschichte dieses Theaters einen glänzenden Abschnitt. Der Nachfolger L. Devrient’s und der Vorgänger Th. Döring’s steht er im Bunde dieser Zwei als ebenbürtiger Dritter. Aber er erreichte diese Höhe nicht wie die beiden Anderen durch eine geniale Urwüchsigkeit des Naturells, sondern durch die strengste Selbstzucht, den eisernen Fleiß, womit sein scharfer Geist und seine leidenschaftliche Liebe zur Kunst angeborne Schwächen siegreich überwand. Dem Glück verdankte er wenig, seiner unerhörten Willenskraft alles. Schon seine Kindheit war voller Kämpfe. Früh hing sich seine Seele an das Ideal des spätern Berufs. Nicht bloß Dilettantenvorstellungen der Vaterstadt nährten diesen Sinn, sondern auch Lectüre dramatischer und theatergeschichtlicher Schriften. Als er eines Nachts über dem Leben Iffland’s einschlief, wäre er beinahe in Flammen aufgegangen; dieser Vorfall konnte den nüchternen Vater dem Kunststreben seines Sohnes nicht geneigter machen. Eine vorübergehende patriotische Begeisterung führte ihn unter die Soldaten; in Glatz und Neisse übte er sich bei der Artillerie zur Vaterlandsvertheidigung; aber trotz ehrlichem Haß gegen den Fremdherrn hielt er den Militärdienst nur zwei Jahre aus; ohne ins Feuer gekommen zu sein, entwischte er 1811 über die österreichische Grenze nach Troppau, und es ist bezeichnend, daß derjenige, der den Flüchtling dort in Sicherheit brachte, ein Schauspieler war. Später nahm man den Deserteur, der nun auch vom Vater verstoßen war und sich inzwischen durch Elementarunterricht kümmerlich ernährt hatte, wieder zu Gnaden an, beschäftigte ihn aber nicht mehr auf dem Exercirplatz, sondern in der Schreibstube. Bald entließ man ihn ganz, und nun folgte S. seinem Stern. Beim kunstsinnigen Reichsgrafen v. Herberstein, auf Schloß Grafenort bei Glatz, betrat er zuerst eine größere Bühne; Luise Rogée, die früh verblichene Gattin Holtei’s, stand ihm lieblich zur Seite. Sein erstes festes Engagement hatte er bis zum 22. März 1819 gegen einen Wochenlohn von 10 Thalern in Breslau, wo er im Liebhaberfach so Schwaches leistete, daß der alte Prof. Rohde ihm abrieth, seine Bühnenlaufbahn fortzusetzen. Dem zum Trotz trieb er sich mit einem stattlichen Weibe (Luise Fuchs) und dem geliebten Knaben Wilhelm in österreichischen Theaterstädten umher, faßte festern Boden in Graz und Olmütz, liebäugelte vergeblich mit der Wiener Hofburg und bekam endlich im Herbst 1820 eine gedeihlichere Stellung in Prag, wo sein Director, Franz v. Holbein, ihn auf das richtige Rollengebiet brachte und seine Existenz durch ein Jahrgehalt von mehr als 3000 Gulden sicherte. Dennoch zog er, unter wohlwollender Zustimmung des Prager Gönners 1822 fort nach Kassel. Seitdem wirkte S. an Hoftheatern, ohne aber recht zur Ruhe und zum Wohlbehagen zu kommen. Bis 1828 war er in Kassel, von da bis 1829 in Darmstadt, dann bis 1838 in Stuttgart, und endlich in Berlin. Ueberall sollte seine Anstellung für Lebenszeit dauern; denn S. war stets auf das Heil der Seinen bedacht. Aber Hofintriguen und Coulissenkabalen, wohl auch der eigne Starrkopf zuweilen, trieben ihn von Ort zu Ort. In Kassel vermochte ihn auch die innige Freundschaft mit Spohr nicht zu fesseln, in Darmstadt ärgerte ihn die Vorliebe des Hofs für Opern; und in Stuttgart, wo er am längsten ausdauerte, von wo aus sein Ruhm sich am stärksten verbreitete, kam es schließlich zu so heftigem Zwist mit dem Vorgesetzten, Grafen v. Leutrum, daß der vieljährige Liebling des Publicums Knall und Fall weggeschickt und nicht einmal zur Abschiedsvorstellung zugelassen wurde. Es waren nicht bloß gewisse Härten seines