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Artikel „Waldeck, Benedikt“ von Alfred Stern in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 668–675, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Waldeck,_Benedikt&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 11:51 Uhr UTC)
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Waldeck: Benedikt Franz Leo W., geboren am 31. Juli 1802 in Münster, † am 12. Mai 1870 in Berlin. Sein Vater, früher Professor an der Akademie in Münster, dann Director der Gewerbeschule daselbst, von seinen Mitbürgern hochgeachtet, ließ ihm eine vortreffliche Erziehung zu theil werden. Frühreif bezog W. 1817 die heimathliche Akademie, 1819 die Universität [669] Göttingen, wo er dem juristischen Studium oblag. Sein freiheitlicher Sinn, genährt durch die tiefen Eindrücke der hoffnungsvollen Jahre 1813–15, sprach sich gelegentlich in glühenden Versen aus. Er offenbarte ihn auch mit weithin leuchtendem Glanz in den amtlichen Stellungen, die er, auf der Staffel des Staatsdienstes aufrückend, einnahm. Nachdem er 1822–1828 Auscultator und Referendar in Münster gewesen war, wurde er Oberlandesgerichtsassessor in Halberstadt, danach in Paderborn, 1832 Director des Land- und Stadtgerichts zu Vlotho, 1836 Oberlandesgerichtsrath zu Hamm. Die Lauterkeit seines Charakters, der hohe Ernst, den er den Aufgaben seines Berufes entgegenbrachte, das unausgesetzte Streben für Beschützung oder Erweiterung der Rechtsgleichheit gewannen ihm, wohin er kam, die Herzen des Volkes, ohne daß er, eher zurückhaltend und vornehm, jemals um seine Gunst gebuhlt hätte. Als Richter wie als Schriftsteller, in einer tiefeingreifenden Arbeit „Ueber das bürgerliche Erbfolgegesetz für die Provinz Westfalen“ (1841), die den Grundsatz der Theilbarkeit des Grundeigenthums in Schutz nahm, verdiente er sich den Namen des „Bauernkönigs“. Die Bürger von Hamm wählten ihn in die Stadtverordnetenversammlung, und er vertrat die Stadt bei den Kreisständen. In einer Abhandlung „Ueber die Art des Votirens bei Erlassung der Erkenntnisse“, die 1841 im Arnsberger Archiv erschien, betonte er die Unabhängigkeit des Richterstandes. Vor einer Versammlung westfälischer Juristen, die er zur Jubelfeier der Einführung des öffentlichen und mündlichen Verfahrens 1843 in Soest veranstaltete, sprach er mit Nachdruck über herrschende Mängel des Justizwesens, gegen Patrimonialgerichte, eximirten Gerichtsstand u. s. w. Eine Rüge seiner Vorgesetzten blieb nicht aus. Doch wurde er 1844 als Hülfsarbeiter an das Obertribuual nach Berlin berufen und dadurch von der heimischen rothen Erde entfernt, in der er, auch als Katholik, aufs tiefste wurzelte, 1846 zum wirklichen Mitgliede des höchsten Gerichtshofes der Monarchie ernannt.

