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Artikel „Reisig, Karl Christian“ von August Baumeister in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 122–128, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reisig,_Karl_Christian&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 18:22 Uhr UTC)
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Reisig: Karl Christian R., hervorragender Philologe und akademischer Lehrer. Er war geboren am 17. November 1792 zu Weißensee im nördlichen Thüringen (nördlich von Erfurt), daher er sich auf seinen Schriften constant Reisigius Thuringus nannte. Den ersten Unterricht ertheilte dem Erstgebornen sein Vater, ein wohlhabender Arzt, und mit so gutem Erfolge in den Elementen der lateinischen Sprache, daß der Sohn 1805 in die Klosterschule zu Roßleben (an der Unstrut im Kreise Querfurt gelegen) aufgenommen werden konnte. In der klösterlichen Beschränkung und geregelten Schuldisciplin dieser Schulpforta ähnlichen Stiftung entwickelte sich der für die Erfassung der classischen Sprachen beanlagte Geist des Knaben, ebenso wie in der gesunden Landluft sein von Natur kräftiger Körper so gleichmäßig, daß sein eiserner Privatfleiß, ein schon damals Tag und Nacht fortgesetztes Studium, wobei er sich selbst durch leibliche Kasteiungen munter gehalten haben soll, ihm keinen Schaden brachte. Gründlich bewandert in den alten Sprachen bezog er im Herbst 1809 die Universität Leipzig, wo Gottfried Hermann sein Lehrer wurde und ihn ungewöhnlicher Weise sofort in seine Societas Graeca aufnahm, als er Reisig’s Talent, Scharfsinn und Originalität in dem ihm vorgelegten Aufsatze erkannte. Hermann’s Lehre und imponirende Persönlichkeit gab nun dem Jünger die Richtung nach der grammatisch-kritischen Seite der Philologie, in dem Maße, daß man R. geradezu den hervorragendsten Hermannianer nennen kann. Seine Begeisterung für den großen Lehrer trieb den aus klösterlicher Einsamkeit in die freie Studentenwelt versetzten urkräftigen Jüngling nicht nur dazu, wie Jener pflegte, in Reitstiefeln und Sporen einherzugehen; auch ein kühner Scherz ganz eigner Art, den man ihm sehr verübelte, entsprang der tiefen Verehrung des [123] Meisters. In Gesellschaft mit August Meineke gab er heraus: „Xenophontis Oeconomicus. Ed. Guil. Kusterus“, Lips. 1812; „worin die beabsichtigte, fast absolute Verherrlichung Hermanns mit einem Uebermuth des Tones durchgeführt wurde, der zwar nur aus der arglosesten jugendlichen Keckheit und dem angeborenen Hange zum Bizarren, keineswegs aus irgend einem böswilligen Vorbedacht entsprang, aber doch nicht unverdiente Indignation erregte, zumal sich zu der Derbheit nicht gerade tieferer Humor gesellte. Eine andere pseudonyme Schrift ähnlichen Tons, aber unähnlichen Gehaltes: Plutarchi Vitae etc. Ed. Fabricius, Leipzig 1812, ist auf Reisig’s Namen nur durch eine willkürliche, durchaus nichtige Vermuthung [von G. H. Schäfer zu Plutarchi Vitae Vol. IV, 399] gesetzt worden“. (So Ritschl, Opuscc. philolog. IV, 96) Ueber jene erste Schrift machte Hermann selbst, der den Autor sofort entdeckte, diesem verdiente Vorwürfe. Sie blieb für R. auch später stets eine unliebsame Erinnerung, und die darin enthaltenen Angriffe auf Chr. Dan. Beck sollen ihn zunächst veranlaßt haben, sich für eine Zeit von Leipzig zu entfernen (G. Hermann, Opuscula IV, 347 sqq.) Im Sommer 1812 ging er nach Göttingen; doch hat er wohl kaum noch persönlichen Verkehr mit Heyne pflegen können, der im September starb, von ihm aber durch ein am Begräbnißtage veröffentlichtes griechisches Gedicht geehrt wurde. Reisig’s hauptsächliches Specialstudium war damals wie auch schon vorher Aristophanes, wobei ihn eine aus seinen Mitteln erworbene