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Artikel „Rellstab, Ludwig“ von Max Bendiner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 781–784, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rellstab,_Ludwig&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 14:52 Uhr UTC)
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Band 28 (1889), S. 781–784 (Quelle).
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Rellstab *): Heinrich Friedrich Ludwig R. wurde zu Berlin am 13. April 1799 geboren. Der Vater, Joh. Karl Friedr. (s. oben) erzog ihn und seine Schwester Karoline, letztere späterhin eine beliebte Sängerin am Breslauer Theater, zur Musik. Der Vater selbst ertheilte dem fünfjährigen Knaben den ersten Musikunterricht, freilich nicht ohne vielen Zwang, da R. einen hartnäckigen Widerwillen gegen die Kunst zeigte; nichtsdestoweniger spielte er schon im 10. Jahre ein Concert von Mozart mit Orchesterbegleitung, sowie die schwierigen Concerte von Joh. Sebastian und Philipp Emanuel Bach. Neben diesen häuslichen Studien, die auf den künftigen Beruf vorbereiten sollten, ging der übliche Schulunterricht, erst in der Schule des Dr. Messow, dann im Joachimsthalschen und Werderschen Gymnasium; doch fühlte R. auch für höhere Bildung wenig Neigung. Bestärkt durch die schon früh gefaßte Absicht, sich dem Soldatenstande zu widmen, vernachlässigte er die alten Sprachen und pflegte mehr Mathematik, besonders Geometrie. Das Musikstudium war aufgegeben worden, nachdem der Vater eingesehen hatte, wie sehr es seinem Sohne an Lust, Liebe und dem inneren Drange gebrach. Da aber das Rellstab’sche Haus nach wie vor ein Sammelpunkt für Musiker und Musikfreunde blieb, so konnte selbst der widerwillige Knabe sich eines bestimmten Einflusses der Kunst auf sein Gemüth nicht entziehen.

Mitten unter dem Getümmel des beginnenden Feldzuges von 1813 starb der Vater plötzlich an einem Schlagflusse, und Ludwig folgte jetzt ungehindert seinen eigenen Neigungen. Nach seiner Einsegnung trat er im J. 1816 in die Kriegsakademie ein, und da er für die Mathematik viel Eifer zeigte, wurde er der Artilleriebrigade zugetheilt. Indessen blieb er nicht lange beim activen Truppendienst: bereits als Fähnrich wurde er als Lehrer der Mathematik zur Brigadeschule commandirt, bald darauf (1818) zum Officier befördert. Freilich begann er jetzt zu fühlen, wie unbefriedigend ihm sein selbstgewählter Lebensberuf sei, und bestärkt durch den Umgang mit Künstlern wie Bernhard Klein und Ludwig Berger, angeregt auch durch einige dichterische Erfolge, verließ er im J. 1820 die militärische Laufbahn, um sich ganz der Litteratur zu widmen. Er ging nach Frankfurt a. O., in der Stille der Kleinstadt die früher vernachlässigten Studien wieder aufzunehmen. Der Bruder Leopold’s v. Ranke ward sein Lehrer in den classischen Sprachen, in der Litteratur der Alten. Daneben glaubte er in der Lyrik etwas Bedeutendes zu leisten: es entstammen dieser Zeit namentlich diejenigen Gedichte, welche durch Franz Schubert’s herrliche Composition, aber nur durch diese, berühmt, ja unsterblich wurden, wie „Aufenthalt“, „Frühlingssehnsucht“, „Ständchen“ u. a.

