ADB:Schwerin, Maximilian Graf von

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Artikel „Schwerin, Maximilian Heinrich Karl Anton Kurt Graf von“ von Herman Granier in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 429–435, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schwerin,_Maximilian_Graf_von&oldid=- (Version vom 8. Oktober 2024, 19:11 Uhr UTC)
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Schwerin: Maximilian Heinrich Karl Anton Kurt Graf v. S., aus der Linie Schwerinsburg, preußischer Staatsminister und Abgeordneter, bekannt unter dem Namen Graf S.-Putzar, geboren am 30. December 1804 auf dem Gute Boldekow, Kreis Anklam, ältester Sohn des Grafen Heinrich v. S. und der Charlotte, geb. v. Berg, † am 3. Mai 1872. Sein Vater war erst Officier im 2. Kürassierregiment gewesen, deren gelbes Collet schon mancher Schwerin getragen, wurde dann Landrath des Kreises Anklam, später Landschaftsdirector von Vorpommern. Als eifriger Landwirth wußte er seine zahlreichen Güter zu neuer Blüthe zu bringen; der Großvater, Heinrich Bogislaw, hatte auf seinem Schlosse Schwerinsburg, wo er seinem Oheim, dem Feldmarschall S., ein Denkmal errichtete, als Grand-Seigneur gewirthschaftet, „wodurch er seine sehr ansehnlichen Einkünfte nach und nach sehr merklich geschmälert hatte“. – Die Bewegung der Befreiungskriege wird auch dem Knaben schon zum Bewußtsein gekommen sein. Der Vater war ständiger Commissar für die Bildung der Landwehr, ließ 1814 „Vaterländische Gesänge“ erscheinen, und die Freundschaft, welche ihn mit Schleiermacher und Arndt verband, beweist, wie nahe er den großen Ideen der Zeit stand, wie er denn auch für die Bauernbefreiung, für die Errichtung von Landschulen eine rege Thätigkeit entfaltete. – Vom 10. bis 14. Jahre war S. in einer Erziehungsanstalt zu Berlin, besuchte dann das Gymnasium zu Friedland in Mecklenburg, bis 1824, und studirte die Rechte in Berlin, in Heidelberg, und wieder in Berlin. Als Referendar arbeitete er am Oberlandesgericht und bei der Regierung zu Stettin, übernahm aber bald einige der väterlichen Güter und wurde 1833 von den Ständen zum Landrathe des Anklamer Kreises gewählt. Von entscheidendem Einflusse für seine Entwicklung erscheint sein Verkehr im Schleiermacher’schen Hause, das einen Mittelpunkt des geistigen Lebens in Berlin bildete. Für die idealistische Richtung, welche sein Denken und Handeln fortan durchdrang, ist hier der Ursprung gegeben; hier erstarkte auch wohl seine Begeisterung für die „Ideen von 1813“. Zwei seiner Schwestern heiratheten hervorragende Mitglieder dieses Kreises, den Prediger an der Nikolaikirche, Ludwig Jonas, und den Director des Friedrichsgymnasiums, Adolf F. Krech. S. selbst aber war mit Schleiermacher’s jüngster Tochter, Hildegard Marie, mehrere Jahre verlobt und führte sie bald nach Schleiermacher’s Tode, am 6. August 1834, heim. Seine jüngste Schwester heirathete in späterer Zeit (1859), den Stiefsohn Schleiermacher’s, Regierungsrath v. Willich. – Nach dem Tode seines Vaters, 1839, ererbte und kaufte er zehn Güter im Kreise Anklam; sein Hauptgut war Putzar. Nun wurde er Mitglied des pommerschen Provinziallandtags (1840) und Director des vorpommerschen Landschaftsdepartements (1842). – In weiteren Kreisen wurde er zuerst bekannt durch seine Theilnahme an der Neugründung des Gustav-Adolfs-Vereins, in Darmstadt 1841, dessen Centralvorstande er