reiche Bibliothek unterstützte. Als jedoch im Frühjahr 1813 die Volkserhebung gegen Napoleon begann, ergriff auch ihn die Begeisterung (er verfaßte u. a. ein Gedicht von 29 Strophen: „An das deutsche Volk, als Czernitschef Cassel überfiel“) so mächtig, daß er die Bücher verließ und trotz aller Abmahnungen G. Hermann’s, der seinen möglichen Tod als einen schweren Verlust für die Wissenschaft ansah, sich als Freiwilliger in das sächsische Banner einreihen ließ. Infolge seiner körperlichen Rüstigkeit und Gewandtheit (er pflegte im Scherze zu behaupten, den Militärdienst habe er aus Xenophon gelernt) wurde er bald zum Feldwebel ernannt; aber zum Kampfe gelangte seine Abtheilung während der Jahre 1813–15 gar nicht. Dagegen wußten die Kameraden später viel davon zu erzählen, wie R., welcher ein zerlegtes Exemplar des Aristophanes im Tornister mit sich führte, oftmals beim Wachtfeuer ihnen mit gewaltiger Stimme daraus vorgelesen und erklärt habe. Uebrigens war der wichtigste Moment des Feldzuges für ihn der Untergang einer bedeutenden Anzahl seiner Kameraden auf dem Main, dem er selbst nur durch eine wundersame Fügung entging. Dennoch trieb er mit Leidenschaft das Kriegshandwerk und war nahe daran, wie manche Andere beim Militär zu bleiben; auch später hing der alte Säbel stets über seinem Bette und er war stolz auf seinen Feldwebel. – Nach der Rückkehr vom Feldzuge lebte R. wieder eine Zeitlang in Leipzig und vollendete seine Schrift: „Coniectaneorum in Aristophanem liber I“, welche 1816 erschien. In diesem Buche bewies er nicht nur ausgebreitete Gelehrsamkeit und glänzenden Scharfsinn, besonders auch in seinen metrischen Beobachtungen und förderte die Kritik des Dichters durch Erforschung des speciellen Sprachgebrauchs; sondern er scheute sich auch gar nicht, seinem Meister selbst, dem er die Schrift gewidmet, bei Gelegenheit entgegenzutreten und selbständige Meinungen gegen ihn zu verfechten. Niemand wagte eine öffentliche Kritik der Schrift; das beste Zeichen ihres Werthes. Der Verfasser aber, welcher sich zum Docenten geboren fühlte, ging im December 1817 nach Jena, woselbst er schon im August desselben Jahres die philosophische Doctorwürde erhalten hatte, um dort, wo damals so viel rüstige Jugend zusammenströmte, sich zu habilitiren. Januar 1818 vertheidigte er unter großem Beifall sein „Syntagma criticum de constructione antistrophica trium carminum melicorum Aristophanis“, worin er [124] namentlich die Ansichten F. A. Wolfs über die Krasis berichtigte. Der Zudrang zu seinen bald eröffneten Vorlesungen war groß; R. ward unter den Studenten außerdem sofort die populärste Persönlichkeit. Sein Freund Pernice schildert ihn: „Ein Bart deckte seine Lippe und Kinn [höchst auffallend damals für einen Professor!], Reitstiefeln und Sporen seine Füße; dazu lederne Beinkleider und ein grüner Reitrock; von der Reitbahn beschritt er den Katheder, vom Katheder ritt er nach Weimar; er ambulirte mit der Jugend, aß mit ihr an der wenig einladenden Wirthstafel zur Sonne, und disputirte lateinisch und griechisch zu jeder Tageszeit, über jegliches Begebniß, wie über jeden Satz seiner Wissenschaft. Sein Leben war ein Junggesellen-Studentenleben, und wenn in später Nacht ein Vivat ihm erschallte, konnte man mit Sicherheit auf ein erwiderndes Witzwort rechnen. So war R. der Koryphäe seiner Umgebung, der gefeierte Interpret des Aristophanes, Terenz und Sophokles, der selbst um fünf Uhr früh mit Lust gehörte Lehrer lateinischer und griechischer Grammatik“. Für die gediegene Anziehungskraft des Mannes aber spricht vor allem das Urtheil des 70jährigen Goethe, der sich von Riemer über die Partikel ὔν instruiren ließ, sich aus den Bemerkungen über Aristophanes „was