Wesens, es war vor allem der Stolz des freien Künstlers, der sich gegen unberufenes Dreinreden kunstfremder Theaterbehörden aufbäumte. Eine Bühne nach eignem Kunstverständniß frei zu leiten, blieb für ihn ein nie erfüllter Traum. Zwar wurde ihm 1835 die Direction in Frankfurt a. M. durch Gutzkow’s Vermittlung angetragen; aber schon winkte die Aussicht auf Berlin, und der Plan zerschlug sich. Daß [88] S. zum Theaterleiter wie Wenige berufen war, bezeugt mit entschiedenem Nachdruck der seinen schauspielerischen Leistungen gegenüber recht kühl urtheilende Historiker der deutschen Schauspielkunst, Eduard Devrient. Daß er sich mit dem Gedanken trug, im Gegensatz zu den sterilen stehenden Theatern, mit einer Mustertruppe durch Deutschland zu wandern, ist aus Mittheilungen August Lewald’s ersichtlich, der sogar dieses Gedankens halber den damals noch von ihm reclamehaft verherrlichten Künstler vor Berlin warnte. Aber für den Preußen blieb die preußische Hauptstadt doch das Ziel. Schon 1832 erhielt er einen Antrag vom Intendanten Grafen v. Redern, aber damals beängstigte ihn noch die Macht des sterbenden Ludwig Devrient. Erst im Frühling 1835 kam es zu einem längeren Gastspiel, das am 2. April als Carlos (in Clavigo) begann und am 26. Mai schloß. Es umfaßte 26 Spielabende und der gefeierte Gast erhielt für jede Rolle 90 Thaler. Er wurde zum erklärten Liebling des Publicums, trotz dem todten Meister Ludwig; und nur sein gesteigertes, überaus verletzliches Selbstgefühl konnte in diesen Stürmen des Beifalls, der ihm vom Hof, von den Weisesten und von der Menge gleichmäßig entgegenwogte, mit grämlich feinem Ohr auf einige kritisch-abfällige Stimmen lauern. 1837 erneuerte sich das Berliner Gastspiel, und endlich, am 4. April 1838, debütirte S. zum ersten Male als königlich preußischer Schauspieler im Opernhause in der Rolle des Cromwell (Raupach’s Royalisten). Nicht bloß sein kritischer Lobredner und späterer Biograph Rötscher in der Spener’schen, sondern auch der kühlere Gubitz in der Vossischen Zeitung erkannte ihn als würdigen Ersatz für Devrient und Beschort an. Sehr bald bildete sich eine schöngeistige Gemeinde um S., die über seine Schöpfungen in ästhetischer Schätzung lebhaft discutirte und sie ins Hegel’sche Weltganze einzuordnen suchte. Schon 1835 hatte Eduard Gans, der sich sieben Jahre lang dem Hoftheater fern gehalten, die einzelnen Gastrollen eingehend gewürdigt, wozu ihm Ludwig Rellstab in seinem kurzlebigen Blättchen „Berlin“ neben sich Raum gegeben hatte. Nun war Gans einer der Ersten, der des Künstlers persönliche Freundschaft suchte, und der mit ihm und mit jüngern Gelehrten, wie Karl Werder, Hotho, Carrière, mit Moritz Veit und Eduard Devrient dramatische Lesekränzchen hielt. Varnhagen v. Ense bedauerte lebhaft, daß Rahel diesen Schauspieler nicht mehr erleben durfte. König Friedrich Wilhelm III. urtheilte: „immer brav, immer anders und immer ein guter Künstler.“ Als S. dann in einer Iffland’schen Rolle, als Advocat Wellenberger, am 9. Januar 1843 zum letzten Male aufgetreten und zwei Monate später von seinen schweren innern Leiden erlöst worden war, ging ein großes Trauern durch Berlin. Ein Inserent der Vossischen Zeitung klagte: „Schon hat der Lorbeer seinen Sarg umwunden, Mit Iffland ihn, mit Devrient verbunden.“ Eine Todtenmaske wurde abgenommen und stand im Eichler’schen Kunsthandel zum Verkauf. Wenige Tage drauf erschienen bei Voß „Blätter der Erinnerung für Freunde und Verehrer des Verewigten“, und Rötscher ging alsbald daran, Material für ein umfassendes Werk über S. zu sammeln. Berlin war um einen Großen ärmer geworden.