später (1847) angehörte. König Friedrich Wilhelm IV., der 1844 das Protectorat über die preußischen Gustav-Adolfs-Vereine übernahm, fand wohl in dieser Thätigkeit des Grafen den Anlaß, ihn zu der im Sommer 1846 in Berlin, in der Schloßcapelle, tagenden Generalsynode zu berufen. Hier trat S. dem damaligen Generallandschaftsrathe Alfred v. Auerswald nahe, und suchte mit diesem vereint für die freie Entwicklung der evangelischen Kirche zu wirken. Sein erster Antrag ging auf Oeffentlichkeit der Verhandlungen: „eben dieses Bewußtsein der Oeffentlichkeit werde dahin wirken, in den Verhandlungen überall das rechte Maaß und Ziel zu halten.“ Er erklärte sich für die Militärpflicht der Theologen: „es sei bedenklich, der Idee der allgemeinen Wehrpflicht, die schon die herrlichsten Früchte getragen habe, durch Zulassung von Ausnahmen einen Theil ihrer Kraft zu entziehen“. Besonders aber kämpfte er gegen die Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnißschriften [430] „als unevangelisch“, und für das presbyteriale Element der Kirche gegenüber dem consistorialen, „denn die Idee der Kirche sei die, daß der heilige Geist in der Gemeinde wohne.“ – Der übrigens ergebnißlos verlaufenen Synode folgte 1847 der Vereinigte Landtag, dem S. als Vertreter der Ritterschaft des Anklamer Kreises angehörte. Als erster Redner, nach der Ansprache des Marschalls, stellte er in der Eröffnungssitzung „als Herold des heißen Kampfes um die Rechte des Volks“, wie man damals von ihm rühmte, den Antrag auf den Erlaß einer Adresse an den König, welche neben dem Danke für die „Schöpfung eines allgemeinen ständischen Organs“, „die ehrerbietigen Bedenken nicht zurückhalten“ sollte, „die sich von dem Gesichtspunkte des Rechts und der Garantien aus, die durch die frühere Gesetzgebung dem Volke gewährt worden, gegen mehrere Bestimmungen des Patents und der Verordnungen vom 3. Februar aufdrängen“ müßten. Vertrat S. also hier durchaus den Standpunkt, daß dem Landtage schon erworbene Rechte vorenthalten würden, und ordnete er dieser Ueberzeugung sein Votum auch da unter, wo ihm die sachliche Unzweckmäßigkeit seiner Abstimmung nicht entgehen konnte, so gerieth er doch wieder in ein Schwanken, das ihm in praktischen Fragen eigenthümlich bleiben sollte. So stimmte er zwar gegen die Anleihe für die Ostbahn, mit der charakteristischen Begründung: „Ich bin ein Waffenschmied weder für die Regierung, noch gegen die Regierung, sondern ich mache auf keinen anderen Namen Anspruch, als auf den eines unabhängigen Abgeordneten“; aber in der Schlußberathung wegen der Steuerbewilligung rieth er doch, sich nicht auf das Recht von 1820 zu berufen, denn unwiderruflich sei kein Gesetz. Blieb dieser „Mangel an entschiedenem Wollen und kräftigem Handeln“ auch damals schon nicht unbemerkt, so verschaffte ihm doch sein unabhängiges und gerades Auftreten, seine Uneigennützigkeit und Bescheidenheit, seine einfache, von Wahrhaftigkeit und Rechtsgefühl durchdrungene Rede, sein schlichtes Aeußere „mit dem ernsten Gesicht, den dunklen, herabhängenden Haaren, die auf eine Art pietistischer Schwärmerei hinzudeuten schienen“, eine große Volksbeliebtheit. Als einen der Führer der Opposition, an dessen Königstreue aber doch kein Zweifel war, berief ihn Friedrich Wilhelm IV., auf den Vorschlag des Grafen Arnim, für die geistlichen Angelegenheiten in das am 19. März 1848 von diesem gebildete Ministerium.