Eine Anzahl dieser Gedichte sowie den Text zu einer Oper „Dido“, welche Klein später componirte, sandte R. an Jean Paul und erhielt von diesem eine [782] aufmunternde Antwort, die ihn veranlaßte, den Dichter des „Titan“ in Bayreuth aufzusuchen. Die Reise dorthin führte R. zunächst nach Dresden, wo er Karl Maria v. Weber besuchte. In einem Briefe an seine Frau schreibt Weber unterm 6. August 1821: „Der junge Rellstab aus Berlin hat mir eine große Oper „Dido“ vorgelesen; vortrefflich! Da erblüht wieder ein tüchtiger Operndichter. Er hat mir auch eine zu schreiben versprochen.“ Von Weber ging R. zu Ludwig Tieck, der für ihn nächst Goethe und Jean Paul der bedeutendste Mann Deutschlands war; wohlwollend aufgenommen schloß er sich in der Folge enge an Tieck an. Länger blieb R. zu Bayreuth in regem Verkehr mit Jean Paul, der ihn besonders ermahnte, die Antike stets als den festen Boden anzusehen, auf dem sich die Romantik zu erbauen habe. Diesen Rath befolgte R. Nach einem vorübergehenden Aufenthalte zu Weimar, wo er sich durch einen Brief Zelter’s in Goethe’s Hause einführte, sowie Beziehungen zu Johanna Schopenhauer und Hummel anknüpfte, ging er nach Heidelberg und Bonn (1822, 1823), an diesen Universitäten bei Welcker, Näke, Brandes, Moritz Arndt, August Wilhelm v. Schlegel seine Kenntnisse erweiternd und befestigend. In die Jahre 1824 und 1825 fallen dann noch einige Reisen. Besonders zu erwähnen ist ein längerer Aufenthalt in Wien, der R. in wirklich innige und freundschaftliche Berührung mit Beethoven brachte; über ihn hat denn auch R. einige werthvolle Nachrichten hinterlassen.

Inzwischen war Rellstab’s Name durch einige seiner Dichtungen, aber mehr noch durch seinen regen Verkehr mit litterarischen und musikalischen Größen Deutschlands, in seiner Vaterstadt bekannt geworden; und im J. 1826 wurde er bei der Vossischen Zeitung als Redacteur angestellt, als welcher er 34 Jahre hindurch ein thätiger Mitarbeiter dieser Zeitung blieb. Neben Artikeln politischen Inhalts über Spanien und Frankreich schrieb er regelmäßige musikalische Berichte, die bald sehr gefürchtet wurden, für die Musikgeschichte dieser Zeit aber von höchster Wichtigkeit sind. Freilich ließ er sich oft verführen, seine spitzige Feder in einigermaßen vergiftete Tinte zu tauchen: besonders bekannt ist sein Auftreten gegen Spontini, damals Capellmeister der königlichen Oper. Eine Flugschrift „Ueber mein Verhältniß als Kritiker zu Herrn Spontini nebst einem vergnüglichen Anhang“ 1827, wandte sich in maßloser Sprache gegen Spontini’s unangenehme Charaktereigenschaften und regte das Berliner Publicum dermaßen gegen den Capellmeister auf, daß dieser während einer Vorstellung des „Don Juan“ durch unausgesetztes Lärmen gezwungen wurde, das Dirigentenpult zu verlassen, brachte aber ihrem Verfasser eine mehrmonatliche Festungshaft ein. In derselben heftigen Weise bekämpfte R. in dem Pamphlet „Henriette oder die schöne Sängerin“ 1826, die übertriebene Verehrung, mit welcher man das erste Auftreten der Sängerin Henriette Sontag im Königstädtischen Theater begrüßte; und auch für diese Schrift erhielt er strenge Bestrafung. Trotzdem war R. auch als Kritiker ein redlicher, wohlmeinender Mann, der mit kalter Absicht Niemanden verletzen wollte: so läßt er der „hohen Kunst“ der Sontag in verschiedenen Kritiken des Jahres 1827 volle Würdigung angedeihen, und zeigt damit, daß er mit jener Schrift nur die Auswüchse des Personencultus treffen wollte. Neben dieser Thätigkeit für das Bedürfniß des Tages hörte R. nicht auf, selbst zu dichten: besonders schrieb er viele Novellen und größere Romane, aber auch Gedichte, humoristische Aufsätze und ähnliches, Arbeiten, die als „Gesammelte Schriften“ (1843–60) 30 umfangreiche Bände füllen. Auch gab er von 1830–41 eine selbständige musikalische Zeitschrift „Iris im Gebiete der Tonkunst“ heraus, welche zahlreiche werthvolle Artikel enthält und den Ruf Rellstab’s als bedeutendsten Musikkritikers Deutschlands befestigte. Nach einem arbeitsreichen Leben starb R. am 27. November 1860 zu Berlin.