Aber auch im Reich hatte S. für seinen Ruhm durch vielfache Gastreisen zu sorgen gewußt. Schon 1825 hatte er in Hamburg gastirt; „nicht ohne Glück“, bemerkt der verstimmte Director F. L. Schmidt in seinen Denkwürdigkeiten; er war verstimmt, weil das Gastspiel zu einem Engagementsvertrage geführt hatte, den S. brach, um Darmstadt anzunehmen; 1835 war dieser in Seydelmann’s Leben nicht vereinzelte Contractbruch so weit verschmerzt, daß sich nun, hinter den Berliner Erfolgen her, das Gastspiel in Hamburg wiederholen konnte; und F. L. Schmidt tadelt zwar den nervösen, reizbaren, ruhmgierigen Menschen, erkennt aber den „geistvollen Charakterschauspieler“ an. In Breslau hatte er 1829 seine künstlerischen Jugenderinnerungen aufgefrischt und besser als einst der Laertes, [89] glückten ihm jetzt der Shylock und andre Shakespeare’sche Hauptgestalten; wie ehedem so erfreute er sich auch jetzt der besondern Huld des alten Kunstkenners Karl Schall; auch ein junger scharfer Blick traf ihn dort zum ersten Mal: der Blick Heinrich Laube’s. In Weimar spielte S. im November 1830 mehrmals vor den Augen Goethe’s, der sich mit ihm über Carlos (in Clavigo) und Mephisto unterhielt. Wie freilich sein Duzfreund Genast erzählt, achtete S. auch in Weimar nicht bloß auf Goethe, sondern gelegentlich auch auf die Menge und rechtfertigte sein gefallsüchtiges Spiel ins Publicum hinein mit der Bemerkung: „Ja lieber Bruder, Klappern gehört zum Handwerk.“ Es schnitt dem guten Genast durch die Seele, von solch einem Künstler das zu hören. Im Frühjahr 1831 gastirte S. in Wien, wo an der Burg schon damals die beste deutsche Bühne war; aber auch diesmal kam es zu keinem festern Verhältniß. In München wurde 1835, in Zürich und St. Gallen mit stürmischem Erfolge 1836 gastirt. In Düsseldorf war S. im Februar 1833 und unterstützte durch sein Gastspiel das junge Theaterunternehmen Immermann’s.

Diese Wanderfahrten trugen nicht dazu bei, den Kunstgeschmack Seydelmann’s zu fördern. Sie verleiteten ihn mehr und mehr zum Solospiel und zu jenen erhaschten Effecten, wie Genast einen beklagt, und wie sie an ihm am schärfsten Eduard Devrient getadelt hat, der vielleicht nicht ohne persönliche Vorurtheile auf ihn die Anfänge des modernen Virtuosenthums zurückführt. Diese Vorwürfe finden darin einen Stützpunkt, daß auch Seydelmann’s unbedingteste Bewundrer niemals anerkannten, er habe sich einem Ensemble eingefügt. Immer wird vielmehr ausgesprochen, er sei aus dem Ensemble hervorgeragt. Je schwerer es ihm von Anfang an gemacht wurde, sich durchzusetzen, desto leidenschaftlicher that er es; und in der Regel war seine Umgebung nicht dazu angethan, sich ihr einzupassen oder gar unterzuordnen. Eine künstlerische Harmonie wie am Wiener Burgtheater gab es im Berliner Schauspielhause von 1840 so wenig wie später.