Das Jahr 1848 führte ihn auf die große politische Bühne. Er erschien als Vertreter eines Berliner Bezirkes, zugleich vier Mal durch das Vertrauen der Wähler seiner Provinz geehrt, in der Nationalversammlung. Vor seinen Berliner Wählern hatte er sein Programm entwickelt. Es war, um ein Schlagwort zu gebrauchen, welches zur Zeit der französischen Constituante aufkam, das der demokratischen Monarchie. Für diese wollte er auch nur eine einzige parlamentarische Vertretung, als kräftigste „Stütze der nationalen Regierung“ gelten lassen und verwarf mit Entschiedenheit das Zweikammersystem für Preußen. Wenn er hiermit von dem so häufig heraufbeschworenen englischen Vorbild abwich, betonte er um so nachdrücklicher: „Englands hohe Achtung vor der Preßfreiheit und dem Versammlungsrecht ist der bei weitem anerkennungswertheste Theil des britischen politischen Lebens; dieser, nicht eine Schar absterbender Mißbräuche, welche man so oft als das eigentlich Vorzügliche preisen hörte, wäre für unsere neue Aera zur Nachahmung zu empfehlen. … Diese und die noch sonst unerläßlichen Fundamentalrechte sind in der Constitution bündig auszusprechen und zu garantiren. Noch besteht aber eine Menge Gesetze und Einrichtungen, welche mit diesen Rechten durchaus nicht im Einklange sich befinden, in unsern Civil- und Strafgesetzen, in der Agrar-Gesetzgebung, der Gemeinde-Verfassung u. s. w. Die Aufhebung solcher Gesetze, die anderweitige Organisirung der dadurch berührten Zustände kann nicht aufgeschoben werden bis zu dem Zeitpunkte einer ganz neuen preußischen oder deutschen Gesetzgebung, sie bildet vielmehr einen Bestandtheil des Werkes der Constituirung; sonst würde man eine hohle Form schaffen, ein Kleid für einen nicht dazu passenden Leib“.

In der Nationalversammlung wurde er der anerkannte Führer der entschiedenen Linken. Vom glühenden Wunsch beseelt, auf den Trümmern der alten [670] geschichtlichen Mächte, des Feudalismus und der Bureaukratie, den reinen Rechtsstaat in Preußen zu errichten, kraftvoll und in sich gefestigt, als Redner, wenn auch selten glänzend oder geistreich, doch durch Schärfe, Klarheit und sittlichen Adel von außerordentlicher Wirkung, war er für diese Stelle wie geschaffen und füllte sie, nur die Sache nie seine Person vor Augen, mit Ehren aus. Vor manchen anderen radicalen Genossen hatte er den Vortheil, an dem Leben des Landvolkes unter den kernhaften Bauern des Münsterlandes und an der communalen Selbstverwaltung thätigen Antheil genommen zu haben. Daher ihm nichts wichtiger erschien, als in freier Gemeindeverfassung den Unterbau für ein wahrhaft constitutionelles Staatswesen zu sichern. Auch in seiner äußeren Erscheinung war etwas Imponirendes, lange schon ehe Verfolgungen, Alter und Krankheit sein dichtes Haar gebleicht hatten. „Die große Gestalt, so schildert ihn ein Mitlebender, das sicher blickende tiefblaue Auge, die durchgearbeitete Physiognomie mit den großen Zügen mochten an jene westfälische Bauerngestalt Immermann’s erinnern, von welcher der Dichter sagt, daß sie eine compacte Mischung von Schlauheit und Ehrwürdigkeit, von Vernunft und Eigensinn bezeichne.“ Einen ersten bedeutenden Erfolg hatte er, als am 15. Juni 1848 der Antrag zur Annahme gelangte, durch eine Commission von 24 Mitgliedern den Verfassungsentwurf der Regierung unter Berücksichtigung aller darauf bezüglichen Petitionen und Anträge zu berathen, eventuell umarbeiten oder einen neuen Entwurf ausarbeiten zu lassen. Er selbst erhielt den Vorsitz dieser Commission und entfaltete, indem er noch die Abfassung der „Grundrechte“ als seinen besonderen Antheil übernahm, eine rastlose Thätigkeit. Es ist ihm, auch von politisch näher Stehenden, der Vorwurf nicht erspart worden, daß er sich im Vertrauen auf die revolutionäre Kraft die Dinge zu leicht gedacht, zu viel auf einmal erstrebt und durch Vorliebe für abstracte Sätze alle feindlichen Mächte zur Wuth aufgestachelt habe. So viel ist gewiß: sein Einfluß auf die Herstellung der Verfassungsurkunde war so groß, daß man sich lobend wie tadelnd gewöhnte, dieselbe als „Charte Waldeck“ zu bezeichnen. Daneben bethätigte er seine Kraft bei der Vorbereitung oder Vertheidigung der Gesetze über die Beseitigung noch bestehender bäuerlicher Lasten, die unentgeltliche Aufhebung von Laudemien, Jagdrecht, Zehnten, das Aufhören der Grundsteuerbefreiungen, den Schutz der persönlichen Freiheit u. a. Besonders eng mit seinem Namen verknüpft ist der radicale Entwurf einer Gemeinde-, Kreis- und Bezirksordnung, der von der Linken der Versammlung unterbreitet wurde, ohne jemals praktische Bedeutung zu erlangen.