Nach S. tobte der an diesem unheilvollen Tage in den Schloßhof gedrungene Volkshaufe und verlangte von ihm, den König auf den Balcon zu rufen. Daß S. sich dem unterzog, läßt sich wohl nur mit dem Worte Friedrich Wilhelm’s IV. erklären, daß uns Ranke überliefert: „Damals lagen wir Alle auf dem Bauche“. S. ritt auch dem Könige auf dem „Kaiserritte“ durch Berlin voran. – Dem so unmittelbar aus der Revolution hervorgegangenen Ministerium war eine lange Dauer nicht beschieden. Camphausen, der nach dem Grafen Arnim den Vorsitz übernahm, stärkte durch seine Politik des Zuwartens, welche ihm die Furcht vor weiteren Ausschreitungen dictirte, gerade die extreme Partei. Als der von dem Ministerium ausgearbeitete Verfassungsentwurf von der Nationalversammlung einer Commission übergeben wurde, trat mit Camphausen auch S. zurück (13. Juni 1848), ohne zu irgend welchen nachhaltigen Maßnahmen Zeit gehabt zu haben; man müßte denn Personalveränderungen dahin rechnen, wie die Dispensirung des bekannten Abgeordneten Wagener vom Consistorium in Magdeburg. – Vom Wahlkreise Schlawe zur Deutschen Nationalversammlung gewählt, gehörte S. in Frankfurt mit Radowitz und Vincke der äußersten Rechten, der erbkaiserlichen Partei, an. Als aber die Beschlüsse der Versammlung zu einseitigem Vorgehen seiner Ueberzeugung, daß nur durch Vereinbarung mit den Regierungen das deutsche Verfassungswerk ins Leben treten könne, zuwiderliefen, [431] legte S. am 3. Mai 1849 sein Mandat, nieder. Doch hatte er in der Frühjahrssession des preußischen Abgeordnetenhauses, April 1849 den Antrag gestellt, dem Könige die Annahme der Kaiserwürde zu empfehlen, was namentlich Bismarck zurückwies. – In ununterbrochener Folge, bis zu seinem Tode, 1872, war S. Mitglied der preußischen zweiten Kammer, und zwar für den ersten Stettiner Wahlkreis (Demmin, Anklam, Usedom-Wollin, Ueckermünde); nur für die Session 1866/67 hatte er ein Mandat vom fünften Kölner Wahlkreise (Gummersbach-Waldbroel) übernommen. Sieben Mal wurde er zum Präsidenten gewählt, 1849–55 und 1859, und „seine Umsicht, Unparteilichkeit und musterhafter Takt“ erwarben ihm ungetheilte Anerkennung. In der „Landraths-Kammer“ von 1856 unterlag S. freilich bei der Präsidentenwahl (gegen Graf Eulenburg), und war nun der Führer der nur 36 Mitglieder zählenden Liberalen. Diese Periode ist wohl als die parlamentarische Glanzzeit Schwerin’s zu bezeichnen, wo er, der vornehme, unabhängige, nur durch seine „Ideen“ doch gebundene, freigesinnte Mann recht eigentlich zum Manne des Volkes wurde. Die Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Anklam (1859), zum Ehrendoctor der Universität Greifswald (1856), zum Stadtrathe von Berlin, sind äußere Zeichen davon. S. gibt über diese seine Thätigkeit und seine Anschauungen überhaupt ausführliche Auskunft in seiner einzigen Druckschrift: „An seine Wähler, von Graf Schwerin-Putzar“, die als Wahlprogramm für 1858 erschien. Positive Ergebnisse konnte er freilich nicht verzeichnen. Doch hat sein energischer Protest gegen die Mißbräuche bei den Wahlen – war doch S. selbst von dem Landrathe v. Oertzen als ein für Thron und Vaterland gefährlicher Mann den Wählern gekennzeichnet worden – seinen Eindruck nicht verfehlt. Uebrigens ging Schwerin’s ideale Anschauung keineswegs so weit, die