ihm gehörte daraus zueignete“ und ihm persönlich näher trat. „Lebhafte Unterhaltungen mit diesem tüchtigen jungen Manne, geistreich wechselseitige Mittheilungen verliehen mir bei meinem diesmaligen längeren Aufenthalte in Jena [1820] die angenehmsten Stunden“ (Goethe’s Werke in 40 Bdn., Bd. XXVII, S. 371). Den Schwung der Seele, welchen solcher Verkehr gab, erkennt man in den schönen Worten, womit er in elegantem Latein sein Buch: „Aristophanis Nubes, fabula nobilissima integrior edita auctore C. R. Th. 1820, mit dem angehängten Syntagma und einer Abhandlung de ἂν particula dem Triumvirate Goethe, Wolf, Hermann widmete. Trotz dieser sehr zusagenden Verhältnisse konnte er nicht umhin, noch im selben Jahre Jena zu verlassen; obwohl Goethe den jungen Mann nicht allein um seinetwillen sehr ungern scheiden sah (ebendas. S. 382). Denn er hatte zwar schon seit einiger Zeit eine außerordentliche Professur bekommen, aber ohne Gehalt; und da das väterliche Erbtheil nicht mehr zureichte, so setzte ihn die um 1819 eintretende bedeutende Verringerung der Studentenzahl in Jena (eine Folge der Sand’schen Frevelthat), welche seine Einnahme aus Collegiengeldern sehr herabdrückte, in Verlegenheit. Er suchte deshalb in Berlin um die Anstellung an einer preußischen Universität nach, die ihm auch sofort in Halle zu Theil ward. Ein Zufall wollte, daß kein anderer als Fr. Aug. Wolf, der den jungen Freund als ebenbürtig erkannte, mit ihm im selben Wagen dahin reiste, wo er selbst einst seine glänzenden Erfolge geerntet hatte. Nicht mit Unrecht hat schon G. Hermann die Geistesverwandtschaft beider Männer, neben der Aehnlichkeit gewisser äußerer Schicksale, betont: das Ungestüm des Genius, die Unmittelbarkeit des Gefühlsausdruckes, einen gewissen Eigensinn und derbe Rücksichtslosigkeit, vor allem aber das in wahrer Begeisterung wurzelnde Lehrtalent. Aehnlich wie Wolf ward auch Reisig’s Auftreten in Halle durch die Personalverhältnisse begünstigt: neben dem altersschwachen und wissenschaftlich überlebten Schütz, dem feinen, aber kränklichen Seidler trat R. wie ein Heros als Docent auf. „Dieser kurze, tapfere, gravitätische Schritt mit militärisch gemessener Haltung, die große Beweglichkeit aller Muskeln, während er sein Naturell mehr behaglich aus sich herauszudrängen, als in sich zusammenzunehmen schien, das lange Haar über dem derben, fleischigen Antlitz mit dem blauen, erst dem längern Anblick geistreich geöffneten Auge, die große Einfachheit der ganzen Erscheinung, das unerwartete frappante Pathos im Vortrage“ – so schildert einer seiner Schüler den ersten Eindruck dieser „plastischen“ Natur. Andererseits wird bezeugt, daß R. jetzt auf alle äußere Effecthascherei [125] verzichtete: „die Jenaische äußere Sitte war abgestreift (sagt Pernice), der Bart verschwunden mit dem Reithabit, das tägliche Roß in den Stall gestellt; aber nicht die erfrischende Berührung mit der Studentenwelt aufgegeben. Zu ihm hatte Jeder Zutritt, und meilenweite Spaziergänge gewährten einer Auswahl seiner Schüler gewiß ebenso belehrende Stunden, als der Hörsaal. Denn was R. wußte, war ihm stets zur Hand; sein Wissen ruhete nicht in den Heften, und ihrer bedurfte er ebensowenig, um auf die allseitigsten Fragen eine sichere Antwort zu geben, als beim Dociren, wo abgerissene, für jeden Dritten Hieroglyphen enthaltende Blätter allein ihm vorlagen. In seinen Vorträgen herrschte die freieste Rede; laut und belebt, ja scheinbar schreiend – eine Eigenheit, welche R. aus der besonderen Beschaffenheit seiner Zunge erklären wollte – war sein Vortrag, durchwebt mit den mannigfachsten oft kräftigen Scherzen, überall aber durch Schärfe, durch Eigenthümlichkeit der Gedanken, vor allem durch eigene sichtbare