ADB:Schubert, Franz (Komponist)

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Schubert, Franz“ von Heinrich Welti in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 32 (1891), S. 614–628, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schubert,_Franz_(Komponist)&oldid=- (Version vom 13. Oktober 2024, 14:25 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Schubert, Franz Anton
Band 32 (1891), S. 614–628 (Quelle).
Franz Schubert bei Wikisource
Franz Schubert in der Wikipedia
Franz Schubert in Wikidata
GND-Nummer 118610961
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|32|614|628|Schubert, Franz|Heinrich Welti|ADB:Schubert, Franz (Komponist)}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118610961}}    

Schubert: Franz Peter S., der berühmte Tondichter und größte Meister des deutschen Liedes, wurde am 31. Januar 1797 zu Wien, in der Vorstadt Himmelpfortgrund geboren. Sein Vater, ebenfalls Franz S. (1763–1830), entstammte einem Bauerngeschlecht, dessen ursprüngliche Heimath in der Gegend von Zuckmantel im österreichischen Schlesien lag, war aber schon in jungen Jahren nach Wien gekommen, um sich für das untere Lehrfach auszubilden und bekleidete seit 1786 die Schulmeisterstelle bei der Pfarre zu den heiligen 14 Nothhelfern in Lichtenthal. Aus seiner im Alter von etwa 19 Jahren geschlossenen Ehe mit der Köchin Elisabeth Fitz entsprossen 14 Kinder, von denen jedoch 9 im Jugendalter starben; eine zweite Ehe, die er im J. 1818 einging, brachte ihm fünf weitere Nachkommen. Einem so großen Hausstand vermochte das schmale Einkommen eines Schullehrers, man berechnet es auf höchstens 400 Gulden jährlich, natürlich nicht zu genügen und die blasse Noth war wohl kein unbekannter Gast in Schubert’s Elternhaus. Trotz diesen beschränkten, ja dürftigen Verhältnissen wurde in der Erziehung des selten begabten Knaben nichts versäumt und nicht nur seine Grundbildung im allgemeinen, sondern auch die Entwicklung seiner besonderen musikalischen Anlagen nach Kräften gepflegt und gefördert. Der Vater S. erzählt selbst darüber: „In seinem fünften Jahre bereitete ich ihn zum Elementarunterricht vor, in seinem sechsten Jahre ließ ich ihn die Schule besuchen, wo er sich immer als der erste seiner Mitschüler erwies. … In seinem achten Jahre brachte ich ihm die nöthigen Vorkenntnisse zum Violinspiel bei, und übte ihn so weit, bis er im Stande war, leichte Duetten ziemlich gut zu spielen; nun schickte ich ihn zur Singstunde des Herrn Michael Holzer, Chorregenten im Lichtenthal. Dieser versicherte mehrmals mit Thränen in den Augen, einen solchen Schüler noch niemals gehabt zu haben. Wenn ich ihm was Neues beibringen wollte, sagte er, hat er es schon gewußt. Folglich habe ich ihm eigentlich keinen Unterricht gegeben, sondern mich mit ihm bloß unterhalten und ihn stillschweigend angestaunt.“ Wichtiger als dieser weder regelrechte noch regelmäßige Unterricht, den ihm zeitweise auch die älteren Brüder, Ignaz und Ferdinand, ertheilten, war für das Wunderkind der lebendige Musiksinn, der im Schubert’schen Hause waltete und sich in einer fleißigen Pflege der zeitgenössischen Kammermusik bethätigte. Unter der Nachwirkung der häuslichen Quartettübungen, die der Vater S. mit seinen Söhnen oder guten Freunden allsonntäglich veranstaltete, mag sich die schöpferische Kraft des künftigen Tondichters zuerst geregt haben und die Eindrücke, die seine musikalische Phantasie hier und später im Convict empfing, waren zweifelsohne von bestimmendem Einfluß auf den Gesammtcharakter seines künstlerischen Schaffens. Die behagliche Breite, die spielfreudige Art seiner Compositionsweise, die um den schlagenden Effect wenig bekümmerte, auffällige Absichtslosigkeit im Aufbau der Tonstücke, alle diese Eigenschaften verrathen uns, daß es die Wirkung auf den kleinen Kreis mitschaffender und nachempfindender Musikliebhaber war, die unser Tonkünstler zuerst an sich erfahren und die demgemäß auch zuerst und nachhaltig die Richtung seiner schöpferischen Thätigkeit mit bestimmte. Mit einem Worte: Schubert’s Genius entwickelte sich unter dem Einflusse [615] einer gesunden und regen häuslichen Musikpflege und seine Tonschöpfungen sind daher in erster Linie und im besten, zugleich tiefsten und weitesten Sinne: Hausmusik. Dieser Grundzug seines musikalischen Wesens, der so recht im Gegensatz steht zu demjenigen Mozart’s, des auf Concertreisen und im Opernsaale zum Meister heranreifenden Wunderkindes, äußert sich nicht nur in der Vorliebe Schubert’s für die Formen der vocalen und instrumentalen Kammermusik, sondern läßt sich auch in der Eigenart und den Eigenheiten seiner größeren Werke oft erkennen.

Nicht weniger wichtig als diese ersten Jugendeindrücke wurde, wie das Ergebniß zeigt, für die Entwicklung des kleinen Tondichters, die früheste musikalische Bethätigung, zu der er regelmäßig und dauernd angehalten wurde; Schubert’s Zukunft als Liedercomponist fand in seiner besonderen stimmlichen Begabung und der Ausbildung, die ihr zu Theil wurde, eine sichere Grundlage. Schon früh hatte er neben dem Clavier- und Violinspiel auch im Gesange sich geübt, und da seine Sopranstimme sich hübsch und kräftig entwickelt hatte, wurde er von Holzer nicht nur zur Mitwirkung im Kirchenorchester, wo er Violine oder Bratsche spielte, sondern auch zur Aufführung der Gesangssoli im Meßgottesdienst beigezogen. Diese Thätigkeit, welche als Vorbildung für den Vocalcomponisten natürlich von unschätzbarem Werthe war, wurde für den Knaben S. unmittelbar von größtem Nutzen, als sie im J. 1808 zu seiner Aufnahme in die kaiserliche Hofcapelle führte. Zugleich mit der Stelle eines Sängerknaben erhielt Franz nämlich einen Stiftsplatz im k. k. Stadtconvict, einem von Piaristenmönchen geleiteten Kosthause, dessen Insassen, zumeist Stipendiaten, im Universitätsgymnasium ihren Studien oblagen; damit war seiner allgemeinen Bildung ein höheres Ziel gesteckt und, was besonders ins Gewicht fällt, der Entfaltung seiner musikalischen Anlagen größere Ruhe gesichert. Volle fünf Jahre, vom October 1808 bis zum October 1813 blieb S. im Convict; es sind seine eigentlichen Studienjahre und auch für den künftigen Tondichter die Zeit der Vorbereitung. Zum Glück für seine seltene Begabung fand nämlich S. in diesem Hause nicht nur die Möglichkeit, seinen Geist in den Fächern des allgemeinen Wissens zu schulen, sondern auch die täglich wiederkehrende Gelegenheit, seine musikalischen Fertigkeiten zu üben und in einer immerwährenden Beschäftigung mit den Schätzen der zeitgenössischen Tonkunst seine reichen natürlichen Anlagen zu stärken und zu bilden. Es ist keine Frage, daß die Musikübungen des Convictistenorchesters, dem natürlich auch er zugetheilt wurde, für S. eine Quelle beständiger Anregung und die beste Einführung in die Lehren und Geheimnisse des Tonsatzes wurden. Spielend, im eigentlichen wie im bildlichen Sinne, lernte der Knabe die Mittel seiner Kunst kennen und gebrauchen, und lange bevor ihm eine Unterweisung in der Kunst des Tonsetzens und in der Formenlehre zu Theil wurde, hatte er schon versucht, die Fülle der Gedanken und Bilder, die sein lebhafter Tonsinn und seine erregte Phantasie gebaren, aufs Papier zu bringen. Freilich geschah dieß, wie Joseph v. Spaun[WS 1], Schubert’s Convictgenosse und treuer Freund, nach dessen eigenen Aussagen berichtet, ganz insgeheim, denn der Vater S. durfte durchaus nichts davon erfahren, da er nicht dulden wollte, daß sein Sohn sich der Musik widme und geradezu rührend klingt der Bericht, daß der kleine Tonsetzer nicht einmal das erforderliche Notenpapier besaß und sich von Freundeshand die unentbehrlichen Blätter zustecken lassen mußte. Als die erste und älteste dieser Compositionen wird eine große vierhändige Phantasie aus dem Frühjahr 1810 genannt, die sogenannte „Leichenphantasie“. Sie umfaßt nicht weniger als 32 enggeschriebene Seiten und enthält eine Reihe im Charakter wie in der Tonart sehr verschiedenartiger Clavierstücke. Zwei andere Clavierphantasien kleinern Umfangs sowie [616] Claviervariationen folgten diesem Erstling. Von größerer Bedeutung ist die Composition des Gedichtes „Hagars Klage“; dieses erste Lied Franz Schubert’s trägt den Vermerk: comp. 30. März 1811. Nach Friedländer’s überzeugendem Nachweise ist es unter dem starken Eindruck geschrieben, den die Gesänge Johann Rudolf Zumsteg’s auf den jugendlichen Tondichter machten und verräth in dem auffälligen Wechsel liedhafter und langer recitativischer Stellen deutlich den Einfluß des schwäbischen Balladensetzers, von dessen Schöpfungen sich S., wie auch Spaun berichtet, gerade zu jener Zeit lebhaft angezogen fühlte. In der selben Art ist ein zweiter Gesang „Der Vatermörder, eine Parabel“ gehalten, der nach Schubert’s eigener Angabe am 26. December 1811 vollendet wurde.