An den stürmischen Debatten, welche beim Drohen der Gegenrevolution und bei fortdauernder Gährung in der Hauptstadt, die gesetzgeberische Arbeit beständig unterbrachen, nahm W. hervorragenden Antheil. Er forderte energisch die Ausführung des Beschlusses vom 9. August, den der Stein’sche Antrag nach den tragischen Schweidnitzer Ereignissen hervorgerufen hatte: die Officiere durch einen Erlaß des Kriegsministers anzuweisen, allen reactionären Bestrebungen fern zu bleiben. Er erhob seine Stimme mit Leidenschaft gegen die Verhängung des Belagerungszustandes in Köln. Nach dem Rücktritt Grabow’s am 26. October, als die Leitung der Versammlung in H. v. Unruh’s Hände überging, wurde W. zum Vicepräsidenten gewählt. Von ihm rührte der am 31. October unter größter Erregung verhandelte Antrag, „das Staatsministerium aufzufordern, zum Schutz der in Wien gefährdeten Volksfreiheit alle dem Staate zu Gebote stehenden Mittel und Kräfte schleunigst aufzubieten.“ Er drang nach Ernennung des Grafen Brandenburg zum Ministerpräsidenten, mit Jacoby, Temme u. A. wiewol vergeblich, auf sofortige Wahl einer Commission, welche „die bedenkliche Lage des Landes in Berathung nehmen und darauf bezügliche, geeignete Vorschläge [671] innerhalb der Competenz der Nationalversammlung zu machen hätte“. Als sich nach der Vertagung der Versammlung, der die Mehrheit nicht Folge leistete, dem Einmarsch Wrangel’s, der Auflösung der Bürgerwehr, der Verhängung des Belagerungszustandes die Dinge zum äußersten zuspitzten, stand W. in der vordersten Reihe derer, die bis zuletzt passiven Widerstand leisteten. Er war mit ganzem Herzen für den am 15. November im Mielenz’schen Saale von Schulze-Delitzsch gestellten Antrag einer Erklärung, daß das Ministerium Brandenburg nicht berechtigt sei, Steuern zu erheben oder zu verwenden, solange die Nationalversammlung nicht ungestört in Berlin ihre Berathungen fortsetzen könne. Dem Major Herwarth von Bittenfeld, der Räumung des Saales forderte, soll er zugerufen haben: „Holen Sie Ihre Bajonette und stechen Sie uns nieder! Ein Landesverräther, der diesen Saal verläßt.“ Nachdem sich der Major für kurze Zeit entfernt hatte und Schulze’s Antrag angenommen war, wurde die Sitzung geschlossen.