Einwirkung der Regierung auf die Wahlen ganz zu verwerfen; er sagte später einmal (3. März 1865): „Die Regierung habe das Recht und gewißermaßen die Pflicht, darauf aufmerksam zu machen, nach welchen Grundsätzen sie gewählt wissen wolle“. Besonders betont S. in jener Schrift die Selbständigkeit seines Verhaltens gegenüber von Parteiprogrammen, und die Freiheit von principieller Opposition: er habe die Regierung stets unterstützt, wo es sich um die materielle Entwicklung des Landes gehandelt habe. – Im J. 1859 ward S. wieder Präsident der unter der Regentschaft des Prinzen von Preußen gewählten neuen Kammer. Unter dem Eindrucke des italienischen Krieges schloß er am 14. Mai 1859 die Sitzungen mit einer schwungvollen Apostrophe an die Vaterlandsliebe der Abgeordneten, „wenn der Augenblick gekommen sein sollte, wo das Schwert gezogen werden muß“. Bald darauf, am 3. Juli 1859, berief ihn der Prinzregent als Minister des Inneren in das Ministerium der „Neuen Aera“.

Unter den für seine constitutionelle Ueberzeugung günstigsten Bedingungen trat S. sein Amt an. Dem Ministerium stand eine stattliche liberale Majorität im Abgeordnetenhause zur Seite, welche freilich für den Ausbau der Verfassung im liberalen Sinne die übertriebensten Erwartungen hegte. Diese waren aber, auch wenn das Ministerium ihr zu Willen gewesen wäre, nicht so bald durchzuführen. Zu der Opposition des Herrenhauses und den einflußreichen Factoren am Hofe trat der mehr passive Widerstand des Beamtenthums, welches zum größten Theile mit dem alten System verwachsen war. Dieses Hemmniß etwa durch Maßregelungen zu brechen, dafür war allerdings ein Schwerin nicht zu haben. S. hat späterhin in den Kammerverhandlungen öfters Gelegenheit genommen, sich über seine ministerielle Thätigkeit und deren Scheitern auszusprechen. Nur daß er die Frictionen erst in einer späteren Epoche sah, die in der That von vorn herein vorhanden waren. Das Ideal Schwerin’s und seiner liberalen Collegen war unzweifelhaft eine constitutionell-parlamentarische Regierung; und damit trat er in grundsätzlichen [432] Gegensatz zu seinem königlichen Herrn, mit dessen Grundsätzen übereinzustimmen auch S. für einen preußischen Minister als unerläßlich anerkannt hat. Dieser Gegensatz trat zuerst scharf hervor bei der Huldigungsfrage, und ein Conflict wurde nur dadurch vermieden, daß der König die Krönung wählte. S. arbeitete Gesetzesvorschläge aus über die Ministerverantwortlichkeit, über die Stellung des Abgeordnetenhauses zur Oberrechnungskammer, die Reform des Herrenhauses, eine liberale Kreisordnung, die er wohl „für ebenso erwünscht, wie erwartet“ erklärte, die aber die Billigung des Königs nicht fanden. Betreffs der wichtigsten Frage, der Armeereorganisation, jedoch hat S. wiederholt betont, daß er von der Nothwendigkeit derselben nicht nur aus militärischen Gründen, sondern auch um des allgemeinen Wohles des Landes willen, durchdrungen sei, sie „principiell für ein gutes Werk erachte“. Das Ministerium aber begab sich des Vortheils, den ihm die Majorität der zweiten Kammer für die sofortige gesetzliche Durchführung gewährte, und begnügte sich, wohl aus Mangel an politischer Erfahrung, mit der provisorischen Bewilligung, womit seine Stellung nach oben nicht gewann. Und nun ergaben, nachdem