Begeisterung für den Gegenstand geadelt. Seine Vorlesungen waren nicht etwa durch Häufung einer immensen, in ihren Resultaten zusammengestellten Erudition, nicht durch ein Aggregat meilenlanger Citate ausgezeichnet, sondern durch die Kunst, dem Zuhörer die Entwicklung und Bildung des Ueberlieferten selbst lebendig vor Augen zu stellen. So ließ R., worin alle die ihn gehört übereinstimmen, seine Schüler dieselben Geistesoperationen durchleben und durchdenken, in denen er selbst vorangegangen“. Ganz übereinstimmend schildert sein Schüler Stern: „Was R. sagte, gewann sofort Gestalt an ihm selbst, so daß kein Geistesproduct dieses Mannes ohne die Art, wie es geboren ward, uns denkbar war. Das plastische Griechen- und Römerthum kam in ihm wieder zur Erscheinung, er selbst war ergriffen, erschüttert von der Macht jener Ideale; selbst ein gefesselter Prometheus auf dem Katheder, selbst ein klagender Oedipus, oder satyrlächelnder Strepsiades; Begeisterung lieh ihm Wort und Ton bald zu elegischer Lieblichkeit, bald zu des Chores mächtigem Aufschwung, also daß er selbst, mit urkräftigstem Behagen die Herzen aller Hörer zwang“. Durchaus nicht im Widerspruch hiemit steht die Bemerkung von Fr. Haase, daß die Vorlesungen im Ganzen „ihren größen Werth in dem augenblicklichen Eindrucke hatten, den sie hervorbrachten; indem aber die Zuhörer diesen Eindruck zum Maßstabe ihres Urtheils machten, glaubten sie in ihren Heften Schätze zu besitzen, welche nachher Anderen und ihnen selbst bei weitern Studien in einem weit weniger glänzenden Lichte erschienen“. Man vergleiche auch die begeisterte Auslassung von Ad. Stahr, Ein Jahr in Italien, Bd. III, 397 ff. – Diese große Gabe der Anregung, welche auch Fr. Ritschl, Reisig’s größter Schüler, als dessen Hauptvorzug heraushebt, entfaltete sich am glänzendsten in der von ihm gegründeten societas.

Obgleich R. nämlich, als Seidler 1824 sich ins Privatleben zurückzog, ein Ordinariat erhielt, gab man ihm wunderbarer Weise nicht die Mitdirection des philologischen Seminars, sondern statt seiner neben dem alten Schütz dem von Greifswald her berufenen Ed. Meier, dem Mitverfasser des „Attischen Prozesses“. Nun richtete R., um dem die Spitze zu bieten, in seiner Wohnung ein Privatissimum ein, bestimmt zu lateinischen Disputationen über Probleme der Textkritik und zur Uebung in lateinischen Versen. Eine kritische Abhandlung in lateinischer Sprache über Textstellen aus Classikern diente zur Prüfung für die Aufnahme als ordentliches Mitglied. Trotz des nicht unbedeutenden Honorars (10 Thaler für die ordentlichen, 4 für die außerordentlichen Mitglieder) war der Zutritt lange zuvor erstrebte Ehrensache; selbst der schlechteste Zuhörerplatz des beengten Raumes wurde mit Freuden angenommen. „Hier war es, sagt Ritschl, wo Reisig’s Lehrgaben wie in einem Brennpunkt sich sammelten; wo eine mit seltener Gewandtheit gehandhabte echt antike und doch zugleich individuell gefärbte [126] lateinische Rede, die auch in Schriften wie nicht minder in manchem poetischen Product den Meister im Stil nicht verkennen läßt, als Muster vorgehalten und mit strengem Eifer nachgebildet wurde; wo die klarste Herrschaft über den mit treuestem Gedächtniß umfaßten Stoff in allen seinen Momenten, die Ueberlegenheit eines in jedem Augenblicke zu Gebote stehenden durchdringenden Scharfsinns, endlich ein bewundernswürdiger Takt für alles Eigenthümliche der klassischen Sprachen, die er sich gleichsam angelebt hatte und wie in unmittelbarer Anschauung nachfühlte; wo ein Verein solcher Eigenschaften so fördernd wirkte, daß alle Theilnehmer jener Uebungen ihr Andenken segnen werden“. Diese Societät war natürlich der Stolz Reisig’s; und als derselbe 1826 einen