Diese bis jetzt ungedruckt gebliebenen Compositionen wurden für den Knaben S. von ganz besonderer Wichtigkeit, weil sie die Aufmerksamkeit seiner musikalischen Vorgesetzten des entschiedensten auf ihn hin lenkten und Veranlassung gaben, daß für seine Unterweisung im Generalbaß Sorge getragen wurde. Auf eine Anordnung Antonio Salieri’s, der das bedeutende Talent des Sängerknaben durch das Lied „Hagars Klage“ erkannt hatte, wurde S. dem Convictsdirigenten Rucziczka zum Unterricht im Contrapunkt übergeben und als dieser erklärte, solcher Aufgabe nicht gewachsen zu sein, da der Zögling schon alles wisse („der hat’s vom lieben Gott gelernt“, soll er gesagt haben), übernahm der k. k. Hofcapellmeister selbst die Schulung in der strengen Kunst. Die Bedeutung dieser Contrapunktstudien bei Salieri, deren Beginn Friedländer in den Frühsommer 1812 verlegt, läßt sich nach der andauernden großen Dankbarkeit, die S. seinem Lehrer bewahrte, sehr hoch bemessen und zweifelsohne haben die Anleitungen des alten Maëstro dem jungen Tondichter rasch gute Früchte getragen, aber als ganz gründliche, die Kunstlehre völlig erschöpfende Vorbereitung darf der Unterricht Salieri’s trotzdem kaum betrachtet werden; die künstlerische Persönlichkeit des Lehrers wie die Schöpfungen des Schülers sprechen deutlich gegen eine solche Annahme, auch weiß man, daß S. noch in seinem letzten Lebensjahre die contrapunktischen Arbeiten wieder aufzunehmen und bei dem Theoretiker Sechter Studien im Fugensatz zu nehmen beabsichtigte. Es scheint darnach, als ob in der That der Unterricht des Herrn Hofcapellmeisters nicht sehr weit über die Anfangsgründe und die gebräuchlichen Kunstregeln hinausgekommen wäre, und wenn auch die Behauptung J. Mayrhofer’s, des langjährigen Freundes von S., „ohne tiefere Kenntniß des Satzes und Generalbasses ist er eigentlich Naturalist geblieben“, etwas allgemein und zu gewagt ist, so läßt sich doch nicht verkennen, daß die formale Bildung dem Reichthum und der Stärke der Naturanlagen nicht entsprach, ja daß diese in noch bedeutenderer Weise sich zu äußern vermocht hätten, wenn jene durch eine sorgfältige Pflege sich zu einem die schöpferische Thätigkeit mitbestimmenden, geläuterten Geschmacks- und Formensinn entwickelt hätte.

Die besten Lehrer Schubert’s blieben nach wie vor die großen Meister der Wiener Schule, Haydn, Mozart und Beethoven, sowie die Werke ihrer Zeitgenossen und Nachahmer, Méhul, Cherubini u. a., die er durch die Uebungen des Convictistenorchesters, dessen Leitung ihm mitunter anvertraut wurde, aufs genaueste kennen lernte. Namentlich die Symphonien Beethoven’s nahmen sein ganzes Sinnen und Denken gefangen und die Größe ihres Schöpfers, zu dem er in stummer Ehrfurcht aufblickte, warf einen geheimnißvollen Schatten auf seine Zukunft. Wehmüthig und kleinlaut klagte er dem getreuen Spaun, der es versucht hatte, sein Selbstvertrauen zu heben: „Ich glaube auch schon, es könnte etwas aus mir werden, aber wer vermag nach Beethoven etwas zu machen!“ Wie sehr er sich im Banne seines gewaltigen Vorbildes befand, zeigt nicht nur die Anlage und der Stil seiner ersten, 1813 geschriebenen Symphonie [617] in D-dur mit ihren unverkennbaren Anklängen an Beethoven’s Prometheusouvertüre, sondern auch noch die zweite 1814 entstandene Symphonie in B-dur, welche sich sichtlich an die vierte Symphonie Beethoven’s anlehnt, und selbst im Liede, seinem eigensten Bezirke, läßt sich, wie Friedländer gezeigt hat, dieser Einfluß wahrnehmen. Ungeachtet solcher Abhängigkeit im einzelnen spricht aber bereits aus den frühesten Compositionen Schubert’s eine eigene Art, eine künstlerische Persönlichkeit zu uns und die zahlreichen Arbeiten aus der Convictszeit, Sonaten, Phantasien, Kirchenstücke, eine Cantate und vor allem die Lieder bergen eine überraschende Fülle selbständiger und neuer Gedanken, eigenthümlicher Ausdrücke und Wendungen und verrathen in dieser Frische und Unerschöpflichkeit der Phantasie schon einen wesentlichen Charakterzug der Schubert’schen Musik. Ein anderes Merkmal seiner Kunst, das Streben nach charakteristischem, lebenswahrem Ausdruck gibt sich ebenfalls bereits in diesen Jugendliedern kund, wenn auch in der einfachsten Art, durch den Versuch, die Melodie dem Tonfalle der gesprochenen Rede nachzubilden und zur Tonsprache im eigentlichsten Sinne zu gestalten. Aus dieser Absicht sind die zahlreichen recitativischen Stellen zu begreifen, welche sich in den Liedern dieser Periode finden, aus dem Jahre 1813 z. B. Sehnsucht von Schiller (1. Bearbeitung), Verklärung, Thekla, eine Geisterstimme (1. Bearbeitung), der Taucher; im einzelnen wurde so der Eindruck großer Unmittelbarkeit erzeugt, allein die Wirkung des Ganzen war durch die beständige Unterbrechung des melodischen Flusses geschmälert. Daß es S. später gelang, diesen Mißstand zu überwinden und, wie es die Umarbeitung der Lieder „Thekla“ (1817), „Sehnsucht“ (1821) deutlich bekundet, dieselbe eindringliche Beredsamkeit der Tonsprache auch denjenigen seiner Schöpfungen zu erhalten, die in fester gefügten Formen concipirt waren, das bildet den wesentlichsten und sichtlichsten Fortschritt in seiner künstlerischen Schaffensthätigkeit, die im allgemeinen weniger das Bild einer steten, stufenmäßigen Entwicklung darbietet, als den Anblick einer großen, gleich der Natur in Zeugnissen ungleicher Lebenskraft und mannichfaltigster Form sich äußernden Offenbarung.