die günstige Periode versäumt war, die Neuwahlen zu Ende 1861 eine erhebliche Mehrheit für die Fortschrittspartei, deren Kern sich zu Beginn dieses Jahres als „Unzufriedene“ von den Altliberalen losgelöst hatte. Damit war die Sprengung der Partei des Ministeriums gegeben, und dieses selbst vor die Frage seiner Existenz gestellt. S. hat später gesagt (16. März 1865), er habe noch die Ueberzeugung gehegt, auch in dieser Kammer die Zustimmung zu erlangen, und so auf gesetzmäßigem Boden zu bleiben. Aber diese Zustimmung gedachte er nicht zu theuer zu erkaufen mit dem Zugeständnisse der Abkürzung der Präsenzzeit bei den Fahnen u. a. Daß er hierbei wiederum in unvereinbaren Gegensatz zu den militärischen Ueberzeugungen des Königs stehen mußte, scheint sich S. rechtzeitig nicht klar gemacht zu haben. Da nun der König, trotz der Spaltung des Ministeriums – S. stand mit Auerswald, Patow, Vernuth in schroffem Gegensatze zu Roon, dem sich v. d. Heydt anschloß – sich zu dem Entschlusse, die liberalen Minister zu entlassen, nur sehr schwer überwand, in der Voraussicht, daß dieser Wechsel den drohenden Conflict mit dem Abgeordnetenhause zu vollem Ausbruche bringen werde, so ward es diesen parlamentarischen Ministern beschieden, auch parlamentarisch zu fallen. In der Annahme des Hagen’schen Antrags (3. März 1862) auf größere Specialisirung des Etats erblickten S. und seine liberalen Collegen ein Mißtrauensvotum, dem ihr Entlassungsgesuch folgte. Der König lehnte zwar die Annahme desselben aus diesem Grunde ab und befahl die Auflösung der Kammer (11. März 1862). Als aber S., um seine eigenen Worte zu gebrauchen, „mit aller Präcision und Bestimmtheit“ dem Könige „die Voraussetzungen“ – eben die liberalen Concessionen – nannte, „unter deren Festhaltung er nach seinen Antecedentien und seiner Auffassung der Verfassung allein mit Erfolg die Regierung fortzuführen vermöchte“ – d. h. auf eine zweite Kammer rechnen könnte, die ihm größeres Vertrauen entgegen brächte –, da konnte der König diesen Grundsätzen seine Zustimmung nicht gewähren, und das Entlassungsgesuch wurde angenommen (17. März 1862). Die „liberale Aera“ hatte ihr Ende erreicht. Als positive Leistung Schwerin’s während derselben ist allein die Grundsteuerregulirung, in liberalem Sinne, zu verzeichnen; was seine Stellung zur auswärtigen Politik anlangt, so hatte er, in großdeutschem Sinne, „nicht Einheit, sondern Einigkeit“ für Deutschlands Heil erklärt, und den Gedanken an ein deutsches Parlament als verderblich für Preußen verworfen. – Hält man fest, daß S. die Reform als nothwendig erkannte, so wird man das Wort, das ihm Wagener einmal zurief (16. März 1865): „das liberale Ministerium sei vor dem Conflict davon gelaufen“, kaum zu hart finden. S. [433] war eben gebunden in seiner Doctrin von dem Budgetrecht der zweiten Kammer, und fand so keine positive Lösung in dem Zwiespalte zwischen dem, was er für das „Recht“ ansah, und dem, was dem Staate frommte. Damit war auch die Stellung gegeben, welche er nun wieder als Abgeordneter einnahm. Die altliberale Partei war mit dem liberalen Ministerium ganz verschwunden. S. schloß sich mit Auerswald und Patow der neugebildeten „constitutionellen Fraction“ unter Vincke an, die nur 24 Mitglieder zählte. Es konnte nicht ausbleiben, daß er hier mit dem neuen Ministerpräsidenten, Bismarck, zusammenstieß, der die schwebenden Fragen auf dem entgegengesetzten Wege zu lösen entschlossen war. Am 27. Januar 1863 war es, daß Bismarck die Situation mit vollster Klarheit kennzeichnete: „das constitutionelle Leben ist eine Reihe von Compromissen; werden diese vereitelt, so entstehen Conflicte; Conflicte aber sind Machtfragen, und wer die Macht in Händen hat, geht dann in seinem Sinne vor.