ehrenvollen Ruf nach Kiel ausgeschlagen hatte und ihm nun die Mitdirection des Seminars angetragen wurde, „lehnte er (nach Pernice) dies ebenso ehrerbietig aus wissenschaftlichen, als naiv aus ökonomischen Gründen ab“. – So sehr fühlte sich R. als geborner Lehrer und Meister des lebendigen Worts, daß von schriftstellerischen Veröffentlichungen nur noch die Ausgabe des halb schon in Jena gedruckten Sophoclis Oedipus in Colono (1820–1822) zu nennen ist. Derselbe besteht aus dem vielfach verbesserten Texte mit den Scholien, welchem kritische Anmerkungen folgen, und eine enarratio vorangeht. In der letzteren wird eine fortlaufende genaue Inhaltsangabe des Stückes, zum Theil geradezu metrische Uebersetzung (ins Lateinische) gegeben, um die Kunst der Composition und den Zusammenhang (das artificium poetae) aufzuweisen; daneben stehen abgetrennt sprachliche und fachliche Erläuterungen. Wir dürfen hierin einen ersten Versuch erblicken, die nüchterne kritische Art Hermann’s mit der ästhetischen Betrachtungsweise Heyne’s zu vermitteln, und das poetische Kunstwerk nach allen Seiten zu durchdringen; ein Versuch, der mehr als es scheinen könnte, grundlegend für die spätere allseitige Erklärungsweise alter Autoren fortgewirkt hat. Uebrigens war Reisig’s ganzes Wesen der Schreibseligkeit seiner meisten Collegen vollständig abgewandt (Arist. Nubb. praef. non enim tam sum intemperans scribendi, ut opellas meas festinem). Nur wenige Recensionen lieferte er in die Jenaische Litteraturzeitung; ob er für die Hallesche, an welcher er seit 1826 als Mitredacteur für das Fach der Philologie eintrat, überhaupt selbst gearbeitet hat, ist nicht bekannt. Universitätsprogramme zu schreiben hatte er keine Gelegenheit; einen kurzen Artikel verfaßte er, offenbar auf Wunsch der Gründer, für das Rheinische Museum, Bd. I (1828). Wie ernst es ihm aber damit war, nur in seinem Sinne Gediegenes und Vollendetes zu geben, zeigt das ausdrückliche Verbot, nach seinem Tode etwas aus seinen Papieren drucken zu lassen. Dessen ungeachtet wurden noch im J. 1839 seine Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft nach den Heften der Schüler mit inhaltreichen Anmerkungen von Fr. Haase herausgegeben; das Buch erfreute sich solchen Beifalls, daß ein Wiederabdruck mit Zusätzen noch 1886 in Berlin erschien. – Inzwischen war R. fortwährend darauf bedacht, den Kreis seines Wissens zu erweitern; die bloße Wortphilologie genügte ihm nicht. Anfangs hatten sich seine Vorlesungen vorzugsweise im Kreise der griechischen Dramatiker bewegt; dazu kamen Horaz und Tibull, Cicero und Demosthenes, griechische und lateinische Grammatik; ferner philologische Encyclopädie und griechische, sowie römische Alterthümer. Nun gedachte er auch später zur Mythologie und Litteraturgeschichte überzugehen, ja selbst die alte Kunst in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen, da dem feinfühlenden Mann nicht verborgen geblieben sein konnte, daß eine tiefere Erfassung des classischen Alterthums ohne Umfassung dieser Zweige nicht möglich sei. Es ist bezeugt, daß er Winckelmann’s Werke eifrig studirte, und wer mochte mehr befähigt sein, die grammatische Philologie der Hermannianer mit den Realstudien der Boeckh’schen Schule zu verschmelzen, [127] als R., dessen Otfr. Müller so rühmlich gedachte (zu Aesch. Eum., S. 171 u. ö.)