Ein gewaltiger Schaffensdrang war das äußere Kennzeichen solcher Schöpferart. Wie Spaun erzählt, componirte S. außerordentlich schnell und viel, vertilgte aber nach und nach alle diese Compositionen, die er nur als Vorübungen betrachtete. Da trotzdem der Nachlaß auch aus dieser Zeit eine Fülle verschiedenartigster Werke brachte, muß die Schöpferkraft Schubert’s schon damals eine ganz außergewöhnlich starke gewesen sein. Allerdings verwandte der Convictsschüler auch die Zeit der Studien unablässig zum Componiren und nahm es mit der Erfüllung seiner Schulpflichten nicht eben genau, so daß die Zeugnisse von ihm nicht das Beste zu melden hatten und Nachprüfungen nöthig waren. Solche Nöthe und die strenge Zucht der Anstalt mögen dem lebhaften Knaben den Aufenthalt im Convicte mitunter recht schwer gemacht haben, zumal da auch die Verpflegung seinem jugendlichen Bedürfniß nicht entsprach und er selbst hier die Armseligkeit der Verhältnisse im Elternhause kennen und empfinden lernen mußte. Das folgende Schreiben an einen seiner Brüder zeichnet trefflich die kärgliche Lage, aber auch die gesunde Sinnesart des 16jährigen Jünglings; er schreibt am 24. November 1812: „Gleich heraus damit, was mir am Herzen liegt, und so komme ich eher zu meinem Zwecke, und Du wirst nicht durch liebe Umschweife lang aufgehalten. Schon lange habe ich über meine Lage nachgedacht und gefunden, daß sie im ganzen genommen zwar gut sei, aber noch hier und da verbessert werden könnte; du weißt aus Erfahrung, daß man doch manchmal eine Semmel und ein paar Aepfel essen möchte, umsomehr, wenn man nach einem mittelmäßigen Mittagsmahle nach 8½ Stunden erst ein armseliges Nachtmahl erwarten darf. Dieser schon oft sich aufgedrungene Wunsch [618] stellt sich nun immer mehr ein, und ich mußte nolens volens endlich eine Abänderung treffen. Die paar Groschen, die ich vom Herrn Vater bekomme, sind in den ersten Tagen beim T–, was soll ich dann die übrige Zeit thun? ‚Die auf dich hoffen, werden nicht zu Schanden werden. Matthäus Cap. 2, V. 4.‘ So dachte auch ich. – Was wär’s denn auch, wenn Du mir monatlich ein paar Kreuzer zukommen ließest. Du würdest es nicht einmal spüren, indem ich mich in meiner Clause für glücklich hielte und zufrieden sein würde. Wie gesagt, ich stütze mich auf die Worte Apostels Matthäus, der da spricht: ‚Wer zwei Röcke hat, der gebe einen den Armen.‘ Indessen wünsche ich, daß Du der Stimme Gehör geben mögest, die Dir unaufhörlich zuruft, Deines Dich liebenden, armen hoffenden, und nochmals armen Bruders Franz zu erinnern.“ Es ist eine versöhnende Fügung des Schicksals, daß derlei Wünsche des jungen Künstlers nicht unerfüllt blieben, da der frohgesellige, liebebedürftige Jüngling gerade im Convicte Freunde fand, die ihm mit Rath und That hilfreich zur Seite traten. Unvergessen sollen die Namen Josef Spaun, Albert Stadler[WS 2] und Anton Holzapfel sein; ihnen allen dankt S. künstlerische Theilnahme und Förderung und den beiden erst genannten überdem eine sehr werkthätige Fürsorge, die ihm auch über die Schulzeit hinaus treu blieb und ihm nach Kräften die Wege zu ebnen suchte.

Ende October 1813 verließ S. das Convict. Da seine Stimme eben zum Brechen kam, war er für die Hofcapelle untauglich geworden, auf den ihm gesicherten Stiftungsplatz aber verzichtete er, weil eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Studien weder seiner Begabung noch seiner Neigung entsprach. So kehrte der 16jährige ins Elternhaus zurück und wandte sich, zum guten Theil wohl auch durch die drohende Militärconscription dazu bewogen, auf des Vaters Wunsch und Rath dem Lehrberufe zu. Im Winter 1813/14 eignete er sich an der Musterschule bei St. Anna die dazu erforderlichen pädagogischen Kenntnisse an und bald darauf ward er als Gehülfe seines Vaters angestellt. In diesem Amte, das ihn zum Unterricht der Vorbereitungsclassen verpflichtete, blieb S. bis Ende des Jahres 1816 und mühte sich nun fleißig und gewissenhaft ab, den ABC-Schützen die Anfangsgründe im Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Bürde dieses Amtes schwer auf seinen jungen Schultern lastete und daß sein frischer, froher Sinn aus der Enge und dem Moder der Schulstube sich fortsehnte nach einem weiteren, höheren Wirkungskreis, wo seine schöpferische Kraft sich frei entfalten konnte. An Versuchen, aus dem Schuljoche sich zu befreien, ließ der Jüngling es wohl nicht fehlen. Von einem wissen wir. Im Frühling 1816 bewarb sich S. um die erledigte Lehrerstelle an der Musikschule zu Laibach in Krain und berief sich in seiner Anmeldung auf das Zeugniß seines Lehrers Salieri, allein sein Bemühen blieb erfolglos, weil, wie man jetzt weiß, der doppelzüngige Maestro hinter seinem Rücken einen andern Bewerber, Jacob Schaufl, wärmer empfohlen hatte. So blieb der arme Schulgehülfe in dem Amte, das ihm wohl zu Zeiten sehr lästig war, das aber doch seiner harmlosen, weit mehr auf Empfindung, als auf Thatkraft angelegten Natur ein gesundes Ausleben verstattete und seinen riesigen Schaffensdrang nicht zu hemmen vermochte. Für das eine zeugt sein reger Verkehr mit alten und neuen Freunden und seine fröhliche Geselligkeit, für das andere seine Schaffenslust und die erstaunliche Menge seiner damals entstandenen Werke. Kaum ein Jahr seines Lebens ist so reich an Schöpfungen der verschiedensten Art, wie das zweite seiner Schulmeisterei, 1815. Sechs Opern und Singspiele, zwei vollständige Messen, eine Symphonie, vier Sonaten, über 130 Lieder und eine ganze Reihe anderer Compositionen entstanden, nach Friedländer, in diesem Jahre. Noch verwundernswürdiger aber als die Zahl ist die Mannichfaltigkeit [619] dieser Werke und die Eigenart, die schon viele darunter auszeichnet. Zwar die Messen in B, in G und die dritte Symphonie (in D) weisen noch wenig persönliche Züge auf und auch den für die Bühne bestimmten Werken: „Der vierjährige Posten“ (einactige Oper von Th. Körner), „Fernando“ (einactiges Singspiel von Albert Stadler), „Claudine von Villa Bella“ (Goethe), „Die beiden Freunde von Salamanka“ (zweiactiges Singspiel von Mayrhofer), „Der Spiegelritter“ (dreiactige Oper von Kotzebue), „Der Minnesänger“ mangelt außer dramatischer Schlagkraft jenes persönliche Gepräge, das die äußere Einheit bildet und dem Drama erst den Schein eines organischen Erzeugnisses verleiht. Alle diese Opernversuche, zu denen auch die schon im Mai 1814 vollendete Zauberoper „Des Teufels Lustschloß“ (nach Kotzebue) zu rechnen ist, sind im Grunde und wesentlich nichts anderes als mehr oder weniger umfangreiche Folgen von Liedsätzen für eine oder mehrere Stimmen: S. kommt darin über die Form und Art des älteren Singspiels nicht hinaus. Die Hoffnung, durch einen Bühnenerfolg den Schulmeisterplagen entrückt zu werden und mit Einem die Mittel zu einem freiern Leben zu gewinnen, mochte S. mit bestimmt haben zu so emsiger Thätigkeit auf diesem Gebiete, doch auch sie schlug fehl: keines der Werke gelangte zur Aufführung und auf unsere Zeit sind einige davon sogar nur in Bruchstücken gekommen.