Nach Brandenburg, wohin das Ministerium die Versammlung berufen hatte, ging W. nicht. Die octroyirte Verfassung vom 5. December 1848, wie viele Uebereinstimmungen mit der „Charte Waldeck“ sie auch aufwies, betrachtete er als eine der Prüfung bedürftige Vorlage. In dieser Gesinnung trat er, 1849 mehrfach gewählt, in die zweite preußische Kammer ein. Seine Volksthümlichkeit war noch gewachsen, da inzwischen bekannt geworden war, daß er der Zumuthung des Obertribunales, aus dem Collegium auszuscheiden, mit Entrüstung widersprochen hatte. „Zwanzigjähriges Wirken, sagte er in seiner an den Präsidenten gerichteten Erwiderung, hat über die Kreise desselben hinaus, dem Lande meine Unparteilichkeit, meine Gewissenhaftigkeit als Richter erprobt. Der höchste Gerichtshof hat wahrlich nicht den leisesten Grund zu der Besorgniß, meine Mitwirkung könne der Vermuthung Raum geben, daß Recht und Gerechtigkeit werde gefährdet werden. – Aber von der anderen Seite droht dem Lande die ernstliche Gefahr, wenn die Gerichtshöfe sich, uneingedenk ihres durch die Begrenzung würdigen Kreises, in die Arena der politischen Bestrebungen einlassen, wenn sie die Nichtübereinstimmung der Ansichten, wenn sie den entschlossenen Widerstand eines Volksvertreters gegen das jeweilige constitutionelle Ministerium als Grund der Entfernung aus dem Amte betrachten wollen! Welche maßlose Servilität, welcher stete Wechsel der Richter, welche gänzliche Entwürdigung des Ansehens derselben würde dann die Folge sein“.

In der zweiten Kammer begründete W. zunächst den Antrag auf sofortige Aufhebung des Belagerungszustandes in Berlin. Dann entwickelte er in der Adreßdebatte die Ansicht der entschiedenen Linken, welche die Rechtsbeständigkeit der octroyirten Verfassung leugnete, und rief den Gegnern das bittere Wort zu: „Ruere in servitium.“ Bald drängte die deutsche Frage die rein preußischen Angelegenheiten zurück. Nach Friedrich Wilhelm’s IV. Ablehnung der im Frankfurter Parlament auf Grund der Reichsverfassung ihm angetragenen Kaiserkrone sprach sich die äußerste Linke am 5. April 1849 durch Waldeck’s Mund gegen den Erlaß einer neuen Adresse aus. Er suchte in einer für ihn besonders charakteristischen Rede zu beweisen, daß die deutsche Frage nur durch einen „Volkskaiser“ gelöst werden könne, der gewillt sei, „die Forderungen der Freiheit zu erfüllen, welche die deutschen Volksstämme im März blutig erkämpft haben“ und nahm die Gelegenheit wahr, sie einzeln aufzuzählen. „Das Volk will erlöst sein von dem grauenhaften Druck der Bureaukratie, welcher auf ihm lastet. Es will seine eigenen Angelegenheiten selbst regieren. Es will in der Gemeindeverwaltung zur Selbstthätigkeit gelangen, die seine Mündigkeit fordert. Es verabscheut den Druck auf Schrift, Rede und Versammlung, und es ist ihm ganz gleichgültig, ob dieser Druck ausgeübt wird durch Karlsbader Beschlüsse, durch [672] Gesetze, durch Belagerungszustand oder durch octroyirte Verfassungen. Das Volk will ein Heer haben, aber nicht ein Heer, wo seine Jünglinge in der schönsten Blüthe des Lebens Jahre lang dem Gewerbe entzogen werden, nicht um sie in den Waffen zu üben, sondern – wie wir neulich von dem Kriegsminister selbst gehört haben – um ihnen den Geist einzufuchteln, den Geist der Schießmaschine, der bestimmt ist, gegen den Volkswillen gerichtet zu werden“ u. s. w. Am 26. April wurde der Antrag wegen Aufhebung des Belagerungszustandes in Berlin nach mehrmaliger Vertheidigung durch W. mit einem Amendement von Unruh’s angenommen. Die Antwort der Regierung war am Tag darauf die Auflösung der zweiten Kammer, sodann die Verschärfung des Belagerungszustandes. Schon während der letzten Debatten hatte der Minister des Innern v. Manteuffel auf angebliche Enthüllungen hingewiesen, die u. a. Waldeck’s Verhalten im November 1848 als strafbar erscheinen lassen sollten. Es war das Vorspiel zu seiner am 16. Mai 1849 stattfindenden Verhaftung und zu dem berüchtigten Proceß, der einen der dunkelsten Flecken in der an solchen überreichen Geschichte der preußischen Reaction bildet. W. wurde der Mitschuld an einem „hochverrätherischen Unternehmen bezichtigt“, welches „die Herstellung einer einigen, untheilbaren, socialdemokratischen Republik in Deutschland“ zum Zweck gehabt hätte. Die Absicht, ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen, konnte mangels fehlender Anklagematerialien, die man bei der Durchsuchung seiner Papiere zu finden gehofft hatte, nicht verwirklicht werden. Da aber seine Verhaftung im Volke die größte Aufregung hervorgerufen hatte, so blieb nichts übrig, als den Gefangenen vor das Geschworenengericht zu stellen. Es geschah erst nach mehr als einem halben Jahre auf Grund gefälschter Briefe und erlogener Zeugnisse (besonders des zum Schein mitangeklagten Ladendieners und Spiones Ohm) auf die Anklage, „von einem hochverrätherischen Unternehmen Wissenschaft erhalten, es aber unterlassen zu haben, der Obrigkeit Anzeige zu machen“. Die Gerichtsverhandlung vom 28. Nov. bis 3. Dec. 1849 entlarvte, wie der Staatsanwalt erklärte, die Grundlage der Anklage als „ein Bubenstück“, ersonnen, „um einen Mann zu verderben“. Der bloßgestellte und um so trotziger auftretende Polizeipräsident v. Hinckeldey mußte sich vom würdigen Vorsitzenden Taddel sein „unschickliches Benehmen“ vorhalten lassen. Man begreift, daß Leopold v. Gerlach (Denkwürdigkeiten I, 385) „das Benehmen des Gerichts“ als „abscheulich“ bezeichnete. W. aber konnte sich nach seiner Freilassung einer stürmischen Huldigung der Volksmassen, die ihm die Pferde ausspannten und jubelnd am Schloß vorbeizogen, kaum entreißen. Eine ganze Litteratur (großentheils verzeichnet in Paul Neubner’s Antiquariats-Katalog Nr. 37, Köln) schloß sich an Waldeck’s Haft und Proceß. Er stand damals auf der Höhe seines Ruhmes.

Inzwischen war durch einen Act königlicher Willkür das verfassungsmäßig bestehende Wahlgesetz abgeändert und das Dreiclassenwahlgesetz mit Beseitigung der geheimen Stimmabgabe oktroyirt worden. Die demokratische Partei hatte daraufhin beschlossen, sich der Theilnahme an den Wahlen zu enthalten. Auch W. trat für lange Zeit vom politischen Schauplatz zurück. Nur aus der Ferne verfolgte er grollend das Wirken der Reaction, der es gelang, die Verfassung gründlich zu durchlöchern und jenen Scheinconstitutionalismus in Preußen herzustellen, dem er hatte entgegenarbeiten wollen. Sein richterlicher Beruf nahm ihn vorwiegend in Anspruch. Auch entstammte seiner Feder die geschätzte Abhandlung „über die Nichtigkeitsbeschwerde als alleiniges Rechtsmittel höchster Instanz mit besonderer Beziehung auf die preußische Proceßgesetzgebung“ (Berlin 1861). Erst als mit der Regentschaft