“ Da hielt ihm S., unter lautestem Beifalle, vor, seine Rede habe culminirt in dem Satze „Macht geht vor Recht“; der Satz aber, auf dem die Größe Preußens beruhe, laute vielmehr „Recht geht vor Macht“. So auf der Hand liegend Schwerin’s Mißverständniß der Worte Bismarck’s ist – denn da hätte dieser ja dem Abgeordnetenhause allein das „Recht“ zugesprochen, um der Regierung die „Macht“ allein zuzuweisen – und wie entschieden auch Bismarck sofort und später diese Auslegung zurückwies, so ist doch Schwerin’s Wort für die Auffassung Europas, wie Bismarck selbst einmal sagt (13. März 1869), auf lange Zeit bestimmend gewesen. Daß S. hierbei das Ministerium „mehr scharf als zutreffend“ angegriffen hat, hatte Bismarck wohl Recht, ihm vorzuwerfen. Gern aber wird man anerkennen, daß das hohe Rechtsgefühl, welches S. hier verführte, andrerseits seine Unabhängigkeit auch den eignen Parteigenossen gegenüber wach hielt. Mit Entschiedenheit mißbilligt er die Art der Angriffe gegen die Person der Minister, tadelt er (2. December 1863) Virchow’s „ewige Nörgeleien mit dem Ministerium“, warnt er vor dem Erlaß einer Adresse an den König, „weil sie in ihrer Form verfehlt, nicht ehrerbietig genug gegen die Krone und in ihrem Inhalte nicht überall begründet“ sei (27. Januar 1863), und vor einer anderen, „die sich als Beschwerdeschrift des Hauses über das Ministerium bei der Krone charakterisire“ (22. Mai 1863), oder hält er der Opposition vor, daß „der Gebrauch, den dieses Haus von einem verfassungsmäßigen Rechte gemacht habe, vielfach von der Art gewesen sei, daß die Interessen des Landes dadurch nicht gefördert würden“. – Daß Schwerin’s Blick in der auswärtigen Politik eben auch nicht weiter reichte, als fast aller seiner Zeitgenossen, darf man ihm kaum zum Vorwurf machen. Mit großer Emphase erklärte er am 22. Januar 1864: „Nur die Lossagung vom Londoner Protokoll und die Anerkennung der Rechte des Herzogs Friedrich von Schleswig-Holstein ist eine Lösung der Frage, welche den Interessen Preußens und der Ehre Deutschlands entspricht“; dies sei das einzig richtige Programm, „weil es das ehrlichste, festeste, wahrste ist, und daher am meisten die Bedingung des Gelingens in sich schließt“. Mit Sorge sieht er Preußen hier im Schlepptau des Wiener Cabinets. Denn seine preußische Gesinnung leuchtet überall hindurch, und Bismarck selbst gab ihm das Zeugniß, daß er ein guter Preuße sei, in seinem Herzen sogar ein monarchischer Preuße; nur daß man von ihm sagen müsse, was Goethe von Dr. Faust dem König der Könige gegenüber gesagt werden läßt: „Fürwahr, er dient Euch auf besondere Weise“. Und wenn hier S. den Anlaß fand, „die tiefste Differenz zu bezeichnen, die ihn und Bismarck trenne, und die in dessen Grundsatz beruhe, daß in der Politik nichts gelten könne und dürfe, als die subjective Anschauung der Vertreter solcher Politik in den Cabineten, während [434] nach seiner, Schwerin’s, Ueberzeugung jede Regierung verloren sei, die nicht im Stande wäre, die nationale Bewegung zu benutzen und zu leiten, so gab ihm das Jahr 1866 die Antwort, die diesen Zwiespalt schloß. Mit schönster Aufrichtigkeit und Wärme erklärte S. (25. Septbr. 