[783] Nach zwei Seiten hin war R., wie wir oben gesehen, thätig gewesen: als Dichter und als Kritiker. Freilich in der Poesie hat er nichts bleibendes geschaffen, und sein Name verdient insofern kaum, der Nachwelt überliefert zu werden. Seine Romane und Novellen erscheinen unserm modernen Geschmacke als seicht und langweilig, weder durch interessante Erfindung der Fabel noch durch lebenswahre Charaktere zeichnen sie sich aus. Da ist z. B. das Buch „Algier und Paris im Jahre 1830“, eine Erzählung, welcher geschichtliche Thatsachen zum Grunde liegen sollen. Man ist erstaunt, in den zwei umfangreichen Bänden einen wirklich dürftigen Inhalt zu finden. Mit äußerlichen Mitteln, ohne der Entwicklung aus den Charakteren große Sorgfalt angedeihen zu lassen, wirft der Verfasser ein halbes Dutzend Menschen willkürlich durcheinander; Schiffbrüche, nächtliche Kämpfe, rührselige Abschiedsscenen, Entdeckung von todtgeglaubten oder seit Jahrzehnten verschollenen Leuten wechseln in bunter Reihenfolge mit empfindsamen Gesprächen, Gemeinplätzen wie: „Die Kraft des Herzens gleicht der Tiefe seines Empfindens“ und ähnlichen. Dabei sind die Charaktere von staunenswerther Gleichförmigkeit, Menschen ohne Fleisch und Blut, ohne jede Individualität. Nicht besser ist der historische Roman „1812“, in welchem jene lächerliche Vergötterung Napoleon’s I. Ausdruck findet, mit der in vielen Kreisen Deutschlands gewissermaßen gegen das reactionäre Königthum der Bourbonen demonstrirt werden sollte.