Ein ganz anderes Bild vom Können des jungen Tondichters bieten die zahlreichen Liederhefte, die S. während seiner Lehreramtszeit geschrieben hat; überraschend früh tritt uns hier der gereifte Künstler entgegen und manche Lieder dieser Tage haben selbst neben den Gesängen aus seinen späteren Lebensjahren seiner gereiftesten, geläuterten Künstlerschaft ihren Ruf als Meisterwerke fort und fort behauptet. Der Wecker dieses Liederfrühlings war Goethe. Schon im Convict hatte S. die Kraft seiner Phantasie an Goethe’schen Vorwürfen versucht und eine Composition der Gretchenscene im Dom gewagt, wandte sich darauf aber mit größerer Vorliebe der schwärmerischen Lyrik Matthisson’s, der prächtigen Rhetorik Klopstock’s und Schiller’s zu. Es ist zweifellos das Verdienst des Dichters Johann Mayrhofer (geb. 3. November 1787, † 5. Februar 1836), dessen Bekanntschaft S. im Spätjahr 1814 machte, ihn von neuem auf Goethe hingewiesen und zur Vertiefung in dessen Werke angeregt zu haben. Wie mit Zauberkraft erschloß nun das Goethe’sche Wort die reichsten Schätze seiner schaffenden Seele; Lied auf Lied entströmte seinem erregten Innern, darunter in dem einen Jahre 1815 nicht weniger als 30 von Goethe. Das herrlichste Vorspiel zu diesem Liederreigen bildet die hinreißende Composition „Gretchen am Spinnrad“, die der Siebzehnjährige am 19. October 1814 schuf; ihr folgten Lieder von Hölty, Schiller, die großartigen, breit angelegten Gesänge aus Ossian und endlich um die Mitsommerzeit eine größere Folge Goethe’scher Lieder, darunter vielleicht auch der „Erlkönig“. Wie tief erregt seine Schaffenskraft damals war, erweist uns unter anderem auch die Thatsache, daß oft an einem und demselben Tage mehrere Lieder entstanden. So wissen wir, daß S. am 19. August 1815 außer dem berühmten „Haidenröslein“ noch den „Schatzgräber“, den „Rattenfänger“, „An den Mond“ und das „Bundeslied“ und an den beiden darauffolgenden Tagen des weiteren „Wer kauft Liebesgötter“, „Wonne der Wehmuth“ und „Meeresstille“ componirt hat. Eine treffliche Erläuterung und Veranschaulichung dieser gesteigerten schöpferischen Thätigkeit gibt der bekannte Bericht Spaun’s über die Entstehung des „Erlkönig“: „An einem Nachmittage ging ich mit Mayrhofer zu S., der damals bei seinem Vater am Himmelpfortgrunde wohnte. Wir fanden S. ganz glühend, den Erlkönig aus dem Buche laut lesend. Er ging mehrmal mit dem Buche auf und ab, plötzlich setzte er sich und in der kürzesten Zeit, so schnell man nur schreiben kann, stand die herrliche Ballade auf dem Papier. [620] Wir liefen damit, da S. kein Clavier besaß, in das Convict, und dort wurde der Erlkönig noch denselben Abend gesungen und mit Begeisterung aufgenommen. Der alte Hoforganist Ruzicka spielte ihn dann selbst ohne Gesang in allen Theilen aufmerksam und mit Theilnahme durch und war tief bewegt über die Composition. Als einige eine mehrmals wiederkehrende Dissonanz ausstellen wollten, erklärte R., sie auf dem Clavier anklingend, wie sie hier nothwendig dem Text entspreche, wie sie vielmehr schön sei und wie glücklich sie sich löse.“ Dieses Bild, das uns den Tondichter im Kreise theilnehmender, fördernder Freunde zeigt und das sich so erfreulich von der bedrückenden Alltäglichkeit seines Schulmeisterlebens abhebt, hatte vermuthlich ein anheimelndes Gegenstück im stillen Glück einer ersten Liebe. Wenn nämlich Anselm Hüttenbrenner’s neuerdings durch die Nachforschungen Max Friedländer’s[WS 3] ans Licht gebrachte Mittheilungen zuverlässig sind, muß in dieser Zeit seiner Schulgehilfenschaft eine tiefere Herzensneigung S. beseeligt haben. Er erzählte dem Freunde, der ihn für einen Weiberfeind hielt: „O nein, ich habe Eine recht innig geliebt und sie mich auch. Sie war eine Schullehrerstochter, etwas jünger als ich, und sang in einer Messe, die ich componirte, die Sopransolo’s wunderschön und mit tiefer Empfindung. Sie war eben nicht hübsch, hatte Blatternarben im Gesicht, – aber gut war sie – herzensgut. Drei Jahre lang hoffte sie, daß ich sie ehelichen werde, ich konnte jedoch keine Anstellung finden, wodurch wir Beide versorgt gewesen wären. – Sie heirathete dann nach dem Wunsche ihrer Eltern einen anderen, was mich sehr schmerzte.“ Es ist nicht bestimmt ermittelt, wer der Gegenstand dieser Liebe war, doch läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuthen, daß sie jener Therese Grob in Lichtenthal gegolten, die bei der ersten Aufführung der F-dur Messe Schubert’s (1814) die Sopransoli sang.

Den wichtigsten Einfluß auf seine Lebensführung hatten aber entschieden die Freunde, deren ein hübsches Trüpplein um seine weltfreudige, harmlose Natur sich gesammelt hatte. Zu den früher genannten traten nunmehr vor allem noch zwei, welche bestimmend auf den Lebensgang Schubert’s wirkten, zunächst Ende 1815 der Studiosus Franz v. Schober, der, durch Spaun auf S. aufmerksam gemacht, die Bedeutung des Künstlers rasch und völlig erfaßte und daher alle Kräfte daran setzte, ihn ganz seinem hohen Berufe zu geben. Er bot ihm freie Wohnung und entzog ihn so für’s erste den beengenden Verhältnissen des elterlichen Schulhauses. Noch förderlicher aber erwies er sich ihm, indem er sich bemühte, der Kunst des Freundes auch weitere und vornehmere Kreise zu erschließen und zu diesem Behufe das Augenmerk des hervorragenden und hochangesehenen Hofopernsängers Michael Vogl[WS 4] auf ihn lenkte. Die Bekanntschaft dieses bedeutenden Gesangskünstlers wurde für S. doppelt folgewichtig; sie führte ihm den besten Interpreten seiner Lieder vor der Oeffentlichkeit zu und gewann ihm einen anregenden und fürsorglichen Freund. Vogl öffnete, so erzählt Schober, mit wohlmeinendem Rathe dem Freunde den reichen Schatz seiner Erfahrungen, sorgte väterlich für die Befriedigung seiner Bedürfnisse, wozu damals sein Erwerb durch Compositionen nicht ausreichte und bahnte ihm durch den herrlichen Vortrag seiner Lieder den Weg zum Ruhme.

Trotz dieses Beistandes und der Hülfeleistungen Spaun’s und Schober’s, blieb die Lage Schubert’s, nachdem er sein Amt an den Nagel gehängt und sich ganz seiner Kunst zugewandt hatte, doch eine recht klägliche. Obwohl seine Compositionen in immer weiteren Kreisen Anklang fanden, wollte sich doch kein Verleger finden, der dafür auch nur die Kosten des Druckes gewagt hätte. Im Juni 1816 verzeichnet er in seinem Tagebuch das erste Honorar: 100 fl. W. W. für die Gelegenheitscantate „Prometheus“, mit der Studenten der Jurisprudenz ihren Lehrer Heinrich Watterroth zu seinem Namenstag zu überraschen gedachten. [621] Seine anderen Werke, darunter die herrlichsten Lieder und die phantasiereichen Klaviersonaten aus den Jahren 1816–1818, blieben ungedruckt und fast unbeachtet und brachten ihm nichts ein. Der Sinn der Zeit war anderen Idealen zugeneigt und ganz Wien schwelgte damals in dem Wonnerausch süßer Rossini’scher Melodik. S. suchte diesem Geschmacke entgegen zu kommen und schrieb zwei Ouvertüren im italienischen Stil, die denn auch im Frühjahr 1818 mit Erfolg aufgeführt wurden, ja selbst in seinen Liedern ließ er hin und wieder die welsche Weise (man vgl. z. B. „Sprache der Liebe“) anklingen. Alles umsonst, der Kunstverstand der Wiener Musikverleger vermochte sich nicht bis zur Würdigung seiner Werke zu erheben, und so füllte sich wohl sein Pult mit den kostbarsten Manuscripten aller Art, aber sein Beutel blieb leer. So dürftig waren seine Verhältnisse damals, daß er selbst nicht die Miethe für ein Clavier erschwingen konnte.