1866), daß er sich geirrt habe: „Wir wollen die Regierung unterstützen mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln in der Verfolgung der Ziele, die Einheit Deutschlands und die Macht Preußens innerhalb des geeinigten Deutschlands zu kräftigen und zu stärken. Wir haben zu dem Herrn Ministerpräsidenten das Vertrauen, daß er diese Politik durchführen kann und will, und das spreche ich gern aus: Ich habe 1862 ausdrücklich hervorgehoben, sobald ich mich überzeugte, daß meine Anschauung der Dinge nicht die richtige sein werde, so würde ich der erste sein, dem Herrn Ministerpräsidenten eine Anerkennung auszudrücken. Ich halte nun den Augenblick für geeignet, diese Anerkennung hiermit öffentlich auszusprechen.“ – Von 1867 an gehörte S. im Abgeordnetenhause und im Norddeutschen Reichstage zur nationalliberalen Partei, ohne aber seine Selbständigkeit aufzugeben: „dem persönlichen Vertrauen wolle er seine Wahl danken, nicht dem Beitritte zu einer bestimmten Partei oder zu einem formulirten Programm,“ erklärte er 1869 seinen Wählern. – Aus seiner Initiative ging 1869 die Einrichtung des „Schwerinstages“ hervor, die Festsetzung eines bestimmten Wochentages (Mittwoch) zur Prüfung der Petitionen und der Anträge von Mitgliedern des Hauses „analog der Geschäftsordnung, die im englischen Parlament herrscht“, um zu verhindern, daß dieselben durch die „Tagesordnung“ bei Seite geschoben werden. – Noch einmal ließ sich S. von einer Rechtsdoctrin hinreißen; indem er, am 25. November 1869, die Regierung wegen der Celler Denkmalsangelegenheit interpellirte, erhob er gegen dieselbe, trotz sehr unvollkommener Information, die sich auf den Abgeordneten Windthorst-Meppen stützte. den Vorwurf, sie habe hier „Gewalt vor Recht“ gesetzt; natürlich unter dem Beifall der Linken. Worauf ihn Roon zurückwies: „es sei leicht, unter dem Beifall des Hauses zu sprechen, wenn man gewisse Schlagwörter, gewisse beliebte Phrasen wiederhole“. „Politisch“ war diese Interpellation gewiß nicht; Bismarck schrieb darüber: „Wir haben so viel ernste Schwierigkeiten auf dem Halse, und blasen uns eine solche Laus zum Scorpion auf“, wenn jeder der Abgeordneten mit seinem Rechtsboden durch die Wand wolle, ohne zu ermitteln, was dabei aus dem Staate würde. – Nicht lange darauf aber bewies S., daß er keineswegs zu den „Unbelehrbaren“ gehörte. Im Mai 1870, fast das letzte Mal, daß er das Wort nahm, verbreitete er sich über „politische Consequenz“. S. hatte bei der ersten Lesung, seiner theoretischen Ueberzeugung gemäß, gegen die Todesstrafe gestimmt. Als aber das Zustandekommen des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund an dieser Frage hing, änderte er sein Votum: „Ich glaube nicht, daß es die richtige Consequenz eines politischen Mannes ist, zu sagen: weil ich einmal so gesagt habe, muß ich das andere Mal auch so sagen, sondern ich frage mich in jedem Augenblicke: was liegt nach der Beschaffenheit der vorliegenden Verhältnisse im Interesse meines deutschen Vaterlandes. – – – Wenn ich heute eine praktische Frage zu entscheiden habe, so kann ich anders stimmen, als zu dem Zeitpunkt, wo es sich um eine große Principienfrage handelte.