Verdient somit Rellstab’s Name in der deutschen Litteraturgeschichte keinen Platz, so nimmt er in der Geschichte der Musik mit Recht einen breiteren Raum ein. War er doch lange Zeit hindurch Führer einer Partei, welche einer Weiterentwicklung der ernsten Musik über Mozart und den jungen Beethoven hinaus grundsätzlich feindselig gegenüber stand, mit Heftigkeit und Schärfe das erste Auftreten Schumann’s und Chopin’s bekämpfte. Allerdings war R. in der Schule großgezogen, welche sich nach Mozart nannte, in ihren Schöpfungen aber neben Aeußerlichkeiten nur wenig von Mozart’s Geiste aufweist. Ein Hauptvertreter derselben war Ludwig Berger, Lehrer und Freund Rellstab’s, und auf seinen Einfluß ist denn auch die künstlerische Entwicklung Rellstab’s vor allem zurückzuführen. In Berger’s Sonaten sieht R. einen „solch’ innigen Verein der Arbeit und Phantasie, daß die reiche Welt der neueren Clavierproductionen, mit Ausnahme der Sonaten Beethoven’s, kaum ein Seitenstück dazu aufzuweisen habe“. Neben Berger ist als Lehrer Rellstab’s Bernhard Klein zu nennen, in noch höherem Maße wie Berger Vertreter einer einseitigen Richtung; von ihm sagte einst Berger, wenn er zu wählen habe, ob er Mozart’s „Titus“ oder Klein’s „Dido“ geschrieben haben möchte, so würde er die letztere wählen. Indem nun R. in diesen beiden Componisten die würdigsten Nachfolger Mozart’s und Beethoven’s erblickte, ging ihm das Verständniß für das viele wahrhaft Große verloren, das die Romantik hervorbrachte. Wir sehen ihn gegen die „Neuromantiker“ eine heftige und leidenschaftliche Opposition eröffnen. Die „Iris“, deren erster Band 1830 erschien, war sein Kampfmittel, Schumann dagegen antwortete in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, dann musikalisch in den „Davidsbündlern“, sowie im „Carneval“, wo die „Philister“ unter dem Kampfgeschrei „Und als der Großvater die Großmutter nahm“ gegen die „Davidsbündler“ losziehen. Vor allem über Chopin äußert sich R. stets wegwerfend: so sei er in den Mazurken ganz unermüdlich „in Aufsuchung ohrzerreißender Dissonanzen, gequälter Uebergänge, schneidender Modulationen, widerwärtiger Verrenkungen der Melodie und des Rhythmus“. Ein andermal wirft er ihm solche Schülerarbeiten – denn das waren sie seiner Meinung nach – vor die Füße. Die 12 Etuden von Chopin dienen ihm zur „wahren Belustigung“, und Field’s „Nocturnes“ sind ihm tausendmal lieber als die Chopin’s. Späterhin [784] freilich wird er den Werken des polnischen Meisters etwas gerechter; so schreibt er 1836 über das zweite Concert desselben: „Ein neues Concert von Chopin ist bei dem Ansehn und Einfluß, welchen sich dieser Componist jetzt im Gebiete des Clavierspiels erworben hat, eine wichtige Erscheinung, die auch der Redacteur der Iris mit Interesse betrachtet“; Tutti und Soli gefallen ihm gut, „es herrscht durchweg ein edler Stil darin“. R. schließt: „genug, das Concert interessirt sehr; schade nur, daß kein rechter Bau darin ist, daß es mehr eine Sammlung schwerer Details, als ein überdachtes Ganze bildet“.

Wie schwer es R. wurde, zu einer freieren Anschauung zu kommen, zeigt auch sein Verhalten zu Mendelssohn: kaum eines der wunderbar frischen Erstlingswerke dieses Meisters bleibt ohne Tadel. Die prachtvoll bewegte Ouverture zur Fingalshöhle findet R. matt; die doch so energisch einsetzende Hauptfigur, gleichsam eine wildschäumende See darstellend, ist ihm „weder neu noch eben hervorstechend schön oder eigenthümlich. Neu ist sie nicht, weil sie zu nahe verwandt ist mit der Figur, die Beethoven im ersten Satz der Pastoralsymphonie gebraucht!“ Daß R. Meyerbeer und Rossini bekämpfte, ist danach eigentlich selbstverständlich; aber auch Johann Sebastian Bach findet nicht vollständig seine Zustimmung: in einer Beurtheilung der Johannespassion schreibt er: „Die Arien sind altmodisch; sie sind zum Theil sehr melodisch, oft äußerst kunstreich begleitet –; aber dennoch dürften sie selten an sich gültigen Kunstwerth haben“. Trotz all solcher Pedanterie, trotz seiner einseitigen Stellung muß R. doch als Musikschriftsteller hoch geschätzt werden; seine in angenehmem Stil vorgetragenen Urtheile zeigen in ihrer Begründung doch immer den durchgebildeten Musiker und haben eben darum, wie wenig auch man ihnen überall zustimmen wird, für die Geschichte der Musik und des Musiklebens seiner Epoche bleibenden Werth.

L. Rellstab, Aus meinem Leben, 1861. – L. R., Ludwig Berger, ein Denkmal, 1846. – Gelehrtes Berlin, Jahrgang 1845.

[781] *) Zu S. 186.