Diesem Sorgenleben ein Ende zu machen, entschloß sich S. im Frühsommer 1818 seine geliebte Freiheit zu opfern und dem Antrage des Grafen Johann Karl Esterhazy zu folgen, der ihm als Musikmeister seiner Familie eine anständig bezahlte Stellung anbot. Schweren Herzens verließ er die gemüthliche Kaiserstadt und den fröhlichen, anregenden Kreis der Freunde und bezog mit der gräflichen Familie deren Stammschloß Zéléz an der Waag in Ungarn zum Sommeraufenthalt. Maaßen die dienstlichen Verpflichtungen erträglich, der Verkehr mit den Herrschaften ein freier und anregender war und die häusliche Musikpflege auf einer artigen Höhe stand, gestaltete sich das Leben und Wirken des jungen Tondichters hier zu einem sehr glücklichen und ersprießlichen. Da die Hausgenossen im Verein mit dem hochbegabten Freiherrn Karl v. Schönstein, der oft als Gast auf dem Schlosse weilte, ein recht brauchbares Quartett bildeten, bot sich S. ein willkommener Anlaß zur Composition mehrstimmiger Gesänge, und durch die musikalischen Uebungen und Unterhaltungen, die er mit seinen beiden Schülerinnen, den Comtessen Marie und Caroline veranstaltete, sah er sich naturgemäß zu erneuter schöpferischer Thätigkeit auf dem Gebiete der Claviermusik angeregt. So entstanden eine Reihe seiner flotten Märsche und die erste Folge seiner köstlichen Walzer Op. 9, die zugleich ein vollwichtiger Beweis für die Unerschöpflichkeit seiner Phantasie und der unmittelbarste Ausdruck seines unverfälschten, sinnenfreudigen Wienerthums sind. Dagegen tragen die Lieder aus dieser Zeit fast alle einen ernsten, wehmüthigen Charakter und man darf, im Hinblick auf briefliche Aeußerungen des Künstlers, annehmen, daß sich ihm darin die Sehnsucht nach Wien und nach der Gemeinschaft mit gleichstrebenden und teilnehmenden Freunden musikalisch verdichtete. Der größte Gewinn aber, den Sch. aus Ungarn nach Hause brachte, war die genaue Kenntniß der Zigeunermusik, die er sich dorten zu erwerben Gelegenheit hatte, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß seine schöpferische Begabung durch die Berührung mit dieser urwüchsigen Volksmusik in eigenartiger Weise befruchtet wurde und daß unter diesem Einflusse namentlich seine Rhythmik sich reicher und mannigfaltiger gestaltete. Das erste und unmittelbarste Ergebniß dieser Einwirkung war wol das „Divertissement à la Hongroise“ für Clavier zu vier Händen (Op. 54), dessen Entstehung wahrscheinlich noch in die Zeit des ungarischen Aufenthaltes fällt, außerdem aber weisen sehr viele der späteren Schöpfungen Schubert’s, darunter die bedeutendsten, wie die C-dur Symphonie und die beiden großen Liedercyklen, Spuren ungarischer Weise auf.

Der folgende Winter 1818/19 sah S. wieder in Wien. Die Ersparnisse, die er in Zéléz gemacht und der Beistand treuer Freunde ermöglichten ihm, sein freies Leben weiterzuführen. Ein großes Ereigniß stand ihm bevor. Während bis dahin keiner seiner künstlerischen Freunde gewagt hatte, einen seiner Gesänge [622] öffentlich vorzutragen, nahm Franz Jäger, ein beliebter Operntenor, anläßlich des Concertes, das der Violinspieler Jäll am 28. Februar 1819 im Gasthof zum „Römischen Kaiser“ gab, „Schäfer’s Klagelied“ in sein Programm auf und sang es mit so entschiedenem Erfolg, daß er es in seinem eigenen Concert am 12. April darauf wiederholen konnte. Diese Anerkennung mußte S. trösten über den Mißerfolg seiner Bemühungen, auf der Opernbühne zu Worte zu kommen; in einem Briefe an Anselm Hüttenbrenner vom 19. Mai 1819 schreibt er selbst darüber: „Trotz eines Vogl’s ist es schwer, wider die Canaille von Weigl, Treitschke etc. zu manövriren. Darum gibt man statt meiner Operette andere Luder, wo einem die Haare zu Berge stehen.“ Aus diesen Aergernissen entführte ihn im Sommer 1819 Vogl, indem er ihn zu einem Ausflug nach Oberösterreich, seiner Heimath einlud. Die Reise ging zunächst nach der Stadt Steyr, wo die Freunde des Sängers sie gastlich aufnahmen. Es waren fröhliche Tage. S. schreibt am 15. Juli an seinen Bruder Ferdinand unter anderem: „In dem Hause, wo ich wohne, befinden sich acht Mädchen, beinahe alle hübsch. Du siehst, daß man zu thun hat. Die Tochter des Herrn v. Koller, bei dem ich und Vogl täglich speisen, ist sehr hübsch, spielt brav Clavier und wird verschiedene meiner Lieder singen.“ In ebenso heiterer Stimmung berichtet er etwa einen Monat später aus Linz, der zweiten Station ihrer Künstlerfahrt, an seinen damaligen Zimmergenossen Mayrhofer: „In Steyr hab’ ich mich und werd mich noch sehr gut unterhalten. Die Gegend ist himmlisch, auch bei Linz ist es sehr schön. Wir, d. h. Vogl und ich, werden nächster Tage nach Salzburg reisen.“ Daß nicht nur viel gelacht und weidlich getändelt, sondern auch sehr ernsthaft musicirt wurde, bezeugen verschiedene briefliche Aeußerungen; unter anderem schrieb S. zu Vogl’s Geburtstag im August eine von Stadler gedichtete Cantate, die, wie er selbst erzählt, recht gut ausfiel. Die köstlichste Frucht dieser schönen Sommertage aber ist das A-dur Quintett für Clavier, Violine, Viola, Cello und Contrabaß (Op. 114), das S. auf Stadler’s Anregung und auf die Bestellung des einen ihrer Gastfreunde, des hauptgewerkschaftlichen Vicefactors Sylvester Paumgartner in Steyr, componirte. Das Werk, nach seinem dritten Satz mit den Variationen über das Lied „Die Forelle“, das Forellenquintett genannt, spiegelt die sorgenlose Stimmung dieser Ferienzeit glücklich wieder.

Erfrischt und neu gestärkt kehrte S. gegen Ende September nach der Heimath zurück. Ein arbeitsvoller Winter folgte dem lustigen Intermezzo. Vorwürfe ernster Art beschäftigten seine Einbildungskraft und im Februar 1820 finden wir ihn an der Composition eines Oratoriums: „Lazarus oder die Feier der Auferstehung“; eine religiöse Dichtung des Hallenser Pädagogen August Hermann Niemeyer bildet die textliche Unterlage für seine Tonschöpfung, die jedoch Bruchstück blieb. S. setzte von den drei Handlungen des Gedichtes nur die beiden ersten in Musik. Den größten Theil des Werkes bilden Einzelgesänge des Lazarus (Tenor), Nathanael (Tenor), Simon (Baß) und der Maria, Martha und Jemina (Soprane); der Chor tritt nur am Schlusse jeder Abtheilung hervor, beidemal als Klagesang. Dies verschuldet naturgemäß eine gewisse Einförmigkeit und gibt dem Ganzen, nach Hanslicks Ausspruch, einen fast liederspielartigen Charakter. Glücklicher als mit diesem Opus, das erst lange nach seinem Tode, im Jahre 1863, die erste Aufführung erlebte, war S. in dieser Zeit mit seinen dramatischen Arbeiten. Am 14. Juni 1820 öffneten sich ihm zum ersten Male die Pforten eines Musentempels; das Kärnthnerthortheater brachte sein einactiges Singspiel „Die Zwillinge“ zur ersten Aufführung und damit trat auch S. zum ersten Male vor das Urteil der großen Oeffentlichkeit. Leider war diese Gesangsposse, deren schlechtes Libretto der Theatersecretär Hofmann fabricirt hatte, nicht geeignet, den Hörern ein richtiges Bild von der Kunst Schubert’s zu geben; die [623] 11 Nummern dieser Partitur gehören zu seinen schwächeren Erzeugnissen. Trotzdem wurde, Dank jedenfalls der trefflichen Leistung Vogl’s, der dem Freunde auch diesen Auftrag verschafft hatte, am Schlusse Beifall geklatscht und nach dem Tonsetzer gerufen, an dessen Stelle, da er abwesend war, der Freund den Dank aussprach. Die nächste Folge dieser günstigen Aufnahme war ein neuer theatralischer Auftrag für S.; er sollte die Musik zu dem melodramatischen Zauberspiel „Die Zauberharfe“ abfassen. In wenigen Wochen war er damit fertig und am 19. August ging das Stück im Theater an der Wien in Scene. Auch diesmal war der Erfolg nur mäßig, obwohl einzelne Stücke, wie die Ouvertüre (bekannt als Ouvertüre zu Rosamunde) und die Tenorromanze des Palmerin, zu seinen frischesten Schöpfungen gehören. Nichtsdestoweniger ließ sich S. nicht abschrecken; aus demselben Jahre ist noch der Entwurf einer Oper „Sakontala“ erhalten.