des Prinzen von Preußen das Ende der Reaction anbrach, wurde für Männer wie W. die Hoffnung wieder geweckt, für gedeihliche parlamentarische Mitarbeit Raum zu gewinnen. [673] In der Session des Landtags, die 1861 nach Friedrich Wilhelm’s IV. Tode eröffnet wurde, erschien er wieder als Vertreter von Bielefeld. Er zeigte sich als der Alte, insoferne er, wo immer sich die Gelegenheit bot, für Herstellung der Rechtsgleichheit stritt und den Vorwurf des Umsturzes gegen diejenigen schleuderte, die „eine wirkliche Verfassung theilweise abbröckeln, die besten Grundsteine herausziehen und ein solches Gebäude dadurch unbewohnbar machen“. Aber er appellirte in überraschend versöhnlicher Weise an die liberale Vergangenheit der Minister und an das Herz des neuen Königs. Nach dem Schluß des Landtages ward am 9. Juni 1861 das Programm der „Deutschen Fortschrittspartei in Preußen“ verkündigt. W. wurde, obwol er von seinem preußischen Standpunkte aus gegen das Beiwort „deutsch“ Bedenken gehegt hatte, ein Hauptführer der neuen Partei. Als solcher war er ein Vorkämpfer in dem großen Streite, der sich über die Heeresreform erhob und zur verfassungswidrigen, budgetlosen Regierung führte. Daß er als Vertheidiger des Institutes der bestehenden Landwehr und des Gedankens der zweijährigen Dienstzeit dem Plane der Reform an sich widerstrebte, hatte er schon während der Session von 1861 kundgethan. Daran hielt er, in häufiger Gegenüberstellung von „Volksheer“ und „Soldatenheer“ unerschütterlich fest. Indem sich der Kampf um die Heeresreform zum Kampf um das Verfassungsrecht zuspitzte, wurde er wieder Bannerträger der Opposition: zuversichtlich und nie beirrt in der fortdauernden Verneinung, ein „Optimist“, wie er sich selbst öfter nannte, insoferne der Glaube an die politische Erziehung des Volkes ihn aufrecht hielt. Das Conflictsministerium Bismarck hatte 1862–1866 in ihm einen unbeugsamen Gegner. Seine Parole war: „Jeder, der eine Pflicht zu erfüllen hat, jeder der ein Mandat vom Volke erhalten hat, darf nicht auf den Erfolg sehen, wenn er sich in seinem guten Rechte weiß.“ Er ließ es zwar nicht zur Absonderung einer „äußersten Linken“ kommen. Er ging nicht so weit, das ganze Budget einfach zu verwerfen, solange dies Ministerium am Ruder sei. Aber niemand griff das angebliche sog. „Nothrecht“ der Regierung schärfer an. Er beleuchtete die Willkürlichkeiten und Rechtsverfälschungen, deren sie sich auf dem Gebiete der Justizverwaltung schuldig machte. Er wies ihre Attentate auf die Redefreiheit der Kammermitglieder zurück. Als das Obertribunal, mit Heranziehung von Hülfsarbeitern, durch sein berüchtigtes Erkenntniß diese im Artikel 84 der Verfassung verbürgte Redefreiheit bedrohte, übte er an dem Verfahren des höchsten Gerichtshofes, dem er selbst angehörte, schonungslose Kritik.

Es ist begreiflich, daß er auch der auswärtigen Politik dieser Regierung, wie unzählige Andere, nur das schwärzeste Mißtrauen entgegenbrachte. Die letzten Ziele Bismarck’s blieben ihm dunkel. Er nahm sich 1863, während der Debatten über die russisch-preußische Februarconvention, der Polen an. Er weigerte sich, in der schleswig-holsteinischen Sache dem Ministerium die geforderten Mittel zu bewilligen. Auch nach Beendigung des dänischen Krieges sprach er dafür, die Forderung nachträglicher Zustimmung zu der Verwendung von Staatsgeldern ohne jede Resolution abzulehnen. Uebrigens trennte er sich dadurch von vielen Gesinnungsgenossen, daß er sich für das Recht des Herzogs von Augustenburg durchaus nicht erwärmte. Seine Wünsche zielten auf preußische Suprematie, gestützt auf die Eroberung, vorausgesetzt, daß Preußen sich durch ein verfassungsmäßiges Regiment im Innern den Anspruch auf Suprematie verdiene. –