? Während Außenstehende also die lange Pause in der litterarischen Production irrig als Ermattung des regen Geistes auslegten, arbeitete er selbst mit unermüdetem Eifer im Stillen, die weiten Räume einer ihm zum Theil neuen Welt selbständig zu durchmessen, wobei er, um ganz auf eigenen Füßen zu stehen, eine Reise nach Italien zur Gewinnung von Anschauungen und zum Zweck von Quellenstudien sich vorgesetzt hatte. Den nöthigen Urlaub dazu nebst einer Unterstützung von Seiten der Regierung hatte er sich bei Gelegenheit der erwähnten Berufung ausbedungen. So trat er im Herbst 1828 die Reise an, durch welche er zugleich hoffte, von einem gewissen körperlichen Unbehagen und melancholischer Stimmung, welche den von Gesundheit strotzenden Mann seit einiger Zeit plagte, befreit zu werden. In Leipzig sah er seinen Hermann zum letzten Male, blieb zwei Tage in München bei seinem Freunde Thiersch und ging dann über den Brenner nach Venedig. Hier fing er (Anfang November) an, auf der Bibliothek eine Handschrift des Athenäus zu vergleichen, litt aber bald an Durchfall. Am 8. December ward er bettlägerig; der Arzt erklärte, er habe „Nervenfieber“. Er wurde immer schwächer, fühlte sich selbst jedoch stets besser. Am Neujahrstage 1829 stand er sogar auf, da der Arzt ihn für fieberfrei erklärte. Nach zwei Tagen trat aber Pleuritis ein; die ersten Aerzte der Stadt gaben ihn auf; sein Freund Ferd. Ranke pflegte ihn. Am Tage vor seinem Tode glaubte er selbst sich der Genesung nahe, auch die Aerzte erwarteten nur ein langsames Ende. Aber plötzlich am 17. Januar Mittags trat der Todeskampf ein, wie der Kranke nun selbst fühlte: o Gott! Quando mai moriro! rief er aus und sank hin. Das lebhafte blaue Auge hatte auch im Tode noch seinen Glanz bewahrt. Man begrub ihn auf dem protestantischen Friedhofe. Unter seinen Schülern und Freunden war große Bestürzung über dies unerwartete Ende, die rasche Vernichtung größter Hoffnungen. – R. starb unverheirathet; er liebte seine Junggesellenfreiheit; doch konnte er im Umgange mit Frauen die gewandteste Zartheit zeigen. Sein Verhältniß zu Freunden ist nicht nach vereinzelten Aeußerungen zufälliger Gegner in philologischen Streitpunkten zu beurtheilen, da ja leider heftiges Wortgezänk, Hartnäckigkeit, Empfindlichkeit und Verunglimpfung des Gegners eine speciell den Philologen anhaftende Untugend zu sein scheint, und durch die vermeintliche Verpflichtung zu einer Widerlegung aller Andersdenkenden, selbst in den kleinsten Kleinigkeiten, stark gefördert wird. In dieser oft eigensinnigen Rechthaberei hat R. allerdings zuweilen gesündigt (man lese die ergötzliche Erzählung über die berühmte Verbesserung ϑυμúτιον Ar. Nubb. 180 und Anderes bei Hermann, Act. Soc. Graec. praef., p. 25 ff.); ebenso aber auch Hermann (in der Vorrede und den Anmerkungen zu Soph. Oed. Col. 1825), doch hat letztrer Jenem bei Lebzeiten und nach seinem Tode auch hohe Anerkennung öffentlich gespendet. Von Geringeren ist R. als der glücklicher Begabte nur beneidet worden und er selbst hat den Gegner, der sich eine grobe Blöße gab, höchstens mit einem Witzworte geneckt (so gegen Osann, der seinen eignen Stiefvater als privignus bezeichnet, in Arist. Nubb. praef. extr.). Das Verhältniß zu seinen Fachcollegen an der Universität war aber ein durchaus friedliches; im Umgange mit näheren Freunden sprudelte er von harmlosem Witz und von Heiterkeit. Das Kartenspiel verschmähte er, ebenso Politik, Zeitungslesen und Unterhaltungslitteratur. Von neueren Schriftstellern liebte und las er nur Goethe und Lessing, diese aber mit Leidenschaft. Unter Freunden trank er gerne Wein, doch nie im Uebermaß. Zur Ferienerholung besuchte er seine verehrte Mutter und machte kleine Ausflüge; er lenkte selbst die Wagen, ritt und ruderte auch gern; Blumenduft war ihm Erquickung.

[128] H. Paldami narratio de C. R. Th. Gryphisv. 1839. – L. Pernice in Hallescher Lit.-Ztg. 1832 Intelligenzbl. Febr., vorzüglich. – Fr. Ritschl, Opuscc. philolog. Vol. V, S. 95 ff. – O. Ribbeck, Fr. W. Ritschl’s Leben Bd. I, S. 34 ff. und 269 f., wo auch die sonstige Litteratur verzeichnet ist.