Was er auf der Bühne vergebens gesucht hatte, den vollen Erfolg und die greifbare Schätzung seiner Schöpferthaten, das wurde ihm während des Winters 1820/21 unvermuthet und mit einem Male zu Theil. Der außergewöhnliche Beifall, den der Gesangsdilettant August v. Gymnich am 1. Dec. 1820 mit dem Vortrag des Erlkönigs erntete, die Wiederholung dieses Erfolges bei der ersten öffentlichen Aufführung dieses Liedes am 25. Januar 1821, bestimmten einige Freunde der Schubert’schen Muse zu erneuten Bemühungen um den Druck und die Herausgabe der von ihnen voll gewürdigten Liederschätze. Sie wandten sich deshalb an die ersten Wiener Verleger, Diabelli und Haslinger, als diese jedoch die Verlagsübernahme sogar ohne Honorar ablehnten, legten sie selbst die Kosten für das erste Heft zusammen und im Februar 1821 erschien der „Erlkönig“ als Opus 1 im Stich. Als der Hauptförderer dieses Unternehmens, Dr. Ignaz v. Sonnleithner dies seinen Gästen, den Zeugen der vorerwähnten Erfolge, verkündete, wurden sofort 100 Exemplare bestellt, wodurch auch die Kosten eines zweiten Heftes gedeckt waren. Auf diese Weise wurden die ersten 12 Hefte für eigene Rechnung gestochen. Sie fanden so großen Absatz, „Erlkönig“ allein wurde während der ersten 9 Monate in 800 Exemplaren verkauft, daß der Erlös hinreichte, Schubert’s hie und da auftauchende Schulden zu tilgen und ihm selbst noch ein Erkleckliches einzuhändigen. Solcher Erfolg machte ihm natürlich Sänger und Verleger gleich gefällig; die ersteren brachten von nun ab öfter Schubert’sche Lieder auf ihren Programmen, die letzteren suchten mit seinen Werken, wie es nur ging, ein Geschäft zu machen, wobei S. durch seine Unbeholfenheit und seinen Leichtsinn freilich oft zu kurz kam. Auch auf die gesellschaftliche Stellung Schubert’s übte sein wachsender Ruf naturgemäß einen erheblichen Einfluß, da er aber schüchtern und seiner großen Kurzsichtigkeit wegen auch etwas ungeschickt war, blieb er vornehmen Cirkeln, wenn immer möglich, ferne. Er liebte die zwanglose Junggesellenfröhlichkeit und fühlte sich am wohlsten im Kreise seiner engern Freunde Schober, Spaun, Hüttenbrenner, Mayrhofer, zu denen im Laufe der Jahre noch die Maler Moritz v. Schwind, Leop. Kupelwieser, der Dichter Ed. Bauernfeld und seit 1823 der Tonkünstler Franz Lachner kamen. Bei ihren Zusammenkünften wurde nicht nur tapfer poculirt und geraucht, sondern auch sehr viel gelesen, declamirt und musicirt, wobei denn namentlich die neuen Lieder und Tonschöpfungen Schubert’s die Kosten der Unterhaltung bestritten, so daß die Freunde solche gesellige Abende „Schubertiaden“ nannten.

Im Spätherbst 1821 finden wir S. auf dem Schlosse Ochsenburg bei St. Pölten, wo er in Gemeinschaft mit Freund Schober an einer neuen Oper arbeitete. Das Werk, das am 27. Februar 1822 zu Wien beendet wurde, war „Alfonso und Estrella“. Höchst bezeichnend ist der Bericht, den Schober über die Entstehung der beiden ersten Acte gibt; er schreibt an Spaun (2. November 1821): „In Ochsenburg hatten wir mit den wirklich schönen Gegenden, in St. [624] Pölten mit Bällen und Concerten sehr viel zu thun; dem ohngeachtet waren wir fleißig, besonders S., er hat fast zwei Acte, ich bin am letzten. Ich hätte nur gewunschen, Du wärest da gewesen und hättest die herrlichen Melodien entstehen sehen, es ist wunderbar, wie reich und blühend er wieder Gedanken hingegossen hat. Unser Zimmer in St. Pölten war besonders lieb, die zwei Ehebetten, ein Sopha neben dem warmen Ofen, ein Fortepiano nahmen sich ungemein häuslich und heimisch aus. Abends referirten wir immer einander, was des Tages geschehen, wir ließen uns dann Bier holen, rauchten unsere Pfeife und lasen dazu oder Sofie und Nettel kamen herüber und es wurde gesungen.“ Leider sollten sich auch die Hoffnungen, die S. auf diese Opernpartitur gegründet, nicht erfüllen; trotz mannigfachen Bemühungen fand sich keine Bühne bereit, dem Werk zum Leben zu verhelfen und als Liszt es im Jahre 1854 in Weimar zur ersten Aufführung brachte, erwies sich nur, wie gerechtfertigt die Zurückhaltung der Directoren gewesen war. Die herrlichen Musikstücke konnten den Mangel an dramatischer Auffassung und scenischer Erfahrung nicht aufwiegen, von der Dürftigkeit des Textes ganz zu schweigen.

Viel wichtiger als diese halb mißlungenen Versuche ist für die Schätzung seiner Künstlerschaft in dieser Zeit die ebenfalls in’s Jahr 1822 gehörige, leider unvollendete Symphonie in H-moll; die beiden Sätze dieses Fragmentes sind unzweifelhaft das Reifste und Abgeklärteste, was S. auf diesem Gebiete geschaffen. Auf solcher Höhe zeigt ihn auch das beste Werk des folgenden Jahres: der Liedercyclus „Die schöne Müllerin“, zu dem die umfangreicheren Arbeiten derselben Zeit: die große Oper „Fierrabras“, die Operette „Die Verschworenen“ (Der häusliche Krieg) und die Musik zu „Rosamunde“ nur im Verhältniß einer gutgemachten Begleitung zu einer vom Genius geoffenbarten Melodie stehen. Die Müllerlieder, die schon im März 1824 gedruckt erschienen, sind Schubert’s volksthümlichste Tonschöpfung, mit Recht, denn sie sind einer der Gipfelpunkte seines gesammten künstlerischen Schaffens. Die natürliche Anmuth, die Innigkeit der Empfindung, die Beredsamkeit der Leidenschaft, die Gegenständlichkeit der Schilderung, der Zauber der Stimmung, Eigenschaften, die sich vereinzelt in jedem Schubert’schen Lied finden, sind in dieser Novelle in Liedern wie in einem Brennpunkt vereinigt und sie äußern sich, entsprechend dem Inhalt der Gedichtreihe Wilhelm Müller’s, in so mannigfaltigem Ausdruck und so verschiedenartigen Formen, daß man das Ganze wol einen musikalischen Mikrokosmus nennen könnte.