Nach den umwälzenden Ereignissen von 1866 konnte er die bedeutende Stellung, die er bis dahin im parlamentarischen Leben eingenommen hatte, nicht mehr bewahren. Die Fortschrittspartei ging an Zahl sehr geschwächt und innerlich nicht einig aus den Wahlen hervor. Es ließ sich bereits die Abzweigung [674] einer Anzahl von Mitgliedern voraussehen, die zur Gründung der national-liberalen Partei führte. W. hätte seine ganze Natur verleugnen müssen, wenn er die alte Fahne hätte verlassen sollen. Zwar hieß er als Preuße die Annexionen, unter scharfen Ausfällen gegen die kleinstaatliche Mißregierung, von Herzen gut. Auch begrüßte er, als Demokrat, das Wahlgesetz für das norddeutsche Parlament, da es auf den Grundsatz allgemeiner, unmittelbarer Wahlen zurückgriff, mit Freuden. Aber er verweigerte unversöhnlich die Indemnität, von der erst die Rede sein dürfe, wenn das Budget für 1867 vereinbart worden sei, und warnte vor einer Gutheißung von Verfassungsbrüchen, die bedenkliche Folgen haben könne. Im constituirenden Reichstag des norddeutschen Bundes, in dem er, von einem schweren Augenleiden kaum hergestellt, den zweiten Berliner Wahlkreis vertrat, blieb er seinem Standpunkt treu. Er unterzog an der Spitze des kleinen Häufleins der Fortschrittspartei, den vorgelegten Verfassungsentwurf der schärfsten Kritik. Es war ihm unmöglich, um nur rasch etwas zu Stande zu bringen, wesentliche Bürgschaften eines wahrhaft constitutionellen Lebens preiszugeben, und er fürchtete, daß ohne diese „dem Parlamentarismus für immer der Strick um den Hals gelegt werde“. Demnächst widerstrebte ihm, der den Einheitsstaat dem Bundesstaat bei weitem vorgezogen hätte, die sehr von ihm überschätzte Macht eines Bundesrathes, der über Angelegenheiten, die er als rein preußische betrachtete, mitreden sollte. In der Bildung einer Centralgewalt mit verantwortlichen Ministern und eines Reichstags mit jährlicher Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben aller Dienstzweige glaubte er auch das beste Mittel für die Herstellung der deutschen Einheit sehen zu dürfen. Er wollte auf diese Weise, ohne der particularistischen Gegenströmungen zu gedenken, nicht nur den süddeutschen Staaten die Thore geöffnet wissen, sondern wagte die kühne Prophezeiung, daß dadurch bei dem „nothwendigen Zerfall Oesterreichs“ früher oder später auch Böhmen und Mähren gewonnen werden möchten. Da nun die Bundesverfassung, wie sie aus den Berathungen hervorging, seinen Forderungen keineswegs entsprach und seinen Worten nach „ein ganz großes Quantum verfassungsmäßig garantirter Rechte aus Preußen exportirte“, so stimmte er am 16. April 1867 mit 52 Anderen gegen den Entwurf als Ganzes. Mit noch größerer Heftigkeit trat er, an Virchow’s und Hoverbeck’s Seite, in den Debatten des preußischen Abgeordnetenhauses einige Wochen nachher für Verwerfung der Bundesverfassung ein und vereinigte hier am 31. Mai 92 Verneinende mit sich gegen 227 Bejahende.