Sich durchzusetzen und Hindernisse zu überwinden, war Seydelmann’s Schicksal von früh an. Wie Demosthenes hatte der Jüngling sein sprödes Organ zu schmeidigen; völlig geglückt ist es ihm nie. Ed. Devrient nennt seine Zunge dick und lang, seine Stimme rauh und stumpf; er beanstandet Lispellaute und falsche Aussprache der dunklen Vocale. Auch Gans mußte zugeben, daß einige Laute ihm schwer fallen. Um die Rauhheit zu lindern, ließ S. gern die Stimme bei den Versausgängen melodisch abklingen, was dann dem Vortrag etwas Monotones geben konnte. Aber es gab auch Zuhörer, wie Immermann und A. Lewald, die das Organ wohltönend nannten. Recht wird wohl Gutzkow behalten, welcher die affectvollen Töne mehr charakteristisch als schön fand.

Das Charakteristische war überhaupt der Zielpunkt, nach dem Seydelmann’s ganzes Streben hinging. Darin offenbarte er sich als echten Schauspieler, als Menschendarsteller. Schon in der Maske sollte der besondere Charakter des Darzustellenden scharf, unverkennbar und ohne Rest irgend eines fremden Wesens hervortreten. S. war von schlanker Mittelgröße, hatte röthliches Haar, blaue schlaue Augen; nichts in seiner Erscheinung ging über das Gewöhnliche hinaus, aber mit Hülfe der Maskirung und des Gebärdenspiels, ließ sich aus diesem gewandten, beweglichen Körper alles mögliche machen. S. verschmähte es auch nicht, falsche Nasen u. dergl. Hülfsmittel anzuwenden, die dem physiognomisch weit selbständigern Döring beispielsweise ein Gräuel waren. Ganze Nächte durch bosselte er mit Unterstützung seiner Frau am äußern Bilde seiner Gestalten. Er war dann auch fast nie wiederzuerkennen; und zum Theil lag es wohl an dieser statuarischen Maske, daß an seinen Darstellungen die Entwicklung und Steigerung vermißt wurde; z. B. von Rellstab. Er bot, wie man wohl gesagt hat, „mehr ein Porträt als ein Charaktergemälde“; also nichts fließendes, sondern etwas [90] festes. Sobald er auf die Bühne trat, wußte man bereits seine ganze Auffassung; und an dieser hielt er dann mit eherner Consequenz in allen Punkten fest; so daß stets, wie auch Gubitz und Ed. Devrient anerkannt haben, etwas Ganzes herauskam. Wie ihm Naturtreue höher stand als Idealität, sodaß man ihm vorwarf, er gehe mehr nach dem Leben, als die Kunst vertragen könne, so versuchte dieser ausgesprochenste Realist seiner Zeit auch, über das Allgemein Menschliche hinweg zum Nationalen und Individuellen zu gelangen. Sein Essighändler war ganz Franzose, sein Ossip ganz Russe. Das Charaktetistischste für den Menschen bleibt neben Gangart und Gebärde immer das Wort, und den Realisten S. kennzeichnete wohl am sichersten der realistische Laube, wenn er von ihm sagt, er habe die große Macht des nüchternen Worts gezeigt, das unmittelbar trifft und nicht im schönen Bogen abgeschossen wird.