S. schrieb, wie Spaun berichtet, einige der Müllerlieder als Kranker im Spital und auch als die herrlichen Gesänge erschienen, fühlte sich der sonst so lebenslustige und lebenskräftige Tondichter matt und gebrochen. Am 31. März 1824 beichtet er dem Freunde Leopold Kupelwieser: „Mit einem Wort, ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt. Denke Dir einen Menschen, dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will, und der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht; denke Dir einen Menschen, sage ich, dessen glänzendste Hoffnungen zu nichte geworden sind, dem das Glück der Liebe und Freundschaft nichts bietet als höchstens Schmerz, dem Begeisterung (wenigstens anregende) für das Schöne zu schwinden droht, und frage Dich, ob das nicht ein elender, unglücklicher Mensch ist?“ Die äußeren Ursachen seiner Niedergeschlagenheit hat S. hierin zum Teil selbst angedeutet: Krankheit, künstlerische Enttäuschungen – auch die beiden neuen Opern kamen nicht zur Aufführung –, Trennung von den liebsten Freunden, bedrängte äußere Verhältnisse, aber damit ist die schwere seelische und geistige Krise, in der er sich damals befand und die zu einer tiefen Wandlung in seinem inneren Leben führte, nicht völlig erklärt, man muß vielmehr annehmen, daß noch geheime Schmerzen [625] seinen Seelenfrieden störten und daß eine Abspannung seine Schaffenskraft auf Augenblicke lähmte. Leicht begreiflich wäre eine solche unter den genannten ungünstigen äußeren Verhältnissen wohl, denn S., der allzeit fleißig war, hatte in dieser Zeit sein Schaffensvermögen in übermäßiger Weise angestrengt und außer den genannten Werken auch noch zwei Streichquartette und ein Octett geschrieben, um, wie er selbst sagt, „sich auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie zu bahnen“.

Unter diesen Umständen war ein Aufenthalt in Zéléz, wohin der Graf Esterhazy ihn im Sommer 1824 zog, gewiß eine heilsame Unterbrechung der gewohnten Lebensweise; vielleicht war es auch mehr, da dadurch der Tondichter dem Gegenstand seiner stillen Neigung wenigstens zeitweise näher gerückt war. In diesen Jahren nämlich müßte die von den Biographen mit mehr Phantasie als Genauigkeit geschilderte Herzensgeschichte spielen, die aus dem armen Musiklehrer S. einen heimlichen Anbeter seiner jüngsten Schülerin, der hochgeborenen Comtesse Caroline Esterhazy macht, denn zur Zeit seines ersten Aufenthaltes in Zéléz war die angebliche Geliebte erst 12 Jahre alt. Da keinerlei authentische Beweise für die Richtigkeit der üblichen Angaben sprechen, muß man vielleicht die ganze rührende Geschichte als eine Legende betrachten, die sich aus den Neckereien der Freunde gebildet hat. Verbürgte Thatsache dagegen ist, daß Schubert’s erregtes Gemüth sich in Zéléz wieder beruhigte und die muthlose Stimmung einer gefaßteren wich; er schreibt selbst am 18. Juli an den Bruder Ferdinand, er sei jetzt mehr im Stande, Glück und Ruhe in sich selbst zu finden als vorher. „Als Beweis dessen werden Dir eine große Sonate (Op. 36) und Variationen über ein selbst erfundenes Thema, beide zu vier Händen, welche ich bereits componirt habe, dienen.“ Auch eine Reihe anderer Werke, darunter vor allem das auf Anregung der gräflichen Familie geschriebene „Gebet vor der Schlacht“ für Solo und gemischten Chor, bezeugen, daß S. rasch seine alte Schaffensfreudigkeit wieder erlangt hatte.

Die Erfrischung, die ihm die Sommer- und Herbsttage in Ungarn gewährt hatten, bestimmte den Tondichter im folgenden Jahre 1825, schon bei Zeiten sein Ränzel zu schnüren. Diesmal wandte er sich wieder nach Oberösterreich, wohin ihm Freund Vogl bereits Ende März vorausgeeilt war. Fröhliche Wandertage folgten nun. Gleich fahrenden Leuten zogen die beiden Künstler durch die blühenden Gaue, um bald in stattlichen Klöstern, bald in Städten und Städtchen die schon berühmt gewordenen Weisen ertönen zu lassen und allerorts fanden sie Freunde und Bekannte, die ihnen herzlichste Gastfreundschaft boten. Steyr, Linz, Steyeregg, Gmunden, St. Florian, Kremsmünster waren die Haltestellen dieser schönen Künstlerfahrten, an die sich im September eine genußreiche Gebirgstour nach Salzburg und Gastein schloß. Schubert’s Briefe an die Seinigen und an Freunde athmen ein volles Behagen. Auch die Tonschöpfungen dieser Zeit, darunter vor allem die in Gastein vollendete A-moll Sonate Op. 42, das bedeutendste seiner Sonatenwerke, und zahlreiche Lieder zeugen in ihrer Gedanken- und Formenfülle von außergewöhnlicher Lebenskraft.

Diese schaffensfreudige Stimmung hielt, allen äußeren Hindernissen und Enttäuschungen zum Trotz, auch im J. 1826 an, das außer einer lange Reihe einzelner Lieder den ersten Theil der Winterreise, die beiden herrlichen Streichquartette in d-moll und G-dur (Op. 163), das B-dur Trio entstehen sah. Der düstere Grundton der meisten dieser Werke freilich begreift sich vollauf, wenn man all’ das Mißgeschick überblickt, das S. damals betraf. Zunächst seine Uebergehung bei der Wahl eines Vicecapellmeisters der kaiserlichen Hofcapelle, sodann sein vergeblicher Kampf gegen Theaterränke, als er sich um die Dirigentenstelle im Kärntnerthortheater bewarb und endlich die ewigen Nöthe mit den [626] Verlegern. Ueber die Entstehung der „Winterreise“, des zweiten Liedercyclus Wilhelm Müller’s, den S. in Musik setzte, erzählt Spaun laut Friedländer’s Mittheilungen: „S. war durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er mir: „Ihr werdet es bald hören und begreifen.“ Eines Tages sagte er zu mir: „Komm heute zu Schober, ich werde Euch einen Cyclus schauerlicher Lieder vorsingen, ich bin neugierig zu sehen, was Ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dies je bei anderen Liedern der Fall war.“ Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze Winterreise durch. Wir waren durch die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte endlich, es habe ihm nur ein Lied darunter gefallen, nämlich der Lindenbaum. S. sagte hierauf: Mir gefallen diese Lieder mehr als alle anderen und sie werden Euch auch noch gefallen.“ Dieser Bericht, der uns ein letztes Mal das trauliche Bild des von seinen Freunden und Verehrern umgebenen Tondichters vorführt, schließt mit der interessanten Bemerkung: „Die S. näher kannten, wissen, wie tief ihn seine Schöpfungen ergriffen und wie er sie in Schmerzen geboren. Wer ihn nur einmal an einem Vormittag gesehen hat, während er componirte, glühend und mit leuchtenden Augen, ja selbst mit anderer Sprache, einer Somnambule ähnlich, wird den Eindruck nie vergessen.“

Aus einem solchen Zustand hellseherischer Entrücktheit, wie sie die Freunde mehrfach an S. beobachteten, ist allein auch die beispiellose ungeheure Schaffenskraft seiner letzten Lebensjahre zu begreifen; es ist, als drängte es den Genius in ihm das Geheimniß seines Daseins in letzter Stunde noch voll und ganz zu offenbaren. Man kann die Fülle und Größe dessen, was S. in seiner letzten Lebenszeit geschaffen, nur mit der heiligen Ehrfurcht betrachten, die man dem Unbegreiflichen und Unendlichen zollt. Mit Ausnahme weniger Wochen im September 1827, die er in Graz bei guten Freunden verlebte, hat S. während dieser Zeit kaum gefeiert und die umfangreichsten und bedeutsamsten Tonwerke folgten sich rasch und in gedrängter Reihe. Zunächst im Spätjahr 1827 der zweite Theil der „Winterreise“, Nr. 13–24, dann das entzückende Es-dur Trio (Op. 100); auch die Impromptus für Clavier, die Chorwerke „Ständchen“ von Grillparzer und „Nachtgesang im Walde“ und verschiedene Lieder gehören dieser Zeit an. Im J. 1828 endlich entstanden: die große Messe in Es-dur, „Mirjams Siegesgesang“, das Streichquintett in C-dur, die große Symphonie in C-dur, die drei letzten Sonaten C-moll, A-dur, B-dur und eine Reihe bedeutender Lieder, darunter die meisten derjenigen, die nachher unter dem Titel „Schwanengesang“ veröffentlicht wurden. Eine Würdigung dieser Tondichtungen ist hier unmöglich, sie müßte einen ganzen Band dieses Werkes füllen. Nur das eine sei ausgesprochen: die C-dur Symphonie in ihrer „göttlichen Länge“ darf als die bedeutendste Schöpfung dieser Art neben den Meisterwerken Beethoven’s gelten und die letzten Lieder Schubert’s enthalten bereits die Keime der künftigen Entwickelungen des deutschen Liedes, damit ist wenigstens die umfassende Wirkung und die musikgeschichtliche Bedeutung der reifsten Werke bezeichnet.