Im ersten ordentlichen Reichstag des norddeutschen Bundes, dem er für einen westfälischen Wahlkreis angehörte, trat er weniger hervor als in den Sessionen des Landtags 1867–1869, wo er als einer der hauptstädtischen Abgeordneten seinen alten Platz einnahm. Immerhin blieb er auch im Reichstag als Redner der Linken eine der markantesten Erscheinungen. Er fand Gelegenheit, seine bekannten Ansichten über das Heerwesen zu entwickeln, begründete zwei Mal den Antrag auf Bewilligung von Diäten, sprach für Aufhebung der Schuldhaft und gegen die Erlaubniß der Beschlagnahme des Arbeitslohnes, betheiligte sich eifrig an den Debatten über Errichtung eines obersten Handelsgerichtes für den norddeutschen Bund u. a. m. In der zweiten Kammer des preußischen Landtages ließ er es nicht an sich fehlen, wenn es galt, die parlamentarische Redefreiheit in Schutz zu nehmen, wennschon ihm eine authentische Interpretation des Artikels 84 der Verfassung unnöthig erschien. Er eiferte (z. B. in der Debatte über Anstellung und Versetzung höherer Justizbeamten) gegen die Rechtszersplitterung. Er trat mit Wärme für die Unentgeltlichkeit des Volksunterrichts ein. Am häufigsten aber riefen ihn die erregten Debatten auf die Tribüne, in denen es sich um die Verhältnisse der neuen Provinzen und der depossedirten [675] Fürsten handelte. Hier verleugnete sich niemals in ihm der Preuße, der von „berechtigten Eigenthümlichkeiten“ der annectirten Länder nichts wissen wollte, und der Demokrat, der den verjagten Fürsten „eine glückliche Nachfolge“ wünschte, falls man ihnen nicht „die Domänen bezahlen sollte“. Er befürwortete eine künftige Umgestaltung der Provinz Hannover, die einmal mit Braunschweig zusammen „Niedersachsen“ heißen müsse, Ostfriesland aber an Westfalen abzugeben habe. Er erklärte die Bildung von Provinzialfonds für verfrüht. Er widersetzte sich einer besonderen Städteordnung für Schleswig-Holstein. In „jugendlicher, enthusiastischer Stimmung“, wie einer seiner kühler denkenden Parteifreunde sich ausdrückte, voll Erbitterung gegen die Kleinstaaterei verspottete er am 29. Januar 1869 „das Welfenreich, welches nie etwas anderes gewesen als eine Satire auf Heinrich den Löwen“ und glaubte die dem König von Hannover zugestandenen 16 Millionen Thaler als ehemaliges Eigenthum des hannoverschen, jetzt des preußischen Volkes zurückverlangen zu dürfen. Zugleich warnte er vor der Einrichtung des später sog. „Reptilienfonds“, indem er sich kräftig gegen „das fluchwürdige Spionswesen“ aussprach. Seine letzten in den parlamentarischen Kämpfen gehörten Worte zielten, was charakteristisch für ihn war, darauf ab (in den Verhandlungen des norddeutschen Reichstags über die Steuervorlagen am 21. Mai 1869), statt neuer Belastung des Volkes Ermäßigung der Militärausgaben zu empfehlen.

Zunehmende körperliche Leiden hatten ihn schon häufig gezwungen, den Sitzungen fernzubleiben. Auch gestand er wenige Monate vor seinem Tode Lasker, daß er denen, welche die neuen Zustände geschaffen, es überlassen müsse, sie weiter zu führen. Bis zuletzt radical und idealistisch, mit der politischen Doctrin, die er sich in der Jugend gebildet hatte, fest verwachsen und für Compromisse nicht gemacht, fühlte er sich unter einem anders denkenden Geschlecht nicht mehr recht heimisch. Die Errichtung des neuen deutschen Reiches erlebte er nicht mehr. Er starb wenige Wochen vor dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges am 12. Mai 1870. Sein Leichenbegängniß legte Zeugniß ab von der Trauer und Dankbarkeit des Volkes. Ein Denkmal ist ihm 1889 im Oranienpark in Berlin errichtet worden.

Gustav Eberty, Waldeck, ein Lebensbild. Berlin. – H. B. Oppenheim, Benedikt Franz Leo Waldeck. Berlin 1873. – Die stenographischen Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung von 1848, des Processes vor dem Geschworenengerichte 1849, der zweiten preuß. Kammer, des constituirenden und des ersten Reichstags des nordd. Bundes, des ersten Zollparlamentes. – Die einschl. Memoiren- u. Geschichtswerke, wie von Unruh, Temme, Bernstein, Biedermann, Sybel u. A.