Viel gestritten ist, wie weit bei Seydelmann’s Schöpfungen das Genie, deutlicher gesagt, die Phantasie mitgewirkt hat, oder wie weit es reine Verstandeswerke waren. Als er 1835 zum Gastspiel nach Berlin kam, war es vor Allen Gubitz, der in der Vossischen Zeitung von der Mäßigkeit seiner innern Erregung und Phantasie sprach, ihm mehr klare Auffassung als Seelenwärme zuerkannte: „wir verstehen ihn mit dem Kopfe, nicht aber ebenso mit dem Herzen.“ Und in seinem eignen „Gesellschafter“ ließ Gubitz am 11. Mai den Dr. Sobernheim zum Wort, der von Gemüthsfrost sprach und auch sonst durch seine abfälligen Vergleiche mit Fleck, Iffland, L. Devrient, den Lebenden, der diesen Todten gegenüber sein Recht in Berlin durchzusetzen hatte, bitterlich kränkte. „Er rechnete den Geist der Rolle heraus“, sagt Sobernheim. Günstigere Kritiker drückten dieselbe Beobachtung milder aus. Gans sah bei ihm nicht die unmittelbare, sondern die vergeistigte Natur; Rellstab meinte, er schaffe durch die Vermittlung des Betrachtens. Aber diesmal ist Eduard Devrient Derjenige, der ihn vor dem Tadel, er sei ein bloßer Verstandeskünstler und Rechenmeister gewesen, in Schutz nimmt; vielmehr waren nach Devrient’s Ansicht seine mannigfaltigen und stets originellen Gestalten ihm in der Phantasie lebendig aufgegangen. Wenn er in grüblerischer Einsamkeit seine Menschen schuf, so sah er sie bis ins Kleinste und Klarste vor sich; und in diesem Sinne mag das auf ihn angewendete Wort vom Rafael ohne Hände auch für den Schauspieler gelten. Seine Willenskraft mag dem spröden Körper doch nicht alles abgetrotzt haben, was der erfinderische, bildende Geist und wohl auch das stark empfindende Herz, wollte. „Da hat man mir solange das Herz abgestritten, und nun muß ich es fühlen, daß ich doch ein Herz habe“, scherzte wehmüthig der sterbende, just am Herzen sterbenskranke Mann.

Freilich daß dieses Herz zum Liebhaber ausgereicht hätte, gab er nach seinen Breslauer Jugenderfahrungen selbst nicht zu. An seinen Sohn, der sich als Bassist der Bühne gewidmet hatte, schrieb er, sich selbst in die dritte Person setzend: „Als Liebhaber darf S. nicht erscheinen; er muß zugleich den Teufel stark im Leibe haben oder den blanken Humor.“ Den Teufel hat ihm Niemand abgestritten, im Leben sowenig wie in der Kunst. Sein Humor war nach dem Zeugniß Laube’s begrenzt durch satirischen Sarkasmus. Es fehlte der Sonnenschein. Er hatte etwas von der schneidigen Schärfe des Goethe’schen Carlos, der auch seine beste Leistung war, mit dem er zum ersten Mal das Berliner Publicum hinriß. Von diesem Carlos, den er ohne die üblichen Intriganten-Manieren, als seinen klugen Weltmann gab, hat A. Lewald gesagt: „Er verstand es, Recht zu haben.“ Und eine starke Ueberzeugungskraft muß allenthalben in Seydelmann’s Leistungen gelegen haben. Er ging fast immer eigne Wege und zog auch Urtheilsfähige mit sich. Am überzeugendsten scheint er in Schiller’schen Rollen wie König Philipp gewirkt zu haben; sein strenger Realismus gab diesen [91] Idealbildern etwas Menschlicheres. Sein Mephisto war ein besondres Capitel für den Gelehrtenstreit. S. wollte nichts andres geben, als den Teufel des Volksglaubens. Er war, wie Ed. Devrient sagt, der widerliche, kothige und zotige Teufel vom Blocksberg; wie Immermann sagt, ein erdiger knarrender Geist mit infernalisch-thierischem Krächzen, Pusten, Murksen. Die Cultur scheint diesen Teufel nicht beleckt zu haben. Wenn er in Gretchen’s Zimmer trat, so blies er das Schwül’ und