An äußeren Erlebnissen waren dagegen diese Jahre arm, das einzige hervortretende Ereigniß ist das Concert, das S. am 26. März 1828 veranstaltete und worin nur Schöpfungen seines Geistes zum Vortrag gelangten. Der große Erfolg mochte dem bescheidenen Künstler eine letzte Freude sein, leider genügte aber der ansehnliche Ertrag nicht, ihn von Sorgen zu befreien. So überraschte ihn der Tod in der Dürftigkeit. Ende October 1828 erkrankte er am Nervenfieber und am 19. November verstummte sein liederreicher Mund für immer. Sein letzter Wunsch war, neben Beethoven zur ewigen Ruhe gebettet zu werden. Er wurde ihm erfüllt; am 21. November 1828 wurde er auf dem Ortsfriedhof zu Währing, nur drei Gräber von Beethoven’s Gruft entfernt, zur Erde bestattet. Dort ruhte er, bis am 23. September 1888 die Ueberführung seiner Reste nach dem großen [627] Centralfriedhof Wiens erfolgte. Am 15. Mai 1872 setzte ihm das sangesfrohe Wien ein Denkmal im Stadtpark, es zeigt ihn in ganzer Figur und lebensgetreuer Nachbildung durch die Meisterhand Kundmann’s. Das beste Bild Schubert’s hat W. A. Rieder[WS 5] im Jahre 1825 gemalt.

S. steht im Wendepunkt zweier musikalischer Epochen, der Classik und der Romantik. Seine künstlerische Erscheinung ist daher nur unter dem Begriff beider Kunstrichtungen voll zu fassen. Man könnte ihn den romantischen Classiker aber ebenso gut den Classiker der Romantik nennen, denn er ist der Letzte, der die Musikformen der scheidenden Epoche, wenn auch aus einem neuen Gedankengehalt, so doch naiv und unbewußt nachschafft und zugleich der Erste, neben dem „letzten Beethoven“, in dem die Fülle des neuen musikalischen Lebens zur Erweiterung und Neuschöpfung der Ausdrucksformen drängt. Seine Melodie zeigt die einfachen und sichern Umrisse classischer Musik, seine Harmonik aber verräth in ihrer großen Beweglichkeit, ihren kühnen, unerwarteten Fortschreitungen, ihren reicheren Schattirungen und Abtönungen den Romantiker mit dem Bestreben, das Geschaute, Gedachte, Empfundene nicht in typischer Allgemeinheit wieder zu geben, sondern als persönlich Erlebtes, mit allen Kennzeichen und begleitenden Umständen eines individuellen Erlebnissess wie Stimmung, Nebenempfindung, Vor- und Nachgefühlen. War er auf dem Gebiet der Symphonie und der Kammermusik der unmittelbare aber selbstschöpferische Nachfolger Beethoven’s, so schuf er andrerseits durch seine Impromptus und andere kleine Clavierstücke die neue Gattung des musikalischen Stimmungsbildes, des Tongedichtes ohne Worte und wurde dadurch der Begründer der ganzen modernen Clavierlitteratur. Ihren tiefsten Grund hatte diese Entwicklung der kleinen Instrumentalformen in der Eigenart der Schubert’schen Begabung. Er war durch und durch Lyriker und sein Schaffen bestimmte daher vor allem der Drang nach dem überzeugendsten Ausdruck der Empfindung, nach der vollen Entfaltung des einen ihn eben beherrschenden Gefühls, nach dem Ausklingen der dadurch erregten Stimmung. Dabei kam es ihm zu Statten, daß er über die reichsten Kunstmittel wie über einen von Natur verliehenen Besitz verfügte, denn er sang die im Laufe langen geistigen Wachsens gewordene Tonsprache Beethoven’s als empfangene Muttersprache und die Volksweise, der er mit Behagen lauschte, wandelte sich auf seiner Lippe unversehens zum Kunstgebilde. Seine Eigenart, gestärkt und durchgebildet durch die vorwiegende Beschäftigung mit dem Liede, äußert sich in allen Werken Schubert’s, zur reinsten, vollendetsten künstlerischen Erscheinung aber gelangt sie in seinen Liedern. Ueber 600 Lieder hat S. geschrieben und darin den Empfindungsgehalt der deutschen Lyrik von Klopstock bis Heine musikalisch erschöpft. Als die kostbarsten Perlen dieses überreichen Schatzes sind diejenigen Lieder zu betrachten, in denen der Reiz der musikalischen Ausgestaltung wie naturgemäß aus der Schönheitsfülle des Gedichts zu quellen scheint, wie dieß bei den Compositionen Goethe’s, Uhland’s, Müller’s, Rückert’s, Heine’s der Fall ist, doch wirft der Genius Schubert’s in seinem göttlichen Strahlenglanze wie die liebe Sonne auch über dürftige Gebilde und die Erzeugnisse verkrüppelter Genialität seinen verklärenden Schimmer. Mit Recht hat man auf S. die Worte seines Dichters W. Müller über Goethe angewandt: „Das deutsche Volkslied fand in ihm seine höchste und feinste Veredelung; durch ihn, den echten deutschen Natursänger, trat das alte Volkslied, geläutert und verklärt durch die Kunst, wieder in das Leben ein.“ Schubert’s Gesänge, seines Schaffens größter Ruhmestitel, sind die glänzende Erfüllung alles dessen, was die musikalische Lyrik des 18. Jahrhunderts anstrebte und zugleich eine wunderbare Vorahnung aller künftigen Entwicklungen des deutschen Liedes; die erlesensten darunter werden allezeit zum Höchsten und Schönsten zählen, was deutscher Art und Kunst entsprossen.

[628] Die Biographie Schubert’s ist noch nicht geschrieben; sie wird erst möglich sein, wenn die Gesammtausgabe seiner Werke – man zählt über 2000 Compositionen – vollständig vorliegt, zur Zeit ist erst ein kleiner Theil dieser großen kritischen Ausgabe veröffentlicht (Breitkopf & Härtel). Den umfangreichsten biographischen Versuch hat Dr. Heinrich Kreißle v. Hellborn in seinem Buche: Franz Schubert, Wien 1865, geliefert, außerdem sind zu nennen: A. Reißmann, Franz Schubert, sein Leben und seine Werke, Berlin 1873 und der feinsinnige Essay von A. Niggli, Franz Schubert’s Leben und Werke. Zahlreiche Litteraturnachweise gibt Wurzbach XXXII, 30–110. Bemerkenswerthe Aufschlüsse über des Tondichters Leben hat neuerdings der um die Säuberung des Schubert’schen Musiktextes hochverdiente Dr. Max Friedländer gegeben in seiner Schrift: Beiträge zur Biographie Franz Schuberts, aus der wir, trotzdem sie als Manuscript erschien, durch die Freundlichkeit ihres Verfassers manches Wichtige mittheilen konnten. Diese auf sorgfältigen Quellenforschungen beruhende Arbeit enthält auch eine vollständige Uebersicht des biographischen Materials und zahlreiche Ergänzungen und Berichtigungen zu dem Thematischen Verzeichniß der im Drucke erschienenen Werke von F. S. herausgegeben von G. Nottebohm, Wien 1874. Wir schließen mit unserm wärmsten Dank dafür an den trefflichen Schubertforscher, der der musikalischen Welt einst eine quellenmäßige Biographie Schubert’s schenken wird.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joseph Freiherr von Spaun (1788–1865), Beamter in der Lotto-Direction in Wien.
  2. Albert Stadler (1794–1884), Komponist in Linz und Salzburg.
  3. Max Friedlaender (1852–1934), deutscher Musikwissenschaftler.
  4. Johann Michael Vogl (1768–1840), Bariton, Hofopernsänger in Wien.
  5. Wilhelm August Rieder (1796–1880), Wiener Maler, Sohn Ambrosius Rieders.