“ – Auch dem Zollparlamente gehörte S. an, ohne dort hervorzutreten. So war er mit allen Phasen des parlamentarischen Lebens aufs engste verknüpft, als ihn schweres Leiden seiner Thätigkeit entzog. Den jüngeren seiner beiden Söhne, der mit 30 Jahren Viceconsul in Constantinopel war, traf als Reserveofficier im 2. Garderegiment zu Fuß vor St. Privat die tödtliche Kugel: diesen Schlag hat der Vater nicht verwunden. Zwar ward er noch für 1871/72 von seinem alten Wahlkreise für das Abgeordnetenhaus gewählt, doch war er seit dem Herbst [435] 1870 erkrankt. Auf seinem Krankenlager, im Hause seines Schwiegersohns, des Grafen Kanitz, in Potsdam, empfing er im April 1872 die Reichstagsdeputation, welche ihn als den letzten Koryphäen des Vereinigten Landtags, seit welchem nun 1/4 Jahrhundert verflossen, feierlich begrüßte. Wenige Wochen darauf, am 3. Mai 1872, starb er. Der Leichenfeier in Potsdam wohnte der Kronprinz des Deutschen Reiches bei. In Putzar ward er beigesetzt.

Mit Recht rühmt die für S. vom Abgeordnetenhause gestiftete silberne Ehrensäule: Preußens Ehre habe sein Streben und sein Walten gegolten. Aber gewiß ist, daß er als Staatsmann große Leistungen nicht aufzuweisen hat, ein ernstes Beispiel, daß der redlichste Wille, die größte Uneigennützigkeit, wahrhaft vornehme Gesinnung, doch nicht ausreichen für die sehr realen Anforderungen der Staatsleitung. Jedoch: „Regierung ist nicht die einzige Function im Leben des Staates.“ S. ward zwei Mal Minister, weil er Parlamentarier war; er scheiterte beide Male, eben weil er es war. In seiner eigentlichen Sphäre, dem parlamentarischen Leben, kann man ihm eine typische Bedeutung beimessen; den „Rechtsbiedermann“ hat man ihn wohl genannt. Sein Aeußeres, das ehrliche, biedere Gesicht, die breite gedrungene Gestalt, die ungezwungene, fast ungenirte Haltung, trug den Stempel der Offenheit, Zuverlässigkeit, und der auf das sittliche Bewußtsein gegründeten Festigkeit.

S. selbst wollte nur den Nachruf haben: „immer ein ehrlicher Kerl gewesen zu sein, der es mit König und Vaterland immer gut gemeint, der wohl mannichfach gefehlt, aber immer wieder eingelenkt habe“. Das Vaterland wird stets Männer von Nöthen haben, die wie S. den Muth haben, unabhängig nach oben wie nach unten, ihrer Ueberzeugung Ausdruck zu geben, wenn er verbunden ist mit dem höheren Muthe, begangene Irrthümer frei einzugestehen.

Allgemeine Geschichte des Geschlechts von Schwerin. Berlin 1878. – Verhandlungen der Evangelischen Generalsynode zu Berlin. Berlin 1846. – R. Haym, Reden und Redner des 1. Vereinigten Preußischen Landtages. Berlin 1847. – K. Biedermann, Geschichte des 1. Preußischen Reichstags. Berlin 1847. – Ferd. Fischer, Geschichte der Preußischen Kammern vom 26. Februar bis 27. April 1849. Berlin 1849. – Stenographische Berichte des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Norddeutschen Reichstags. – Unsere Zeit, 1859. – Im Neuen Reich, 1872, 1. Bd. – Nekrolog in der Spenerschen Zeitung vom 5. Mai 1872. – Schmidt-Weißenfels, Preußische Landtagsmänner. Breslau 1862.