Dumpfige mit seinem Athem in den Raum hinein. In seinem Nathan dagegen erkannte Immermann den „Herder’schen Humanitätsprediger“, der den Juden hinter dem Weisen zurücktreten ließ und jenen nur in einer gewissen Demüthigkeit des Auftretens zu erkennen gab. Sein Marinelli war ein bornirter Geck ohne Gewicht, der aber mit einem gewissen hohlen Selbstbewußtsein auftrat. Sein Shylock war ganz Jude und ganz ernst. Das religiöse Gefühl gab ihm etwas Erhabnes, er rechnete stark auf Mitgefühl; schon in der Scene mit Tubal brach er in Thränen aus; vor Gericht raste er wie ein wildes Thier. Etwas vom Thier, theils Tiger, theils Affe, theils Schlange, muß nach Lewald’s Zeugniß auch sein Mohr im Fiesco gehabt haben. Die Sucht zu charakterisiren trieb S. oft so weit, daß er den Mohren mit einem Luftsprung zum Galgen schickte, und den Kanzler Antonio verwickelte er in ein zärtliches Verhältniß zur Leonore Sanvitale. Seine letzte Bühnengestaltung war Karl Werder’s Columbus, durch den er sich das Anrecht auf den heißersehnten Wallenstein erwerben wollte. Kurz vor seinem Tode sollte er den Jago spielen; es war sein höchster und letzter Wunsch gewesen, dieses Räthsel der Darstellungskunst zu lösen; und Ed. Devrient, der ihn auf der Leseprobe hörte und der seine Gestalten meist prosaisch fand, sagte von ihm: „Als Jago wäre er poetisch gewesen.“ Was Devrient das Prosaische nennt, hat S. selbst einmal anders ausgedrückt in einem Zufallswort zu Theodor Döring, den er nicht ohne Neid und nicht ohne künstlerische Bedenken bewunderte: „Sie tragen die bunte Jacke, ich trage die graue Jacke.“ Um diese ihm von der Natur angepaßte Grauheit zu überwinden, griff er zu Effecten, die außer der Sache lagen, und ging in der Scharfzeichnung oft so weit, daß der Mitspieler zu viel von den Absichten des Gegners merken mußte. Aber dennoch stand diesem Meister seine Kunst zu oberst; über sie sprach er, über sie schrieb er die ausgezeichnetsten, wahrhaft lehrreichen Briefe, mit ihr rang er bis hinein in den Tod. Und als alle Arbeit vorbei war und es zum Sterben kam, flüsterte er ingrimmig: „Und darum das alles!“

S. ist kein glücklicher Mensch gewesen und hatte viel Feindschaft geerntet. Er konnte auch im Leben schauspielern; Gutzkow bewunderte an ihm, wie er scheinbar kundig und einstimmend zuzuhören vermochte, wo er nichts verstand. Aber als wahrhaft bedeutender Mensch hatte er auch Stunden hingebendster Heiterkeit. Von einer solchen Stunde, die er beim ersten Abschied von Berlin 1835 im Jagor’schen Weinhause verlebte, sagte er: „Mein ganzes Wesen ging auf, und dann hat mich noch niemand ungern gehabt.“

August Lewald, Seydelmann. Ein Erinnerungsbuch für seine Freunde. Neue Ausgabe. Stuttgart 1841. – Wolfgang Menzel im Morgenblatt 1832. – F. Röse, Ueber die scenische Darstellung des Goethe’schen Faust und Seydelmann’s Auffassung des Mephistopheles. Berlin 1838. – Hallische Jahrbücher 1838. – Karl Gutzkow, Oeffentliches Leben in Deutschland 1838–1842. S. 152 ff. -– Karl v. Holtei, Briefe aus und an Grafenort. 1841. – F. W. Gubitz, Nachruf in der Vossischen Ztg. vom 20. März 1843. – H. Th. Rötscher, Seydelmann’s Leben und Wirken. Berlin 1845. 357 S. (Zahlreiche Briefe.) – Heinrich Laube, Das norddeutsche Theater. 1872. [92] S. 38 ff. – Karl Gutzkow, Rückblicke auf mein Leben. 1875. S. 59 ff. – Eduard Devrient, Geschichte der Schauspielkunst IV, V, 1874. – Oscar Teuber, Geschichte des Theaters in Prag III. – R. Fellner, Geschichte einer deutschen Musterbühne. 1888.